TEIL ZWEI 1963-1975

1

Bei Felding-Roth auf der »Rennbahn« zu sein bedeutete - wie bei anderen Firmen auch -, als Kandidat für das oberste Management auserkoren zu sein und bessere Chancen als üblich zu bekommen, das Geschäft kennenzulernen und sich zu bewähren. Natürlich schaffte es nicht jeder bis ins Ziel; denn es waren auch noch andere auf der Strecke. Die Konkurrenz war stark.

Celia war sich über all dies im klaren. Und sie wußte auch, daß sie als Frau die zusätzliche Hürde der Vorurteile überwinden mußte. Aber das spornte sie nur noch mehr an.

Um so bedauerlicher war es, daß sich die sechziger Jahre als eine »Durststrecke« erwiesen, die keine großen Neuerungen auf dem Gebiet rezeptpflichtiger Arzneimittel brachten.

»Das hat es früher auch schon gegeben«, erklärte Sam Hawthorne, als Celia darauf zu sprechen kam. »Wir haben zwei Jahrzehnte der >Wundermittel< hinter uns - Antibiotika, neue Herzmittel, die Pille, Tranquilizer und all das andere - und befinden uns jetzt in einer Flaute vor dem nächsten großen Durchbruch.«

»Und wie lange wird die Flaute andauern?«

Sam rieb sich nachdenklich den kahlen Kopf. »Wer will das wissen? Zwei Jahre, oder auch zehn. Inzwischen verkauft sich unser Lotromycin gut, und wir verbessern laufend bereits vorhandene Präparate.«

»Damit meinen Sie die sogenannten >Trittbrett<-Produkte, nicht wahr?« erwiderte Celia spitz. »»Molekulares Roulette< spielen - indem wir erfolgreiche Mittel unserer Konkurrenz gerade so weit abwandeln, daß man uns eine Verletzung von Patenten nicht anhängen kann . . .«

Sam zuckte die Achseln. »Wenn Sie sich unbedingt der Sprache unserer Kritiker bedienen wollen, bitte.«

»Apropos Kritiker - werfen die uns nicht gerade vor, die Forschung mit >Trittbrett<-Produkten lahmzulegen, statt unsere Kräfte für positivere, nützlichere Dinge einzusetzen?«

»Und Sie sollten sich endlich klarmachen, daß wir wegen allem und jedem kritisiert werden.« Sams Stimme war eine Spur schärfer geworden. »Vorwiegend von Leuten, die nicht wissen oder nicht wissen wollen, daß die sogenannten >Trittbrett<-Produkte Firmen wie die unsere über Wasser halten, wenn sich in der Wissenschaft nichts tut. Pausen hat es schon immer gegeben. Wissen Sie eigentlich, daß es nach der ersten erfolgreichen Pockenimpfung hundert Jahre gedauert hat, bis die Wissenschaftler herausfanden, warum sie erfolgreich war?«

So deprimiert Celia durch die Unterhaltung auch war, sie entdeckte, daß die anderen pharmazeutischen Firmen eine ebensolche Durststrecke durchmachten und nichts Neues oder gar Aufsehenerregendes herausbrachten. Es war ein Phänomen, das die gesamte Branche erfaßt hatte und das - obwohl es zu dieser Zeit noch niemand ahnte - bis in die siebziger Jahre anhalten und Sams Voraussagen am Ende bestätigen sollte.

»Ich habe Sie rufen lassen«, sagte Sam eines Nachmittags im November 1962 zu Celia, als sie sich in seinem mit Eiche getäfelten Büro gegenübersaßen, »um Ihnen mitzuteilen, daß Sie eine neue Aufgabe erhalten werden, was übrigens mit einer Beförderung verbunden ist.«

Celia schwieg abwartend. Als Sam nicht weitersprach, stieß sie einen Seufzer aus und lächelte.

»Sie wissen genau, daß ich vor Neugier sterbe, aber Sie wollen mich dazu bringen zu fragen, also tu ich's. Okay, Sam: Was für einen Job bekomme ich?«

»Geschäftsführerin für rezeptfreie Produkte bei Bray & Commonwealth. Teddy Upshaw, Ihr früherer Chef, wird Ihnen jetzt Bericht erstatten.« Sam lächelte. »Ich hoffe, Sie sind glücklich darüber, Celia.«

»O ja, das bin ich! Das bin ich wirklich, Sam. Vielen Dank!«

Er sah sie verschmitzt an. »Entdecke ich da etwa neben der gro-ßen Begeisterung eine Spur Reserviertheit?«

»Nicht Reserviertheit.« Celia schüttelte entschieden den Kopf. »Es ist bloß, daß . . . also, eigentlich habe ich vom Geschäft mit rezeptfreien Produkten überhaupt keine Ahnung.«

»Da stehen Sie nicht allein«, sagte Sam. »Ich hatte dasselbe Problem, bevor ich ein paar Jahre im rezeptfreien Bereich arbeitete. In gewisser Hinsicht ist es, als würde man in ein fremdes Land reisen.« Er zögerte. »Oder die Grenze zu einem anderen Stadtteil überschreiten.«

»Dem weniger angesehenen Teil?«

»Könnte sein.«

Sie wußten beide, daß Felding-Roth wie auch die anderen großen pharmazeutischen Firmen zwischen dem Geschäftsbereich, der die rezeptpflichtigen Mittel betraf und Ansehen genoß, und dem Bereich für rezeptfreie Produkte, von dem man das nicht immer behaupten konnte, eine deutliche Trennlinie zog. Beide Seiten operierten völlig unabhängig voneinander. Jede Seite besaß ihre eigene Verwaltung und ihre eigene Forschungs- und Verkaufsabteilung; es gab keinerlei Verbindung zwischen den beiden.

Wegen dieser Politik der Trennung behielt Felding-Roth den Namen Bray & Commonwealth bei - eine ehemals kleine unabhängige Pharma-Firma, die vor Jahren von Felding-Roth aufgekauft worden war und sich jetzt ausschließlich mit rezeptfreien Produkten befaßte. Nach außen hin bestand zwischen Bray & Commonwealth und Felding-Roth Pharmaceuticals keine Verbindung, was der Mutterfirma auch lieber war.

»Bray & Commonwealth wird für Sie eine neue Erfahrung sein«, sagte Sam zu Celia. »Sie werden lernen, sich um Hustensäfte, Hämorrhoidensalben und Haarshampoos zu kümmern. Die rezeptfreien Produkte sind ein Teil des gesamten Arzneimittelmarktes - ein großer Teil, und sie bringen einen Haufen Geld ein. Deshalb müssen Sie sich auch in diesem Geschäft auskennen. Und, Celia, Sie werden wohl für eine Weile Ihr kritisches Denken ablegen müssen.«

»Würden Sie mir das bitte näher erklären?« bat Celia erstaunt.

»Das werden Sie schon selbst herausfinden.«

Celia beschloß, nicht nachzuhaken.

»Und noch etwas«, fuhr Sam fort. »Bei Bray & Commonwealth hat sich in letzter Zeit nichts bewegt, neue Initiativen, neue Ideen sind bitter nötig.« Er lächelte. »Vielleicht die Ideen einer starken, phantasievollen, gelegentlich aufmüpfigen Frau ... Ja, was ist?« Die letzte Bemerkung galt seiner Sekretärin, einer attraktiven jungen Farbigen, die in der offenen Tür stand.

Als sie nicht gleich antwortete, sagte Sam mürrisch: »Maggie, ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich nicht . . .« »Warten Sie!« sagte Celia. Sie hatte etwas bemerkt, was Sam offenbar entgangen war: über das Gesicht der Sekretärin liefen Tränen. »Maggie, was ist denn?«

Das Mädchen konnte nur mit Mühe sprechen, ihre Worte wurden immer wieder von Schluchzern unterbrochen. »Der Präsident ist . . . Präsident Kennedy wurde erschossen ... in Dallas . . . es ist alles aus . . . im Radio.«

Mit dem Ausdruck ungläubigen Entsetzens schaltete Sam Hawthorne hastig das Radio neben seinem Schreibtisch ein.

Wie die meisten ihrer Generation konnte Celia sich später ganz genau daran erinnern, wo sie in jenem schrecklichen Augenblick gewesen war und was sie gerade getan hatte. Es war der Auftakt einer Reihe von apokalyptischen Tagen, einer Zeit enttäuschter Hoffnungen und tiefer Niedergeschlagenheit. Ob Camelot Wirklichkeit gewesen war oder nur Illusion, es herrschte das Gefühl, als sei etwas für immer verloren, als gäbe es nichts von Bestand, als sei alles unwichtig geworden - für Celia, zum Beispiel, ihre persönlichen Ambitionen und die Gespräche über ihren neuen Job. Die Lücke schloß sich jedoch wieder, und das Leben ging weiter.

Celias neuer Arbeitsplatz bei Bray & Commonwealth Inc. befand sich in einem schlichten vierstöckigen Ziegelgebäude, eineinhalb Meilen vom Sitz der Muttergesellschaft entfernt. In ihrem bescheidenen, aber behaglichen Büro traf sie sich etwa zwei Wochen später mit Teddy Upshaw, dem Verkaufsleiter der Zweigstelle, um sich einen Überblick über die rezeptfreien Produkte zu verschaffen.

Während der vergangenen Woche hatte sich Celia in Akten vertieft und Bilanzen, Statistiken, Forschungsberichte und Personalakten studiert, die alle mit ihrer neuen Arbeit zu tun hatten. Beim Lesen wurde ihr klar, daß Sam Hawthorne recht gehabt hatte: Der Geschäftsbereich hatte sich unter einer phantasielosen Führung festgefahren. Es bedurfte dringend neuer Initiativen und Ideen.

»Ich habe eine direkte Frage, Teddy«, begann Celia ihr Gespräch mit Upshaw. »Ärgern Sie sich, weil ich auf diesem Stuhl hier sitze und Sie mir Bericht erstatten müssen? Macht es Ihnen etwas aus, daß unsere Positionen plötzlich vertauscht sind?«

Der wendige kleine Verkaufschef schien überrascht. »Ob es mir etwas ausmacht? Mein Gott, Celia, ich kann mich gar nicht genug darüber freuen! Wir brauchen jemanden wie Sie. Als ich hörte, daß Sie herkämen, hätte ich am liebsten hurra gerufen. Fragen Sie meine Frau! An dem Abend, als ich die Neuigkeit erfuhr, haben wir auf Ihr Wohl getrunken.« Teddy unterstrich seine Bemerkungen mit lebhaftem Kopfnicken. »Ob ich mich ärgere? Nein, meine Liebe, ich bin nur ein Verkäufer - ein verdammt guter, doch mehr werde ich nie sein. Sie aber haben das Zeug dazu, mir etwas in die Hand zu geben, das besser ist als alles, was wir bisher hatten.«

Celia war gerührt. »Vielen Dank, Teddy«, sagte sie. »Ich mag Sie auch. Wir könnten uns gegenseitig helfen.«

»Ganz meine Meinung.«

»Sie kennen beide Bereiche«, sagte sie. »Rezeptpflichtige und rezeptfreie Produkte. Sagen Sie mir, wo für Sie der Unterschied liegt.«

»Der ist ziemlich grundlegend. Die rezeptfreien Mittel sind meist taube Nüsse.« Teddy warf einen Blick auf die Akten, die überall im Büro verstreut waren. »Schätze, das haben Sie schon an den Kosten gemerkt.«

»Ja, aber ich würde gern Ihre Meinung dazu hören.«

Er sah sie fragend an. »Vertraulich? Ohne jede Einschrän-kung?«

Sie nickte. »Das wäre mir am liebsten.«

»Na schön. Dann betrachten Sie es mal folgendermaßen: Wie wir beide wissen, verschlingt die Forschung für ein rezeptpflichtiges Mittel Millionen, und es dauert fünf, sechs Jahre, bis es vermarktet werden kann. Bei einem rezeptfreien Produkt genügen sechs Monate oder weniger, um das Zeug auf eine Formel zu bringen, und die Kosten sind denkbar gering. Das meiste Geld geht für Verpackung, Werbung und Verkauf drauf.«

»Teddy«, sagte Celia. »Sie haben ein Talent, die Dinge beim Namen zu nennen.«

Er zuckte die Achseln. »Ich mache mir nichts vor. Was wir hier verkaufen, stammt nicht von Louis Pasteur.«

»Aber trotzdem steigt allgemein der Absatz rezeptfreier Produkte immer mehr an.«

»Mit dem Tempo einer gottverdammten Rakete! Weil es die amerikanische Öffentlichkeit so will, Celia. Leute, denen irgendwas fehlt - meist ein kleines Wehwehchen, das mit der Zeit von alleine verschwinden würde, wenn sie so klug wären, es in Ruhe ausheilen zu lassen -, diese Leute wollen irgend etwas tun. Sie möchten gern selbst Doktor spielen, und hier treten wir auf den Plan. Wenn die Rakete also aufsteigt, warum sollten wir uns dann nicht alle - Felding-Roth, Sie und ich - dranhängen?« Er machte eine Pause, dachte nach und sprach dann weiter. »Das einzige Problem im Augenblick ist nur, daß wir nicht richtig zugepackt haben, so daß wir den uns zustehenden Marktanteil nicht kriegen.«

»Das mit dem Marktanteil finde ich auch«, sagte Celia, »aber ich glaube, das ließe sich ändern. Und was die rezeptfreien Mittel selbst betrifft, so sind sie bestimmt ein bißchen effektiver, als Sie behaupten.«

Teddy hob die Hände. »Vielleicht ein bißchen, aber viel bestimmt nicht. Es gibt ein paar gute Mittel - zum Beispiel Aspirin. Und was die anderen betrifft: die Hauptsache ist, daß die Leute sich wohl fühlen, auch wenn sie sich das nur einbilden.«

»Aber verschaffen nicht ein paar von den landläufigen Mitteln gegen Erkältung, zum Beispiel, Erleichterung über die Einbildung hinaus?«

»Nein!« Teddy schüttelte mit Nachdruck den Kopf. »Da können Sie jeden guten Arzt fragen. Fragen Sie Andrew. Wenn Sie oder ich eine Erkältung kriegen, was sollten wir dann am besten tun? Ich will es Ihnen sagen: nach Hause gehen, die Füße hochlegen, ausruhen, viel trinken und ein paar Aspirin nehmen. Das ist alles, was man tun kann - bis die Wissenschaft ein wirkliches Heilmittel gegen Erkältung findet; aber bis dahin ist wohl noch ein weiter, mühsamer Weg.«

Obgleich die Sache ernst war, mußte Celia lachen. »Sie nehmen wohl nie etwas gegen Erkältung?«

»Niemals. Aber zum Glück gibt es eine Menge Leute, die es tun. Ganze Armeen hoffnungsvoller Menschen, die Jahr für Jahr eine halbe Milliarde Dollar ausgeben und vergeblich versuchen, ihre Erkältungen zu kurieren. Und Sie und ich, Celia - wir werden ihnen alles verkaufen, was sie haben wollen, und das Schöne daran ist, daß ihnen nichts davon auch nur im geringsten schaden wird.« In Teddys Stimme schwang Vorsicht, als er hinzufügte: »Natürlich wissen Sie, daß ich so was nie laut sagen würde. Ich tue es jetzt nur, weil Sie mich gefragt haben. Wir sind ja unter uns und vertrauen einander.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Teddy«, sagte Celia.

»Aber wenn das Ihre Meinung ist, macht es Ihnen dann gar nichts aus, hier zu arbeiten?«

»Die Antwort lautet: nein, und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist es nicht meine Sache, über etwas zu richten. Ich nehme die Welt, wie sie ist, und nicht so, wie die Träumer glauben, daß sie sein müßte. Und zweitens muß es schließlich jemanden geben, der das Zeug verkauft, also kann es genausogut Teddy Upshaw sein.« Er sah Celia forschend an. »Aber Sie beunruhigt es, nicht wahr?«

»Ja«, gab sie zu. »Gelegentlich.«

»Hat man Ihnen gesagt, wie lange Sie bei Bray & Commonwealth bleiben werden?«

»Nein, ich nehme an, für immer.«

»Die werden Sie auf keinen Fall hierbehalten«, versicherte Teddy. »Sie werden diesen Job hier vermutlich ein Jahr lang machen und dann weiter aufrücken. Stehen Sie's also durch, Baby! Am Ende wird es sich gelohnt haben.«

»Vielen Dank, Teddy«, sagte Celia. »Ich werde Ihren Rat nicht vergessen, allerdings habe ich vor, ein bißchen mehr zu tun, als es einfach nur durchzustehen.«

Trotz ihrer Doppelbelastung als berufstätige Ehefrau und Mutter hatte Celia beschlossen, niemals ihre Familie zu vernachlässigen - vor allem nicht ihre Kinder: Lisa, die jetzt fünf war, und den dreijährigen Bruce. An den Wochentagen verbrachte sie abends zwei Stunden mit ihnen - ein Ritual, an dem sie festhielt, wie wichtig die Akten auch sein mochten, die sie mitgebracht hatte.

Am Abend nach dem Gespräch mit Teddy führte Celia das fort, was sie vor ein paar Tagen begonnen hatte - sie las Lisa und Bruce etwas aus Alice im Wunderland vor.

An diesem Abend war Bruce stiller als sonst - er sah aus, als würde er eine Erkältung bekommen; seine Nase lief. Lisa hörte wie immer hingerissen zu, als die Mutter vorlas, wie Alice an einer kleinen Tür wartete, die in einen wunderschönen Garten führte; die Tür war für Alice zu klein, und sie hoffte . . .

. . . einen Schlüssel zu finden oder wenigstens eine Anweisung über das fernrohrartige Zusammenschieben von Menschen. Statt dessen entdeckte sie diesmal eine kleine Flasche auf dem Tisch (die, wie Alice behauptete, vorher bestimmt noch nicht dagewesen war). Ein Papier-Etikett war an dem Flaschenhals befestigt, und darauf stand in großen, schönen Druckbuchstaben: »trink mich«.

Celia legte das Buch zur Seite, um Bruce die Nase zu putzen, dann las sie weiter.

Das Etikett hatte leicht reden: »Trink mich«, die kluge kleine Alice aber dachte nicht daran, diesem Befehl blindlings zu fol-gen. »Zuerst will ich einmal nachsehen«, sagte sie, »ob nicht auch irgendwo >Gift< draufsteht.« . . .

So hatte Alice auch den Satz nicht vergessen: »Wenn du viel aus einer Flasche trinkst, auf der >Gift< steht, wird es dir früher oder später schlecht bekommen.«

Auf dieser Flasche stand jedoch nirgends »Gift«, und so wagte Alice, ein wenig daran zu nippen. Und siehe da, es schmeckte gut, wie eine Mischung aus Kirschkuchen, Pudding, Ananas, Gänsebraten, Sahnebonbons und Butterbrötchen. So hatte sie bald alles ausgetrunken.

»Was für ein komisches Gefühl«, sagte Alice, »ich glaube, ich klappe wie ein Fernrohr zusammen.«

Und so war es auch. Schon maß sie nur noch 30 Zentimeter . . .

Lisa unterbrach sie: »Sie hätte es nicht trinken sollen, nicht wahr?«

»Nicht im wirklichen Leben«, sagte Celia, »aber das ist nur eine Geschichte.«

»Ich finde trotzdem, sie hätte es nicht trinken sollen«, sagte Lisa mit fester Stimme. Sie hatte schon jetzt eine starke eigene Meinung.

»Du hast völlig recht, Liebling«, sagte Andrew hinter ihnen fröhlich; er war leise und unbemerkt ins Zimmer gekommen. »Man soll nie etwas trinken, von dem man nicht genau weiß, was es ist, außer, der Arzt verschreibt es einem.« Alle lachten, und die Kinder umarmten Andrew stürmisch. »Und jetzt«, sagte Andrew, »verschreibe ich uns einen Martini zum Ende des Tages. Leistest du mir Gesellschaft?« fragte er Ce-lia. »Gern.«

»Daddy«, sagte Lisa, »Bruce hat eine Erkältung. Kannst du nicht machen, daß sie weggeht?« »Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich kein Erkältungsdoktor bin.« Er hob sie hoch und drückte sie an sich. »Fühl mal! Ich bin ein Erwärmungsdoktor.«

Lisa kicherte. »Ach, Daddy.«

»Komisch«, sagte Celia. »Fast dasselbe Gespräch hatte ich heute schon mal.«

Andrew stellte Lisa wieder auf den Boden und begann Martinis zu mixen. »Was für ein Gespräch?«

»Das erzähl ich dir beim Essen.« Celia stellte Alice bis zum nächsten Tag ins Regal zurück und brachte die Kinder ins Bett. Aus der Küche roch es nach Lamm mit Curry, während Winnie August nebenan im Eßzimmer für Andrew und Celia den Tisch deckte. Womit habe ich das nur verdient, dachte Celia, daß mein Leben so wunderbar befriedigend und glücklich ist?

»Teddy hat völlig recht. Es ist absolut sinnlos, Erkältungen mit etwas anderem als Flüssigkeit, Ruhe und Aspirin zu behandeln«, sagte Andrew, nachdem Celia ihm von der Unterhaltung in ihrem Büro erzählt hatte.

Sie waren mit dem Abendessen fertig und tranken im Wohnzimmer einen Kaffee. »Ich sage meinen Patienten immer, wenn sie eine Erkältung haben und sie behandeln, dauert sie sieben Tage. Und wenn sie sie nicht behandeln, dauert sie eine Woche.«

Celia lachte, und Andrew stocherte in dem Holzfeuer, das er im Kamin angezündet hatte.

»Aber Teddy irrt sich«, sagte Andrew, »was die sogenannten Erkältungsmittel betrifft - daß sie keinen Schaden anrichten. Viele davon sind schädlich, manche sogar gefährlich.«

»Naja«, widersprach sie. »>Gefährlich< ist ja wohl übertrieben.«

»Das ist es nicht!« sagte er mit Nachdruck. »Wenn man versucht, eine Erkältung zu heilen, kann man dabei andere Leiden veschlimmern.« Andrew ging zum Regal und zog mehrere Bücher heraus, in denen Papierstreifen steckten. »Ich habe in letzter Zeit einiges darüber gelesen.« Er blätterte in einem der Bücher.

»Die meisten Mittel gegen Erkältungen«, sagte Andrew, »be-stehen aus einem Gemisch von Substanzen. Eine davon heißt Phenylephrine und soll dazu dienen, den Blutandrang zu verringern und eine verstopfte Nase wieder freizumachen. Meistens hilft das Phenylephrine überhaupt nicht - es reicht nicht aus, um wirksam zu sein -, erhöht aber statt dessen den Blutdruck, was für jeden schädlich ist, gefährlich aber für den, der bereits einen hohen Blutdruck hat.«

Er deutete auf ein Blatt mit Notizen. »Einfaches, unverfälschtes Aspirin, darüber sind sich fast alle medizinischen Forscher einig, ist das beste gegen Erkältungen. Aber von Aspirin gibt es Kombinationspräparate, für die stark geworben wird und die viel gekauft werden. Sie enthalten häufig zusätzlich Phenazetin, das zu Nierenschäden führen kann, die nicht wiedergutzumachen sind, wenn das Präparat zu häufig und zu lange eingenommen wird. Außerdem enthalten Tabletten gegen Erkältungen auch Antihistamine - und die fördern Bronchialschleim. Es gibt Nasentropfen und Nasensprays, die eher schädlich als hilfreich sind . . .« Andrew unterbrach sich. »Soll ich fortfahren?«

»Nein«, sagte Celia und seufzte. »Ich kann mir schon ein Bild machen.«

»Alles läuft darauf hinaus«, sagte Andrew, »daß man, wenn man nur genügend Werbung macht, die Leute dazu bringen kann, alles zu glauben und alles zu kaufen.«

»Aber Erkältungsmittel helfen bei einer Erkältung«, protestierte sie. »Das sagen jedenfalls viele.«

»Sie glauben nur, daß sie helfen. Vielleicht wird die Erkältung von selbst besser. Oder sie war psychisch bedingt.« Während Andrew die Bücher ins Regal zurückstellte, mußte Celia an etwas denken, was ein anderer Arzt, ein älterer praktischer Arzt, einmal zu ihr gesagt hatte, als sie noch Vertreterin war. »Wenn zu mir Patienten kommen, die über eine Erkältung klagen, gebe ich ihnen Beruhigungsmittel - harmlose kleine Zuk-kertabletten. In ein paar Tagen kommen sie zurück und sagen: >Die Pillen haben Wunder bewirkt; die Erkältung ist weg.<« Der alte Arzt hatte Celia angesehen und in sich hineingekichert. »Und tatsächlich ist sie dann auch weg.« In dieser Erinnerung und in Andrews Bemerkungen lag etwas Wahres, und Celia war deprimiert. Ihre neue Aufgabe öffnete ihr die Augen für Dinge, von denen sie lieber nichts gewußt hätte. Was wurde aus ihren Wertbegriffen, überlegte sie. Ihr wurde klar, was Sam meinte, als er zu ihr gesagt hatte: »Sie werden wohl für eine Weile Ihr kritisches Denken ablegen müssen.« Würde es tatsächlich nötig sein? Konnte sie das überhaupt? Und sollte sie es tun? Während ihr diese Fragen noch durch den Kopf gingen, öffnete sie ihre Aktentasche und breitete die Papiere vor sich aus. In ihrer Tasche befand sich auch etwas, das Celia ganz vergessen hatte - eine Musterpackung des Bray & Commonwealth-Produkts Healthotherm, ein rezeptfreies Mittel zur Einreibung der Brust bei Erkältungen von Kindern, das vor zwanzig Jahren eingeführt worden war und sich noch immer gut verkaufte; es hatte einen kräftigen, würzigen Geruch und wurde in der Werbung als »belebend« angepriesen. Celia hatte es mit nach Hause gebracht, weil sie wußte, daß Bruce erkältet war, und hatte die Absicht gehabt, es bei ihm anzuwenden. Jetzt fragte sie Andrew: »Soll ich?«

Er nahm die Packung, überflog die Information über die Zusammensetzung und lachte. »Warum nicht, Liebling? Wenn du dieses alte ölige Zeug unbedingt verwenden willst, wird es Bru-cie kaum schaden. Helfen wird es ihm allerdings auch nicht, aber vielleicht fühlst du dich dann besser - als eine Mutter, die etwas tut« Andrew machte die Packung auf und untersuchte die Tube. Noch immer amüsiert sagte er: »Vielleicht ist das der springende Punkt, um den es bei Healthotherm geht. Es ist gar nicht für die Kinder; in Wirklichkeit ist es für ihre Mütter.«

Celia wollte schon in Lachen ausbrechen, dann hielt sie inne und sah Andrew merkwürdig an. Zwei Gedanken gingen ihr durch den Kopf: Sie würde ihr kritisches Denken für eine Weile ablegen müssen; daran bestand gar kein Zweifel. Und außerdem hatte Andrew gerade eine gute . . . nein! . . . eine prächtige, eine ganz ausgezeichnete Idee gehabt.

»Nein«, sagte Celia über den Tisch hinweg zu den Mitarbeitern der Werbeagentur. »Nein, mir gefällt nichts davon.« Es wirkte wie das plötzliche Verlöschen eines Feuers. Wenn es im Konferenzraum der Agentur einen Temperaturanzeiger gegeben hätte, dachte Celia, dann wäre er von »warm« auf »frostig« gesunken. Sie spürte, wie die vier Werbeleute hastig überlegten, wie sie reagieren sollten.

Es war ein Dienstag, Mitte Januar. Celia und drei Mitarbeiter von Bray & Commonwealth waren am frühen Morgen von New Jersey zu diesem Treffen bei der Quadrille-Brown-Werbeagentur nach New York gefahren. Sam Hawthorne, der schon am Abend zuvor in New York eingetroffen war, hatte sich zu ihnen gesellt.

Draußen herrschte trübes, stürmisches Wetter. Die Quadrille-Brown-Agentur befand sich im Burlington House in der Avenue of the Americas, auf der der Verkehr dröhnte und eilige Fußgänger gegen eine tückische Mischung aus Schnee und gefrorenem Regen ankämpften.

Anlaß für dieses Treffen im Konferenzraum in der 44. Etage war die Werbekampagne von Bray & Commonwealth - ein ganz normaler Vorgang nach einem Wechsel im Management. Während der vergangenen Stunde hatte man das Programm effektvoll und mit allem zeremoniellen Drum und Dran präsentiert -so daß Celia das Gefühl hatte, auf einem Podium zu stehen, während ein ganzes Regiment vorbeimarschierte. Allerdings kein sehr eindrucksvolles Regiment, wie sie fand. Und das hatte sie zu ihrer Bemerkung veranlaßt, die wie ein Blitz eingeschlagen war.

An dem langen Mahagonitisch schien sich Al Fiocca, ein Mann mittleren Alters und künstlerischer Leiter der Agentur, vor Schmerzen zu winden; er strich sich über seinen Van-Dyke-Bart, scharrte mit den Füßen, wohl weil ihm die Worte fehlten, und überließ den nächsten Zug dem jungen Kenneth Orr. Orr war es auch gewesen, der in seinem schmucken blauen Nadelstreifenanzug mit weicher Stimme bisher das Wort geführt hatte. Dexter Wilson, der Dritte im Bunde und für die Kundenwerbung zuständig, hatte die einzelnen Entwürfe präsentiert. Wilson, ein paar Jahre älter als Orr und vorzeitig ergraut, hatte etwas von der Ernsthaftigkeit eines Baptistenpredigers und sah jetzt besorgt drein, wahrscheinlich, weil es ihn seinen Job kosten konnte, wenn ein Kunde unzufrieden war. Werbeleute verdienten, wie Celia wußte, viel Geld, hatten aber eine unsichere Existenz.

Der Vierte im Agenturquartett, Bladen - Celia hatte sich seinen Vornamen nicht gemerkt -, war Wilsons Assistent. Er schien noch sehr jung zu sein und hatte eifrig dabei geholfen, Tafeln aufzustellen und Entwürfe herumzureichen.

Während der Präsentation kamen und gingen weitere Mitarbeiter der Agentur - insgesamt fast ein Dutzend. Der neueste Entwurf betraf Healthotherm und war schon vor Celias Amtsübernahme in Auftrag gegeben worden.

Außer Celia waren von Bray & Commonwealth Grant Carvill, der Marketingchef, Teddy Upshaw, der Verkaufsleiter, und Bill Ingram, ein junger Produktmanager, anwesend. Carvill, Mitte Fünfzig, ein phlegmatischer Typ, der schon lange bei der Firma tätig war, machte einen tüchtigen, aber phantasielosen Eindruck. Celia hatte beschlossen ihn bald auf einen anderen Posten zu versetzen. Ingram, jungenhaft, mit einem wilden roten Haarschopf, hatte erst vor einem Jahr sein betriebswirtschaftliches Examen in Harvard gemacht und war offenbar sehr eifrig, aber ansonsten eine unbekannte Größe.

Sam Hawthorne stand als Vertreter von Felding-Roth über ihnen allen. Der Direktor der Werbeagentur hatte, als er von Sams Anwesenheit erfuhr, kurz hereingeschaut, um ihn zu begrüßen. Als Sam Celia am Tag zuvor telefonisch mitgeteilt hatte, daß er an der Besprechung teilnehmen werde, erklärte er deutlich: »Ich werde nur dasitzen und zuhören. Sie tragen jetzt eine große Verantwortung und sind noch neu in diesem Geschäft, und da es um einen Haufen Dollar geht, wird den Bossen da oben wohler sein, wenn jemand von der Muttergesellschaft ein Auge darauf hat und Bericht erstatten kann. Aber ich werde mich nicht einmischen, es ist ganz allein Ihre Show.«

Jetzt warf Celia einen Blick zu Sam hinüber. Stimmte er ihrer Bemerkung zu oder nicht? Aber Sams Gesicht war so ausdruckslos wie schon während des ganzen Vormittags.

»Na schön, Mr. Orr«, sagte Celia rasch, »Sie können es sich sparen, darüber nachzudenken, was Sie jetzt tun und wie Sie mich behandeln sollen. Lassen Sie mich ganz offen sagen, warum mir die Anzeigen nicht gefallen und warum ich glaube, daß Ihre Agentur - deren Arbeit ich kenne - sehr viel Besseres leisten kann.«

Sie spürte die Erleichterung der Umsitzenden. Alle Augen, auch die ihrer eigenen Mitarbeiter, waren auf sie gerichtet.

»Wir würden gern Ihre Meinung erfahren, Mrs. Jordan«, sagte Kenneth Orr gewandt. »Wir versteifen uns auf keinen der Vorschläge und entwickeln gern neue Ideen oder richten uns nach Ihren Wünschen.«

»Darüber wäre ich sehr froh«, sagte Celia mit einem Lächeln, »denn ich habe das Gefühl, daß alles, was wir gesehen haben, vor zehn Jahren durchaus in Ordnung gewesen wäre, daß es aber einfach nicht ins heutige Bild paßt. Ich frage mich allerdings, ob das nicht auch in irgendwelchen Anweisungen und Einschränkungen seitens unserer Firma seine Ursache hat.«

Sie merkte, daß Orr und Dexter Wilson sie voller Respekt ansahen. Aber es war der junge Bladen, der herausplatzte: »Verdammt, genauso war's! Immer wenn jemand von uns mit einer tollen Idee kam oder Ihre alten Produkte aufmotzen wollte . . .«

»Das genügt!« unterbrach sein Chef ihn scharf. »Wir geben unseren Kunden nicht die Schuld für Unzulänglichkeiten unserer Werbung. Wir sind Profis, und wir tragen die Verantwortung für das, was wir produzieren. Außerdem spricht man über >alte Produkte nicht in diesem Ton. Bitte entschuldigen Sie, Mrs. Jordan.«

»Was soll das Drumrumgequatsche?« Die Bemerkung kam von Celias Tischseite, bevor sie selbst Gelegenheit hatte, Orr zu antworten. Sie stammte von dem jungen Bill Ingram, dessen Gesicht vor Zorn rot angelaufen war, was gut zu seinen Haaren paßte. »Schließlich sind es doch alte Produkte, weshalb sollte man es dann nicht sagen? Niemand hat verlangt, daß man sie wegwirft, aber bestimmt könnten sie ein wenig Aufmöbelung vertragen. Wenn wir also tatsächlich offen reden wollen, wie Mrs. Jordan gesagt hat, dann sollten wir es auch tun.«

Es entstand ein peinliches Schweigen, das Kenneth Orr schließlich brach. »Nun ja . . .«Er hatte die Augenbrauen hochgezogen und schien halb überrascht, halb amüsiert. »Es scheint, als würde die Jugend zusammenhalten.« Er wandte sich an Celia: »Ich hoffe, es stört Sie nicht.«

»Nein. Vielleicht hilft es uns sogar weiter.«

Bei Durchsicht der Akten von Bray & Commonwealth hatte Celia den Eindruck gewonnen, daß die Werbung bisher von allzu großer Vorsicht geprägt war. Sie beabsichtigte, dies zu ändern.

»Zuerst möchte ich über Healthotherm sprechen«, sagte Celia und schickte im stillen eine Gruß zu Andrew hinüber. »Ich glaube, daß die neuen ebenso wie die alten Anzeigen von völlig falschen Voraussetzungen ausgehen. Unsere Werbung der letzten Jahre - ich habe das nachgeprüft - zeigt ausschließlich lächelnde Kinder, die sich besser fühlen, glücklicher sind, weil sie mit Healthotherm eingerieben wurden.«

»Aber so ist es doch auch, oder etwa nicht?« warf Dexter Wilson ein. Kenneth Orr, der Celias Gesicht genau beobachtet hatte, bedeutete seinem Kollegen jedoch zu schweigen.

»Ja, so ist es«, erwiderte Celia. »Aber es sind nicht die Kinder, die in den Laden gehen und Healthotherm kaufen. Es sind ihre Mütter, die gute Mütter sein wollen, die etwas tun wollen, damit ihre kranken Kinder sich wohler fühlen. Trotzdem ist auf unseren Anzeigen die Mutter entweder überhaupt nicht oder nur im Hintergrund zu sehen. Was ich mir vorstelle, das ist eine glückliche Mutter, groß und im Vordergrund, eine erleichterte Mutter, die etwas getan hat, als ihr Kind krank war, und die sich jetzt über die Besserung freut. Das sollten wir in unserer Werbung in den Zeitungen und im Fernsehen hervorheben.«

Alle, die um den Tisch saßen, nickten. Celia überlegte, ob sie Andrews Bemerkung hinzufügen sollte: »Vielleicht ist das der springende Punkt, um den es beiHealthotherm geht. Es ist gar nicht für die Kinder; in Wirklichkeit ist es für ihre Mütter.« Sie beschloß, es für sich zu behalten, ebenso wie Andrews Beschreibung von Heal-thotherm: dieses alte ölige Zeug, das, wie er behauptete, weder Schaden anrichtete noch irgend etwas Gutes bewirkte.

»Das ist interessant. Sehr interessant«, sagte Kenneth Orr langsam.

»Es ist mehr als interessant«, warf Bill Ingram ein. »Es ist verdammt gut. Finden Sie nicht auch, Howard?« Die Frage galt Bla-den, so daß Celia jetzt auch seinen Vornamen erfuhr.

Der junge Werbemann nickte eifrig. »Unbedingt. Irgendwo müssen wir auch ein Kind zeigen - vielleicht im Hintergrund. Aber die Mama ganz vorne, und keine zu ordentliche Mama. Vielleicht eine mit zerrauften Haaren und verrutschtem Kleid. Als hätte sie gerade schwer gearbeitet, geschwitzt, sich Sorgen gemacht - am Krankenbett ihres Kindes.«

»Ja, man müßte sie richtig echt bringen«, stimmte Ingram zu.

»Aber auch glücklich«, sagte Bladen. »Sie ist erleichtert, macht sich keine Sorgen mehr, weil sie weiß, daß es ihrem Kind gutgeht - und zwar dank Healthotherm. Mrs. Jordan hat den Finger genau auf die richtige Stelle gelegt.«

»Die Einzelheiten können wir noch ausarbeiten«, bemerkte Orr. Er lächelte Celia an. »Mrs. Jordan, offensichtlich sind alle der Meinung, daß Sie einen vielversprechenden Vorschlag gemacht haben.«

»Und noch etwas, Mrs. Jordan«, sagte Bill Ingram. »Das Präparat sollte in unseren Labors ein bißchen verändert werden. Dann könnten wir es >das neue Healthotherm< nennen.«

Dexter Wilson nickte. »So was macht sich immer gut.«

»Das neue Healthotherm.« Teddy Upshaw sprach die Worte aus, als kostete er sie, dann bestätigte er: »Ja! Das wird für unser Verkaufsteam gut sein. Das gibt den Leuten eine neue Perspektive.«

Grant Carvill, der Marketingchef von Bray & Commonwealth, beugte sich vor. Auf Celia machte er den Eindruck, als fürchtete er, der Entscheidungsprozeß könne an ihm vorbeigehen, wenn er nicht auch etwas sagte.

»Das Präparat zu ändern dürfte nicht weiter schwierig sein«, bestätigte Carvill. »Das besorgen die Chemiker, indem sie irgendeinen Bestandteil verändern. Eine Kleinigkeit nur, nichts Wesentliches, vielleicht ein anderer Duftstoff oder so.«

»Großartig!« sagte Bladen. »Jetzt kommt die Sache ins Rollen.«

Einen Augenblick fragte sich Celia, ob das alles Wirklichkeit war und wie sie noch vor kurzem darüber gedacht haben würde. Nun ja, beruhigte sie sich, in jedem Fall hatte sie Sam Hawthor-nes Rat angenommen und das kritische Denken abgelegt. Wie lange würde sie das noch tun müssen? Wenn Teddy Upshaw recht hatte und sie vom Geschäft mit den rezeptfreien Produkten wieder abberufen wurde, war es vielleicht nur für ein Jahr. Celia sah, daß Sam lächelte, und fragte sich, worüber.

Ihre Gedanken kehrten zu ihren momentanen Pflichten zurück. Celia beobachtete die beiden jungen Männer - Howard Bla-den und Bill Ingram - und wußte instinktiv, mit wem sie in Zukunft eng zusammenarbeiten würde, sowohl bei Bray & Commonwealth als auch bei der Quadrille-Brown-Werbeagentur.

Selbst in ihren optimistischsten Augenblicken hätte Celia nicht erwartet, daß ihr Verkaufsprogramm für das neue Healthotherm - »die glückliche Mama«, wie es innerhalb der Firma genannt wurde - derart erstaunliche Ergebnisse erzielen würde. »Celia, Baby, das ist ja reinste Zauberei«, hatte Teddy Upshaw während einer Besprechung in ihrem Büro erklärt. »Daß Sie Klasse sind, habe ich ja schon immer gewußt, aber nicht, daß Sie sich als eiskaltes Genie entpuppen würden.«

Einen Monat nach dem Start der Werbekampagne in Presse, Rundfunk und Fernsehen war der Verkauf von Healthotherm um das Sechsfache gestiegen. Mehr noch - in der vierten Woche machte eine Flut von Großhandelsaufträgen deutlich, daß dies nur der Anfang war. Und tatsächlich hatten sich nach einem weiteren Monat die Verkaufszahlen nochmals verdoppelt, und es sah aus, als würden sie weiter steigen.

Celias Erfolg mit dem neuen Healthotherm wurde in der Zentrale von Felding-Roth aufmerksam beobachtet, und es wurden daraufhin in den letzten Monaten des Jahres 1964 Pläne entwik-kelt, auch andere Bray & Commonwealth-Produkte neu zu beleben; die Zustimmung für den notwendigen Kostenaufwand erfolgte automatisch. Sam Hawthorne erklärte: »Wir möchten zwar weiterhin gern wissen, was sich bei Ihnen tut, Celia - schließlich können auch wir noch etwas dazulernen -, aber ansonsten können Sie tun und lassen, was Sie für richtig halten. Sie haben völlig freie Hand.«

Celia konzentrierte sich darauf, bereits vorhandenen Produkten ein neues Image zu verschaffen.

Eines der Produkte war seit langem als B&C-Shampoo eingeführt. Auf Celias Vorschlag hin wurde der alte Name in kleinen Buchstaben zwar beibehalten, aber ein neuer in Großbuchstaben hinzugefügt - ZUM UMARMEN. Und direkt darunter, fast ebenso auffällig, stand der Slogan: So sanft wie Ihr Traummann. Der Slogan setzte sich zur Freude aller, die mit dem Verkauf des Shampoos zu tun hatten, durch und wurde zu einem landesweiten Schlagwort. Fernsehkomiker kolportierten den Satz, und auch in den Zeitungen erschienen Parodien darauf - unter anderem im Leitartikel des Wall StreetJournal, der einen Steuerplan des Weißen Hauses kritisierte und überschrieben war:

Keine sanfte Umarmung ihres Traumpräsidenten.

Dies und vieles mehr brachte dem Shampoo unerwartete Publicity, und der Umsatz stieg und stieg.

Wieder war es die Quadrille-Brown-Agentur, die die Werbekampagne für ZUM UMARMEN entwickelte, diesmal unter der Regie von Howard Bladen, der vom Assistenten zum leitenden Angestellten befördert worden war. Der junge Bladen, der schon bei dem neuen Healthotherm eine Rolle gespielt hatte, hatte den Platz des ernsten, besorgten Dexter Wilson eingenommen, der einfach verschwand, ohne daß Celia erfuhr, ob er die Agentur verlassen hatte oder auf einen anderen Posten versetzt worden war.

Parallel dazu war bei Bray & Commonwealth der jungenhafte Bill Ingram aufgerückt, den Celia zum Marketingchef gemacht hatte, um den Veteranen Grant Carvill zu ersetzen. Für Carvill wurde ein Posten gefunden, auf dem er - wie jemand unfreundlich bemerkte - »bis zur vorzeitigen Pensionierung Büroklammern zählte«.

Ingram, der den Wink von Celia aufgegriffen hatte, kam ständig mit neuen Marketing-Ideen. Und es war ebenfalls Ingram, der ihr die Nachricht überbrachte, daß in Michigan eine kleine pharmazeutische Firma zum Verkauf stand. »Die haben verschiedene Präparate, Mrs. Jordan, aber das einzig interessante ist das System 5, ein flüssiges Mittel gegen Erkältung, zum Abschwellen der Schleimhäute. Wie Sie wissen, haben wir da eine Angebotslücke. Wenn wir die Firma in Michigan kaufen, ihre anderen Präparate fallenlassen und System 5 übernehmen, ließe sich daraus etwas machen.«

Celia mußte an Andrews Worte über Erkältungsmittel denken und fragte: »Ist das System 5 denn gut?«

»Ich habe es von unseren Chemikern überprüfen lassen. Sie sagen, es wäre okay. Nichts Umwerfendes und auch nichts Besseres, als wir selbst zustande bringen könnten, wenn wir von Grund auf neu anfangen würden.«

Ingram fuhr sich mit der Hand durch die ständig zerzausten roten Haare. »Aber System 5 tut, was man von ihm erwartet, und ist bereits mit vernünftigen Absatzzahlen auf dem Markt, so daß wir nicht bei Null anfangen müßten.« Celia wußte, daß es wirtschaftlich rentabler war, ein rezeptfreies Produkt zu übernehmen, das bereits eingeführt war, als etwas völlig Neues auf den Markt zu bringen. Ein Neubeginn war nicht nur unglaublich teuer, die meisten neuen Produkte erwiesen sich als Fehlschläge und zogen ihre Hersteller ins Verderben.

»Geben Sie mir alle Einzelheiten schriftlich, Bill«, wies sie ihn an. »Ich werde es mir ansehen, und wenn ich glaube, daß es eine gute Idee ist, dann werde ich mit Sam reden.«

Ein paar Tage später fand Celia, daß es eine gute Idee war, und empfahl, die Firma in Michigan - und damit auch das Mittel gegen Erkältungen, System 5 - zu kaufen. Daraufhin wurde die kleine Firma in aller Stille über einen Vermittler, eine Anwaltskanzlei, erworben; die Verkäufer wußten nicht, in wessen Auftrag die Rechtsanwälte handelten. Derartige Methoden waren die Regel, denn wenn bekannt geworden wäre, daß ein Pharma-Kon-zern dahinterstand, wäre der Kaufpreis im Nu in die Höhe geschnellt. Bald darauf wurde das Lager geräumt und die Firma in Michigan geschlossen. Die Herstellung von System 5 sowie ein paar Leute, die damit zu tun hatten, wurden von Bray & Commonwealth in New Jersey übernommen.

Bill Ingram wurde damit beauftragt, den Verkauf von System 5 zu verbessern und auszuweiten.

Als erstes gab er eine ins Auge fallende moderne orangefarbene Verpackung in Auftrag, dazu einen passenden Plastikbehälter, der die grüne Glasflasche ersetzen sollte, in der das Mittel früher verkauft worden war; dann wurde es in System 500 umbenannt.

»Die höhere Zahl«, argumentierte er Celia gegenüber, »wird den Eindruck vermitteln, daß wir nicht nur das Äußere umgestaltet, sondern den Inhalt verstärkt und verbessert haben. Tatsächlich nehmen unsere Chemiker ein paar kleinere Änderungen in der Zusammensetzung vor, um die Herstellung effektiver zu machen.«

Celia prüfte das Präsentationsmuster und erklärte: »Ich schlage vor, direkt unter dem Namen noch eine Zeile hinzuzufügen.« Auf ein Blatt Papier kritzelte sie

System 500 bekämpft Erkältung systematisch und reichte es Ingram.

Er sah sie bewundernd an. »Ausgezeichnet! Die Leute werden das Gefühl haben, daß es wirklich ein System gibt, mit dem man Erkältungen bekämpfen kann. Es wird ihnen gefallen!«

Vergib mir, Andrew! dachte Celia. Das ist alles nur für ein Jahr. Aber dann fiel ihr ein, wie schnell die Zeit vergangen war und daß es bereits eineinhalb Jahre her war, seit sie zu Bray & Commonwealth gekommen war. Ichbin so damit verwachsen, dachte sie, daß ich manchmal fast meinen Wunsch vergesse, wieder zu den rezeptpflichtigen Mitteln zurückzukehren. Es macht wirklich Spaß hier.

»In sechs Monaten«, fuhr Bill Ingram begeistert fort, »wenn die neue Verpackung eingeführt ist, können wir mit den Tabletten rauskommen.«

»Mit was für Tabletten?«

Er sah beleidigt aus. »Haben Sie denn meine Aktennotiz nicht gelesen?«

Celia deutete auf einen Papierstapel auf ihrem Tisch. »Wahrscheinlich liegt sie irgendwo darunter. Erzählen Sie's mir also.«

»Okay. Die Tabletten sind nur eine andere Form von System 500. Die Substanzen werden dieselben sein, die Wirkung ebenfalls. Aber wir werden getrennt werben und das öffentliche Interesse gleich zweifach wecken. Natürlich wird die Version für Kinder abgeschwächt. Sie soll System 50 heißen; die kleinere Zahl weist darauf hin . . .«

»Ja«, sagte Celia. »Ja, ich verstehe - kleinere Zahl, kleinere Leute.« Sie lachte.

»Für den nächsten Winter«, fuhr Ingram unerschrocken fort, »wenn ganze Familien mit Erkältungen im Bett liegen, schlage ich vor, eine große Flasche System 500 als Familienpackung auf den Markt zu bringen. Wenn die ankommt, können wir mit einer noch größeren nachfassen.«

»Bill«, sagte Celia, noch immer lachend. »Das ist fast schon zuviel! Aber es gefällt mir. Wie war's denn mit System 500 in Aspik?«

»Für den fahrenden Handel?« Jetzt mußte auch er lachen. »Ich werde mich der Sache annehmen.«

Und während Celia und die rezeptfreien Pharmaerzeugnisse von Erfolg zu Erfolg eilten, spielten sich auf der Bühne der Welt wie eh und je Tragödien, Komödien und Konflikte ab.

Die Engländer und Franzosen verkündeten zuversichtlich wie seit 150 Jahren, daß in Kürze mit der Untertunnelung des Ärmelkanals begonnen würde. Jack Ruby, der Mörder von Präsident Kennedys Attentäter Oswald, wurde für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Präsident Johnson war mehr Erfolg beschieden als Kennedy - er brachte ein wichtiges Bürgerrechtsgesetz durch den Kongreß. Vier freche, charmante Liverpooler mit dem ungewöhnlichen Namen The Beatles entfachten die »Beatle-Manie«, die die ganze Welt erfaßte.

Kanada bekam - nach landesweiten Diskussionen, bei denen Zorn und Dummheit vorherrschten - eine neue Nationalflagge. Winston Churchill, der den Anschein erweckt hatte, ewig zu leben, starb mit neunzig Jahren. Und in den USA verabschiedete der Kongreß ohne großes Aufsehen die »Golf-von-Tonkin-Reso-lution«, die mit Vietnam, einem weit entfernten Land, zu tun hatte, und keiner ahnte, daß sich dadurch eine ganze Generation entfremden und Amerika entzweien würde.

»Ich möchte heute die Nachrichten im Fernsehen sehen«, sagte Andrew eines Abends im August 1965 zu Celia. »An einem Ort namens Watts, einem Stadtteil von Los Angeles, hat es Unruhen und Brandstiftungen gegeben.«

Sie verbrachten einen gemütlichen Abend zu Hause - ein seltenes Ereignis, da Celia in letzter Zeit häufig dienstlich unterwegs war. Wann immer es sich einrichten ließ, aßen die Kinder mit ihren Eltern zusammen zu Abend.

Celia hätte es auch gern gesehen, wenn die beiden ihre Großmutter häufiger bei sich gehabt hätten. Aber die Besuche von Mildred fanden - zum allgemeinen Bedauern - wegen ihres schlechten Gesundheitszustands nur noch selten statt. Celias Mutter litt seit längerem an Asthma, hatte jedoch Andrews Vorschlag, zu ihnen zu ziehen, abgelehnt. Sie zog ihre Unabhängigkeit in ihrem bescheidenen Heim in Philadelphia vor.

Andrews Mutter, die jetzt in Europa lebte, ließ selten von sich hören und hatte sie trotz zahlreicher Einladungen noch nie besucht. Sie kannte nicht einmal ihre Enkelkinder und verspürte offenbar auch kein Bedürfnis danach. »Wenn sie von uns hört, wird sie daran erinnert, daß sie alt ist«, bemerkte Andrew. »Und das möchte sie nicht. Es ist sicher besser, wenn wir sie in Ruhe lassen.«

Celia spürte die Trauer in seinen Worten.

Andrews Vater war gestorben; die Nachricht hatte sie nur durch Zufall, mehrere Monate nach seinem Tode, erreicht.

Lisa war inzwischen sieben Jahre alt und ging in die zweite Klasse. Sie war schon jetzt eine kleine Persönlichkeit, nahm die Schule ernst und war besonders stolz auf ihr ständig wachsendes Vokabular, wenn sie es auch manchmal überforderte. Als sie Ce-lia von einer Geschichtsstunde erzählte, in der sie die Anfänge der Vereinigten Staaten durchgenommen hatte, sagte sie: »Wir haben die amerikanische Konstipation gelernt, Mommy«, und ein anderes Mal, als sie einen Kreis erklären wollte: »Das Äußere ist der Umgang.«

Bruce, jetzt fast fünf Jahre alt, war im Gegensatz zu seiner Schwester zart und sensibel, was jedoch durch seinen drolligen Sinn für Humor kompensiert wurde. Das veranlaßte Celia einmal, Andrew gegenüber zu bemerken: »Brucie ist leicht verletzbar. Er wird mehr Schutz brauchen als Lisa.«

»Dann muß er tun, was ich getan habe«, erwiderte Andrew, »und eine starke, gute Frau heiraten.« In seiner Stimme schwang Zärtlichkeit mit, und Celia ging zu ihm und umarmte ihn.

»Ich erkenne in Brucie sehr viele von deinen Eigenschaften.«

Natürlich stritten sie sich auch gelegentlich; im Verlauf ihrer achtjährigen Ehe hatte es ein oder zwei wirklich ernste Auseinandersetzungen gegeben, aber nicht mehr, als zwischen Eheleuten normal war, und die kleinen Wunden, die dabei geschlagen wurden, verheilten schnell. Beide wußten, daß sie eine gute Ehe führten, und taten alles, um sie zu bewahren.

Die Kinder waren dabei, als sie im Fernsehen die Unruhen in Watts verfolgten.

»Mein Gott!« sagte Andrew leise, als die schrecklichen Szenen abliefen - Brandstiftung, Plünderungen, Verwüstungen, Brutalität und Mord, heftige Kämpfe zwischen erbitterten Schwarzen und belagerten Polizisten in dem heruntergekommenen abgeriegelten Elendsviertel, das Charcoal Alley hieß. Ein Alptraum aus Armut und Unglück, den die Welt zu ignorieren pflegte, außer in Augenblicken wie diesem, da Watts dramatischen Stoff fürs Fernsehen lieferte. »Mein Gott!« wiederholte Andrew. »Kannst du dir vorstellen, daß das unser Land ist, indem so etwas geschieht?«

Sie waren alle so vertieft, daß Celia erst gegen Ende auf Bruce aufmerksam wurde, der am ganzen Körper zitterte und bebte und leise in sich hineinschluchzte, während ihm Tränen über das Gesicht liefen.

Sie nahm ihn in die Arme und drängte Andrew: »Stell das Ding ab.«

Aber Bruce rief: »Nein, Daddy! Nein!« Und sie sahen weiter zu, bis die schrecklichen Szenen vorüber waren.

»Sie haben die Leute geschlagen, Mommy!« protestierte Bruce später.

Celia, die ihn noch immer tröstend in den Armen hielt, antwortete: »Ja, Brucie, das haben sie getan. Es ist traurig, und es ist nicht richtig. Aber manchmal passiert es eben.« Sie zögerte und fügte dann hinzu: »Und du wirst noch erfahren, daß Dinge, wie wir sie gerade gesehen haben, häufig passieren.«

Später, als die Kinder im Bett waren, sagte Andrew: »Es war alles entsetzlich deprimierend, aber du hast Brucie die richtige Antwort gegeben. Viel zu viele von uns leben wie in einem Kokon. Früher oder später muß auch Brucie lernen, daß es da draußen eine andere Welt gibt.«

»Ja«, sagte Celia nachdenklich. »Ich wollte mit dir schon lange darüber reden. Ich glaube, ich habe auch wie in einem Kokon gelebt.«

Ein Lächeln glitt über Andrews Gesicht. »Handelt es sich dabei vielleicht um einen rezeptfreien Kokon?«

»So ungefähr. Ich weiß, daß du manches von dem, was ich getan habe, nicht gebilligt hast, Andrew - Zum Beispiel Healtho-therm und System 500. Du hast nie viel dazu gesagt. Hat es dir sehr viel ausgemacht?«

»Vielleicht ein bißchen.« Er zögerte. »Ich bin stolz auf dich, Ce-lia, und auf das, was du tust, und deshalb werde ich auch froh sein, wenn du eines Tages zu den rezeptpflichtigen Arzneimitteln bei Felding-Roth zurückkehrst, von denen wir beide wissen, daß sie sehr viel wichtiger sind. Aber inzwischen gibt es ein paar Dinge, mit denen ich mich abgefunden habe. Zum Beispiel, daß die Leute auch weiterhin Schlangenöl kaufen werden, egal, ob du oder andere es herstellen. Also macht es keinen Unterschied, wer es tut. Wenn die Menschen keine rezeptfreien Säfte mehr kauften und statt dessen zu den Ärzten gingen, könnten wir den Ansturm gar nicht bewältigen.«

»Denkst du nicht nur so, weil es mich betrifft?« fragte Celia zweifelnd.

»Und wenn schon. Du bist schließlich meine Frau, und ich liebe dich.«

»Das gilt auch umgekehrt.« Sie beugte sich zu ihm und gab ihm einen Kuß. »Du kannst aufhören, vernünftig zu denken, Liebling. Ich war lange genug bei den Rezeptfreien. Morgen werde ich um meine Versetzung bitten.«

»Ich hoffe, daß es auch klappt.«

Andrews Gedanken aber waren ganz woanders.

Die Fernsehbilder aus Watts gingen ihm nicht aus dem Kopf. Genausowenig wie ein persönliches Problem, das nichts mit Ce-lia oder seiner Familie zu tun hatte - ein Problem, das in quälte und sich nicht lösen lassen wollte.

»Das Dilemma ist«, sagte Sam Hawthorne am nächsten Tag zu Celia, »daß Sie zu erfolgreich waren - jedenfalls erfolgreicher, als irgend jemand erwartet hätte. Sie sind eine Gans, die goldene Eier legt, deshalb hat man sie bei Bray & Commonwealth gelassen.« Sie saßen in Sams Büro in der Zentrale von Felding-Roth -ein Treffen, das auf Celias Bitte zustande gekommen war und bei dem sie um ihre Versetzung gebeten hatte.

»Ich habe hier etwas, das Sie interessieren wird«, sagte Sam. Er zog zwischen verschiedenen Akten einen Ordner hervor und schlug ihn auf. Von ihrem Platz aus konnte Celia erkennen, daß er Bilanzen enthielt.

»Das ist noch nicht im Umlauf, aber der Aufsichtsrat wird es bald zu sehen bekommen.« Sam legte den Finger auf eine Zahl. »Als Sie zu Bray & Commonwealth wechselten, lagen die Gewinne aus diesem Geschäftsbereich bei zehn Prozent aller Fel-ding-Roth-Einnahmen. In diesem Jahr werden es fünfzehn Pro-zent sein, mit steigender Tendenz.« Sam klappte den Ordner zu und lächelte. »Natürlich hat Ihnen der rückläufige Absatz bei rezeptpflichtigen Medikamenten ein bißchen geholfen. Trotzdem ist es eine gewaltige Leistung, Celia. Herzlichen Glückwunsch!«

»Danke«, sagte Celia erfreut. Sie hatte erwartet, daß die Zahlen günstig sein würden, aber auf ein solches Ergebnis war sie nicht gefaßt. Sie überlegte kurz. »Ich glaube, daß die Rezeptfreien ihren Erfolgskurs beibehalten werden, und Bill Ingram hat sich sehr gut eingearbeitet. Und da es - wie Sie gerade sagten - um die rezeptpflichtigen Produkte nicht so gut steht, könnte ich mich dort vielleicht ein wenig nützlich machen.«

»Das werden Sie auch«, sagte Sam. »Ich verspreche es Ihnen. Vielleicht haben wir sogar etwas ganz besonders Interessantes für Sie. Aber ein paar Monate müssen Sie sich noch gedulden.«

3

In Leonard Sweetings Büro standen sich der Verwaltungsdirektor des St. Bede's Hospital und Andrew gegenüber. Es herrschte eine gespannte Atmosphäre. Es war ein Freitag, kurz vor Mittag.

»Dr. Jordan«, sagte Leonard Sweeting mit strenger Stimme und ernstem Gesichtsaudruck, »bevor Sie weiterreden, möchte ich Ihnen raten, sich gut zu überlegen, was Sie sagen, und auch an die möglichen Folgen zu denken.«

»Verdammt noch mal!« stieß Andrew hervor. Nach einer schlaflosen Nacht drohte er jeden Augenblick aus der Haut zu fahren. »Glauben Sie denn, das hätte ich nicht schon getan?«

»Davon ging ich aus. Ich wollte nur ganz sicher sein.« Wie gewöhnlich zog Sweeting die dicken, buschigen Augenbrauen hoch, während er sprach.

»Also gut - fangen wir noch mal an, Leonard, und diesmal mache ich es ganz offiziell.« Andrew wählte seine Worte sorgfältig. »Mein Partner, Dr. Noah Townsend, hält sich im Augenblick oben auf der Station zur Visite auf. Soviel ich weiß, steht Dr. Townsend unter dem Einfluß von Drogen, er ist süchtig. Meiner Meinung nach ist er nicht fähig zu praktizieren und stellt damit ein Risiko für die Patienten dar. Wie ich erfahren habe, ist in dieser Woche ein Krankenhauspatient gestorben, weil Noah Townsend ein Fehler unterlaufen ist, als er unter Drogen stand.«

»Großer Gott!« Bei dem letzten Satz war der Verwaltungsdirektor blaß geworden. »Könnten Sie nicht wenigstens diesen letzten Punkt aus dem Spiel lassen, Andrew?«

»Das kann ich nicht und das werde ich nicht! Ich verlange von Ihnen, daß Sie sofort etwas unternehmen. Etwas, das Sie schon vor vier Jahren hätten unternehmen sollen, als wir beide wußten, was vorging, Sie es aber vorzogen, den Mund zu halten und die Augen zu verschließen.«

»Ich muß etwas unternehmen«, brummte Leonard Sweeting. »Rechtlich habe ich nach dem, was Sie mir gesagt haben, keine andere Wahl. Aber was die Vergangenheit betrifft, so weiß ich von nichts.«

»Sie lügen«, sagte Andrew, »und wir beide wissen das. Aber ich werde es übergehen, denn damals war ich genauso feige wie Sie. Mich interessiert nur, was jetzt ist.«

Der Verwaltungsdirektor stieß einen Seufzer aus. Halb zu sich selbst sagte er: »Das mußte ja mal kommen.«

Dann ging er zu seinem Schreibtisch und nahm den Telefonhörer ab.

»Versuchen Sie, den Vorsitzenden des Verwaltungsrats zu erreichen«, wies er seine Sekretärin an, »was auch immer er gerade tut - sagen Sie seinen Leuten, es ist dringend. Wenn das erledigt ist, berufen Sie eine Versammlung des Ärztekomitees ein. Das Treffen findet umgehend im Sitzungssaal statt.« Sweeting warf einen Blick auf die Uhr. »Die meisten Abteilungschefs müßten jetzt im Hause sein.«

Als der Verwaltungsdirektor den Hörer auflegte, verzog er angestrengt das Gesicht. »Das ist ein schlimmer Tag für uns alle, Andrew. Aber ich weiß, daß Sie getan haben, was Sie glaubten, tun zu müssen.«

Andrew nickte düster. »Was geschieht als nächstes?«

»In wenigen Minuten wird das Ärztekomitee zusammentreten. Man wird Sie hereinrufen. Warten Sie solange hier.«

Irgendwo erklang eine Mittagssirene.

Er hatte schon viel zu lange gewartet, überlegte Andrew mutlos. Er hatte gewartet, bis ein Patient - ein junger Patient, der vielleicht noch viele Jahre hätte leben können - gestorben war.

Nachdem er vor vier Jahren und acht Monaten entdeckt hatte, daß Noah Townsend rauschgiftsüchtig war, hatte Andrew, so gut er konnte, den älteren Arzt beobachtet - um sich zu vergewissern, daß es zu keinen Fehldiagnosen kam. Und obwohl seiner Beobachtung Grenzen gesetzt waren, konnte er beruhigt feststellen, daß sich Noah kein ernsthaftes Fehlverhalten zuschulden kommen ließ.

Als würde er die Sorgen seines Kollegen ahnen, sprach Noah häufig seine schwierigen Fälle mit Andrew durch, und dabei zeigte es sich, daß die diagnostischen Fähigkeiten des älteren Arztes unter dem Einfluß der Drogen nicht gelitten hatten.

In anderer Hinsicht aber wurde Dr. Townsend immer sorgloser. Er gab sich kaum noch Mühe, die Tabletteneinnahme vor Andrew zu verbergen, und wies in zunehmendem Maße Merkmale eines Drogensüchtigen auf - verschwommene Augen, undeutliche Aussprache, zitternde Hände -, sowohl in der Praxis als auch im St. Bede's Hospital. In seiner Praxis ließ er Dutzende von Ärztemustern herumliegen, machte sich nicht einmal die Mühe, sie wegzuräumen, und bediente sich davon - auch wenn Andrew bei ihm war -, als wären es Bonbons.

Manchmal fragte sich Andrew, wie Townsend es fertigbrachte, ständig unter Drogen zu stehen und trotzdem nach außen hin noch so gut zu funktionieren. Das machte die Gewohnheit, vermutete er, und der Instinkt. Noah übte den Arztberuf so viele Jahre aus, daß ihm selbst schwierige Diagnosen leichtfielen. In gewisser Hinsicht, dachte Andrew, glich Noah einer defekten Maschine, die aus eigenem Antrieb weiterlief. Aber die Frage war: Wie lange noch?

Niemand im St. Bede's schien Andrews Sorgen zu teilen. 1961 aber - ein Jahr nach Andrews Entdeckung und dem ersten Gespräch mit Leonard Sweeting - trat Noah Townsend als Chefarzt zurück und auch aus dem Vorstand des Krankenhauses aus. Ob Townsend von selbst auf die Idee gekommen war oder ob man es ihm nahegelegt hatte, wußte Andrew nicht. Von diesem Zeitpunkt an zog sich Townsend auch mehr und mehr aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Und in der Praxis verringerte er die Zahl seiner Patienten, indem er Neuzugänge meist an Andrew und Oscar Aarons, einen jungen Doktor, der in ihre Praxis eingetreten war, verwies.

Von Zeit zu Zeit machte sich Andrew zwar Sorgen um Noah und seine Patienten, aber da das Problem nicht aktuell zu sein schien, unternahm er nichts und gab sich dem Wunschdenken hin, daß schon nichts passieren würde.

Bis zur letzten Woche.

Dann geschah alles ganz plötzlich und unerwartet.

Zunächst hatte Andrew nur unvollständige Informationen erhalten. Aber nachdem er mißtrauisch geworden war und Fragen gestellt hatte, konnte er die Ereignisse bald in den richtigen Zusammenhang bringen.

Alles hatte Dienstag nachmittag begonnen.

Kurt Wyrazik, ein neunundzwanzigjähriger Mann, war in Dr. Townsends Praxis gekommen und hatte über einen rauhen Hals, Übelkeit, Husten und Fieber geklagt. Die Untersuchung zeigte, daß sein Hals entzündet war; er hatte 39° Fieber, und sein Atem ging schnell. Die auskultatorische Untersuchung ergab, wie sich Noah Townsends Aufzeichnungen entnehmen ließ, abgeschwächtes Atemgeräusch, Rasseln in der Lunge und ein reibendes Geräusch in der Rippengegend. Er tippte auf Lungenentzündung und wies Wyrazik ins St. Bede's Hospital ein, wo er ihn sich noch am selben Tag genauer ansehen wollte.

Wyrazik war ihm als Patient bekannt. Er hatte schon mehrmals die Praxis aufgesucht, das erste Mal vor drei Jahren. Damals hatte er ebenfalls einen entzündeten Hals gehabt, und Townsend hatte ihm hin und wieder eine Penicillinspritze gegeben.

In den Tagen nach der Spritze besserte sich Wyraziks Hals, aber er bekam einen juckenden Hautausschlag, der anzeigte, daß er gegen Penicillin allergisch war. Dr. Townsend machte sich eine entsprechende rot unterstrichene Notiz in seiner Patientenkartei.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Wyrazik nichts von seiner Penicillinallergie gewußt.

Beim zweiten Mal, als Wyrazik mit geringfügigen Beschwerden in die Praxis kam, war Noah Townsend gerade nicht anwesend, und Andrew untersuchte ihn. Als er die Aufzeichnungen durchlas, fiel ihm der Hinweis auf die Penicillinallergie ins Auge.

Aber das hatte zu diesem Zeitpunkt keine Bedeutung, da Andrew ihm kein Medikament verschrieb.

Das war vor etwa anderthalb Jahren gewesen - und das letzte Mal, daß er Wyrazik lebend sah.

Wyrazik wurde im St. Bede's Hospital in ein Krankenzimmer zu drei weiteren Patienten gelegt. Bald danach wurde er von einem Stationsarzt untersucht, der seine Krankengeschichte aufnahm. Das geschah routinemäßig. Eine der Fragen, die der Arzt stellte, lautete: »Sind sie gegen irgend etwas allergisch?« Wyrazik erwiderte: »Ja - gegen Penicillin.« Frage und Antwort wurden im Krankenblatt notiert.

Dr. Townsend hielt sein Versprechen und suchte Wyrazik später im Krankenhaus auf, zuvor aber telefonierte er mit dem St. Bede's Hospital und verordnete dem Patienten Erythromycin. Der Stationsarzt befolgte diese Anweisung. Da die Patienten bei Lungenentzündung in der Regel Penicillin bekamen, mußte Townsend die Allergiewarnung in seiner Kartei gelesen oder sich daran erinnert haben.

Kurt Wyrazik war Leiter einer Versandabteilung, ein stiller, bescheidener Mann. Er lebte allein und war in jeder Hinsicht ein »Einzelgänger«. Während seines Krankenhausaufenthalts erhielt er keinen Besuch. Wyrazik war Amerikaner, seine Eltern aber waren polnische Emigranten. Die Mutter war tot, der Vater lebte in einer kleinen Stadt in Kansas bei Kurts älterer, ebenfalls unverheirateter Schwester. Die beiden waren die einzigen Menschen auf der Welt, zu denen Kurt Wyrazik eine Beziehung hatte. Allerdings teilte er ihnen nicht mit, daß er krank war und im St. Bede's Hospital lag.

Am Abend des zweiten Krankenhaustages gegen zwanzig Uhr stattete Dr. Townsend ihm erneut einen Besuch ab. An diesem Punkt kam auch Andrew indirekt mit dem Fall in Berührung. Noah Townsend hatte vor kurzem damit begonnen, seine Krankenhauspatienten zu ungewöhnlichen Zeiten zu besuchen. Wie Andrew und andere später vermuteten, tat er es, um seinen Kollegen aus dem Weg zu gehen oder aber wegen einer allgemeinen Orientierungslosigkeit aufgrund der Rauschmittel. Es traf sich, daß Andrew wegen eines Notfalls an diesem Abend ebenfalls im St. Bede's war. Er wollte das Krankenhaus gerade verlassen, als Townsend eintraf. Sie sprachen kurz miteinander.

Andrew erkannte an Noah Townsends Verhalten sofort, daß der ältere Kollege unter dem Einfluß von Drogen stand, die er wahrscheinlich erst kurz zuvor eingenommen hatte. Andrew zögerte, aber da er mit dieser Situation nun schon so lange lebte, unternahm er nichts. Später sollte er sich deswegen bittere Vorwürfe machen.

Townsend nahm den Lift zur Krankenstation, wo er mehrere Patienten aufsuchte, als letzten den jungen Wyrazik.

Was zu diesem Zeitpunkt in Townsends Kopf vorging, läßt sich nur vermuten. Bekannt war jedoch, daß sich Wyraziks Zustand verschlechtert hatte. Die Temperatur war gestiegen, und er atmete schwer. Vermutlich nahm Townsend in seinem benebelten Zustand an, daß das von ihm verschriebene Medikament nicht richtig anschlug. Er schrieb neue Anweisungen auf, die er, nachdem er Wyrazik verlassen hatte, persönlich im Stationsdienstzimmer ablieferte.

Nach der Verordnung erhielt der Patient intramuskulär alle sechs Stunden 600.000 Einheiten Penicillin, wobei die erste Injektion sofort erfolgen sollte.

Da die Oberschwester krank war, wurde der Nachtdienst von einer jungen und unerfahrenen Schwester versehen, die zudem sehr beschäftigt war. Weil sie an Dr. Townsends Anweisung nichts Ungewöhnliches fand, führte sie sie sofort aus. Sie wußte nichts von den Notizen auf der Karteikarte und ahnte deshalb auch nichts von der Warnung vor Penicillin.

Wyrazik befand sich, als die Schwester zu ihm kam, in fiebrigem und schläfrigem Zustand. Er fragte nicht, was man ihm spritzte, und die Schwester erklärte es ihm auch nicht. Unmittelbar nach der Injektion verließ die Schwester Wyraziks Krankenzimmer.

Was dann geschah, konnte man, gestützt auf die Schilderungen eines der Mitpatienten, nur vermuten.

Wyrazik mußte innerhalb weniger Augenblicke schwere Angstzustände durchlitten haben, begleitet von einem plötzlichen Jucken am ganzen Körper und einer starken Rötung der Haut. In einem anhaltenden, schnellen Prozeß trat ein anaphylak-tischer Schock mit plötzlichen Schwellungen des Gesichts, der Augenlider, des Mundes, der Zunge und des Kehlkopfs ein, begleitet von Würgen und Keuchen. Der geschwollene Kehlkopf mußte die Luftwege blockiert und die Atmung verhindert haben, woraufhin - wie eine Gnade nach all den Schmerzen - Bewußtlosigkeit und schließlich der Tod eintrat. Das Ganze hatte sich innerhalb von etwa fünf Minuten abgespielt.

Als sofortige Gegenmaßnahme hätte man Adrenalin injizieren und einen Luftröhrenschnitt machen müssen. Aber niemand rief um Hilfe, und als Hilfe kam, war es zu spät.

Ein Bettnachbar, der beobachtet hatte, wie der Kranke sich herumwarf, und auch die Erstickungsgeräusche gehört hatte, drückte auf die Klingel. Aber als die Schwester kam, war Kurt Wyrazik bereits tot.

Die Schwester ließ sofort einen Arzt ausrufen. Dr. Townsend befand sich noch im Krankenhaus. Er traf als erster ein und nahm die Angelegenheit sofort in die Hand. Wieder konnte man nur ahnen, was ihn zu seinen Handlungen veranlaßte.

Höchstwahrscheinlich durchdrang die Erkenntnis dessen, was geschehen war, seine benebelten Sinne, so daß er unter großer Willensanstrengung mit dem begann, was - wenn Andrew nicht später eingegriffen hätte - ein erfolgreiches Vertuschungsma-növer geworden wäre. Es mußte ihm klar sein, daß die Schwester nichts von der Penicillinallergie wußte. Und es war möglich, daß man, wenn er Glück hatte, die beiden belastenden Punkte - die frühere Eintragung auf der Karteikarte und die Penicillininjektion - nicht miteinander in Verbindung brachte. Wenn es ihm also gelang, für den Tod natürliche Ursachen anzugeben, würde der wahre Grund vielleicht im dunkeln bleiben. Es konnte Townsend auch nicht entgangen sein, daß Kurt Wyrazik keine Freunde hatte, jedenfalls keine, die bohrende Fragen stellen würden. »Armer Kerl!« sagte Townsend zu der Schwester. »Sein Herz hat versagt. Ich habe so etwas befürchtet. Er hatte ein schwaches Herz, wissen Sie.«

»Ja, Herr Doktor.« Die junge Schwester war erleichtert, daß man sie nicht verantwortlich machte. Außerdem war Noah Townsend selbst jetzt noch eine beeindruckende Persönlichkeit, und seine Worte wurden nicht in Frage gestellt. Das tat auch der Stationsarzt nicht, den man gerufen hatte und der sich wieder anderen Pflichten zuwandte, nachdem er festgestellt hatte, daß ein »behandelnder« Arzt anwesend war und er nicht benötigt wurde.

Townsend stieß einen Seufzer aus.

»Es gibt ein paar Dinge, die bei einem Todesfall getan werden müssen, junge Frau«, wandte er sich an die Schwester. »Sie und ich werden das erledigen.«

Dazu gehörte auch die Ausstellung eines Totenscheins, auf dem Noah Townsend als Todesursache »akutes Herzversagen infolge Lungenentzündung« vermerkte.

Andrew erfuhr von Kurt Wyraziks Tod durch Zufall am Donnerstag morgen.

Als er durch das Vorzimmer der Praxis ging, das er mit Townsend und Dr. Aarons teilte, hörte Andrew, wie Peggy, die Sprechstundenhilfe, die jetzt anstelle der ausgeschiedenen Violet Parsons für sie arbeitete, am Telefon etwas von »Dr. Townsends Patient, der letzte Nacht gestorben ist« sagte. Kurz danach traf er Townsend und sagte mitfühlend: »Wie ich hörte, haben Sie einen Patienten verloren.«

Der ältere Kollege nickte. »Sehr traurig. Ein noch junger Bursche; Sie haben ihn einmal für mich untersucht. Wyrazik. Er hatte eine schwere Lungenentzündung und dazu ein schwaches Herz. Es hat versagt. Ich fürchtete, daß so etwas eintreten könnte.« Andrew hätte üblicherweise nicht weiter über die Sache nachgedacht; der Tod eines Patienten war zwar bedauernswert, aber nichts Ungewöhnliches. Townsends Benehmen machte ihn jedoch stutzig und weckte ein leichtes Unbehagen. Dieses Gefühl veranlaßte Andrew etwa eine Stunde später, nachdem Townsend die Praxis verlassen hatte, die Karteikarte von Wyra-zik hervorzuholen. Jetzt erinnerte er sich an den Mann, und während er die Eintragungen durchsah, fielen Andrew zwei Dinge auf: Das eine war der Hinweis auf eine Penicillinallergie, der nicht weiter wichtig schien. Das andere war das Fehlen jedes Hinweises auf ein Herzleiden, was ihm wesentlich schien.

Da Andrews Neugier geweckt war, beschloß er, noch am selben Tag diskret Nachforschungen über Wyraziks Tod anzustellen.

Am Nachmittag ging er in die Registratur des St. Bede's Hospitals, wohin man Wyraziks Krankengeschichte und die anderen Papiere von der Station gebracht hatte, nachdem der Patient gestorben war.

Andrew las die letzte Eintragung im Krankenblatt zuerst: die Todesursache, wie Dr. Townsend sie notiert hatte, dann ging er die Angaben von hinten nach vorn durch. Fast sofort sprang ihm die Anweisung in Townsends Handschrift ins Auge: 600.000 Einheiten Penicillin. Es traf ihn wie ein Blitz. Genauso erschütternd war die Notiz der Schwester, die das Penicillin gespritzt hatte, und zwar, wie die Zeitangaben zeigten, kurz vor Wyraziks Tod.

Andrew las den Rest der Akte - einschließlich der Notiz des Stationsarztes über die Penicillinallergie und der früheren Anordnung, Erythromycin zu geben - wie in Trance. Als er die Papiere weglegte, zitterten seine Hände, und sein Herz klopfte.

Was sollte er tun? An wen sollte er sich wenden?

Andrew ging zur Leichenhalle, um sich Wyraziks Leiche anzu-sehen.

Die Augen des Toten waren geschlossen, die Gesichtszüge gefaßt. Außer einer leicht blauvioletten Färbung der Gesichtshaut, die auch andere Ursachen haben konnte, waren keine Anzeichen eines anaphylaktischen Schocks zu erkennen, der, wovon Andrew jetzt überzeugt war, diesen jungen Mann völlig unnötig das Leben gekostet hatte.

»Ist eine Autopsie angeordnet?« fragte er den Wärter, der ihn begleitet hatte.

»Nein, Sir. Es gibt eine Schwester, die angeblich aus Kansas herkommt. Er soll eingeäschert werden, sobald sie da ist.«

Andrews Gedanken wirbelten durcheinander. Er erinnerte sich an seine Erfahrung mit dem Verwaltungsdirektor des Krankenhauses und wußte immer noch nicht, was er als nächstes tun sollte. Sollte er auf die Notwendigkeit einer Autopsie hinweisen? Eines wußte Andrew mit Sicherheit: Eine Autopsie würde zeigen, daß kein Herzversagen vorgelegen hatte. Aber selbst ohne eine Autopsie waren die Eintragungen im Krankenblatt Beweis genug. Es war fast Abend, die Krankenhausärzte waren nach Hause gegangen, und er konnte nichts anderes tun, als bis zum nächsten Tag zu warten.

Die ganze Nacht lag Andrew wach und grübelte, während Ce-lia, die von den Problemen ihres Mannes nichts wußte, neben ihm schlief. Sollte er dem Ärztekomitee des Krankenhauses mitteilen, was er wußte, oder war eine unparteiische Untersuchung vorzuziehen? Sollte er sich an offizielle Stellen außerhalb des Krankenhauses wenden oder zunächst mit Noah Townsend reden und sich seine Erklärung anhören? Aber dann rief er sich ins Gedächtnis, wie sehr Noahs Persönlichkeit sich verändert hatte, mehr noch, als nach außen hin sichtbar wurde.

Der Noah, den Andrew einmal gekannt und respektiert, ja sogar geliebt hatte, war aufrecht und ehrbar, hatte strenge Ansichten über ärztliche Ethik und Moral und hätte weder sich selbst noch anderen eine solche verhängnisvolle Nachlässigkeit oder die darauffolgenden Ausflüchte verziehen. Der alte Noah Townsend hätte sich gestellt und die Konsequenzen auf sich ge-nommen, wie hart sie auch ausgefallen wären. Nein, eine persönliche Konfrontation würde nichts bringen.

Am Ende beschloß Andrew erschöpft, seine Erkenntnisse nicht über die Grenzen des Krankenhauses hinauszutragen. Wenn weitere Maßnahmen nötig waren, sollten das andere entscheiden. Am nächsten Morgen schrieb er in der Praxis einen ausführlichen Bericht über das, was er wußte. Kurz vor Mittag ging er ins St. Bede's Hospital und trat dem Verwaltungsdirektor gegenüber.

4

Wenn ich die Augen zumache, dachte Andrew, komme ich mir vor wie bei einer Elternversammlung in der Schule oder bei einer geschäftlichen Besprechung in einer Schraubenfabrik, auf der gerade alltägliche, routinemäßige Entscheidungen getroffen werden.

Satzfetzen drangen an sein Ohr. »Könnte ich darüber einen Beschluß haben ?«

»Herr Vorsitzender, ich schlage vor. . . «

»Stimmt dem jemand zu ?«

». . . vorgeschlagen undZustimmunggefunden. . . diejenigen, die für den Beschluß sind. . . «

Im Chor ein »Ja«.

»Dagegen ?«

Schweigen.

». . . erkläre ich den Beschluß für einstimmig angenommen: Dr. Townsend wird von seinem Dienst im Krankenhaus suspendiert.«

Waren diese wenigen Sätze alles, was sich über das plötzliche Ende einer lebenslangen hingebungsvollen ärztlichen Tätigkeit sagen ließ?

Andrew schämte sich nicht, als er spürte, wie ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Er war sich bewußt, daß ihn die anderen, die mit ihm im Sitzungszimmer saßen, beobachteten, machte aber keine Anstalten, seine Tränen zu verbergen.

»Dr. Jordan«, sagte der Vorsitzende des Ärztekomitees rück-sichtsvoll, »bitte glauben Sie, daß wir alle Ihre Trauer teilen. Noah war und ist unser Freund und Kollege. Wir achten Sie um dessentwillen, was Sie getan haben. Wir wissen alle nur zu gut, wie schwierig der Entschluß für Sie gewesen sein muß. Was wir getan haben, war genauso schwierig, aber auch genauso notwendig.« Andrew nickte, weil ihm die Stimme versagte.

Der Vorsitzende, Dr. Ezra Gould, Neurologe und Chefarzt, war seit drei Jahren Nachfolger von Noah Townsend in diesem Amt. Gould war ein kleiner, sanfter Mann, der auf seine ruhige Art großen Respekt genoß. Zum Komitee gehörten außerdem die Chefärzte der verschiedenen Abteilungen - Chirurgie, Geburtshilfe und Gynäkologie, Pathologie, Kinderheilkunde, Radiologie und so weiter. Andrew kannte die meisten recht gut. Es waren integre, teilnahmsvolle Menschen, die nur taten, was sie tun mußten, wenn sie in Andrews Augen auch zu lange gezögert hatten.

»Herr Vorsitzender«, sagte Leonard Sweeting, »ich sollte das Komitee darüber informieren, daß ich in Erwartung seiner Entscheidung eine Stellungnahme vorbereitet habe, die überall im Haus verteilt werden wird - an die Abteilungen, die Aufnahme, die Krankenhausapotheke und so weiter. Ich habe mir erlaubt, als Anlaß für Dr. Townsends Suspendierung gesundheitliche Gründe< anzugeben. Ich glaube, das ist einigermaßen diskret. Sind Sie einverstanden?«

Gould sah die anderen fragend an. Es gab zustimmendes Murmeln.

»Einverstanden«, sagte Gould.

»Ich möchte Sie auch inständig bitten«, fuhr der Verwaltungsdirektor fort, »von dieser Angelegenheit so wenig wie möglich nach außen dringen zu lassen.«

Leonard Sweeting hatte von dem Augenblick an, als der Anlaß des Treffens bekannt wurde, das Verfahren an sich gerissen -zum Schrecken und zur Verwirrung der Ärzte, die so eilig zusammengerufen worden waren. Außerdem hatte sich Sweeting schon vor der Sitzung mit Fergus McNair, dem Präsidenten des Krankenhauses, einem älteren Rechtsanwalt, der eine Kanzlei in Mor-ristown hatte, telefonisch beraten. Die Unterhaltung war in An-drews Gegenwart geführt worden, und obgleich er nur die eine Seite hören konnte, waren die emphatischen letzten Worte des Präsidenten bis zu ihm gedrungen: »Schützen Sie das Krankenhaus.«

»Ich werde mein möglichstes tun«, hatte der Verwaltungsdirektor gesagt.

Danach war Sweeting in den an sein Büro grenzenden Sitzungssaal gegangen, hatte die Tür hinter sich zugemacht und Andrew allein gelassen. Nach ein paar Minuten öffnete sich die Tür wieder, und Andrew wurde hereingerufen.

Alle um den Konferenztisch Versammelten blickten ihn ernst an.

»Dr. Jordan«, sagte Dr. Gould, der Vorsitzende, »wir sind über Ihre Anschuldigungen informiert worden. Bitte berichten Sie uns nun, was Sie wissen.«

Andrew wiederholte, was er zuvor schon dem Verwaltungsdirektor vorgetragen hatte, und zog dabei gelegentlich seine Notizen zu Rate. Auf seiner Erklärung folgten ein paar Fragen und eine kurze Diskussion. Leonard Sweeting legte dann die Krankengeschichte des Verstorbenen Kurt Wyrazik vor, die zusammen mit der Karteikarte und ihren belastenden Eintragungen, die die Ärzte mit betroffenem Kopfschütteln prüften, herumgereicht wurde.

Andrew hatte den Eindruck, daß das Thema an sich die Mitglieder des Komitees nicht sonderlich überraschte, auch wenn sie die heutigen Enthüllungen nicht erwartet hatten. Als nächstes war die förmliche Abstimmung erfolgt, durch die Noah Townsend seines Amtes im St. Bede's Hospital, das er so lange ausgeübt hatte, enthoben wurde.

Dann sagte der Chefarzt der Kinderabteilung, ein hagerer Mann aus New England, mit schleppender Stimme: »Worüber wir noch nicht gesprochen haben: Was soll mit dem jungen Mann geschehen, der gestorben ist?«

»Nach allem, was wir wissen«, erwiderte der Verwaltungsdirektor, »wird es nötig sein, eine Autopsie vorzunehmen. Kurz vor der Sitzung habe ich mit dem Vater des Verstorbenen in Kansas telefoniert - seine Schwester ist auf dem Weg hierher -, und er hat die notwendige Erlaubnis erteilt. Die Autopsie wird noch heute vorgenommen.« Sweeting warf einen Blick auf den Chef der Pathologie, der seine Zustimmung bekundete.

»In Ordnung«, meinte der Kinderarzt. »Aber was sagen wir seiner Familie?«

»Um ganz ehrlich zu sein«, erklärte Sweeting, »das ist der rechtlichen Fragen wegen, um die es dabei geht, ein heikles Problem, das sich aber lösen läßt. Ich schlage vor, die Entscheidung darüber Dr. Gould, mir und Mr. McNair zu überlassen, der in Kürze hier sein wird und der uns auch in allen rechtlichen Fragen beraten wird. Vielleicht werden wir dem Komitee später Bericht erstatten.«

»Sind alle einverstanden?« fragte Dr. Gould. Die Anwesenden nickten zustimmend und zeigten, wie es schien, eine Spur von Erleichterung.

Vielleicht, das war das entscheidende Wort, dachte Andrew. Vielleicht . . . werden wir dem Komitee Bericht erstatten. Aber vielleicht werden wir es auch nicht tun.

Dem Krankenhaus, in der Person von Leonard Sweeting und seinem Chef Fergus McNair, wäre es zweifellos am liebsten, wenn alle zum Schweigen gebracht werden könnten und der junge Kurt Wyrazik, das unschuldige Opfer, eingeäschert und vergessen würde. Und eigentlich konnte man Sweeting oder McNair deswegen nicht einmal böse sein, überlegte Andrew. Sie trugen die Verantwortung. Und wenn das Ganze zu einem Fall für die Gerichte wurde, waren die finanziellen Folgen nicht abzusehen. Ob die Versicherung die Kosten übernehmen würde, wußte Andrew nicht, und es war ihm auch egal. Er wußte nur das eine: Daß er sich an einer Vertuschung nicht beteiligen würde.

Der Vorsitzende klopfte Ruhe gebietend auf den Tisch.

»Wir kommen nun«, sagte Dr. Gould, »zum schwierigsten Teil. Ich werde zu Noah Townsend gehen und ihm mitteilen müssen, was hier beschlossen wurde. Wie ich höre, ist er noch im Hause. Möchte jemand von Ihnen mitkommen?«

»Ich komme mit«, sagte Andrew. Es war das mindeste, was er tun konnte, fand er. Soviel war er Noah schuldig.

Als er später noch einmal in aller Ruhe darüber nachdachte, hatte Andrew trotz der pathetischen Szene, die sich in der Folge abgespielt hatte, das Gefühl, daß Noah Townsend auf sie gewartet hatte und erleichtert war, als er sie kommen sah.

Dr. Ezra Gould und Andrew waren aus dem Lift gestiegen und nach rechts in einen betriebsamen Gang eingebogen, an dem Krankenzimmer und eine Pflegestation lagen. Am Ende des Gangs stand Townsend - regungslos; er schien in die Luft zu starren.

Als die beiden Männer näher kamen, drehte er den Kopf zu ihnen um und schien in sich zusammenzuschrumpfen, dann wandte er sich wieder ab. Einen Augenblick später änderte er plötzlich seine Meinung. Mit einem Ruck drehte er sich erneut zu ihnen um, seine Gesichtszüge waren zu einem unechten Lächeln verzerrt, und er streckte ihnen die zusammengelegten Hände entgegen.

»Haben Sie Handschellen mitgebracht?« fragte er.

Gould war verwirrt. »Noah«, sagte er, »ich muß mit Ihnen reden. Lassen Sie uns irgendwohin gehen, wo wir unter uns sind.«

»Wozu es geheimhalten?« Das klang wie ein Aufschrei, und es hatte den Anschein, als habe Townsend absichtlich so laut gesprochen; eine Schwester und mehrere Patienten drehten neugierig den Kopf nach ihnen um. »Wird es das ganze Krankenhaus nicht ohnehin wissen, bevor der Tag um ist?«

»Nun gut«, sagte Gould ruhig, »Wenn Sie darauf bestehen, werden wir es hier erledigen. Es ist meine Pflicht, Noah, Ihnen zu sagen, daß das Ärztekomitee mit dem größten Bedauern beschlossen hat, Sie von Ihrem Dienst im Krankenhaus zu suspendieren.«

»Haben Sie eine Ahnung« - Townsends Stimme war noch immer sehr laut -, »wie lange ich diesem Krankenhaus angehört und wieviel ich dafür getan habe?«

»Ich weiß, daß es viele Jahre waren, und jeder weiß, daß Sie viel dafür getan haben.« Gould spürte voller Unbehagen, daß es immer mehr Zuhörer gab. »Bitte, Noah, können wir nicht . . .«

»Zählt das denn alles nichts?«

»In diesem Fall, leider nein.«

»Fragen Sie Andrew, wieviel ich getan habe! Los, fragen Sie ihn doch!«

»Noah«, sagte Andrew. »Ich habe ihnen das mit Wyrazik gesagt. Es tut mir leid, aber ich mußte es tun.«

»Ah, ja! Wyrazik.« Townsend machte ruckartige Bewegungen mit dem Kopf; er sprach jetzt leiser. »Dieser arme junge Kerl. Er hätte etwas Besseres verdient. Es tut mir seinetwegen leid. Es tut mir wirklich leid.«

Dann verlor er plötzlich die Fassung und brach weinend zusammen. Er zitterte am ganzen Körper und wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt. Dazwischen stammelte er unzusammenhängende Sätze. ». . . das erste Mal . . . noch nie einen Fehler . . . bestimmt übersehen . . . wird nicht noch mal passieren . . . verspreche ich Ihnen . . .«

Andrew wollte nach Townsends Arm greifen, aber Ezra Gould kam ihm zuvor. Er packte Townsend am Arm. »Noah, kommen Sie hier weg. Es geht Ihnen nicht gut, ich werde Sie nach Hause bringen.«

Noch immer heftig schluchzend, ließ Townsend sich zu den Aufzügen führen. Neugierige Blicke folgten ihnen.

Gould drehte sich zu Andrew um. Während er Townsend vor sich herschob, sagte der Chefarzt ruhig: »Andrew, bleiben Sie hier. Stellen Sie fest, bei welchen Patienten Noah heute Visite gemacht hat, und prüfen Sie alle seine Anweisungen. Tun sie es schnell. Es darf nicht noch einmal . . . verstehen Sie?«

Andrew nickte. Zögernd sah er den beiden nach.

Als sie bei den Aufzügen angekommen waren, begann Townsend hysterisch zu schreien und versuchte, sich zu widersetzen. Er hatte jegliche Würde verloren, war nur noch ein schwaches Abbild seiner selbst. Als die Lifttür aufging, schob Gould Townsend resolut vor sich her. Selbst als die Tür sich wieder geschlossen hatte, konnte man noch die Schreie hören. Als der Aufzug abwärts fuhr, blieb Andrew allein inmitten der Stille zurück.

Am selben Abend erhielt Andrew zu Hause einen Anruf von Ezra Gould.

»Ich möchte mich noch heute abend mit Ihnen treffen«, sagte der Chefarzt. »Wo wäre es Ihnen recht? Ich komme auch zu Ihnen nach Hause, wenn Sie wollen.«

»Nein«, sagte Andrew. »Wir treffen uns besser im Krankenhaus.« Er war noch nicht in der Stimmung gewesen, Celia von Noah zu berichten, obwohl Celia wie immer gespürt hatte, daß etwas nicht in Ordnung war.

Als Andrew im St. Bede's Hospital ankam, war Dr. Gould bereits in seinem Büro. »Kommen Sie herein«, sagte er. »Und machen Sie die Tür zu.«

Gould zog eine Schublade auf und brachte eine Flasche Scotch und zwei Gläser zum Vorschein. »Es ist gegen die Regeln, und ich tue es auch nur selten. Aber heute abend habe ich das Gefühl, ich könnte einen gebrauchen. Leisten Sie mir Gesellschaft?«

»Aber gern«, sagte Andrew dankbar.

Gould füllte die Gläser, gab Eis und Wasser dazu, und sie tranken schweigend.

»Ich war fast die ganze Zeit bei Noah - seit wir uns getrennt haben«, sagte Gould schließlich. »Es gibt ein paar Dinge, die Sie wissen sollten. Das erste wäre - da es Ihre gemeinsame Praxis und Noahs Patienten betrifft -, daß Noah Townsend nie wieder wird praktizieren können.«

»Wie geht es ihm?« fragte Andrew.

»Fragen Sie lieber, wo er ist, und ich werde Ihnen antworten.« Gould schwenkte den Whisky in seinem Glas. »Er ist in eine private psychiatrische Klinik in Newark eingewiesen worden. Und nach Ansicht der Leute, die es wissen müssen, wird er sie wahrscheinlich nie wieder verlassen.«

Und dann berichtete Gould mit angespannter Stimme, was sich am Nachmittag und am frühen Abend zugetragen hatte. Einmal bemerkte er grimmig: »Ich hoffe nur, daß ich so was nicht noch einmal erleben muß.«

Nachdem sie Andrew verlassen hatten, erreichten Gould und Townsend den Hauptgang des Krankenhauses; es war dem Chefarzt gelungen, den noch immer tobenden Townsend in einen freien Behandlungsraum zu schieben, die Tür hinter ihm abzuschließen und mit einem Psychiater des Krankenhauses zu telefonieren. Als der Psychiater kam, bändigten sie Townsend gemeinsam und gaben ihm Beruhigungsmittel. Es war klar, daß man ihn in diesem Zustand nicht nach Hause bringen konnte. Der Psychiater führte hastig ein paar Telefongespräche, und Townsend wurde mit dem Ambulanzwagen in die psychiatrische Klinik in Newark gebracht. Gould und der Psychiater begleiteten ihn.

Als sie ankamen, hatte die Wirkung des Beruhigungsmittels nachgelassen, und Townsend wurde gewalttätig, so daß man ihn in eine Zwangsjacke stecken mußte. »O Gott, es war schrecklich!« Gould zog ein Taschentuch heraus und wischte sich das Gesicht ab.

Das war mehr oder weniger der Zeitpunkt, an dem deutlich wurde, daß Noah Townsend den Verstand verloren hatte.

»Als hätte Noah lange Zeit wie eine leere Hülle gelebt«, sagte Ezra Gould. »Weiß der Himmel, wie es ihm gelungen ist, weiterzumachen, aber er hat es geschafft. Und dann, ganz plötzlich, ist durch das, was heute geschah, die Hülle zerbrochen . . . und in ihrem Innern gab es nichts mehr, was funktionierte - und so, wie es aussieht, auch nichts mehr zu retten.«

Eine Stunde später, erzählte Gould weiter, hatte er Townsends Frau aufgesucht. Andrew erschrak. Bei all dem, was in den letzten Tagen geschehen war, hatte er kein einziges Mal an Hilda gedacht. »Wie hat sie es aufgenommen?« fragte er.

Gould überlegte, bevor er antwortete. »Das ist schwer zu sagen. Sie hat nicht viel gesagt, und sie ist auch nicht zusammengebrochen. Ich hatte den Eindruck, daß sie etwas Ähnliches erwartet hatte. Es wäre sicher gut, wenn Sie morgen selbst zu ihr gingen.«

»Ja«, sagte Andrew. »Das werde ich tun.«

Gould zögerte. Dann sah er Andrew an. »Es gibt noch etwas, das Sie und ich besprechen müssen - es betrifft den Toten, Wyra-zik.«

»Dazu kann ich Ihnen gleich etwas sagen«, warf Andrew ein. »Ich habe nicht die Absicht, bei einer Vertuschung mitzumachen.«

»Na schön«, bemerkte Gould; seine Stimme war schärfer geworden. »Dann darf ich Sie fragen, was Sie vorschlagen: Wollen Sie eine öffentliche Erklärung abgeben - vielleicht an die Presse? Wollen Sie sich danach als Zeuge der Anklage zur Verfügung stellen? Wollen Sie einem Anwalt, der auf Schadenersatz aus ist, zu einem fetten Honorar verhelfen, indem er Townsends Frau das gesamte Geld, das Noah für ihre alten Tage gespart hat, wegnimmt? Wollen Sie diesem Krankenhaus einen Schaden zufügen, der von keiner Versicherung gedeckt werden wird und der uns finanziell ruinieren kann, so daß wir unsere Leistungen einschränken oder überhaupt schließen müssen?«

»Vielleicht kommt es gar nicht dazu«, protestierte Andrew.

»Aber es könnte dazu kommen. Es gibt genug clevere Rechtsanwälte.«

»Das ist nicht mein Problem«, beharrte Andrew. »Für mich ist nur die Wahrheit wichtig.«

»Die Wahrheit ist für uns alle wichtig«, erwiderte Gould. »Darauf haben Sie kein Monopol. Aber manchmal darf die Wahrheit aus guten Gründen und unter besonderen Umständen etwas gefärbt werden.« Seine Stimme wurde eindringlich. »Und jetzt hören Sie gut zu!«

Der Chefarzt machte eine Pause, um sich zu sammeln. Dann fuhr er fort: »Die Schwester des Toten, Miß Wyrazik, ist heute nachmittag aus Kansas eingetroffen. Len Sweeting hat mit ihr gesprochen. Eine nette, einfache Frau, sagt er, ein ganzes Stück älter als ihr Bruder, und natürlich ist sie über seinen Tod betrübt. Aber die beiden standen sich nicht sehr nahe, so daß es für sie kein unüberwindlicher Verlust ist. In Kansas wohnt auch der Vater, aber er hat die Parkinsonsche Krankheit in fortgeschrittenem Stadium; er hat nicht mehr lange zu leben.«

»Ich verstehe nicht, was das alles . . .«

»Sie werden es gleich verstehen. Hören Sie zu! Wyraziks Schwester ist nicht gekommen, um uns Schwierigkeiten zu machen. Sie hat nicht allzu viele Fragen gestellt, hat sogar darin beigepflichtet, daß die Gesundheit ihres Bruders noch nie besonders gut war. Sie möchte, daß seine sterblichen Überreste eingeäschert werden, und wird die Asche mit nach Kansas nehmen. Aber sie ist in Geldnot. Das hat Len beim Gespräch mit ihr erfahren.«

»Dann hat sie das Recht auf Unterstützung. Das ist das mindeste . . .«

»Richtig. Darin sind wir uns alle einig, Andrew. Und mehr noch - eine solche finanzielle Hilfe läßt sich arrangieren.«

»Wie denn?«

»Len und Fergus McNair haben es ausgetüftelt. Sie haben den ganzen Nachmittag damit verbracht, aber die Einzelheiten brauchen wir beide nicht zu wissen. Tatsache ist, daß unsere Versicherung - mit der wir die Sache vertraulich besprochen haben - ein Interesse daran hat, die Angelegenheit in aller Stille beizulegen. Offenbar hat Wyrazik immer Geld nach Kansas geschickt, um sich an den Arztkosten für seinen Vater zu beteiligen. Diese Beträge können weiterhin bezahlt, womöglich sogar erhöht werden. Die Kosten für Wyraziks Beerdigung werden ebenfalls übernommen. Und die Schwester kann bis an ihr Lebensende mit einer Rente rechnen, die nicht gerade üppig, aber ausreichend sein wird.«

»Wie wollen Sie ihr das erklären? Ohne eine Schuld einzugestehen? Angenommen, sie schöpft Verdacht.«

»Das könnte in der Tat ein Risiko sein«, sagte Gould, »wenngleich Len und McNair nicht dieser Meinung zu sein scheinen, und sie sind schließlich Rechtsanwälte. Sie glauben, daß es sich vertraulich regeln läßt. Es kommt darauf an, was Miß Wyrazik für eine Frau ist. Und schließlich: Es gibt keine Ehefrau und keine Kinder, die noch in der Ausbildung sind - es gibt nur einen alten Mann, der bald sterben wird, und eine Frau mittleren Alters, für die auf vernünftige Weise gesorgt wird.«

»Wenn Noah schon einen Patienten umbringen mußte, dann hätte er sich keinen bequemeren aussuchen können«, sagte Andrew zynisch.

Gould zuckte die Achseln. »Das Leben ist voller Zufälle. Dieser hier scheint sich zu unseren Gunsten zu entwickeln. Nun?«

»Nun, was?«

»Werden Sie eine öffentliche Erklärung abgeben? Werden Sie die Presse benachrichtigen?«

»Natürlich nicht«, sagte Andrew gereizt. »Ich hatte nie die Absicht. Das wissen Sie genau.«

»Und was gibt es sonst noch? Sie haben sich korrekt verhalten, als Sie das Krankenhaus über das informierten, was Sie erfahren hatten. Darüber hinaus haben Sie nichts weiter damit zu tun. Man wird nicht von Ihnen verlangen, daß Sie lügen, und wenn aus irgendeinem Grund etwas an die Öffentlichkeit dringt und man Ihnen offiziell Fragen stellt, können Sie selbstverständlich die Wahrheit sagen.«

»Wenn das mit mir so ist«, sagte Andrew, »wie steht es dann mit Ihnen? Werden Sie Miß Wyrazik über den wahren Grund für den Tod ihres Bruders aufklären?«

»Nein«, erwiderte Gould kurz angebunden. Dann fügte er hinzu: »Und deshalb sind manche von uns auch tiefer in die Sache verstrickt als Sie. Aber vielleicht verdienen wir das sogar.«

Was Ezra Gould gerade gesagt hatte, dachte Andrew, war ein klares Eingeständnis, daß Andrew vor vier Jahren, als er versucht hatte, Noah Townsends Drogenabhängigkeit aufzudecken, und zurückgehalten worden war, recht gehabt hatte und die anderen unrecht. Andrew war jetzt ganz sicher, daß Leonard Sweeting damals auch anderen von ihrer Unterhaltung berichtet hatte.

Zweifellos war dieses Eingeständnis das einzige, was je gemacht werden würde; derartiges wurde nie schriftlich festgehalten. Aber wenigstens hatte man etwas gelernt, dachte Andrew, er selbst, Sweeting, Gould und ein paar andere. Doch leider war es jetzt zu spät, um Townsend oder Wyrazik zu helfen.

Was wäre also gewonnen, wenn er alles erzählte?

»In Ordnung«, sagte Andrew nach einer langen Pause. »Ich werde weiter nichts unternehmen.«

»Vielen Dank«, erwiderte Gould. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es war ein langer Tag heute. Ich gehe nach Hause.«

Am folgenden Nachmittag suchte Andrew Hilda Townsend auf.

Sie war Ende Fünfzig und sah für ihr Alter noch gut aus. Sie hatte auf ihre Figur geachtet, ihre Gesichtshaut war straff, das ergraute Haar modern kurz geschnitten. Sie trug elegante weiße Leinenhosen und eine blaue Seidenbluse. Um ihren Hals lag eine dünne Goldkette. Andrew hatte Verzweiflung und Tränen erwartet. Aber nichts dergleichen.

Die Townsends wohnten in einem hübschen kleinen zweistök-kigen Haus in der Hill Street in Morristown, nicht weit von der Praxis entfernt, wohin Noah Townsend an schönen Tagen oft zu Fuß gegangen war. Sie hatten kein Dienstpersonal; Hilda öffnete Andrew selbst die Tür und bat ihn ins Wohnzimmer. Das Zimmer war in sanften Braun- und Beigetönen möbliert und führte hinaus in den Garten.

»Kann ich Ihnen etwas anbieten, Andrew?« fragte Hilda, als sie sich gesetzt hatten. »Einen Drink? Oder Tee?«

Andrew schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Hilda, ich weiß nicht, was ich sagen soll, außer - daß es mir schrecklich leid tut.«

Sie nickte, als habe sie genau das erwartet, dann fragte sie: »Haben Sie sich davor gefürchtet, hierher zu kommen?«

»Ein bißchen«, gab er zu.

»Das dachte ich mir, aber das brauchen Sie nicht. Sie müssen sich nicht wundern, daß ich nicht weine oder die Hände ringe oder ähnliches.«

Andrew wußte nicht, was er darauf sagen sollte.

»Das habe ich alles schon so oft und so lange getan, daß es weit hinter mir liegt. Jahrelang habe ich so viele Tränen vergossen, daß ich nun keine mehr habe. Es zerriß mir das Herz, wenn ich mit ansehen mußte, wie Noah sich selbst zerstörte. Und ich konnte mich nicht verständlich machen, ihn nicht einmal dazu bringen, mir zuzuhören. Das Herz lag mir oft wie ein Stein in der Brust.«

Wie wenig wissen wir doch von den Leiden anderer Men-schen! dachte Andrew. Seit Jahren mußte Hilda Townsend wie hinter einer Wand gelebt haben, die loyal alles verdeckte, und von der die anderen nie etwas gewußt hatten. Er erinnerte sich an Ezra Goulds Worte vom Vorabend.

»Sie hat nicht viel gesagt. . . Ich hatte den Eindruck, daß sie etwas Ähnliches erwartet hatte.«

»Sie wußten über Noah und die Drogen Bescheid«, sagte Hilda, »nicht wahr?«

»Ja.«

»Sie sind Arzt. Warum haben Sie nichts unternommen?« Ihre Stimme klang vorwurfsvoll.

»Ich habe es versucht. Im Krankenhaus. Vor vier Jahren.«

»Und niemand wollte etwas davon wissen.«

»So ungefähr.«

»Hätten Sie es nicht immer wieder probieren können?«

»Ja«, sagte er. »Vielleicht.«

Sie stieß einen Seufzer aus. »Wahrscheinlich hätten Sie trotzdem nichts erreicht.« Abrupt wechselte sie das Thema. »Ich habe Noah heute morgen besucht, oder vielmehr, ich wollte ihn besuchen. Er war im Delirium. Er hat mich nicht erkannt. Er erkennt niemanden.«

»Hilda«, sagte Andrew leise, »gibt es irgend etwas, das ich tun kann, irgend etwas, das Ihnen helfen würde?«

Sie beachtete die Frage nicht. »Hat Celia wegen allem, was geschehen ist, ein schlechtes Gewissen?«

Andrew war über die Frage erstaunt. »Ich habe es ihr noch gar nicht erzählt. Ich werde es heute abend tun. Aber ein schlechtes Gewissen . . .«

»Das sollte sie haben!« stieß Hilda hervor. »Celia ist ein Teil dieses habgierigen, rücksichtslosen Arzneimittelgeschäfts. Die tun doch alles, um ihre Produkte zu verkaufen, um die Ärzte dazu zu kriegen, sie zu verschreiben, und die Leute dazu zu kriegen, sie zu nehmen, selbst wenn es gar nicht nötig ist.«

»Keine pharmazeutische Firma hat Noah gezwungen, diese Mittel einzunehmen«, sagte Andrew ruhig.

»Vielleicht nicht direkt.« Hildas Stimme wurde lauter. »Aber Noah hat die Tabletten genommen, wie andere es auch tun - weil die Firmen die Ärzte damit überschütten, sie mit endlosen Werbesprüchen in den medizinischen Fachzeitschriften, mit einer Lawine von Postsendungen, mit Freifahrten und Alkohol dazu bringen, an nichts anderes mehr zu denken als an Medikamente, Medikamente, Medikamente. Jede einzelne Firma überschwemmt die Ärzte mit Mustern, erzählt ihnen, daß sie von jedem Mittel haben können, soviel sie nur wollen - sie brauchten nur darum zu bitten! Ohne jede Einschränkung und ohne je Fragen zu stellen! Sie wissen das genausogut wie ich, Andrew.« Sie unterbrach sich. »Ich möchte Sie gerne etwas fragen.«

»Wenn ich Ihre Frage beantworten kann, werde ich es sehr gern tun«, sagte er.

»Es sind doch eine Menge Vertreter in die Praxis gekommen. Glauben Sie nicht, daß wenigstens einige von ihnen, wenn nicht alle, gewußt haben, wieviel Tabletten er nimmt, sich darüber im klaren waren, daß er süchtig ist?«

Andrew dachte nach. Er dachte an den großen Vorrat an Medikamenten, den er in Noahs Praxisräumen gefunden hatte. »Ja«, erwiderte er, »ja, ich nehme an, daß sie es gewußt haben.«

»Und trotzdem haben sie sich nicht davon abhalten lassen, diese Bastarde! Haben immer weiter geliefert. Haben Noah alles gegeben, was er haben wollte. Haben dabei mitgeholfen, daß er sich kaputtmachte. Das ist das schmutzige Geschäft, an dem Ihre Frau beteiligt ist, Andrew, und ich verfluche es!«

»Sie haben in vielem, wenn auch nicht in allem recht, Hilda, und ich kann Ihre Gefühle verstehen.«

»Tatsächlich?« Verachtung und Bitterkeit klang aus Hildas Stimme. »Dann erklären Sie es irgendwann einmal Celia. Vielleicht überlegt sie sich, ob sie sich nicht doch eine andere Arbeit suchen sollte.«

Und als würde alles, was sich in ihr angestaut hatte, am Ende doch noch hervorbrechen, legte sie den Kopf in die Hände und begann zu weinen.

Mitte bis Ende der sechziger Jahre war die amerikanische Frauenbewegung »Women's Lib« in aller Munde. 1963 hatte Betty Frie-dan den Weiblichkeitswahn veröffentlicht, eine Kriegserklärung an »die zweitklassigen Bürgerrechte der Frauen«. Ihr Buch wurde das vade mecum der feministischen Bewegung, und die Stimme der Friedan war jetzt häufig zu hören. Kate Millett schloß sich ebenfalls der Bewegung an.

»Women's Lib« zog aber auch Spötter an. Abbie Hoffman, eine zweifelhafte Erscheinung dieser Zeit, erklärte: »Die einzige Allianz, die ich mit der Frauenbewegung einzugehen bereit wäre, würde sich im Bett abspielen.« Und die Historiker, die alle Welt daran erinnerten, daß es wenig Dinge gab, die wirklich neu waren, hoben hervor, daß eine gewisse Mary Wollstonecraft schon 1792 in England Eine Verteidigung der Rechte der Frau veröffentlicht und folgendermaßen argumentiert hatte:

»Tyrannen und Lüstlinge . . . bemühen sich, die Frauen in Unkenntnis zu halten, weil die einen nur Sklaven wollen und die anderen ein Spielzeug.«

Aber in den sechziger Jahren nahmen viele die Bewegung ernst, und manche Männer gingen in sich.

Celia war »Women's Lib« gegenüber positiv eingestellt. Sie kaufte mehrere Exemplare von Der Weiblichkeitswahn und verteilte sie an einige männliche Kollegen in der Geschäftsleitung von Felding-Roth. Zu ihnen gehörte auch Vincent Lord, der das Buch mit der Bemerkung zurückgab: »Ich habe für diesen Quatsch keine Verwendung.« Sam Hawthorne, von seiner Frau Lilian beeinflußt, die selbst eine glühende Anhängerin der Frauenbewegung war, zeigte sich entgegenkommender. »Sie sind der Beweis dafür, daß es in dieser Firma keine geschlechtlich bedingte Diskriminierung gibt«, sagte er zu Celia.

Sie schüttelte ablehnend den Kopf. »Ich mußte mir meinen Weg bis hierher mit Krallen und Klauen erkämpfen. Mit Ihrer Hilfe, Sam, aber ich mußte auch gegen viele männliche Vorurteile ankämpfen.«

»Das ist doch jetzt vorbei.«

»Aber nur, weil ich mich in der Firma bewährt habe und weil ich nützlich bin. Was mich zu einem Ausnahmefall, einem Unikum macht. Sie wissen aber, wie wenig Unterstützung ich finde, wenn ich mich dafür stark mache, mehr Frauen im Verkauf einzusetzen.«

Er lachte. »Das gebe ich zu, aber auch diese Einstellung wird sich ändern.«

Obwohl Celia privat für die Frauenbewegung eintrat, war sie nicht aktiv in ihr tätig. Sie war der - zugegebenermaßen rein egoistischen - Meinung, daß sie es erstens nicht nötig und zweitens keine Zeit dafür hatte.

Celias Arbeitszeit wurde weiterhin von den rezeptfreien Produkten bei Bray & Commonwealth in Anspruch genommen. Trotz Sams Versprechen, sie wieder mit anderen Aufgaben zu betrauen, schien weit und breit kein Wechsel in Sicht, und seine Bitte, sich »noch ein paar Monate zu gedulden«, erwies sich als grobe Untertreibung.

Celia teilte Andrews Kummer um Noah Townsend. Die traurige Voraussage von Dr. Gould, daß Noah nie wieder aus der Nervenklinik herauskommen würde, schien sich zu bewahrheiten.

Andrew hatte Celia von Hilda Townsends massiven Vorwürfen an die Adresse der Arzneimittelfirma erzählt. »Hilda hat recht«, sagte sie zu seiner Überraschung. »Die Mengen von Ärztemustern sind tatsächlich der helle Wahnsinn. Aufgrund des Konkurrenzkampfes könnte aber keine Firma mehr ohne Nachteile zurückstecken.«

»Aber die Firmen könnten sich untereinander abstimmen«, wandte Andrew ein, »damit diese Unsitte aufhört.«

»Nein«, sagte Celia. »Selbst wenn sie es wollten, käme das einer geheimen Absprache gleich und verstieße gegen das Gesetz.«

»Und wie ist das in einem Fall wie bei Noah? Die Vertreter der Arzneimittelfirmen müssen doch gewußt oder zumindest geahnt haben, daß Noah drogenabhängig war. Sie hätten seine Sucht nicht weiterhin unterstützen dürfen.«

»Noah war zwar süchtig, aber er war noch immer als Arzt tätig«, hob Celia hervor.»Und du weißt genau, daß Ärzte jedes Mittel bekommen, das sie wollen - auf die eine oder andere Weise. Wenn Noah seine Tabletten nicht von den Vertretern bekommen hätte, hätte er einfach Rezepte ausgeschrieben. Vielleicht hat er das sogar getan. Und außerdem«, fügte sie hitzig hinzu, »wenn der Ärztestand es nicht einmal für nötig hält, etwas zu unternehmen, wenn Kollegen süchtig werden, was kann man da von der Pharma-Industrie erwarten?«

»Eine Frage«, gab Andrew zu, »auf die ich keine Antwort weiß.«

Im August 1967 wurde Celia wieder in die Zentrale versetzt. Sam Hawthorne war zum Vizepräsidenten befördert worden, und es stand zu erwarten, daß er eines Tages an der Spitze von Felding-Roth stehen würde. Celias zehn Jahre zurückliegende Entscheidung, sich Sam als Mentor zu wählen, hatte sich also als richtig erwiesen.

Eines Tages ließ Sam sie zu sich rufen und teilte ihr mit einem Lächeln mit: »Ihre Fron bei den Rezeptfreien ist vorbei. Ich biete Ihnen den Posten des Verkaufsleiters für pharmazeutische Produkte in Lateinamerika an. Sie können die Geschäfte von hier aus führen, werden aber natürlich auch eine ganze Menge unterwegs sein müssen.« Er sah sie fragend an. »Was wird Andrew dazu sagen? Und Sie selbst und die Kinder?«

Ohne zu zögern erwiderte Celia: »Wir werden uns arrangieren.«

Sam nickte zustimmend: »Ich hatte erwartet, daß Sie das sagen würden.«

Celia freute sich über diese Herausforderung. Sie wußte, daß das internationale Pharma-Geschäft immer mehr an Bedeutung gewann. Es war eine größere Chance, als sie sich erhofft hatte.

Und damit begannen fünf Jahre, die sich als ein Rubikon in Ce-lias Karriere erweisen sollten. Das Familienleben erfuhr wider Erwarten dadurch eine starke Bereicherung. Wie Celia später in einem Brief an ihre Schwester Janet schrieb: »Jeder von uns zog daraus unvermutete Vorteile: Andrew und ich, weil wir, wenn er mich auf meinen Reisen begleitete, intensiver zusammen waren als zu Hause beim täglichen Einerlei. Und die Kinder, weil sie unterwegs dazulernten und sich daran gewöhnten, international zu denken.«

Andrew hatte sie von Anfang an bei ihren neuen Aufgaben unterstützt und sich entschlossen, die Gelegenheit zu nutzen und sich einige Zeit von dem Druck der Arztpraxis zu befreien und Celia auf ihren Reisen zu begleiten, wann immer es sich ermöglichen ließ. Andrew, der im nächsten Jahr vierzig wurde, hatte aus der Tragödie um Noah Townsend eine Lehre gezogen. Noahs Zusammenbruch hatte, so glaubte er, mit Überarbeitung und Streß begonnen, und auch andere Ärzte waren, wie er beobachtet hatte, allzusehr von ihrem Beruf besessen und vernachlässigten ihre Familie. In der Arztpraxis, der er vor elf Jahren als frischgebackener Internist beigetreten war - ein Jahr, bevor er und Celia sich kennengelernt und geheiratet hatten -, war Andrew jetzt der Seniorpartner. Der zweite Arzt, Oscar Aarons, ein stämmiger, lebhafter und eifriger Kanadier mit Sinn für Humor, hatte sich als eine wertvolle Stütze und als Freund erwiesen, dem Andrew großes Vertrauen entgegenbrachte. Und vor einem Monat war ein dritter Internist, Benton Fox, ein achtundzwanzigjähriger Arzt mit ausgezeichneten Empfehlungen, zu ihnen gestoßen und hatte sich bereits gut eingearbeitet.

Als Andrew Celia von seiner Absicht erzählte, sie gelegentlich auf ihren Reisen zu begleiten, war sie außer sich vor Freude, und so fuhr er mehrmals im Jahr mit ihr nach Südamerika. Und ab und zu, wenn es sich mit der Schule vereinbaren ließ, wurden sie von ihren Kindern begleitet.

Das alles wurde durch einige glückliche Umstände noch erleichtert. Winnie August, ihre junge englische Haushälterin, die ihren Plan, nach Australien zu gehen, längst aufgegeben hatte und nach sieben Jahren praktisch zur Familie gehörte, heiratete im Frühjahr 1967. Der Nachname ihres Mannes lautete, so unwahrscheinlich es auch klingt, April. »Wenn es schon ein anderer Monat sein mußte, dann bin ich froh, daß es nicht Dezember ist«, meinte Winnie dazu.

Als Andrew erfuhr, daß Hank April, ein liebenswerter, lebhafter junger Mann, eine feste Anstellung suchte, bot er ihm den Posten eines Chauffeurs und Gärtners an. Da dies auch eine Wohngelegenheit im Haus mit einschloß, wurde das Angebot sowohl von Winnie als auch von Hank freudig angenommen. So konnten Andrew und Celia von zu Hause fort - mit oder ohne die Kinoer - und sich darauf verlassen, daß sich während ihrer Abwesenheit jemand um alles kümmerte.

In diese Zeitspanne fiel der Tod von Celias Mutter Mildred. Sie starb nach einem schweren Asthmaanfall im Alter von einundsechzig Jahren.

Der Tod der Mutter traf Celia schwer. Trotz der Kraft und der Unterstützung, die Andrew und die Kinder ihr gaben, hatte sie ein Gefühl von »Einsamkeit«, das lange anhielt.

»Ich habe das schon bei vielen meiner Patienten erlebt«, sagte Andrew tröstend. »Der Tod des zweiten Elternteils ist wie das Durchtrennen einer Nabelschnur zu unserer Vergangenheit. Wie erwachsen wir auch sein mögen, solange noch ein Elternteil lebt, hat man immer das Gefühl, daß es jemanden gibt, an den man sich halten kann. Wenn beide fort sind, wissen wir, daß wir ganz auf uns allein gestellt sind.«

Auch Celias jüngere Schwester Janet war aus den Vereinigten Arabischen Emiraten zur Beerdigung nach Philadelphia gekommen. Janet und Celia verbrachten ein paar Tage zusammen in Morristown, und die beiden Schwestern gaben sich das Versprechen, einander in Zukunft häufiger zu besuchen.

6

Während Celia den lateinamerikanischen Geschäften mit den regionalen Repräsentanten der Zweigstellen von Felding-Roth nachging, genoß Andrew die faszinierende Atmosphäre fremder Städte und Länder. Er lernte den Parque Colön von Buenos Aires kennen und die großen Rinderherden in den Pampas. Und Bogota, in Kolumbien, umgeben von grandiosen Bergen, deren steil abfallende Straßen, die calles, eisige Wasserströme von den Anden ins Tal trugen und Eselskarren und Autos um einen Platz wetteifern ließen. In Costa Rica lernte Andrew die Meseta Central kennen, das Herzstück des Landes, und dahinter die dicht belaubten Wälder mit ihren Mahagonibäumen und Zedern. Von dem engen Straßengewirr in der Altstadt von Montevideo aus ging es in die Täler von Uruguay, in denen die Luft vom Duft der Zitronensträucher und aromatischen Büsche erfüllt war. Und dann Brasiliens dynamisches Sao Paulo mit den weiten Grasebenen und der fruchtbaren purpurroten Erde, der tan roxa.

Wenn die Kinder dabei waren, nahm Andrew sie mit auf seine Entdeckungsreise. Sonst zog er allein los, und Celia begleitete ihn, sooft es ihre Pflichten erlaubten.

Vergnügen bereitete es Andrew auch, in den einheimischen Läden zu feilschen. Die Drugstores - droguerias -, in denen die Ware oft auf kleinstem Raum zusammengedrängt war, hatten es ihm besonders angetan. Er unterhielt sich mit Apothekern, und gelegentlich gelang es ihm auch, einheimische Ärzte kennenzulernen. Er hatte sich ein Gemisch aus Spanisch und Portugiesisch angeeignet, das er mit der Zeit immer mehr vervollkommnete.

Dennoch war nicht jede Reise ein Erfolg. Manche lokal bedingten Probleme waren für Celia nur schwer zu lösen, und sie war häufig abgespannt und nervös. Es kam zu Reibereien und bei einer Gelegenheit zu dem heftigsten, bittersten Streit ihrer ganzen Ehe, den sie so schnell nicht vergessen würden.

Es geschah in Ecuador, und wie bei den meisten Streitigkeiten zwischen Eheleuten begann alles mit einem ganz nichtigen Anlaß.

Sie befanden sich mit Lisa und Bruce in der Hauptstadt Quito, hoch oben in den Anden, einem Ort größter Kontraste - vor allem zwischen Religion und Realität. Auf der einen Seite eine Fülle überladener Kirchen und Klöster mit vergoldeten Altären, geschnitztem Chorgestühl, Kruzifixen aus Silber und Elfenbein und juwelenbesetzten Monstranzen. Auf der anderen Seite schmutzige, barfüßige Armut und Bauern, die zweifellos die ärmsten Menschen auf dem ganzen Kontinent waren, und deren Löhne - wenn sie überhaupt das Glück hatten, eine Arbeit zu finden - zehn Cent pro Tag betrugen.

Ein krasser Gegensatz zu all der Armut war das Hotel Quito, ein ausgezeichnetes Haus, in dem die Jordans eine Suite bewohnten. Nach einem anstrengenden, unerfreulichen Tag, den sie mit Senor Antonio Jose Moreno, dem gerente local von Felding-Roth, verbracht hatte, kehrte Celia am frühen Abend in die Suite zurück.

Moreno, fett und selbstgefällig, hatte deutlich gemacht, daß jeder Besuch eines Abgesandten aus der Zentrale für ihn nicht nur ein unwillkommenes Eindringen in sein Territorium, sondern auch eine Beleidigung für ihn persönlich darstellte. Mehr noch, immer wenn Celia irgendwelche Änderungen vorschlug, hatte er mit dem Standardsatz geantwortet: »En este pais, asi se hace, Senora.« Als Celia daraufhin bemerkte, daß die Einstellung, »in diesem Land ist das eben so«, nur Untüchtigkeit entschuldige und zuweilen sogar unmoralisch sei, zuckte er mit ausdrucksloser Miene die Achseln.

Was Celia Sorgen bereitete, waren die unzureichenden Informationen, die die Ärzte in Ecuador über die Medikamente von Felding-Roth erhielten, besonders in bezug auf eventuelle Nebenwirkungen. Als sie darauf hinwies, erklärte Moreno: »Die anderen Firmen tun es nicht, also brauchen wir es auch nicht zu tun. Wenn wir zuviel über etwas reden, was vielleicht gar nicht eintritt, ist das für uns nur von Nachteil.«

Obwohl Celia befugt war, ihm Anweisungen zu erteilen, wußte sie, daß Moreno unter Berufung auf die Sprachschwierigkeiten später alles so interpretieren würde, wie es ihm paßte.

Jetzt, im Wohnraum der Hotelsuite, war sie noch immer verärgert, als sie Andrew fragte: »Wo sind eigentlich die Kinder?«

»Die schlafen schon«, antwortete er. »Sie haben beschlossen, zeitig ins Bett zu gehen. Wir hatten einen ziemlich anstrengenden Tag.« Die Tatsache, daß sie Lisa und Bruce, auf die sie sich gefreut hatte, nun nicht mehr sehen konnte, und der - wie sie meinte - etwas kühle Ton von Andrew irritierten Celia, und sie fuhr ihn an: »Ihr seid nicht die einzigen, die einen lausigen Tag hinter sich haben.«

»Ich habe nicht gesagt, daß er lausig war, sondern nur, daß er anstrengend war«, bemerkte er. »Obwohl es für mich ein paar unerfreuliche Dinge gegeben hat.«

Ohne daß sie es wußten, übte Quitos Höhenlage - fast 3000 m über dem Meeresspiegel - auf beide ihre Wirkung aus. Celia fühlte sich schlapp und abgespannt, und Andrew legte eine Aggressivität an den Tag, die nicht zu seiner sonstigen ruhigen Art paßte.

»Ein paar unerfreuliche Dinge?« wiederholte Celia. »Ich weiß , gar nicht, wovon du redest.«

»Davon rede ich!« Andrew deutete auf einen Haufen Flaschen und Arzneimittelpackungen auf einem Nebentisch.

»Von dem Zeug da hatte ich heute schon mehr als genug«, erklärte Celia mit einem Ausdruck des Abscheus. »Daher schlage ich vor, du schaffst es hier raus.«

»Soll das heißen, daß es dich nicht interessiert?« Seine Stimme klang ironisch.

»Ja! Verdammt noch mal!«

»Das hätte ich, ehrlich gesagt, nicht erwartet. Denn was ich hier habe, hat mit Arzneimittelfirmen zu tun, und es ist nichts Erfreuliches.« Andrew nahm einen kleinen Plastikbehälter in die Hand. »Als ich heute mit den Kindern unterwegs war, habe ich mich ein bißchen in den Läden umgesehen und ein paar Fragen gestellt.«

Er ließ den Deckel des Behälters aufschnappen, schüttete die Tabletten in seine Hand und streckte sie ihr entgegen. »Weißt du, was das ist?«

»Natürlich nicht!« Celia ließ sich in einen Sessel fallen und schleuderte ihre Schuhe von sich. »Und außerdem interessiert es mich nicht.«

»Das sollte es aber! Es ist Thalidomid, und ich habe es heute in einer drogueria gekauft - ohne Rezept.«

Bei seiner Antwort zuckte Celia zusammen, und der Wortwechsel hätte hier zu Ende sein können, wenn Andrew nicht wei-tergesprochen hätte: »Die Tatsache, daß ich es kaufen konnte -fünf Jahre, nachdem es vom Markt verschwunden sein sollte, wie auch andere gefährliche Mittel, die hier ohne Warnung im Handel sind, weil es keine Behörden gibt, die auf Hinweisen bestehen -, ist typisch für die Gleichgültigkeit, mit der amerikanische Arzneimittelfirmen vorgehen, einschließlich deiner eigenen hochgepriesenen Felding-Roth!«

Seine Ungerechtigkeit - als die es Celia empfand, nachdem sie den größten Teil des Tages damit verbracht hatte, genau das, was Andrew gerade kritisierte, zu ändern - ließ wilden Zorn in ihr aufsteigen, so daß sie nicht mehr vernünftig denken konnte. Anstatt Andrew zu sagen - wie sie es eigentlich vorgehabt hatte -, wie frustriert sie wegen Antonio Jose Moreno war, warf sie ihm ihre Version von Morenos Antwort an den Kopf. »Was, zum Teufel, weißt du denn schon über die Probleme hier und über die Gesetze? Mit welchem Recht glaubst du eigentlich, den Leuten in Ecuador sagen zu können, wie sie es in ihrem Land halten sollen?«

Andrew war blaß geworden. »Das Recht dazu habe ich, weil ich Arzt bin! Und weil ich weiß, daß schwangere Frauen, die diese Tabletten nehmen, Babys mit verstümmelten Gliedern bekommen können. Weißt du, was mir der Apotheker heute gesagt hat? Er sagte, er habe von Thalidomid gehört, aber er wisse nicht, daß das diese Tabletten sind, weil sie hier Ondasil heißen. Und falls du es nicht weißt, Celia, oder nicht wissen willst: Thalidomid ist von der Pharmaindustrie unter dreiundfünfztig verschiedenen Namen verkauft worden.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, wetterte er weiter: »Warum gibt es eigentlich so viele verschiedene Namen für ein einziges Medikament? Doch wohl nicht, um den Patienten oder den Ärzten zu helfen. Der einzige Grund, den man sich denken kann, ist der, daß Verwirrung gestiftet werden soll, damit sich die Firmen aus der Affäre ziehen können, wenn es Schwierigkeiten gibt. Und wenn wir schon von Schwierigkeiten reden - sieh dir das hier an!«

Andrew nahm eine andere Flasche und hielt sie Celia entge-gen, so daß sie den Aufkleber lesen konnte: Chloromycetin.

»Wenn du das in den USA gekauft hättest«, erklärt er, »hätte ein Hinweis auf mögliche Nebenwirkungen darauf gestanden, vor allem auf die lebensgefährliche Dyskrasie. Aber nicht hier! Kein einziges Wort!«

Er nahm ein weiteres Medikament vom Tisch. »Das habe ich auch heute erhalten. Wirf mal einen Blick auf Felding-Roths Lo-tromycin, das wir beide kennen. Wir wissen, daß es bei Nierenfunktionsstörungen keinesfalls eingenommen werden sollte, auch nicht bei Schwangerschaft oder von Frauen, die stillen. Aber findest du hier einen Hinweis darauf? Nicht die Spur! Wen kümmert es, wenn ein paar Leute in diesem Land leiden oder sterben, weil man sie nicht gewarnt hat. Schließlich sind wir hier ja nur in Ecuador, weit entfernt von New Jersey. Warum sollte Felding-Roth so etwas kümmern? Warum sollte Celia Jordan so etwas kümmern?«

»Wie kannst du es wagen, so mit mir zu reden!« schrie sie ihn an.

Jetzt verlor Andrew die Beherrschung.

»Ich wage es, weil ich gesehen habe, wie du dich verändert hast. Wie du dich in elf Jahren immer ein bißchen mehr verändert hast. Von Verantwortungsbewußtsein zu Unbekümmertheit und Sorglosigkeit, während du mitgeholfen hast, nutzlosen Plunder über den Ladentisch zu schieben. Und wie du dich jetzt verhältst

- wie du scheinheilige Argumente vorbringst, um etwas, von dem du weißt, daß es schlecht ist, zu rechtfertigen, nur weil du es nicht zugeben willst, nicht einmal vor dir selbst!« Seine Stimme wurde noch lauter. »Was ist aus dem Mädchen mit seinen Idealen geworden, das mir das Lotromycin gebracht hat und die Ethik des Pharma-Geschäfts heben wollte, aus diesem Mädchen, das aufrecht und stark war, und das sich nicht gescheut hat, bei einer New Yorker Verkaufstagung unlautere Verkaufspraktiken öffentlich zu kritisieren? Willst du wissen, was mit ihr geschehen ist? Ich glaube, sie hat sich verkauft.«

Andrew hielt inne, dann fragte er scharf: »Hat es sich gelohnt

- um des Ehrgeizes und der Beförderung willen?«

»Du Schwein!« Ohne zu überlegen, griff Celia nach einem ihrer Schuhe und warf ihn in Andrews Richtung. Ihr Ziel war nicht zu verfehlen. Der spitze Absatz des Schuhs traf ihn an der linken Gesichtshälfte und riß eine klaffende Wunde, aus der Blut quoll. Aber Celia sah es nicht. Sie war allem gegenüber blind und schleuderte ihm ihre Worte ins Gesicht.

»Was gibt dir das Recht, so verdammt erhaben über Moral und Ideale zu reden? Was ist denn mit deinen Idealen geschehen? Wo waren sie, als du damals nichts wegen Noah Townsend unternommen, sondern zugelassen hast, daß er fünf Jahre lang weiterpraktizierte, während er die ganze Zeit drogensüchtig und eine Gefahr für sich und andere war? Schieb ja nicht die Schuld auf das Krankenhaus! Ihre Untätigkeit entschuldigt nicht deine eigene! Das weißt du genau! Und der Patient«, wütete Celia weiter, »der Junge, dieser Wyrazik? War es wirklich Noah, der ihn umgebracht hat, oder warst nicht du es? Du, weil du Noahs wegen nichts unternommen hast, weil du überhaupt nichts getan hast, bis es zu spät war. Liegst du nachts nicht manchmal wach und denkst darüber nach und hast ein schlechtes Gewissen? Das solltest du haben! Und fragst du dich nicht manchmal, ob es nicht noch andere Patienten gegeben hat, die wegen Noah in diesen fünf Jahren sterben mußten, andere, von denen du nichts weißt und die gestorben sind, weil du so verdammt wenig getan hast? Hörst du mich, du selbstgerechter Heuchler? Antworte!«

Plötzlich hielt Celia inne, nicht nur, weil ihr die Worte ausgegangen waren, sondern weil sie noch nie einen so gequälten Ausdruck auf Andrews Gesicht gesehen hatte.

»O mein Gott! Was habe ich getan!« sagte sie erschrocken.

Dann sah sie in Andrews Gesicht plötzliches Entsetzen, folgte seinem starren Blick und drehte sich auf dem Absatz herum. Zwei kleine Gestalten in Pyjamas waren ins Zimmer gekommen.

In ihrer unbeherrschten Wut hatten sie beide Lisa und Bruce im Schlafzimmer nebenan vergessen.

»Mommy! Daddy!« Es war Lisas Stimme, von Tränen erstickt.

Bruce schluchzte unkontrolliert.

Celia lief mit ausgestreckten Armen auf beide zu, Tränen ran-nen ihr übers Gesicht. Aber Lisa war schneller. Sie wich ihrer Mutter aus und lief zu Andrew.

»Daddy, du hast dir weh getan!« Sie sah den Schuh, an dessen Absatz Blut klebte, und rief: »Mommy, wie konntest du das tun!«

Andrew fuhr sich mit der Hand ans Gesicht, das noch immer blutete. Überall schien Blut zu sein - an seinen Händen, seinem Hemd, auf dem Fußboden.

Jetzt klammerte sich auch Bruce an seinen Vater, während Ce-lia hilflos und schuldbewußt dastand.

Andrew rettete die ausweglose Situation.

»Nein!« sagte er zu den Kindern. »Das dürft ihr nicht tun! Ihr dürft keine Partei ergreifen! Mommy und ich waren dumm. Wir hatten beide unrecht, und wir schämen uns dafür. Wir werden später über alles reden. Aber wir sind noch immer eine Familie. Wir gehören zusammen.«

Dann, ganz plötzlich, hielten sich alle vier so fest umschlungen, als wollten sie sich nie wieder trennen.

Ein wenig später machte Lisa sich los und ging ins Badezimmer, um ein nasses Handtuch zu holen, mit dem sie ihrem Vater geschickt das Blut abwischte.

Viel später, als die Kinder wieder im Bett waren und schliefen, liebten Andrew und Celia sich mit so leidenschaftlicher, wilder Unbeherrschtheit, wie es schon lange nicht mehr geschehen war, so als hätte ihre Hitzigkeit Gefühle freigelegt, die nun miteinander verschmolzen.

Danach redeten sie, obgleich sie erschöpft waren, bis tief in die Nacht hinein und führten die Diskussion am nächsten Tag fort. »Es war ein Gespräch«, sagte Andrew später, »das überfällig war und das wir immer wieder hinausgeschoben hatten.«

Beide gaben zu, daß in den gegenseitigen Beschuldigungen unerfreuliche Wahrheiten steckten. »Ja«, gestand Celia, »ich habe manche Wertbegriffe verdrängt, die ich einmal hatte. Und es hat tatsächlich Augenblicke gegeben, in denen ich mein Gewissen zum Schweigen gebracht habe. Ich bin nicht stolz darauf, und ich würde gern dahin zurückkehren, wo ich früher einmal stand, aber ich muß gestehen, daß ich nicht sicher bin, ob ich das noch kann.«

»Ich schätze«, sagte Andrew, »es hängt alles damit zusammen, daß man älter wird. Man wird klüger, reifer, gewiß. Aber man hat auf dem Weg auch gelernt, daß es Hindernisse gibt, die sich durch Idealismus nicht überwinden lassen, und daher nimmt man es mit den Idealen nicht mehr so genau.«

»Ich will versuchen, es von jetzt an besser zu machen«, sagte Celia. »Damit das, was mit uns geschehen ist, nicht umsonst war.«

»Das gilt wohl für uns beide«, bestätigte Andrew. Vorher hatte er zu Celia gesagt: »Du hast eine offene Wunde berührt, als du fragtest, ob ich nicht manchmal wach liege und über den Tod von Wyrazik und möglicherweise von anderen nachdenke. Hätte ich Wyrazik retten können, wenn ich Noahs wegen schon früher etwas unternommen hätte? Ja, das hätte ich, und es hat keinen Sinn, es zu leugnen und sich etwas vorzumachen. Das einzige, was sich wirklich sagen läßt, ist, daß es wohl keinen Mediziner gibt, der rückblickend nicht irgend etwas hätte besser machen können. Aber man kann aus seinen Fehlern lernen.«

Als Andrew am nächsten Tag mit drei Stichen im Gesicht die Praxis des einheimischen medico verließ, bemerkte der mit einem Lächeln: »Wahrscheinlich bleibt eine Narbe zurück, Doktor. Sie wird Ihrer Frau als Erinnerung dienen.« Da Andrew die Wunde mit einem Sturz beim Klettern erklärt hatte, bewies das, wie klein Quito war und wie schnell sich hier Gerüchte verbreiteten.

»Es tut mir schrecklich leid«, sagte Celia ein paar Stunden später, als sie mit den Kindern Mittag aßen.

»Muß es nicht«, versicherte Andrew. »Fast hätte ich das gleiche getan. Aber du hattest eben als erste einen Schuh zur Hand. Und außerdem kann ich nicht so gut zielen wie du.«

»Du darfst dich darüber nicht lustig machen«, sagte Celia vorwurfsvoll.

In diesem Augenblick machte Bruce, der während der ganzen Mahlzeit geschwiegen hatte, den Mund auf: »Werdet ihr euch jetzt scheiden lassen?« Sein kleines, ernstes Gesicht war angespannt, und man sah deutlich, daß ihn diese Frage schon die ganze Zeit quälte.

Andrew wollte mit einem Scherz darüber hinweggehen, als Celia ihn mit einer Handbewegung davon abhielt. »Brucie«, sagte sie sanft, »ich verspreche und schwöre dir, daß das in unserem ganzen Leben nicht passieren wird.«

»Der Meinung bin ich auch«, bestätigte Andrew, und das Gesicht ihres Sohns begann zu strahlen, genauso wie das von Lisa neben ihm.

»Da bin ich aber froh«, erklärte Bruce, und das schien der passende Abschluß eines Alptraumes zu sein, der nun vorüber war.

Es gab aber auch andere, vergnüglichere Reisen, die die Familie in den fünf Jahren, während Celia den internationalen Verkauf leitete, unternahm. Für Celias berufliche Karriere erwies sich diese Zeit als höchst erfolgreich und verschaffte ihr bei Felding-Roth mehr und mehr Ansehen. Es gelang ihr sogar, gegen den Widerstand innerhalb der Firma durchzusetzen, daß die Hinweise auf den Felding-Roth-Arzneimitteln, die in Lateinamerika vertrieben wurden, dem Stand angenähert wurden, der in den Vereinigten Staaten gesetzlich vorgeschrieben war. Allerdings war der Fortschritt, wie sie Andrew gegenüber zugab, »nicht gerade groß«.

»Eines Tages«, erklärte Celia, »wird irgend jemand dieses ganze Thema an die Öffentlichkeit bringen. Dann werden uns neue Gesetze oder die öffentliche Meinung dazu zwingen, das zu tun, was wir schon lange hätten tun müssen. Aber die Zeit ist noch nicht reif dafür.«

Eine Ahnung davon, wessen Zeit jedoch gekommen war, bekam Celia in Peru. Dort lag der Verkauf der Felding-Roth-Präpa-rate zum großen Teil in den Händen von Frauen. Der Grund dafür war, wie Celia erfuhr, nicht die Emanzipation der Frau, sondern eine Landessitte. In Peru galt es als unhöflich, eine Frau warten zu lassen; daher wurden Vertreterinnen bei den Ärzten schneller vorgelassen als ihre männlichen Konkurrenten, die zu-weilen stundenlang warten mußten.

Diese Entdeckung veranlaßte Celia, ein Memorandum an Sam Hawthorne zu verfassen und ihn zu drängen, auch in den USA mehr Vertreterinnen einzusetzen. »Ich erinnere mich an meine Zeit als Vertreterin«, schrieb Celia. »Ich mußte zwar manchmal auch lange warten, bis mich die Ärzte vorließen, aber zuweilen wurde ich ganz schnell empfangen, und ich glaube, nur deshalb, weil ich eine Frau bin. Warum sollten wir diese Tatsache nicht nutzen?«

In einer späteren Diskussion stellte Sam ihr die Frage: »Ist das, was Sie vorschlagen, nicht die falsche Art, Frauen zu fördern? Daß paßt nicht zur Women's Lib. Hier wird doch die Weiblichkeit der Frau benutzt.«

»Und warum nicht?« gab Celia zurück. »Schließlich benutzen die Männer ihre Männlichkeit seit Jahrhunderten, häufig zum Nachteil der Frauen. Und jetzt sind wir an der Reihe. Auf jeden Fall ist jeder, ob Mann oder Frau, dazu berechtigt, das Beste daraus zu machen.«

Am Ende wurde Celias Anregung ernst genommen und leitete bei Felding-Roth einen Prozeß ein, der in den darauffolgenden Jahren von anderen Arzneimittelfirmen nachgeahmt wurde.

Während dieser Zeit nahmen auch außerhalb des Pharma-Ge-schäfts die Dinge ihren Lauf. Die Tragödie von Vietnam zeichnete sich ab - eine ganze Generation junger Amerikaner ging in den Tod, und niemand wußte so recht, wofür. Ein RockmusikKult namens »Woodstock Nation« loderte kurz auf und verglühte dann wieder. In der Tschechoslowakei schaffte die Sowjetunion brutal die Freiheit ab. Dr. Martin Luther King und Robert Kennedy wurden ermordet. Nixon wurde Präsident, Golda Meir Ministerpräsidentin von Isarel. Jackie Kennedy heiratete Onassis. Eisenhower starb. Kissinger fuhr nach China, Armstrong zum Mond, Edward Kennedy nach Chappaquiddick.

Im Februar 1972 wurde Sam Hawthorne im Alter von 51 Jahren Präsident und Geschäftsführer von Felding-Roth. Sein Aufstieg erfolgte ganz plötzlich und in einer besonders schwierigen Phase der Firmengeschichte.

Sam Hawthorne war ein sogenannter Renaissance-Mensch. Er hatte viele Interessen intellektueller und sportlicher Art, aber in seinem Herzen war er ein Gelehrter, der sich trotz seiner tiefen Verstrickung in kommerzielle Geschäfte sein Leben lang für Literatur, Kunst und Musik interessierte. In fremden Städten fand, auch wenn der Arbeitsdruck noch so groß war, immer Zeit, Buchhandlungen, Galerien und Konzerte zu besuchen. In der Malerei bevorzugte er die Impressionisten, insbesondere Monet und Pissarro. In der Bildhauerei galt seine große Liebe Rodin. Lilian Hawthorne erzählte einmal einem Freund, daß ihr Mann in Paris im Garten des Rodin-Museums eine Viertelstunde lang schweigend und mit Tränen in den Augen »Die Bürger von Calais« betrachtet habe.

In der Musik galt Sams Leidenschaft Mozart. Er war ein geübter, wenn auch kein brillanter Klavierspieler, der sich auf Reisen hin und wieder ein Klavier in seine Hotelsuite bringen ließ, um ein bißchen Mozart zu spielen, wie etwa die A-Dur-Sonate, KV 331 - das getragene und klare Andante, das geschwindere Menuett und schließlich den fröhlichen »Türkischen Marsch«, der ihn nach einem ermüdenden Tag belebte.

Sam war wohlhabend und besaß einen beträchtlichen Teil der Felding-Roth-Aktien, die er von seiner früh verstorbenen Mutter geerbt hatte.

Sie war eine geborene Roth, und Sam war das letzte Mitglied der Familien Felding und Roth, das mit der Firmenleitung zu tun hatte. Aber seine familiären Bindungen waren für seine Karriere nicht ausschlaggebend gewesen. Was Sam erreicht hatte, hatte er durch seine Fähigkeiten und seine Integrität geschafft, und das wurde auch weitgehend anerkannt.

Sam und Lilian Hawthorne führten eine gute, dauerhafte Ehe; beide vergötterten ihre Tochter Julie, die jetzt fünfzehn Jahre alt war.

Im College war Sam Langstreckenläufer gewesen und absol-vierte noch immer mehrmals wöchentlich seinen morgendlichen Lauf. Er war ein begeisterter und recht erfolgreicher Tennisspieler, auch wenn seine Begeisterung seinen Stil übertraf. Sams besondere Stärke war ein gefährlicher Volley am Netz, der ihn zu einem gefragten Partner im Doppel machte.

Alle sportlichen oder geistigen Interessen aber wurden von einem übertroffen - von seiner Anglophilie.

Solange er sich erinnern konnte, war er immer gern nach England gefahren und hatte für die meisten Dinge, die englisch waren - Tradition, Sprache, Bildung, Humor, Stil, die Monarchie, London, alte Autos -, Bewunderung verspürt. Deshalb kam er auch jeden Morgen in einem prächtigen silbergrauen Rolls-Bent-ley zur Arbeit.

Und es gab noch etwas, wovon Sam eine hohe Meinung hatte: das war die britische - nicht nur die englische - Wissenschaft. Dies veranlaßte ihn während seiner ersten Monate als Präsident von Felding-Roth zu einem ungewöhnlichen Vorschlag.

In einer vertraulichen schriftlichen Mitteilung an den Aufsichtsrat hob er einige unerfreuliche Tatsachen hervor.

»In der Arzneimittelforschung und -herstellung - unserem raison d'etre - macht unsere Firma eine unfruchtbare Zeit durch, die sich weit über die >Flaute< hinaus erstreckt, von der unsere Branche allgemein erfaßt ist. Unser letzter großer >Durchbruch< war vor fast fünfzehn Jahren das Lotromycin. Während unsere Konkurrenz erfolgreiche neue Mittel eingeführt hat, haben wir kaum etwas von Bedeutung vorzuweisen. Und es ist auch weit und breit nichts in Sicht. All dies war dem Ruf unserer Firma nicht gerade förderlich und hatte auch Auswirkungen in finanzieller Hinsicht. Wir haben im vergangenen Jahr unsere Dividende herabsetzen müssen, woraufhin unsere Aktien gefallen sind und sich bis jetzt nicht wieder erholt haben.

Wir haben intern begonnen, >den Gürtel enger zu schnallen<, aber das genügt nicht. In zwei bis drei Jahren werden wir uns, wenn wir nicht bald ein starkes und positives Programm für die Zukunft entwickeln, in einer ernsten finanziellen Krise befinden.«

Sam erwähnte nicht, daß sein Vorgänger, der nach Auseinandersetzungen mit dem Aufsichtsrat entlassen worden war, eine Politik des »Schleifenlassens« verfolgt hatte, die im wesentlichen für die gegenwärtige schlechte Lage der Firma verantwortlich war.

Statt dessen ging Sam, nachdem er auf diese Weise den Boden bereitet hatte, zu seinem Vorschlag über.

»Ich empfehle mit allem Nachdruck«, schrieb er, »in Großbritannien ein Felding-Roth-Forschungsinstitut einzurichten. Das Institut sollte von einem hochqualifizierten englischen Wissenschaftler geleitet werden und völlig unabhängig von unseren Forschungen in den Vereinigten Staaten arbeiten.«

Nach weiteren Einzelheiten fügte er hinzu: »Ich glaube fest daran, daß dieser Forschungszweig neue Quellen erschließen und die Entwicklung wichtiger Arzneimittel beschleunigen würde, die unsere Firma so dringend benötigt.«

Warum gerade England?

Da er die Frage erwartet hatte, fuhr Sann fort: »Großbritannien hat in der technisch-naturwissenschaftlichen Forschung eine jahrhundertealte Tradition. Allein in diesem Jahrhundert kommen einige der größten Entdeckungen, die unser Leben dramatisch verändert haben, aus Großbritannien: Penicillin, Fernsehen, Radar, der Düsenantrieb für Flugzeuge, um nur vier zu nennen.

Aber es waren amerikanische Gesellschaften, die diese Erfindungen entwickelt und kommerziell ausgewertet haben - weil die Amerikaner beide Fähigkeiten in sich vereinen, zu entwickeln und zu vermarkten, was den Briten häufig abgeht. Aber die ursprünglichen Entdeckungen in diesen und anderen Fällen kamen von den Briten. Der Grund dafür mag in den unterschiedlichen Schulsystemen in Großbritannien und Amerika zu finden sein. Jedes System hat seine Stärken. Aber in Großbritannien wird an den Schulen eine akademische und wissenschaftliche Neugier gefördert wie nirgends sonst auf der Welt. Diese Neugier können und sollten wir zu unserem Vorteil nutzen.«

Sam ging auch ausführlich auf die Kosten ein und schloß dann mit den Worten: »Jemand könnte nun einwenden, daß man leichtsinnig und schlecht beraten sei, wenn man in dieser schweren Zeit, in der die Existenz unserer Firma bedroht ist, ein derart großes und aufwendiges Projekt in Angriff nimmt. Ein neues Forschungsinstitut ist sicher eine erhebliche finanzielle Belastung. Aber ich glaube, daß es noch leichtsinniger, daß man noch schlechter beraten ist, wenn man die Dinge weiterhin einfach schleifen läßt und nicht endlich mit positiven, mutigen Plänen für die Zukunft beginnt - und zwar sofort!«

Mit erstaunlicher Geschwindigkeit formierte sich eine starke Opposition gegen Sam Hawthornes Plan.

Sams Vorschlag war, wie jemand es ausdrückte, »kaum aus der Xerox-Maschine raus« und an die Mitglieder des Aufsichtsrats und einige andere Führungskräfte verteilt, als Sams Telefon auch schon zu klingeln begann und die Anrufer massive Einwände erhoben. »Sicher haben die Engländer große wissenschaftliche Leistungen vollbracht«, argumentierte einer, »aber die werden heutzutage von den amerikanischen bei weitem übertroffen, so daß Ihr Argument einfach lächerlich ist, Sam.« Andere konzentrierten sich auf »die absurde und rückständige Idee, ein Forschungszentrum in einem ausgelaugten, heruntergewirtschafteten Land an zusiedeln, das vielleicht früher mal etwas gewesen ist« - wie ein Mitglied des Aufsichtsrats es erregt ausdrückte.

»Man hätte meinen können«, berichtete Sam seiner Frau ein paar Tage später beim Essen, »ich hätte vorgeschlagen, die Unabhängigkeitserklärung rückgängig zu machen und zum Kolonialstatus zurückzukehren.«

Eins lernte Sam schnell: daß ihm seine Führungsposition in der Firma keineswegs carte blanche gewährte, daß er nicht einfach tun konnte, was er wollte, und daß er sich schon gar nicht vom Treibsand korporativer Politik lösen konnte.

Ein Experte für Firmenpolitik war der Leiter der Forschungsabteilung, Vincent Lord, der sich sofort zum Gegner von Sams Vorschlag aufschwang. Während er durchaus der Meinung war, daß für die Forschung mehr Geld ausgegeben werden sollte, bezeichnet er die Idee, dies in Großbritannien zu tun, als »naiv« und Sam Hawthornes Ansichten über die britische Wissenschaft als »Kindergartendenken, das sich auf einen Mythos stützt«.

Diese ungewöhnlich harten, ja beleidigenden Worte standen in einer Notiz, die an Sam gerichtet war, und von der ein Freund und Verbündeter von Vincent Lord im Aufsichtsrat eine Kopie bekam. Als Sam die Mitteilung las, geriet er in Wut und suchte Vincent Lord in seiner Abteilung auf. Als er durch die blitzblank gebohnerten, klimatisierten und verglasten Korridore der Forschungsabteilung ging, mußte Sam an die vielen Millionen Dollar denken, die Felding-Roth für die hochmodernen, computergesteuerten, glitzernden und zuweilen geheimnisvollen Geräte ausgegeben hatte, die in angenehmen, geräumigen Labors untergebracht waren und von einer ganzen Armee weißbekittelter Wissenschaftler und Techniker bedient wurden. Was hier zur Verfügung stand, verkörperte den Traum eines jeden Forschers an einem Universitätsinstitut, war aber für einen großen Pharma-Konzern die Norm. Das Geld, das in der Pharma-Industrie in die Forschung floß, war selten knapp bemessen. Umstritten waren höchstens die Vergabekriterien wie in diesem Fall.

Vincent Lord befand sich in seinem holzgetäfelten, mit Büchern vollgestopften, hell erleuchteten Büro. Die Tür stand offen, und Sam Hawthorne ging geradewegs hinein, nachdem er einer Sekretärin im Vorzimmer, die ihn zuerst aufhalten wollte, ihn dann aber erkannte, kurz zugenickt hatte. Dr. Lord saß im weißen Kittel an seinem Schreibtisch und runzelte wie so oft die Stirn, während er einen Artikel las. Erstaunt blickte er auf und starrte Sam mit seinen dunklen Augen hinter den randlosen Brillengläsern an, sein asketisches Gesicht drückte Verärgerung aus.

Sam hatte Lords Mitteilung mitgebracht. Er legte sie auf den Schreibtisch und verkündete: »Ich bin gekommen, um mit Ihnen darüber zu reden.« Der Leiter der Forschungsabteilung machte einen halbherzigen Versuch, sich zu erheben, aber Sam winkte ab: »Ganz formlos, Vince«, sagte er. »Formlos und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen.«

Lord warf einen Blick auf das Memorandum und beugte sich kurzsichtig vor, um zu sehen, worum es sich handelte. »Was ge-fällt Ihnen daran denn nicht?«

»Der Inhalt und der Ton.«

»Und was gibt es sonst noch?«

Sam griff nach dem Papier und drehte es herum. »Es ist ganz ordentlich getippt.«

»Ich schätze«, sagte Lord mit ironischem Lächeln, »daß sie jetzt, wo sie der Chef vom ganzen sind, gern von >Ja-Sagern< umgeben sein möchten.«

Sam Hawthorne stieß einen Seufzer aus. Er kannte Vince Lord seit fünfzehn Jahren, hatte sich inzwischen an seine schwierige Art gewöhnt und war bereit, ihm alles mögliche nachzusehen. »Sie wissen, daß das nicht wahr ist«, sagte er daher ruhig. »Ich will nichts als eine vernünftige Diskussion und bessere Gründe für eine Ablehnung, als Sie sie mir gegeben haben.«

»Was heißt hier vernünftig«, sagte Lord und zog eine Schublade auf, der er einen Ordner entnahm. »Ich wende mich in diesem Zusammenhang ganz entschieden gegen eine Erklärung von Ihnen.«

»Welche?«

»Was unsere eigene Forschung betrifft.« Lord las in der Akte und zitierte aus Sams Vorschlag für das britische Institut: »>Wäh-rend unsere Konkurrenz erfolgreich neue Mittel eingeführt hat, haben wir kaum etwas von Bedeutung vorzuweisen. Und es ist auch weit und breit nichts in Sicht.<«

»Beweisen Sie mir das Gegenteil.«

»Wir arbeiten an einer Reihe vielversprechender Entwicklungen«, sagte Lord. »Einige der jungen Wissenschaftler, die ich geholt habe, sind dabei . . .«

»Vince«, unterbrach ihn Sam, »das weiß ich alles. Ich lese schließlich Ihre Berichte. Und ich gratuliere Ihnen zu den jungen Talenten, die Sie eingestellt haben.«

Es stimmt, dachte Sam. Im Lauf der Jahre hatte sich herausgestellt, daß Vincent Lord die Fähigkeit besaß, talentierte junge Wissenschaftler heranzuziehen. Das mochte daran liegen, daß er selbst noch immer einen guten Ruf besaß, wenn ihm auch die ganz große Entdeckung nicht gelungen war, die man seit langem von ihm erwartete. Auch mit Lords Rolle als Leiter der Forschungsabteilung durfte man nicht unzufrieden sein; die gegenwärtige Flaute war ein Mißgeschick, das jede Firma treffen konnte, selbst wenn sie die besten Wissenschaftler beschäftigte.

»Die Arbeitsberichte, die ich Ihnen geschickt habe«, sagte Lord, »waren immer sehr vorsichtig abgefaßt. Das tue ich absichtlich, weil ich nicht will, daß Sie und die Bande vom Verkauf in helle Aufregung geraten über etwas, was sich noch im experimentellen Stadium befindet.«

»Das weiß ich«, sagte Sam, »und ich bin ganz Ihrer Ansicht.« Er wußte nur zu gut, daß es in jeder Arzneimittelfirma ein ständiges Tauziehen zwischen Verkauf und Herstellung auf der einen und der Forschungsabteilung auf der anderen Seite gab. Die Verkaufsleute sagten: »Die Forschung will bei jeder gottverdammten Kleinigkeit hundertundzehn Prozent Sicherheit, bevor wir losmarschieren können.« Und auch die Herstellung war darauf bedacht, die Produktion anzukurbeln, um nicht durch Aufträge überfordert zu werden, wenn ein neues Mittel plötzlich einschlug. Andererseits beschuldigten die Forscher die Verkaufsabteilung, »mit einem Produkt, das erst zu zwanzig Prozent erprobt ist, auf den Markt stürmen zu wollen, nur um die Konkurrenz zu übertrumpfen und in Führung zu gehen«.

»Was ich Ihnen jetzt sage und was nicht in meinen Berichten steht«, verriet Vincent Lord nun, »ist, daß wir mit zwei Verbindungen aufregend gute Ergebnisse erzielen - das eine ist ein Diuretikum, das andere ein entzündungshemmendes Mittel bei rheumatischer Arthritis.«

»Das höre ich gern.«

»Und dann läuft noch unser Antrag auf Genehmigung von De-rogil bei der FDA.«

»Das neue Mittel zur Senkung des Blutdrucks.« Sam wußte, daß Derogil kein revolutionäres Medikament war, sich aber gut verkaufen würde.

»Und geht es mit dem Antrag voran?« fragte er.

»Nicht daß ich wüßte«, erwiderte Lord mürrisch. »Diese aufgeblasenen Schwachköpfe in Washington . . .« Er machte eine Pause. »Ich werde nächste Woche noch mal hinfahren.«

»Trotzdem bin ich nicht der Ansicht, daß ich mit meiner Erklärung unrecht habe«, sagte Sam. »Aber da Sie es zu glauben scheinen, werde ich sie modifizieren, wenn der Aufsichtsrat zusammentritt.«

Vincent Lord nickte, und als wäre das Zugeständnis etwas, das ihm zustand, fuhr er fort: »Außerdem arbeite ich selbst noch immer an der Ausschaltung der freien Radikale. Wahrscheinlich glauben Sie nach all der Zeit nicht, daß noch irgend etwas dabei herauskommt . . .«

»Das habe ich nie behauptet«, protestierte Sam. »Nicht ein einziges Mal! Auch wenn Sie's nicht glauben, Vince, es gibt hier ein paar Leute, die Ihnen vertrauen. Außerdem wissen wir, daß sich wichtige Entwicklungen nicht übers Knie brechen lassen.«

Sam hatte nur eine vage Vorstellung davon, was die Ausschaltung der freien Radikale zu bedeuten hatte. Er wußte lediglich, daß Vincent Lord sich seit zehn Jahren damit beschäftigte, toxische Wirkungen von Arzneimitteln auszuschalten. Wenn er Erfolg hatte, würden sich daraus bedeutende kommerzielle Möglichkeiten eröffnen. Aber das war auch schon alles.

»Nichts von dem, was Sie vorgebracht haben«, bemerkte Sam, als er aufstand, »kann mich davon überzeugen, daß es keine gute Idee wäre, ein britisches Forschungszentrum ins Leben zu rufen.«

»Und ich bin noch immer dagegen, weil es überflüssig ist.« Die Antwort des Leiters der Forschungsabteilung klang unerschütterlich, auch wenn er wie in Gedanken hinzufügte: »Und falls es doch dazu käme, müßten wir die Sache von hier aus kontrollieren.«

Sam Hawthorne lächelte. »Darüber können wir später reden.« Aber er wußte genau, daß er auf keinen Fall zulassen würde, daß Vincent Lord die Kontrolle über das neue britische Forschungsinstitut bekam.

Lord schloß hinter Sam Hawthorne die Tür und ließ sich mit düsterer Miene in seinen Schreibtischsessel fallen. Er hatte das Ge-fühl, daß die Idee eines Felding-Roth-Forschungsinstituts in England trotz seines Widerstands verwirklicht werden würde, und er sah diese Entwicklung als eine Bedrohung und als ein Zeichen dafür an, daß ihm seine wissenschaftliche Vormachtstellung in der Firma entglitt. Wie lange würde es dann noch dauern, bis er völlig in den Schatten gestellt war?

Alles wäre anders, überlegte er trübsinnig, wenn seine eigenen Forschungen besser und schneller vorangingen. Aber wie die Dinge lagen, hatte er als Wissenschaftler tatsächlich nicht viel vorzuweisen. Er war jetzt achtundvierzig und nicht mehr der Wunderknabe mit dem frischgebackenen Doktortitel. Manche seiner Techniken und Kenntnisse waren, wie er sehr wohl wußte, veraltet. Gewiß, er las noch immer viel, um auf dem laufenden zu bleiben. Aber das konnte den mangelnden Kontakt zum wissenschaftlichen Bereich nicht ersetzen - in seinem Fall zu der organischen Chemie, die man zu einer Kunst gemacht hatte, bei der man sich von Instinkt und Erfahrung leiten ließ. Auf dem neuen Gebiet der Gentechnik, zum Beispiel, fühlte er sich nicht besonders zu Hause, jedenfalls nicht so wie die jungen Wissenschaftler, die gerade von den Universitäten kamen und von denen er einige für Felding-Roth angeworben hatte.

Trotzdem, versicherte er sich selbst, trotz all der Veränderungen und neuen Erkenntnisse bestand noch immer die Möglichkeit, daß ihm eines Tages ein gigantischer Durchbruch gelang. Innerhalb der Parameter der organischen Chemie existierte eine Antwort - eine Antwort auf seine Fragen, die er in zehn mühsamen, aufreibenden Forschungsjahren und in zahllosen Experimenten immer wieder gestellt hatte.

Die Ausschaltung der freien Radikale.

Die Antwort, nach der Vincent Lord suchte, würde enorme therapeutische Vorteile sowie unbegrenzte kommerzielle Möglichkeiten mit sich bringen, die Sam Hawthorne und die anderen in ihrer wissenschaftlichen Ignoranz noch gar nicht absehen konnten.

Was wäre durch die Ausschaltung der freien Radikale gewonnen?

Wie alle Wissenschaftler auf diesem Gebiet wußte Vincent Lord, daß viele Arzneimittel, wenn sie in den menschlichen Körper und seinen Stoffwechsel gelangen, »freie Radikale« erzeugen. Substanzen, die dem gesunden Gewebe schaden und sogar zum Tode führen können.

Die Ausschaltung der freien Radikale würde bedeuten, daß Medikamente, die bei einigen Patienten bisher nicht angewendet werden konnten, weil sie gefährliche Nebenwirkungen hervorriefen, nun für alle verträglich wurden und Mittel, die bisher mit großen Risiken verbunden waren, so gefahrlos eingenommen werden konnten wie Aspirin.

Die Ärzte würden sich, wenn sie ihren Patienten Rezepte ausschreiben, keine Gedanken mehr darüber machen müssen, ob ein Medikament verträglich war oder nicht. Krebspatienten brauchten keine Qualen mehr wegen solcher Mittel zu leiden, die dazu dienen sollten, sie am Leben zu erhalten, die aber häufig genug selbst den Tod herbeiführten. Alle positiven Wirkungen der Arzneimittel würden erhalten bleiben, und die lebensgefährlichen Nebeneffekte würden durch die Ausschaltung der freien Radikale beseitigt werden.

Was Vincent Lord herzustellen hoffte, war ein Mittel, das anderen Medikamenten hinzugefügt wurde, damit sie absolut sicher waren.

Es war möglich. Es gab eine Antwort. Aber noch verbarg sie sich, wich ihm aus, wartete darauf, sich finden zu lassen. Und nach zehn Jahren des Suchens glaubte Vincent Lord, dieser Antwort sehr nahe zu sein. Er konnte sie riechen, sie spüren, den Nektar des Erfolgs fast auf der Zunge schmecken.

Aber wie lange noch, wie lange würde er noch warten müssen?

Mit einem Ruck richtete er sich im Sessel auf. Er zog eine Schublade seines Schreibtischs auf und nahm einen Schlüssel heraus. Er wollte gleich noch einmal in sein privates Labor gehen, ein paar Schritte den Gang hinunter.

Vincent Lords Freund und Verbündeter im Aufsichtsrat von Fel-ding-Roth war Clinton Etheridge, ein erfolgreicher und prominenter New Yorker Rechtsanwalt, der den Anspruch erhob, wissenschaftliche Kenntnisse zu besitzen. Diesen Anspruch leitete Etheridge aus der Tatsache ab, daß er als junger Mann zwei Jahre lang Medizin studiert hatte, bevor er sich entschloß, zur Jurisprudenz überzuwechseln. Ein Bekannter hatte über diesen Wechsel einmal ironisch gesagt: »Clint stellte die Diagnose, wo das große Geld zu machen war, und verschrieb sich sofort den direktesten Weg dorthin.«

Etheridge war jetzt dreiundfünfzig. Daß sein kurzes, unvollständiges Medizinstudium mehr als ein Vierteljahrhundert zurücklag, hielt ihn nicht davon ab, bei jeder Gelegenheit im Brustton der Überzeugung Kommentare über wissenschaftliche Themen von sich zu geben, und zwar in vollendeter Gerichtssaalmanier und mit einem deutlichen Hinweis darauf, daß sie eigentlich in Stein gehauen und konserviert gehörten.

Vincent Lord machte sich das zunutze und schmeichelte Ethe-ridge, indem er ihn wie seinesgleichen behandelte. Auf diese Weise gelang es dem Leiter der Forschungsabteilung, dem Aufsichtsrat seine persönlichen Ansichten vortragen zu lassen, und noch dazu mit der routinierten Eindringlichkeit eines Rechtsanwalts.

Daher erstaunte es niemanden, daß Clinton Etheridge bei einer Sitzung des Aufsichtsrats, die einberufen worden war, um Sam Hawthornes Vorschlag eines britischen Forschungsinstituts zu diskutieren, die Opposition anführte.

Die Konferenz fand in der Felding-Roth-Zentrale in Boonton statt. Vierzehn der insgesamt sechzehn Aufsichtsratsmitglieder -ausschließlich Männer - waren um den traditionellen Walnußtisch des Konferenzraums versammelt.

Etheridge, groß, mit leicht gebeugten Schultern, der sich gern mit einer Lincolnschen Aura umgab, begann jovial: »Hatten Sie gehofft, Sam, daß man drüben, falls diese pro-britische Sache durchgeht, so zufrieden mit Ihnen ist, daß Sie zum Tee in den Buckingham-Palast geladen werden?«

Sam schloß sich dem allgemeinen Gelächter an und parierte: »Worauf ich wirklich scharf bin, Clint, ist ein verlängertes Wochenende in Windsor Castle.«

»Nun«, erwiderte der Rechtsanwalt, »ein durchaus erreichbares Ziel; meiner Meinung nach allerdings auch das einzige.« Er wurde ernst. »Bei Ihrem Vorschlag scheinen Sie die enormen wissenschaftlichen Leistungen unseres eigenen Landes übersehen zu haben - das ja auch Ihr Land ist.«

Sam war diese Sitzung schon vorher in Gedanken durchgegangen und hatte nicht die Absicht, sich die Argumente wegschnappen zu lassen. »Ich habe die amerikanische Leistung auf wissenschaftlichem Gebiet nicht übersehen«, entgegenete er. »Wie könnte ich das? Wir sind ja von ihnen umgeben. Ich möchte sie nur ergänzen.«

Ein anderer warf ein: »Warum verwenden wir unser Geld dann nicht dazu, sie hier bei uns zu ergänzen?«

»Die Engländer selbst«, fuhr Etheridge beharrlich fort, »haben den Mythos genährt, daß die Wissenschaft auf ihrer kleinen Insel allen anderen überlegen sei. Aber wenn das zutrifft, warum herrscht dann in England der sogenannte Ausverkauf des Geistes - warum kommen dann so viele ihrer besten Köpfe hierher zu uns, um in der amerikanischen Forschung zu arbeiten?«

»Das tun sie in der Regel«, erwiderte Sam, »weil wir ihnen bessere Bedingungen bieten können und weil bei uns mehr Geld für Personal und technische Ausstattung zur Verfgügung steht. Aber Ihre Frage, Clint, bestärkt nur mein Argument. Dieses Land heißt englische Wissenschaftler willkommen, eben weil sie so gut sind.«

»Welches Gebiet in der wissenschaftlichen Forschung, das mit unserer Industrie zu tun hat«, fragte Etheridge, »ist Ihrer Meinung nach gegenwärtig das wichtigste, Sam?«

»Ohne Frage - die Gentechnik.«

»Genau.« Der Rechtsanwalt nickte und schien mit der Antwort zufrieden. »Und stimmt es etwa nicht - ich spreche nicht ohne Sachkenntnis, wie Sie wissen -, daß die USA in diesem Bereich allen anderen weit voraus war und es noch immer ist?«

Sam war versucht zu lächeln, unterließ es dann aber. Endlich einmal war dieser Pseudowissenschaftler falsch informiert.

»Das ist leider nicht ganz richtig, Clint«, sagte Sam. »Es war ein englischer Arzt namens William Harvey, der 1651 den Grundstein für die Erforschung der Gene gelegt hat. Und es war auch England, wo man 1908 mit Forschungen auf dem Gebiet der biochemischen Genetik begann. Dazwischen hat es auch andere Entdeckungen gegeben, zu denen der amerikanische Genetiker Dr. Hermann Muller in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts und auch später einen erheblichen Teil beigetragen hat. Aber die Krönung, die manchmal auch als >Explosion in der Genetik< bezeichnet wird, fand wiederum in England statt - das war 1953 in Cambridge, als Dr. Watson und Dr. Crick die Struktur des DNSMoleküls entdeckten und dafür einen Nobelpreis erhielten.« Jetzt lächelte Sam. »Übrigens ist Dr. Watson geborener Amerikaner, was beweist, daß die elementare Wissenschaft international ist.«

Mehrere Zuhörer kicherten in sich hinein, und Etheridge brachte es sogar fertig, kleinlaut dreinzuschauen. »Wie wir Rechtsanwälte immer sagen, gibt es Fragen, die man besser nicht gestellt hätte«, bemerkte er. Dann fügte er unbeirrt hinzu: »Aber nichts von dem kann meine Meinung ändern - daß die amerikanische Wissenschaft hinter keiner anderen zurücksteht; außerdem würde es unsere eigene Forschungskapazität einschränken, wenn wir uns zu sehr verzetteln und in einem anderen Land eine Zweigstelle errichten.«

Zustimmendes Gemurmel kam auf, bis Owen Norton, ein weiteres Mitglied des Gremiums, auf den Tisch klopfte, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Norton, eine achtunggebietende Persönlichkeit, war schon über siebzig und Präsident sowie Hauptaktionär eines Kommunikationsimperiums, zu dem auch eine Fernsehanstalt gehörte. Man war sich darin einig, daß Felding-Roth sich glücklich schätzen konnte, ihn dabeizuhaben. Nachdem er sich Aufmerksamkeit verschafft hatte, sprach er eindringlich und mit lauter, etwas krächzender Stimme. »Vielleicht darf ich Sie daran erinnern, daß wir hier ernste und wichtige Probleme besprechen, die für diese Firma von großer Bedeutung sind. Wir haben Sam Hawthorne zum Präsidenten gewählt, weil wir der Meinung sind, daß er fähig ist, diese Firma zu leiten und ihr neue Ideen und Impulse zu geben; nun hat er ein Konzept vorgelegt, das all dies beinhaltet, und was passiert? Clint und ein paar andere wollen uns dazu bringen, seinen Vorschlag mir nichts, dir nichts abzutun. Also, ich für meinen Teil mache da nicht mit.«

Owen Norton sah Etheridge, mit dem er schon bei früheren Sitzungen aneinandergeraten war, scharf an, und seine Stimme wurde ironisch. »Ich meine, Clint, daß Sie sich Ihre pubertären Polemiken für eine Jury aufheben sollten, die nicht so gut informiert ist wie die Teilnehmer dieser Sitzung.«

Es folgte ein Augenblick des Schweigens. Manch einer würde sich wundern, dachte Sam Hawthorne, daß Aufsichtsratssitzungen-selten auf einem Niveau geführt wurden, das man von ihnen erwartete. Auch wenn oft wichtige Entscheidungen getroffen wurden, gab es doch häufig genug erstaunlich kleinliche Zänkereien.

»Im Grund ist es doch verdammt egal, wessen Wissenschaft besser ist - die englische oder unsere«, fuhr Norton fort. »Darum geht es doch gar nicht.«

»Worum geht es dann?« fragte einer der Teilnehmer.

Norton schlug mit der Faust auf den Tisch. »Um Vielfalt! In jedem Geschäft, auch in meinem, ist es vorteilhaft, einen zweiten >Denk-Tank< zu haben, der völlig unabhängig operiert. Und vielleicht erreicht man diese Unabhängigkeit am besten, indem man einen Ozean dazwischenlegt.«

»Dadurch erreicht man vielleicht aber auch nur«, sagte ein anderer, »daß einem die Kosten davonrennen.«

Die Diskussion zog sich über eine Stunde lang hin, immer wieder wurden Gegenargumente und Alternativvorschläge vorgebracht. Einige Herren aber unterstützten Sams Vorschlag, der durch Owen Nortons Einwurf gestärkt worden war, und am Ende löste sich die Opposition auf. Schließlich wurde der ursprüngliche Vorschlag mit dreizehn zu einer Stimme angenommen - wobei Clinton Etheridge die einzige Gegenstimme abgab.

»Vielen Dank, meine Herren«, sagte Sam abschließend. »Ich glaube fest daran, daß aus dieser Entscheidung etwas Produktives hervorgehen wird.«

Noch am selben Tag ließ er Celia rufen.

»Sie werden sich wieder verändern müssen«, sagte er, ohne viel Zeit mit Vorreden zu verschwenden. »Den internationalen Verkauf haben Sie jetzt hinter sich. Sie werden meine persönliche Assistentin und rechte Hand bei der Einrichtung eines englischen Forschungsinstituts werden.«

»In Ordnung.« Celias Stimme war trotz aller Freude so knapp und sachlich wie die von Sam. Man sah ihm den Druck an, unter dem er stand, fand sie. Er war jetzt fast völlig kahl, nur noch ein dünner Haarkranz war ihm geblieben. Zum Feiern würde heute abend Zeit sein, wenn sie Andrew die Neuigkeit mitteilte.

»Wann fangen wir an?« fragte sie. Gleichzeitig überlegte sie, wie lange sie brauchen würde, um ihre lateinamerikanischen Aufgaben einem Nachfolger zu übergeben. Ein Monat müßte genügen.

»Ich würde am liebsten gleich heute nachmittag anfangen«, erwiderte Sam. »Aber wir brauchen erst ein Büro für Sie. Sagen wir also: morgen früh, neun Uhr.«

»Diese neue Aufgabe«, sagte Sam am nächsten Tag zu Celia, »wird nicht lange dauern. Ihre Hauptaufgabe wird darin bestehen, unser englisches Forschungsinstitut zu etablieren, Personal einzustellen und alles in Gang zu bringen. Es wäre mir lieb, wenn das innerhalb eines Jahres gelänge, je früher, desto besser. Danach werden wir so bald wie möglich etwas anderes für Sie finden.«

Das wichtigste war, einen englischen Wissenschaftler zu finden, der die Leitung des Instituts übernahm, eine Entscheidung über den Standort zu treffen und dann ein Gebäude zu kaufen oder zu mieten, das sich schnell für ihre Zwecke umbauen ließ.

Viel Zeit blieb ihnen nicht - deshalb hatte Sam Celia auch so plötzlich vom internationalen Verkauf abgezogen. Sam würde die Suche nach einem angesehenen und tüchtigen wissenschaftlichen Leiter selbst in die Hand nehmen, und Celia sollte ihm, falls erforderlich, dabei helfen. Alles andere würde Celia allein erledigen und Sam und den anderen Vorschläge unterbreiten.

Sam und Celia sollten bereits in der nächsten Woche nach England fliegen, aber vorher wollten sie noch Vincent Lord um Rat fragen, der dem Projekt zwar ablehnend gegenüberstand, sich aber gut in der englischen Wissenschaftsszene auskannte und ihnen vielleicht einige Namen für den Posten des Institutsleiters nennen konnte.

Die Beratung mit Dr. Lord fand ein paar Tage später in Celias Anwesenheit in Sams Büro statt.

Zu Celias Überraschung war Vince Lord kooperativ, ja fast freundlich, soweit er dazu überhaupt imstande war. Sam wußte auch, warum. Nachdem es nun einmal beschlossene Sache war, in England Forschung zu betreiben, wollte Lord die Kontrolle übernehmen. Aber Sam war noch immer entschlossen, das nicht zuzulassen.

»Ich habe eine Liste mit Namen vorbereitet«, berichtete Lord, »die für uns in Frage kommen. Sie werden sehr diskret Kontakt aufnehmen müssen, weil es sich entweder um Universitätsprofessoren oder um Mitarbeiter unserer Konkurrenzfirmen handelt.«

Sam und Celia prüften die Liste, die acht Namen enthielt. »Wir werden diskret vorgehen«, versprach Sam, »aber wir werden auch keine Zeit verlieren.«

»Wenn Sie schon dort sind«, sagte Lord, »könnten Sie sich vielleicht das hier auch gleich ansehen.« Er zog einen Stoß Papiere und Briefe aus einer Mappe. »Ich korrespondiere seit einiger Zeit mit einem jungen Wissenschaftler von der Universität Cambridge. Er hat einige interessante Arbeiten über das mentale Altern und die Alzheimersche Krankheit durchgeführt, aber ihm ist das Geld ausgegangen, und er braucht eine Unterstützung.«

»Nennt man das so, wenn das Gehirn nicht mehr ordentlich funktioniert?« fragte Celia.

Lord nickte: »Ein Teil des Gehirns. Das Gedächtnis schwindet. Der geistige Verfall beginnt ganz allmählich und wird immer schlimmer.«

Trotz der Abneigung, die der Leiter der Forschungsabteilung früher gegen Celia gehegt hatte, akzeptierte er sie jetzt als festen und einflußreichen Bestandteil der Firma; es war daher sinnlos, sich weiterhin gegen sie zu stellen.

Sie waren sogar schon dazu übergegangen, sich mit dem Vornamen anzureden - zunächst ein bißchen verlegen, aber das hatte sich inzwischen gelegt.

Sam nahm die Briefe, blätterte sie durch und las laut vor: »Dr. Martin Peat-Smith.« Er reichte Celia die Blätter und fragte Lord: »Würden Sie eine Unterstützung befürworten?«

Der Forschungsleiter zuckte die Achseln. »Das ist eine langwierige Sache. Die Alzheimersche Krankheit beschäftigt die Wissenschaftler seit 1906, als sie zum ersten Mal diagnostiziert wurde. Peat-Smith untersucht nun den Alterungsprozeß des Gehirns und hofft, auf diese Weise die Ursache für die Alzheimer-sche Krankheit zu finden.«

»Und wie sind seine Chancen?«

»Gering.«

»Vielleicht können wir etwas Geld investieren«, sagte Sam» »Wenn wir Zeit haben, werden wir mit ihm reden. Aber zuerst muß alles andere erledigt sein.«

»Celia, die die Briefe gelesen hatte, fragte: »Kommt Dr. Peat-Smith möglicherweise für den Posten des Institutsleiters in Frage?«

Lord sah erstaunt aus. »Nein«, sagte er dann.

»Und warum nicht?«

»Erstens, weil er zu jung ist.« Celia sah auf das Blatt, das sie gerade gelesen hatte. »Er ist zweiunddreißig.« Sie lächelte. »Waren Sie nicht genauso alt, Vince, als Sie zu uns kamen?«

»Das waren ganz andere Umstände«, antwortete er steif.

»Reden wir zuerst von diesen Leuten hier«, sagte Sam. Er hatte sich wieder Lords Liste zugewandt. »Geben Sie mir ein paar zusätzliche Informationen, Vince.«

9

Juni 1972. London war prunkvoll und farbenprächtig wie eine Orgie. In öffentlichen Parks und Gärten war die Luft vom Duft der Blumen erfüllt - Rosen, Flieder, Azaleen, Schwertlilien. Touristen und Einheimische ließen sich von der Sonne wärmen. Zur Parade, die anläßlich des Geburtstags der Queen feierlich abgenommen wurde, spielten zahlreiche Kapellen auf. Im Hyde Park ritten elegant gekleidete Reiter im leichten Galopp über die Rotten Row. Ganz in der Nähe fütterten Kinder fröhlich die Enten, die mit den Badenden im Wasser wetteiferten. In Epsom war das Derby im traditionellen Stil und mit viel Rummel gelaufen; den Sieg hatten der Hengst Roberto und Jockey Lester Piggott davongetragen, die damit ihr sechstes Derby gewannen.

»In dieser Jahreszeit hier zu sein, empfinde ich nicht als Arbeit«, sagte Celia zu Sam. »Ich habe das Gefühl, als müßte ich der Firma etwas dafür zahlen, daß ich hier sein darf.«

Sie wohnte im Berkeley-Hotel in Knightsbridge und hatte sich in den vergangenen Wochen mehr als ein Dutzend mögliche Standorte für das Felding-Roth-Forschungsinstitut angesehen. Celia war allein, da Andrew sie nicht hatte begleiten können. Sam und Lilian Hawthorne wohnten im Claridge 's.

Und dort, in der Suite der Hawthornes, rückte Celia in der dritten Juni-Woche mit ihrer Neuigkeit heraus.

»Ich bin im ganzen Land herumgereist«, sagte sie zu Sam. »Und ich glaube, der beste Platz für uns ist in Harlow, in Essex.«

»Davon habe ich noch nie etwas gehört«, warf Lilian ein. »Das liegt daran, daß Harlow ein kleines Dorf ist«, erklärte Ce-lia. »Die britische Regierung hat rund dreißig sogenannte >neue Städte< gegründet, um Menschen und Industrieanlagen aus den großen Städten abzuziehen, und Harlow ist eine davon. Der Ort bietet alles, was wir brauchen. Er liegt nicht weit von London entfernt, hat eine Schnellbahnverbindung, gute Straßen und einen Flughafen in der Nähe. Es gibt dort Häuser und Schulen, und ringsherum liegen Wiesen und Felder - eine wunderschöne Gegend für unsere Mitarbeiter.«

»Und was ist mit dem Institutsgebäude?« fragte Sam.

»Das habe ich auch schon gefunden.« Celia blickte in ihre Notizen. »Eine Firma namens Comthrust, die kleine Kommunikationsgeräte herstellt - Intercom-Systeme, Alarmeinrichtungen und dergleichen -, hat in Harlow eine Fabrik gebaut, ist aber in Geldschwierigkeiten geraten. Sie wird das Werk, das ungefähr die Größe hat, die wir brauchen, wieder aufgeben müssen. Es ist nie in Betrieb gewesen, und Comthrust ist an einem schnellen Barverkauf interessiert.«

»Könnte man das Gebäude in Labors umwandeln?«

»Leicht.« Celia faltete mehrere Blaupausen auseinander. »Ich hab' die Pläne mitgebracht, hab' auch schon mit einem Bauunternehmer gesprochen.«

»Während ihr beide euch in diese langweiligen Pläne vertieft«, verkündete Lilian, »gehe ich zu Harrods einkaufen.«

Zwei Tage später fuhren Sam und Celia nach Harlow. Während Sam den gemieteten Jaguar in nördliche Richtung durch den morgendlichen Verkehr steuerte, las Celia die International Herald Tribüne.

Die Friedensgespräche über Vietnam, die zum Stillstand gekommen waren, würden in Paris bald wiederaufgenommen werden, prophezeite ein Bericht auf der ersten Seite. In einem Krankenhaus in Maryland hatte man aus der Wirbelsäule von Gouverneur George Wallace aus Alabama eine Kugel herausoperiert, die von einem Attentat stammte, das vor einem Monat auf ihn verübt worden war. Präsident Nixon teilte seine persönliche Einschätzung des Vietnamkrieges mit und versicherte den Amerikanern: »Hanoi wird sein verzweifeltes Hasardspiel verlieren.«

Eine Nachricht aus Washington, D. C., der ungewöhnliche Aufmerksamkeit zuteil wurde, betraf einen Einbruch in die Zentrale der Demokratischen Partei an einem Ort namens Watergate.

Es schien keine wichtige Sache zu sein. Celia legte die Zeitung uninteressiert zur Seite.

»Wie sind Ihre letzten Besprechungen verlaufen?« fragte sie Sam.

Er verzog das Gesicht. »Nicht besonders. Sie sind weiter gekommen als ich.«

»Mit Orten und Gebäuden wird man leichter fertig als mit Menschen«, erklärte Celia.

Sam hatte sich um Vincent Lords Liste mit Vorschlägen für die Leitung des Forschungsinstituts gekümmert. »Die meisten von denen, die ich bis jetzt kennengelernt habe«, vertraute er Celia an, »sind mir ein bißchen zu sehr wie Vince - Leute mit eingefahrenen Methoden und Statusbewußtsein, die ihre besten Berufsjahre wahrscheinlich schon hinter sich haben. Ich suche jemanden mit neuen Ideen, hochqualifiziert natürlich, und möglichst jung.«

»Und woran wollen Sie merken, daß Sie ihn gefunden haben?«

»Ich werde es merken«, sagte Sam. Er lächelte. »Vielleicht ist es genauso, wie wenn man sich verliebt. Man weiß nicht genau, warum. Aber wenn es passiert, dann weiß man es einfach.«

Auf den dreiundzwanzig Meilen zwischen London und Har-low herrschte zunehmend starker Verkehr. Aber als sie die A 414 verließen, gelangten sie in eine Gegend mit breiten Straßen, die an hübschen Häusern und großen Feldern vorbeiführten. Das Industriegelände lag ein ganzes Stück davon entfernt, hinter Wohngebieten und Erholungsparks verborgen. Ein paar alte Bauten waren noch erhalten. Als sie an einer Kirche aus dem 11. Jahrhundert vorbeikamen, hielt Sam an und sagte: »Steigen wir aus und sehen wir uns ein bißchen um.«

»Dies ist uralter Boden«, erklärte Celia, als sie herumschlenderten und die ländlich-moderne Szenerie betrachteten. »Hier hat man Reste aus dem Steinzeitalter gefunden. Damals waren die Sachsen hier; der Name Harlow stammt aus dem Sächsischen und bedeutet >Der Hügel der Armeec. Und im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt errichteten die Römer hier eine Niederlassung und bauten einen Tempel.«

»Wir werden uns bemühen, auch ein bißchen Geschichte zu machen«, sagte Sam. »Und jetzt wollen wir uns die Fabrik ansehen. Wo ist sie?«

Celia deutete nach Westen. »Da drüben, hinter den Bäumen. Ein Industriepark, er heißt >Gipfelhöhe<.« Inzwischen war es später Vormittag geworden.

Sam musterte mit raschem Blick das leerstehende Gebäude, während er den Jaguar parkte. Der Teil mit dem geplanten Ausstellungsraum und den Büros erwies sich als ein zweistöckiger Bau aus Beton und Glas. Der Rest war eine einstöckige geräumige Fabrikhalle aus Stahlrahmen mit Metallverkleidungen. Schon jetzt sah Sam, daß Celia recht hatte - das Gebäude ließ sich leicht zu Forschungslabors umbauen.

Ein Stück vor ihnen parkte ein Auto, aus dem jetzt ein untersetzter Mann mittleren Alters stieg und sich dem Jaguar näherte. Celia stellte ihn als Mr. LaMarre von der Immobilienfirma vor, mit dem sie sich hier verabredet hatte.

Nach der Begrüßung zog LaMarre ein Schlüsselbund aus der Tasche. »Man sollte nie die Scheune kaufen, ohne einen Blick auf das Heu geworfen zu haben«, sagte er scherzend. Sie gingen zum Haupteingang, und er schloß auf.

Eine halbe Stunde später nahm Sam Celia auf die Seite. »Ganz ausgezeichnet geeignet. Sie können dem Mann sagen, daß wir interessiert sind, und gleich unsere Anwälte mit dem Kauf beauftragen. Sagen Sie ihnen, daß sie alles so schnell wie möglich abwickeln sollen.«

Als Celia ein paar Minuten später zu ihm in den Jaguar stieg, erklärte Sam: »Ich habe ganz vergessen, Ihnen zu sagen, daß wir noch nach Cambridge fahren. Das ist nicht weit von hier, und deshalb habe ich eine Verabredung mit Dr. Peat-Smith getroffen - dem jungen Wissenschaftler, der sich mit Gehirnforschung und der Alzheimerschen Krankheit beschäftigt und um ein Forschungs-Stipendium nachgesucht hat.«

»Ich bin froh, daß Sie doch noch Zeit für ihn haben«, erklärte Celia.

Nach etwa einstündiger Fahrt bei strahlender Sonne durch eine wunderschöne Landschaft kamen sie kurz nach Mittag in der Trumpington Street in Cambridge an. »Cambridge ist eine herrliche, altehrwürdige Stadt«, sagte Sam. »Da drüben, das ist Peter-house - das älteste College. Waren Sie schon einmal hier?«

Celia, die von den alten, historischen Gebäuden, die traulich Seite an Seite standen, fasziniert war, schüttelte den Kopf.

Sam hatte unterwegs angehalten, um telefonisch einen Tisch im Garden House Hotel zu bestellen. Sie würden sich dort zum Mittagessen mit Martin Peat-Smith treffen.

Das malerische Hotel war idyllisch gelegen, ganz in der Nähe von »The Backs« - den Landschaftsgärten, von denen man einen prächtigen Blick auf die Rückseite der Collegegebäude hatte -und direkt am Cam, dem kleinen Fluß, auf dem Puntfahrer mit Muße und manchmal etwas unsicher ihre Boote stakten.

In der Hotelhalle entdeckte Peat-Smith sie zuerst und kam auf sie zu - ein stämmig gebauter junger Mann mit einem Wust wirrer blonder Haare, die lange nicht geschnitten worden waren, und einem jungenhaften Lächeln, das das kantige Gesicht mit den prägnanten Kieferknochen erhellte. Was Peat-Smith auch immer für Vorzüge haben mochte, dachte Celia, hübsch war er wirklich nicht. Aber sie hatte das Gefühl, einer starken, zielbewußten Persönlichkeit gegenüberzustehen.

»Mrs. Jordan und Mr. Hawthorne, nehme ich an.« Die kultivierte, aber ungekünstelte Stimme paßte zu seinem Äußeren.

»Stimmt«, erwiderte Celia. »Außer, was die Rangfolge betrifft. Da gebührt Mr. Hawthorne der Vortritt.«

Wieder das kurze Lächeln. »Ich werd's mir merken.«

Als sie sich die Hand gaben, stellte Celia fest, daß Peat-Smith eine alte Harris-Tweed-Jacke mit Flicken an den Ellbogen und ausgefransten Ärmeln und ungebügelte, fleckige Hosen trug. Als könne er ihre Gedanken lesen, sagte er ohne Verlegenheit: »Ich komme gerade aus dem Labor, Mrs. Jordan. Ich besitze natürlich auch einen Anzug. Und wenn wir uns mal außerhalb der Arbeitszeit treffen, werde ich ihn anziehen.«

Celia wurde rot. »Es tut mir leid. Entschuldigen Sie bitte.«

»Keine Ursache.« Er lächelte entwaffnend. »Ich bin nur dafür, die Dinge klarzustellen.«

»Eine gute Angewohnheit«, bemerkte Sam. »Sollen wir zum Essen hineingehen?« An ihrem Tisch, von dem aus sie einen Rosengarten und den Fluß sehen konnten, bestellten sie zuerst etwas zu trinken. Celia, wie üblich, einen Daiquiri, Sam einen Martini, Peat-Smith Weißwein.

»Ich habe von Dr. Lord einen Bericht über Ihre gegenwärtigen Forschungen bekommen«, begann Sam. »Wie ich hörte, haben Sie bei Felding-Roth um eine finanzielle Unterstützung nachgesucht, die es Ihnen ermöglichen soll, weiterzuarbeiten.«

»Das ist richtig«, bestätigte Peat-Smith. »Meinem Projekt - die Untersuchung des mentalen Alterns und der Alzheimerschen Krankheit - ist das Geld ausgegangen. Die Universität hat keins, jedenfalls nicht für mich, und daher muß ich mich anderswo umsehen.«

»Das ist nicht ungewöhnlich«, versicherte Sam. »Unsere Firma unterstützt akademische Forschungen, wenn wir glauben, daß es sich lohnt. Lassen Sie uns also darüber reden.«

»In Ordnung.« Zum erstenmal zeigte Dr. Peat-Smith eine Spur von Nervosität, wahrscheinlich, dachte Celia, weil die Unterstützung für ihn wichtig war. »Um mit der Alzheimerschen Krankheit zu beginnen - wieviel wissen Sie darüber?«

»Sehr wenig«, gab Sam zu. »Gehen Sie also davon aus, daß wir nichts wissen.«

Der junge Wissenschaftler nickte. »Es ist keine sehr verbreitete Krankheit - jedenfalls noch nicht. Und man weiß bisher nur sehr wenig über ihre Ursachen, es gibt lediglich ein paar Theorien.«

»Sind nicht hauptsächlich alte Leute davon betroffen?« fragte Celia.

»Von fünfzig aufwärts - im besonderen aber die Altersgruppe über fünfundsechzig. Die Alzheimersche Krankheit kann jedoch auch bei jüngeren Menschen vorkommen. Es hat schon Fälle gegeben, bei denen die Patienten erst siebenundzwanzig waren.«

Peat-Smith nahm einen Schluck Wein und fuhr dann fort: »Die Krankheit beginnt graduell, mit Gedächtnislücken. Die Leute vergessen ganz einfach Dinge, zum Beispiel, wie man Schuhbänder zubindet oder wozu ein Lichtschalter da ist oder wo sie gewöhnlich beim Essen sitzen. Wenn es schlimmer wird, läßt das Erinnerungsvermögen immer stärker nach. Häufig erkennen die Kranken ihre Umgebung nicht mehr wieder, selbst den Ehemann oder die Ehefrau nicht. Oder sie vergessen, wie man ißt, und müssen gefüttert werden; wenn sie Durst haben, kann es vorkommen, daß sie nicht einmal mehr um Wasser bitten können. Oft sind sie hemmungslos, in schlimmen Fällen gewalttätig und zerstörerisch. Am Ende sterben sie an der Krankheit, aber das kann zehn bis fünfzehn Jahre dauern - und diese Jahre sind für diejenigen, die mit einem Opfer der Alzheimerschen Krankheit zusammenleben müssen, am schlimmsten. Was im Gehirn vor sich gegangen ist, zeigt die Autopsie. Die Alzheimersche Krankheit befällt die Nervenzellen der Großhirnrinde - wo das Gedächtnis angesiedelt ist. Das führt zu einer Entartung der Nervenfasern und zum Schwund der Gehirnrindensubstanz.«

»Ich habe ein bißchen über Ihre Forschungen gelesen«, sagte Sam, »aber ich würde gern von Ihnen selbst hören, welche Richtung Sie einschlagen.«

»Eine genetische Richtung. Und weil die Alzheimersche Krankheit bei Tieren nicht auftritt - soviel wir wissen, ist noch kein Tier von dieser Krankheit befallen worden -, konzentrieren sich meine Untersuchungen an Tieren auf die chemischen Vorgänge des mentalen Alterungsprozesses. Wie Sie vielleicht wissen, bin ich auf Nukleinsäuren spezialisiert.«

»Meine chemischen Kenntnisse sind ein wenig eingerostet«, sagte Celia, »aber wenn ich mich recht erinnere, sind Nukleinsäuren die >Bausteine< der DNS, aus denen sich unsere Gene zusammensetzen.«

»Richtig, ist ja gar nicht so eingerostet.« Peat-Smith lächelte. »Und höchstwahrscheinlich werden in der Zukunft große medizinische Fortschritte gemacht werden, wenn wir die chemische Zusammensetzung der DNS erst besser verstehen und sehen, wie die Gene funktionieren und warum sie manchmal nicht funk-tionieren. Damit befassen sich meine Forschungen im Augenblick, ich verwende junge und alte Ratten, um festzustellen, wie sich die m-RNS - die Messenger-Ribonukleinsäure - mit zunehmendem Alter verändert.«

Sam unterbrach ihn: »Aber die Alzheimersche Krankheit und der normale Alterungsprozeß sind zwei verschiedene Dinge, nicht wahr?«

»Es hat den Anschein, aber es könnte Überschneidungen geben.« Während Peat-Smith eine Pause machte, konnte Celia fast spüren, wie er sich bemühte, einfachere, weniger wissenschaftliche Worte zu finden.

»Bei einem Opfer der Alzheimerschen Krankheit könnte bei der Geburt eine Abweichung in der DNS aufgetreten sein, die die codierte genetische Information enthält. Aber auch bei jemandem, der mit einer normalen DNS-Struktur geboren wurde, kann eine Veränderung dadurch eintreten, daß das >Umfeld<, der menschliche Körper, zerstört wird, durch Rauchen zum Beispiel oder durch eine falsche Diät. Eine Weile wird sich unser eingebauter DNS-Reparaturmechanismus darum kümmern, aber wenn wir älter werden, kann der genetische Reparaturprozeß sich verlangsamen oder ganz aufhören. Wonach ich suche, ist der Grund für diese Verlangsamung . . .«

Am Ende der Erklärung sagte Celia: »Es macht Ihnen offensichtlich Spaß, Wissen zu vermitteln, nicht wahr?«

Peat-Smith schien überrascht. »Etwas Unterrichtspraxis wird von jedem Mitarbeiter einer Universität erwartet. Aber ja, es macht mir auch Spaß.«

»Ich fange an, die Fragen zu verstehen. Aber wie weit sind Sie noch von den Antworten entfernt?« wollte Celia wissen, die die Persönlichkeit von Peat-Smith zu interessieren begann.

»Vielleicht Lichtjahre. Wir könnten aber auch dicht vor dem Ziel sein.« Peat-Smith zeigte sein offenes Lächeln. »Dieses Risiko müßte ein Geldgeber eingehen.«

Ein Kellner brachte die Speisekarte, und nachdem sie bestellt hatten, sagte Peat-Smith: »Ich hoffe, Sie kommen nachher mit in mein Labor. Dort kann ich Ihnen alles besser erklären.«

»Das hatten wir vor«, sagte Sam. »Gleich nach dem Essen.«

»Welchen Status haben Sie in Cambridge, Dr. Peat-Smith?« fragte Celia, während sie aßen.

»Ich bin Dozent, das ist so etwas Ahnliches wie ein Assistenzprofessor in Amerika. Es bedeutet, daß ich im biochemischen Gebäude ein Labor habe, einen Techniker, der mir hilft, und die Freiheit, Forschungen eigener Wahl zu betreiben.« Er machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Freiheit, das heißt, soweit ich finanzielle Unterstützung bekomme.«

»Der fragliche Betrag beläuft sich, soweit ich weiß, auf 60.000 Dollar«, warf Sam ein.

»Ja. Das wären drei weitere Jahre, und es ist das mindeste, was ich brauche - um Geräte und Tiere zu kaufen, drei Techniker einzustellen und die Experimente durchzuführen. Da ist nichts für mich persönlich drin.« Peat-Smith verzog das Gesicht. »Trotzdem, es ist eine Menge Geld, nicht wahr?«

Sam nickte ernst. »Ja, das ist es.« Aber das war es nicht. Sam und Celia wußten beide, daß 60.000 Dollar eine geringfügige Summe war im Vergleich zu den jährlichen Forschungsarbeiten bei Felding-Roth Pharmaceuticals oder jedem anderen großen Pharma-Unternehmen. Wie immer lautete auch hier die Frage: War das Projekt von Dr. Peat-Smith kommerziell interessant genug, um eine Investition zu rechtfertigen?

»Ich habe den Eindruck«, sagte Celia zu Peat-Smith, »daß Sie die Alzheimersche Krankheit auf ganz besondere Weise interessiert. Haben Sie einen speziellen Grund dafür?«

Der junge Wissenschaftler zögerte. Dann sah er Celia in die Augen und sagte: »Meine Mutter ist einundsechzig, Mrs. Jordan. Ich bin ihr einziges Kind; kein Wunder, daß wir uns immer sehr nahe standen. Sie leidet seit vier Jahren an der Alzheimerschen Krankheit, und der Verfall schreitet fort. Mein Vater kümmert sich um sie, so gut er kann, und ich gehe sie fast jeden Tag besuchen. Leider weiß sie nicht mehr, wer ich bin.«

Das biochemische Institut der Universität von Cambridge war in einem dreistöckigen Gebäude untergebracht, das mit seinen ro-ten Ziegeln im Neo-Renaissancestil schlicht und unscheinbar wirkte. Es lag an der Tennis Court Road, einer einfachen Straße, an der es jedoch keine Tennisplätze gab. Martin Peat-Smith, der auf einem Fahrrad zum Essen gekommen war - einem, wie es schien, in Cambridge gebräuchlichen Transportmittel -, radelte voran, während Sam und Celia im Jaguar folgten.

Am Portal des Gebäudes sagte Peat-Smith: »Ich glaube, ich sollte Sie warnen, damit Sie sich über den Zustand unserer Anlagen nicht allzusehr wundern. Bei uns ist alles überfüllt, wir haben zuwenig Platz« - wieder das flüchtige Lächeln - »und meistens zuwenig Geld. Manchmal sind die Besucher schockiert, wenn sie sehen, wo und wie wir arbeiten.«

Trotz der Vorwarnung war Celia ein paar Minuten später tatsächlich schockiert. Als Peat-Smith sie einmal kurz allein ließ, flüsterte sie Sam zu: »Das ist ja schrecklich - wie in einem Kerker! Wie kann man hier nur arbeiten?«

Nach Betreten des Gebäudes waren sie eine Kellertreppe hinuntergestiegen. Die Gänge waren düster. Rechts und links befanden sich kleine Räume, die schmutzig aussahen und mit alten Geräten vollgestopft waren. Jetzt standen sie in einem Labor, das nicht größer war als die Küche eines kleinen Hauses. Es stellte die Hälfte des ihm zur Verfügung stehenden Arbeitsraumes dar, wie Peat-Smith erklärte; allerdings mußte er ihn sich mit einem Dozenten teilen, der an einem anderen Projekt arbeitete.

Während sie sich unterhielten, waren der andere Wissenschaftler und sein Assistent mehrmals hereingekommen und wieder gegangen, was eine ständige Störung bedeutete.

Das Labor war mit abgewetzten Holztischen ausgestattet, die dicht aneinandergerückt waren, um möglichst viel Platz zu gewinnen. Über den Tisch hingen altmodische Gas- und Elektroan-schlüsse, die recht wacklig aussahen und mit vielen Zwischensteckern und Steckdosen bestimmt nicht den Sicherheitsnormen entsprachen. An den Wänden standen mit Büchern, Akten und alten Gerätschaften vollgestopfte Regale aus rohem Holz, und dazwischen entdeckte Celia ein paar altmodische Destillierkolben, wie sie sie von ihrem eigenen Chemiestudium vor neunzehn Jahren kannte. Ein Teil des einen Arbeitstisches diente als Schreibtisch. Davor stand ein ungepolsterter Windsor-Stuhl, und überall zwischen dem Wust von Papieren waren schmutzige Gläser und Tassen zu sehen.

Auf einem anderen Tisch standen mehrere Drahtkäfige, in denen sich ungefähr zwanzig Ratten befanden - immer zwei in einem Käfig und in deutlich unterschiedlicher Verfassung.

Der Fußboden des Labors war schon lange nicht mehr geputzt worden. Genausowenig wie die schmalen Fenster, die ganz oben in die Wand eingelassen waren und einen Ausblick auf die Räder und Unterböden der Autos gewährten, die draußen parkten. Es war deprimierend.

»Egal, wie es aussieht«, sagte Sam zu Celia, »vergessen Sie nicht, daß hier schon Wissenschaftsgeschichte gemacht wurde. In diesen Räumen haben Nobelpreisträger gearbeitet; sie sind durch diese Flure hier gegangen.«

»Stimmt genau«, sagte Martin Peat-Smith fröhlich; er war gerade zurückgekehrt und hatte die letzte Bemerkung mitbekommen. »Fred Sanger war einer von ihnen; er hat die Struktur des Insulinmoleküls in einem Labor entdeckt, das direkt über uns liegt.« Er sah, wie Celia die alten Geräte anstarrte. »In Universitätslabors wird nichts weggeworfen, Mrs. Jordan, weil man nie wissen kann, ob man es nicht noch mal braucht. Wir müssen oft improvisieren und bauen uns einen großen Teil unserer Geräte selbst.«

»Das ist an amerikanischen Universitäten genauso«, bemerkte Sam.

»Trotzdem«, wandte Peat-Smith ein, »es muß ein ziemlicher Kontrast zu den Labors sein, an die Sie beide gewöhnt sind.«

Celia mußte an die geräumigen, makellosen und reich ausgestatteten Labors bei Felding-Roth in New Jersey denken und erwiderte: »Ehrlich gesagt, ja.«

Peat-Smith hatte zwei Schemel mitgebracht. Er bot Celia den Windsor-Stuhl an, und er und Sam setzten sich auf die Schemel.

»Fairerweise sollte ich Ihnen sagen«, erklärte er dann, »daß das, was ich hier versuche, nicht nur wissenchaftliche Probleme aufwirft, sondern auch enorm schwierige Techniken. Wir müssen einen Weg finden, Informationen vom Kern einer Gehirnzelle in den Teil der Zelle zu übertragen, der Proteine und Pep-tide erzeugt . . .«

Er erwärmte sich an seinen Ausführungen und verfiel in einen wissenschaftlichen Jargon. ». . . wenn man eine Mischung der m-RNS von jungen und alten Ratten in ein zellfreies System gibt . . . wenn man die RNS-Matrize Proteine produzieren läßt . . . ein langer Strang m-RNS kann mehrere Proteine kodieren . . . dann werden die Proteine durch Elektrophorese getrennt . . . eine mögliche Technik könnte eine reverse Transkrip-tase nutzen . . . Wenn sich dann RNS und DNS nicht verbinden, bedeutet das, daß die alten Ratten diese genetische Fähigkeit verloren haben ... So werden wir lernen, welche Peptide sich verändern . . . und am Ende werde ich nur noch nach einem einzigen Peptid suchen . . .«

Die Ausführungen dauerten länger als eine Stunde und wurden nur gelegentlich durch scharfsinnige, ins Detail gehende Fragen von Sam unterbrochen, die Celia beeindruckten. Obwohl Sam keine wissenschaftliche Ausbildung besaß, hatte er sich in den Jahren bei Felding-Roth viel Fachwissen angeeignet.

Peat-Smith riß sie beide mit seiner Begeisterung mit. Und je länger er sprach - verständlich, präzise und diszipliniert -, desto mehr stieg Sams und Celias Achtung vor ihm.

Bevor er zum Schluß kam, deutete der Wissenschaftler auf die Ratten in den Käfigen. »Das sind nur ein paar. Wir haben viele hundert weitere in unseren Tierställen.« Er legte die Hand auf einen Käfig, und eine große Ratte, die geschlafen hatte, begann sich zu rühren. »Dieser Bursche hier ist zweieinhalb Jahre alt; das entspricht beim Menschen einem Alter von siebzig Jahren. Morgen werden wir ihn opfern und die chemische Zusammensetzung seines Gehirns mit der einer Ratte vergleichen, die erst ein paar Tage alt ist. Aber um wirkliche Antworten zu finden, werden wir noch eine Menge Ratten benötigen, eine Menge Analysen durchführen müssen und eine Menge Zeit brauchen.«

Sam nickte verständnisvoll. »Wir kennen diesen Zeitfaktor aus eigener Erfahrung. Wie würden Sie - noch einmal kurz zusammengefaßt - Ihr langfristiges Ziel formulieren, Doktor?«

Peat-Smith überlegte, bevor er antwortete. »Durch anhaltende genetische Forschung ein Gehirnpeptid zu entdecken, das das Gedächtnis bei jüngeren Menschen verstärkt, das aber, wenn die Leute älter werden, im menschlichen Körper nicht mehr erzeugt wird. Wenn wir ein solches Peptid gefunden und isoliert haben, werden wir versuchen, es mit Hilfe genetischer Techniken zu produzieren. Dann können wir es bei Menschen jeder Altersstufe anwenden, um den Gedächtnisschwund zu reduzieren -und vielleicht sogar den mentalen Alterungsprozeß insgesamt zu stoppen.«

Die kurze Zusammenfassung wurde durch und durch überzeugend und ohne jede Überheblichkeit ruhig vorgetragen, und Celia hatte trotz der trostlosen Umgebung das Gefühl, etwas zu erleben, das sie nie vergessen würde, einen Augenblick in ihrem Leben, in dem Geschichte gemacht wurde.

Schließlich sagte Sam: »Dr. Peat-Smith, Sie bekommen die Unterstützung, und zwar in der Höhe, die Sie uns jetzt nennen.«

Peat-Smith schien erstaunt. »Sie meinen ... so einfach ist das . . .?«

Jetzt war es Sam, der lächelte. »Als Präsident von Felding-Roth Pharmaceuticals besitze ich eine gewisse Entscheidungsfreiheit. Und ab und zu macht es mir Spaß, sie zu nutzen. Die einzige Bedingung ist die bei solchen Arrangements übliche: Wir würden gern über Ihre Fortschritte informiert werden und, falls Sie eine Entdeckung machen, als erste davon erfahren.«

Peat-Smith nickte. »Das versteht sich von selbst.« Er war noch immer ganz benommen.

Sam streckte die Hand aus, die der junge Wissenschaftler ergriff. »Viel Glück!«

Etwa eine halbe Stunde später hatte Martin - sie redeten sich bereits mit Vornamen an - sie eingeladen, mit nach oben zu kommen, wo in der Vorhalle auf Teewagen Tee und Plätzchen bereitstanden. Das Trio balancierte seine Tassen und Untertassen bis zu einem »Teeraum« der Fakultät, der, wie Martin erklärte, ein gesellschaftlicher Treffpunkt für die hier tätigen Wissenschaftler und ihre Gäste war.

Der Teeraum, so schmucklos und unaufwendig wie das ganze Gebäude, war mit langen Tischen und Holzstühlen ausgestattet und völlig überfüllt. Hier saßen Wissenschaftler beiderlei Geschlechts und jeder Altersgruppe, aber die Gesprächsfetzen, die Celia und Sam aufschnappten, waren entschieden unwissenschaftlich. Bei dem einen Gespräch ging es um Parkplätze - ein älteres Fakultätsmitglied erregte sich darüber, daß ein jüngerer bevorzugt worden war und ihm seinen angestammten Platz weggenommen hatte. Neben ihm berichtete ein bärtiger, weißbekittelter Mann begeistert von einem »sensationellen« Kauf, den er bei einem Weinhändler in Cambridge getätigt hatte; er empfahl den Meursault, den er auf Lager hatte. Eine andere Gruppe diskutierte einen neuen Film, der gerade im Kino lief - »Der Pate« mit Marlon Brando und Al Pacino. Nach einigen komplizierten Manövern und dem Austausch von Plätzen gelang es Martin Peat-Smith, für seine Gäste in einer Ecke Platz zu finden.

»Ist das hier immer so?« fragte Celia.

Martin schien amüsiert. »Normalerweise schon. Fast alle treffen sich hier. Es ist die einzige Gelegenheit, die wir haben, uns zu sehen.«

»Mir scheint, in diesem Gebäude gibt es nicht viele Möglichkeiten, sich zurückzuziehen«, sagte Sam.

Martin zuckte die Achseln. »Das kann manchmal störend sein. Aber man gewöhnt sich daran.«

»Sollte man sich daran gewöhnen?« fragte Sam. Und als er keine Antwort erhielt, fuhr er mit gesenkter Stimme fort: »Martin, ich frage mich, ob Sie vielleicht daran interessiert wären, dieselbe Arbeit, die Sie jetzt hier tun, unter besseren Bedingungen und mit optimaleren Mitteln durchzuführen.«

Ein leises Lachen umspielte Martins Lippen, als er fragte: »Bessere Bedingungen? Wo denn?«

»Wie Sie zu Recht vermuten«, sagte Sam, »schlage ich Ihnen gerade vor, zu Felding-Roth überzuwechseln. Sie brauchten Großbritannien nicht einmal zu verlassen, denn wir planen . . .«

»Entschuldigen Sie bitte!« unterbrach Martin ihn besorgt. »Darf ich Sie etwas fragen?«

»Natürlich.«

»Ist das Angebot Ihrer Firma, meine Arbeiten zu unterstützen, an diese Bedingungen geknüpft?«

Sam schüttelte den Kopf. »Absolut nicht. Die finanzielle Unterstützung ist Ihnen bereits sicher, und es sind keine anderen Bedingungen daran geknüpft als die, über die wir uns geeinigt haben. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

»Danke. Ich habe mir schon Sorgen gemacht.« Das jungenhafte Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich glaube, es würde uns beiden Zeit sparen, wenn ich Ihnen etwas erklärte.«

»Lassen Sie hören«, sagte Celia.

»Ich bin Akademiker und Wissenschaftler und beabsichtige, es auch zu bleiben«, erklärte Martin. »Ich will nicht die Gründe dafür aufzählen, aber einer der wichtigsten ist meine Freiheit. Damit meine ich die Freiheit, den Forschungen nachzugehen, die ich mir auswähle, ohne jeglichen kommerziellen Druck.«

»Bei uns hätten Sie Freiheit . . .«, begann Sam. Aber er verstummte, als Martin den Kopf schüttelte.

»Es gäbe kommerzielle Zwänge - seien Sie ehrlich . . .«

»Nun, gelegentlich vielleicht«, gab Sam zu. »Schließlich sind wir ein Unternehmen.«

»Genau. Aber hier muß ich keine kommerziellen Rücksichten nehmen. Hier zählt nur die reine Wissenschaft, die Suche nach neuem Wissen. Und ich möchte, daß es so bleibt. Wollen Sie noch etwas Tee?«

»Danke, nein«, sagte Celia. Auch Sam schüttelte den Kopf.

Draußen auf der Tennis Court Road, als sie neben dem gemieteten Jaguar standen, sagte Martin zu Sam: »Danke für alles, auch für das Angebot, bei Ihnen zu arbeiten. Und Ihnen auch, Ce-lia. Aber ich werde in Cambridge bleiben, denn abgesehen von diesem Gebäude hier« - er deutete mit dem Kopf nach hinten und verzog das Gesicht - »ist es eine wunderbare Stadt.« »Es war mir ein Vergnügen«, sagte Sam. »Und was die Arbeit betrifft, so kann ich Sie gut verstehen, wenn ich auch Ihre Entscheidung natürlich bedauere.« Er stieg in den Wagen.

Celia kurbelte das Seitenfenster herunter. »Cambridge ist wirklich eine wunderbare Stadt, Martin. Ich war noch nie hier. Und ich wünschte, ich hätte Zeit, es mir genauer anzusehen.«

»Warten Sie!« sagte Martin. »Wie lange bleiben Sie denn noch in England?«

Sie überlegte. »Wahrscheinlich zwei Wochen.«

»Sie könnten doch noch mal herkommen! Es ist nicht weit Dann könnte ich Ihnen die Stadt zeigen.«

»Das würde ich sehr gern tun«, erklärte Celia.

Während Sam den Motor anließ, verabredeten sich Martin und Celia für den übernächsten Sonntag - in zehn Tagen.

Als Celia und Sam nach London zurückfuhren, schwiegen beide, jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt. Erst als sie Cambridge weit hinter sich gelassen hatten und wieder auf der A 10 südwärts fuhren, sagte Celia ruhig: »Sie wollen ihn haben, nicht wahr; Sie wollen ihn als Leiter unseres Forschungsinstituts.«

»Natürlich.« Sams Antwort war knapp und bündig. Die Enttäuschung war ihm anzumerken. »Er ist hervorragend, fast ein Genie, und er ist der Beste von allen, die ich gesehen habe, seit wir hier sind. Aber verdammt noch mal, Celia, wir kriegen ihn nicht! Er ist Akademiker, und das wird er immer bleiben. Sie haben gehört, was er gesagt hat, und nichts wird seine Meinung ändern können.«

»Ich weiß nicht«, sagte Celia nachdenklich. »Ich weiß es wirklich nicht.«

10

In den darauffolgenden Tagen waren Sam und Celia mit weiteren Vorbereitungen für den Ausbau des Felding-Roth-Forschungsin-stituts in Harlow beschäftigt. Diese Aktivitäten waren zwar nötig, befriedigten sie aber nicht. Die Enttäuschung darüber, daß Dr. Martin Peat-Smith, der ihrer Meinung nach beste Institutslei-ter, sich niemals entscheiden würde, aus dem akademischen Bereich zur Industrie überzuwechseln, deprimierte sie.

In der Woche nach ihrem Besuch in Cambridge erklärte Sam: »Ich habe mich wieder mit mehreren Kandidaten getroffen, aber keiner hat das Kaliber von Peat-Smith. Seit ich ihn kenne, bin ich für keinen anderen mehr offen.«

Als Celia Sam daran erinnerte, daß sie Martin am kommenden Sonntag in Cambridge wiedersehen würde, nickte Sam düster. »Natürlich, tun Sie, was Sie können, aber ich bin nicht sehr optimistisch. Er ist ein Mann, der weiß, was er will. Und erwähnen Sie um Gottes willen nicht, was er bei uns verdienen würde. Er weiß, daß es im Vergleich zu dem, was er jetzt bekommt, eine Menge ist. Das brauchen wir ihm nicht erst zu sagen. Aber wenn Sie davon reden und den Anschein erwecken, als glaubten wir, er sei käuflich, wird er uns für zwei weitere protzige Amerikaner halten, die meinen, daß man für Dollar alles kaufen kann.«

»Aber, Sann«, entgegnete Celia, »wenn Martin zu Felding-Roth käme, müßten Sie doch ohnehin mit ihm über das Gehalt reden.«

»Irgendwann, ja, aber nicht gleich zu Beginn, denn Geld würde nie den Ausschlag geben. Glauben Sie mir, Celia, ich weiß, wie sensibel diese Akademiker sein können, und wenn auch nur die geringste Chance besteht, daß Martin seine Meinung noch ändert, dann wollen wir sie uns durch plumpes Vorgehen nicht verderben.«

»Nur interessehalber«, sagte Celia, »wie hoch ist denn die Summe?«

Sam überlegte. »Nach meinen Informationen verdient Martin ungefähr 2400 Pfund im Jahr; das sind etwa 6000 Dollar. Arn Anfang würden wir ihm vier- oder fünfmal soviel zahlen - sagen wir, fünfundzwanzig- bis dreißigtausend Dollar plus Bonus.«

Celia stieß einen leisen Pfiff aus. »Ich wußte nicht, daß der Unterschied so groß ist.«

»Aber die Akademiker wissen es. Und obwohl sie es wissen, ziehen sie noch immer die Universität vor, glauben, daß sie dort mehr intellektuelle Freiheit haben und daß die Naturwissen-schaft sich an der Universität eine größere >Reinheit der For-schung< bewahrt hat. Sie haben doch gehört, was Martin über kommerziellen Druck< gesagt hat und wie sehr er dergleichen verabscheut.«

»Ja, das habe ich gehört«, sagte Celia. »Aber Sie haben doch versucht, ihm zu erklären, daß der Druck gar nicht so groß ist.«

»Weil ich auf Seiten der Industrie stehe und weil es mein Job ist, so zu denken. Aber ganz unter uns gebe ich zu, daß Martin vermutlich recht hat.«

»Bei den meisten Dingen stimme ich mit Ihnen überein«, sagte Celia zweifelnd. »Aber hierbei bin ich nicht so sicher.«

Es war eine unbefriedigende Unterhaltung, und sie grübelte noch lange darüber nach. Sie beschloß, eine zweite Meinung einzuholen.

Am Tag, bevor sie nach Cambridge fahren wollte, rief Celia zu Hause an und sprach mit Andrew und den Kindern, wie sie es während ihres einmonatigen Aufenthalts in England mindestens zweimal pro Woche getan hatte. Zum Schluß erzählte Celia Andrew von Dr. Peat-Smith und von ihrer und Sams Enttäuschung.

Sie erwähnte auch, daß sie sich am morgigen Sonntag mit Martin treffen würde.

»Glaubst du, daß er seine Meinung doch noch ändern wird?« fragte Andrew?

»Vielleicht unter ganz bestimmten Umständen«, erwiderte Ce-lia, »auch wenn ich noch keine Ahnung habe, welche es sein könnten. Auf keinen Fall aber möchte ich etwas falsch machen, wenn wir morgen darüber reden.«

Es entstand eine Pause, und Celia spürte förmlich, wie ihr Mann sich alles durch den Kopf gehen ließ. Schließlich sagte er: »Sam hat nur zum Teil recht mit dem, was er sagt. Nach meiner Erfahrung fühlt sich niemand beleidigt, wenn man ihn wissen läßt, daß er viel wert ist - in Dollar, meine ich. Im Gegenteil, die meisten hören's ziemlich gern, auch wenn sie nicht die Absicht haben, das Geld anzunehmen.«

»Sprich weiter«, sagte Celia. Sie gab viel auf Andrews Mei-nung und auf sein Talent, zum Kern einer Sache zu kommen.

»Nach allem, was du mir erzählt hast, ist Peat-Smith offen und direkt«, fuhr er fort.

»Sehr sogar.«

»In diesem Fall schlag ich vor, du verhältst dich genauso. Wenn du alles komplizierst und versuchst, ihn zu überlisten, schadest du eurer Sache nur. Außerdem kannst du gar nicht unaufrichtig sein. Sei, wie du bist, und wenn die Rede auf Geld oder ähnliches kommt, sprich darüber.«

»Andrew, Liebling, was würde ich nur ohne dich tun?«

»Nichts, was wichtig ist, hoffe ich. Und ich gebe zu, daß ich ein bißchen eifersüchtig bin auf diesen Peat-Smith.«

Celia lachte. »Das ist doch eine rein geschäftliche Beziehung. Und wird es auch bleiben.«

Der Sonntag war gekommen.

Celia saß in einem Nichtraucher-Abteil in der ersten Klasse des Frühzuges nach Cambridge und lehnte den Kopf gegen die Polsterung. Sie entspannte sich und nutzte die etwas mehr als einstündige Fahrt, um Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.

Zuvor hatte sie von ihrem Hotel aus ein Taxi zur Liverpool Street Station genommen, diesem aus Eisen und Ziegelsteinen errichteten grimmigen Vermächtnis viktorianischer Zeit, das von Montag bis Freitag von hektischer Geschäftigkeit erfüllt, aber an den Wochenenden ruhiger war. Das bedeutete, daß sich in dem elektrisch betriebenen Zug nur wenig Leute befanden, als er rumpelnd den Bahnhof verließ, und Celia war froh, allein zu sein.

In Gedanken ging sie die Ereignisse und Gespräche der vergangenen beiden Wochen durch und überlegte noch einmal, wessen Rat sie heute befolgen sollte - den von Andrew oder den von Sann. Das Treffen mit Martin, das nach außen einen rein gesellschaftlichen Charakter hatte, konnte für Felding-Roth und auch für sie selbst wichtig sein. Sie mußte wieder an Sams Warnung denken: »Wir wollen durch plumpes Vorgehen nichts verderben. «

Das rhythmische Rattern der Räder auf den Schienen machte sie schläfrig, und die Fahrt verging schnell. Als der Zug langsamer wurde und in den Bahnhof von Cambridge einfuhr, stand Martin Peat-Smith bereits auf dem Bahnsteig und begrüßte sie mit breitem, fröhlichem Lächeln.

Mit ihren einundvierzig Jahren sah Celia noch sehr gut aus. Sie wußte es, und sie spürte es auch. Ihr weiches braunes Haar war kurz geschnitten, ihr Körper schlank und fest, ihr Gesicht mit den hohen Backenknochen gebräunt von den vielen Stunden, die sie in den vergangenen Wochen im Freien verbracht hatte, und von dem ungewöhnlich milden englischen Sommer.

In letzter Zeit hatte sie graue Strähnen bekommen. Diese Mahnung daran, wie die Zeit verging, kümmerte sie kaum, obwohl sie das Grau gelegentlich - wie auch am gestrigen Abend - durch eine leichte Tönung kaschierte.

Sie trug ein grün und weiß gemustertes Baumwollkleid mit Petticoat, weiße, hochhackige Sandalen und auf dem Kopf einen weißen Strohhut mit breitem Rand. Sie hatte die Sachen in der vergangenen Woche im Londoner West End gekauft, denn als sie in New Jersey ihre Koffer packte, wäre sie nie auf den Gedanken gekommen, daß sie in England Sommerkleidung benötigen würde.

Als sie aus dem Zug stieg, spürte sie Martins bewundernde Blicke. Einen Augenblick schien es ihm die Sprache zu verschlagen, dann ergriff er ihre ausgestreckte Hand und sagte: »Hallo! Sie sehen wunderbar aus, und ich freue mich, daß Sie gekommen sind.«

»Sie sehen aber auch nicht schlecht aus.«

Martin lachte und strahlte jungenhaft. Er hatte einen marineblauen Blazer an, dazu Flanellhosen und ein offenes Hemd. »Ich hatte Ihnen zwar versprochen, meinen Anzug anzuziehen«, sagte er. »Aber dann entdeckte ich diese alte Kombination, die ich seit Jahren nicht mehr getragen habe. Ich finde sie nicht ganz so formell.«

Als sie den Bahnhof verließen, hakte sich Celia bei ihm ein. »Wohin gehen wir?« »Draußen steht mein Wagen. Ich dachte, wir fahren zuerst ein bißchen herum, spazieren dann über das College-Gelände und machen anschließend ein Picknick.«

»Hört sich gut an.«

»Gibt es irgend etwas, das Sie außerdem gern tun oder sehen würden?«

Sie zögerte, dann sagte sie: »Ja, das gibt es.«

»Und das wäre?«

»Ich würde gern Ihre Mutter kennenlernen.«

Martin blickte sie überrascht an. »Ich kann sie zum Haus meiner Eltern bringen, wenn wir unsere Rundfahrt beendet haben. Wenn Sie es wirklich wollen.«

»Ja«, sagte sie, »das möchte ich gern.«

Martin fuhr einen Morris Mini Minor unbestimmbaren Alters. Nachdem sie sich hineingequetscht hatte, kurvte er mit großen Umwegen durch die alten Straßen von Cambridge und parkte dann in der Queen's Road bei den Backs. »Von hier aus gehen wir zu Fuß«, erklärte er. Sie stiegen aus und folgten einem Fußweg zur King's Bridge.

An der Brücke blieb Celia stehen. Sie hielt die Hand über die Augen, weil die grelle Morgensonne sie blendete, und sagte mit ehrfürchtigem Staunen: »Ich habe selten etwas Schöneres gesehen.«

»Das ist die Kapelle vom King's College - eine wirklich herrliche Aussicht«, erklärte Martin.

Direkt vor ihnen lagen unberührte Rasenflächen mit schattigen Bäumen. Dahinter ragte die große Kapelle auf - mit Türmchen, dicken Strebepfeilern und schlanken Kirchturmspitzen, die sich über wunderbar gewölbten Dächern und bemalten Glasfenstern erhoben. Die blassen Steinmauern der Colleges zu beiden Seiten vervollständigten den Eindruck von Historie und Würde.

»Lassen Sie mich mein Sprüchlein aufsagen«, meinte Martin.

»Es geht so: Wir sind eine alte Siedlung. 1441 hat König Heinrich der Sechste mit der Errichtung dessen begonnen, was Sie hier vor sich sehen, und Peterhouse, südlich davon, ist sogar noch älter. Damit hat, im Jahre 1248, >die Suche nach dem Wissen< in Cam-bridge ihren Anfang genommen.«

Ohne zu überlegen, sagte Celia impulsiv: »Wie kann jemand, der hierhergehört, nur je von hier fortgehen?«

»Viele sind geblieben«, erwiderte Martin. »Es hat große Gelehrte gegeben, die bis zu ihrem Tod in Cambridge gelebt und gearbeitet haben. Und manche haben auch heute die gleiche Einstellung.«

Zwei Stunden lang fuhren und schlenderten sie durch die Stadt, die Celia in ihr Herz schloß. Sie merkte sich die Namen von Plätzen: Jesus Green, Midsummer Common, Parker's Piece, Coe Fen, Lammas Land, Trinity, Queens', Newnham. Die Liste schien endlos, genauso wie Martins Wissen. »Manche Gelehrte sind hiergeblieben, andere haben diesen Ort woandershin mitgenommen«, berichtete Martin. »Einer von ihnen war John Harvard, ein Magister vom Emmanuel College. Irgendwo gibt es einen Ort, der nach ihm benannt wurde.« Er setzte sein vertrautes breites Grinsen auf. »Ich habe ganz vergessen, wo.«

Als sie schließlich wieder im Mini saßen und sich erschöpft zurücklehnten, versicherte Martin: »Ich glaube, das genügt. Alles andere heben wir uns fürs nächste Mal auf.« Plötzlich wurde er ernst. »Möchten Sie wirklich meine Eltern kennenlernen? Ich muß Sie warnen - meine Mutter wird niemanden erkennen und auch nicht wissen, warum wir gekommen sind. Das kann deprimierend sein.«

»Ja«, sagte Celia, »ich möchte es wirklich.«

Das Haus, das eine Terrasse hatte, aber sonst klein und unscheinbar war, lag im Stadtteil The Kite. Martin stellte den Wagen auf der Straße ab, zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür. Von einem kleinen, nur schwach erhellten Flur aus rief er: »Dad! Ich bin's, und ich habe jemanden mitgebracht.«

Man hörte schlurfende Schritte, dann öffnete sich eine Tür, und ein älterer Mann in ausgeblichenem Pullover und ausgebeulter Cordhose erschien. Als er näher kam, war Celia über die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn verblüfft. Martins Vater war genauso untersetzt und stämmig wie sein Sohn und hatte ein ähnlich kantiges Gesicht mit prägnanten Kieferknochen - auch wenn es schon mehr Falten aufwies -, und selbst das kurze, scheue Lächeln, als Martin sie miteinander bekannt machte, war dem seines Sohnes zum Verwechseln ähnlich.

Aber als der Vater zu sprechen begann, verschwand jede Ähnlichkeit. Seine krächzende Stimme klang disharmonisch, rauh und provinziell; die Sätze waren ungelenk und verrieten geringe Bildung.

»Nett, Sie kennenzulernen«, sagte er zu Celia. Und zu Martin: »Wußte gar nicht, daß du kommst, Sohn. Hab' deine Ma eben erst angezogen. Ist heute gar nicht gut in Form.«

»Wir bleiben nicht lange, Dad«, sagte Martin, und zu Celia gewandt: »Die Alzheimersche Krankheit ist für meinen Vater eine große Belastung - für die Familie ist es häufig schwerer zu ertragen als für den Patienten.«

Als sie das einfach möblierte Wohnzimmer betraten, fragte Martins Vater Celia: »Woll'n Sie 'ne Tasse?«

»Er meint Tee«, übersetzte Martin.

»Danke, ja, ich hätte gern einen Tee«, sagte Celia. »Ich hab' einen ganz schönen Durst nach unserer Besichtigungstour.«

Während Martins Vater in die kleine Küche ging, kniete sich Martin neben der grauhaarigen Frau auf den Boden, die in einem abgewetzten Sessel mit geblümtem Bezug saß. Sie hatte sich nicht gerührt, seit sie das Zimmer betreten hatten. Er legte seinen Arm um sie und gab ihr einen Kuß.

Sie mußte früher eine schöne Frau gewesen sein, dachte Celia, und sogar jetzt noch sah sie auf eine verblichene Art gut aus. Ihre Haare waren ordentlich gekämmt, sie trug ein einfaches beigefarbenes Kleid und eine Perlenkette. Auf den Kuß ihres Sohnes reagierte sie mit einem schwachen Lächeln, erkannte ihn aber anscheinend nicht.

»Mutter, ich bin Martin, dein Sohn«, sagte Martin leise. »Und das ist Celia Jordan. Sie kommt aus Amerika. Ich habe ihr Cambridge gezeigt. Unsere Stadt gefällt ihr sehr gut.«

»Hallo, Mrs. Peat-Smith«, sagte Celia. »Vielen Dank, daß ich Sie besuchen darf.«

Die Augen der grauhaarigen Frau bewegten sich zwar, aber wieder nur mit diesem quälenden Ausdruck des Nichtverstehens. Martin sagte zu Celia: »Es ist keine Erinnerung mehr vorhanden. Nicht die geringste. Aber bei meiner Mutter gestatte ich mir, einmal nicht wissenschaftlich zu denken, und versuche immer wieder, zu ihr durchzudringen.«

»Ich verstehe.« Celia zögerte, bevor sie fragte: »Wenn Sie mit Ihren Forschungen vorankommen, wenn Sie bald etwas Wichtiges entdecken, glauben Sie, daß dann die Chance besteht . . .«

»Ihr zu helfen?« unterbrach Martin. »Absolut nicht. Was immer man entdecken wird - es gibt nichts, wodurch abgestorbene Gehirnzellen wieder lebendig werden. Darüber mache ich mir keine Illusionen.« Er stand auf und sah seine Mutter traurig an. »Nein, aber es werden andere sein, denen eines Tages, und hoffentlich schon bald, geholfen werden kann. Andere, bei denen die Krankheit noch nicht so weit fortgeschritten ist.«

»Daran glauben Sie fest, nicht wahr?«

»Ich bin überzeugt, daß die Antworten gefunden werden - von mir oder von jemand anders.«

»Aber Sie würden gern derjenige sein, der sie findet.«

Martin zuckte die Achseln. »Jeder Wissenschaftler würde gern als erster eine Entdeckung machen. Das ist menschlich. Aber« -er warf einen Blick auf seine Mutter - »wichtiger ist, daß überhaupt jemand die Ursache für die Alzheimersche Krankheit findet.«

»Es wäre also durchaus möglich«, hakte Celia nach, »daß irgend jemand anders vor Ihnen ans Ziel gelangt.«

»Ja«, sagte Martin. »Das kann einem immer passieren.«

Martins Vater kam mit einem Tablett aus der Küche, auf dem eine Teekanne, Tassen, Untertassen und ein Milchkännchen standen. Als er das Tablett hinstellte, legte Martin den Arm um seinen Vater. »Dad tut alles für Mutter - er zieht sie an, kämmt sie, gibt ihr zu essen und hilft ihr auch bei allen anderen, weniger angenehmen Dingen. Es hat einmal eine Zeit gegeben, Celia, da waren Vater und ich nicht gerade die besten Freunde. Aber das ist jetzt ganz anders.« »Stimmt. Hatten früher 'ne Menge Streit«, bestätigte Martins Vater. Dann fragte er Celia: »Woll'n Sie Milch in den Tee?«

»Ja, bitte.«

»'s gab mal 'ne Zeit«, sagte der ältere Mann, »da hab' ich nicht viel gehalten von der Studiererei, auf die Martin und seine Ma so versessen waren. Da wollte ich, daß er mit mir auf Arbeit geht Aber seine Ma wollte das nicht, und das war gut so, denn jetzt ist er ein so braver Sohn. Zahlt für alles, zahlt für das Haus hier und für das meiste, was wir brauchen.« Er sah Martin an und fügte hinzu: »Und drüben im College, da macht er sich auch nicht schlecht, wie ich höre.«

»Nein«, sagte Celia, »da macht er sich wirklich auch nicht schlecht.«

Fast zwei Stunden waren vergangen.

»Kann man sich dabei unterhalten?« fragte Celia von dem weichgepolsterten Platz aus, auf dem sie sich bequem zurücklehnte.

»Warum nicht?« Martin stieß mit einer langen Stange den Stakkahn langsam flußaufwärts. Er schien in allem perfekt zu sein, dachte Celia, sogar als Puntfahrer war er wesentlich geschickter als all die anderen, denen sie auf dem Fluß begegneten.

Martin hatte den Kahn in Cambridge gemietet, und jetzt waren sie auf dem Weg nach Grantchester, drei Meilen südlich, zu einem etwas verspäteten Picknick.

»Ich denke gerade über den Unterschied zwischen Ihnen und Ihrem Vater nach«, sagte Celia. »Zum Beispiel über die Art zu sprechen. Damit meine ich natürlich nicht die grammatikalischen . . .«

»Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Martin. »Als meine Mutter noch reden konnte, vor ihrer Erkrankung, sprach sie fast genauso wie er. In Pygmalion hat Bernard Shaw das eine >Beleidigung der englischen Sprache< genannt.«

»Daran erinnere ich mich noch aus My fair Lady«<, bestätigte Celia. »Aber Sie sprechen nicht so. Warum?«

»Das ist auch etwas, das ich meiner Mutter verdanke. In Eng-land ist die Art, wie man redet, immer ein Merkmal für soziale Unterschiede gewesen. Und auch wenn man das heute nicht mehr wahrhaben will - es ist immer noch so.«

»Auch in der akademischen Welt? Unter Wissenschaftlern?«

»Vor allem dort.«

Martin beschäftigte sich mit der Stange, während er sich die nächsten Worte überlegte.

»Meine Mutter hatte das begriffen. Deshalb kaufte sie, als ich noch ganz klein war, ein Radio, und ich mußte stundenlang da-vorsitzen und den BBC-Sprechern zuhören. >So sollst du später einmal sprechen<, sagte sie zu mir. >DeshaIb mußt du schon jetzt damit anfangen, diese Leute nachzuahmen. Für deinen Dad und mich ist es zu spät, aber für dich nicht.<« Celia lauschte Martins angenehmer und kultivierter, aber ungekünstelter Stimme und sagte: »Es hat geklappt.«

»Ich glaube, ja. Aber das war nur eins von den vielen Dingen, die sie für mich getan hat. Sie hat zum Beispiel auch herausgefunden, wo meine schulischen Interessen lagen, und dann, was Stipendien sind, und sie hat dafür gesorgt, daß ich mich um eins bewarb. Das war in der Zeit, als wir zu Hause immer Streit hatten. Mein Vater hat es vorhin erwähnt.«

»Er war der Meinung, daß Ihre Mutter zu hoch hinaus wollte?«

»Er dachte, ich würde einmal Steinmetz werden wie er. Mein Vater glaubte an einen Vers von Dickens.« Martin lächelte, währen er zitierte:

»O laßt uns stets nach Arbeit streben, Nie über unsern Stand erheben, Von unserm täglich Brote leben, Der Herrschaft unsern Segen geben.«

»Aber Sie sind Ihrem Vater deswegen nicht böse?«

Martin schüttelte den Kopf. »Er hat es einfach nicht verstanden. Ich übrigens auch nicht. Nur meine Mutter begriff, was man mit Ehrgeiz erreichen konnte - und mit mir. Nun wissen Sie also, warum ich so an ihr hänge.«

»Ja«, sagte Celia »Und ich kann es sehr gut nachempfinden.«

Sie schwiegen, während der Kahn zwischen grünen Ufern mit dichtbelaubten Bäumen flußaufwärts fuhr.

Nach einer Weile sagte Celia: »Ihr Vater hat erwähnt, daß Sie für den Lebensunterhalt Ihrer Eltern aufkommen.«

»Ich tue, was ich kann«, gab Martin zu. »Zum Beispiel schicke ich zweimal die Woche vormittags eine Krankenschwester vorbei. Damit mein Vater eine kleine Verschnaufpause hat. Ich würde sie gern häufiger nehmen, aber . . .« Er zuckte die Achseln, ließ den Satz unvollendet und stakte den Kahn geschickt an ein grasbewachsenes Ufer in den Schatten einer Weide. »Wie wäre das als Picknick-Platz?«

»Idyllisch«, sagte Celia. »Wie von Camelot.«

Martin hatte einen Korb mit Garnelen, einer Melton Mowbray-Schweinefleischpastete, frischem grünen Salat, Erdbeeren und dicker, gelber Devonshire-Creme gefüllt. Es gab auch einen Wein - einen wohlschmeckenden Chablis - und eine Thermosflasche mit Kaffee. Sie aßen und tranken mit Genuß.

Als sie zum Abschluß den Kaffee tranken, sagte Celia: »Das war mein letztes Wochenende hier, bevor ich wieder nach Hause fahre. Es hätte nicht schöner sein können.«

»Sind Sie mit Ihrem Aufenthalt zufrieden?«

Sie wollte gerade mit einer Floskel antworten, als sie sich an Andrews Rat erinnerte: »Nein.«

»Warum nicht?« Martin schien erstaunt.

»Sam Hawthorne und ich haben den idealen Leiter für das Fel-ding-Roth-Forschungsinstitut gefunden, aber er wollte den Job nicht. Und jetzt kommt uns jeder andere zweitrangig vor.«

Nach kurzem Schweigen sagte Martin: »Ich nehme an, Sie sprechen von mir.«

»Das wissen Sie doch.«

Er seufzte. »Ich hoffe, Sie können mir meine Haltung verzeihen, Celia.«

»Da gibt es nichts zu verzeihen. Es ist Ihr Leben und Ihre Entscheidung«, versicherte sie ihm. »Nur, wenn ich jetzt darüber nachdenke, dann waren es zwei Dinge, die . . .« Sie verstummte.

»Sprechen Sie weiter. Welche beiden Dinge?«

»Nun, vorhin haben Sie zugegeben, daß Sie gern der erste sein würden, der die Antworten auf die Alzheimersche Krankheit und das mentale Altern findet, aber daß eventuell andere vor Ihnen ans Ziel kommen könnten.«

Martin lehnte sich im Kahn zurück und sah Celia an; er hatte seinen Blazer zusammengefaltet und benutzte ihn als Kissen. »Andere stellen ähnliche Forschungen an wie ich. Ich weiß von zweien in Deutschland, von einem anderen in Frankreich und einem weiteren in Neuseeland - alles gute Leute, die dasselbe Ziel verfolgen. Es läßt sich nicht sagen, wer die Nase vorn hat oder ob überhaupt jemand einen Vorsprung hat.«

»Es ist also ein Wettlauf«, sagte Celia. »Gegen die Zeit.« Ihre Stimme hatte unbewußt einen schärferen Ton angenommen.

»Ja. Aber so ist das nun mal in der Wissenschaft.«

»Hat einer der anderen bessere Arbeitsbedingungen oder mehr Mitarbeiter als Sie?«

Er überlegte. »Wahrscheinlich die beiden in Deutschland. Bei den anderen weiß ich es nicht.«

»Wieviel Laborraum steht Ihnen jetzt zur Verfügung?«

»Alles in allem . . .«, Martin rechnete, »knapp hundert Quadratmeter.«

»Würde es Ihnen dann nicht helfen, schneller ans Ziel zu kommen, wenn Sie fünfmal soviel Platz hätten und dazu eine passende Ausrüstung - alles, was Sie benötigen, und alles nur für Ihr Projekt - und genügend Mitarbeiter, vielleicht zwanzig Leute statt zwei oder drei? Könnten Sie damit die Dinge nicht vorantreiben und die Antworten auf Ihre Fragen finden - und zwar als erster?«

Celia wurde bewußt, daß sich die Stimmung plötzlich verändert hatte. Jetzt waren sie nicht mehr zu ihrem privaten Vergnügen zusammen, nicht mehr so unbeschwert und zwanglos wie bisher. Eine intellektuelle Herausforderung war spürbar geworden. Aber schließlich, sagte sie sich, war sie ja aus diesem Grund nach England und heute nach Cambridge gekommen.

Martin starrte sie erstaunt an. »Meinen Sie das etwa im Ernst? Fünfhundert Quadratmeter und zwanzig Mitarbeiter?«

»Natürlich meine ich das ernst. Was dachten Sie denn?« Ungeduldig fügte sie hinzu: »Glauben Sie, daß man es sich im Pharma-Geschäft leisten kann, Scherze zu machen?«

»Nein«, sagte er und starrte sie noch immer an, »das glaube ich nicht. Sie sprachen von zwei Dingen. Was ist das andere?«

Celia zögerte. Sollte sie fortfahren? Sie spürte, daß das, was sie eben gesagt hatte, Eindruck auf Martin machte. Würde sie nicht alles zerstören? Dann fiel ihr wieder Andrew ein.

»Ich will es Ihnen sagen - ohne Umschweife und auf die übliche plumpe amerikanische Art«, begann Celia. »Und ich tue das nur, weil ich weiß, daß sich engagierte Forscher wie Sie nicht von Geld beeindrucken, sich nicht kaufen lassen. Aber wenn Sie für Felding-Roth arbeiten, als Leiter unseres neuen Instituts, und Ihr Projekt mitbringen, dann werden sie pro Jahr wahrscheinlich Zwölftausend Pfund verdienen und dazu einen nicht unerheblichen Bonus erhalten. Ich nehme an, das ist ungefähr fünfmal soviel, wie Sie im Augenblick verdienen. Außerdem glaube ich, nachdem ich Ihre Eltern kennengelernt habe, daß Sie ihnen gern noch mehr helfen würden. Mit dem höheren Einkommen wären Sie in der Lage, ihnen öfter als zweimal die Woche eine Krankenschwester zu schicken, Ihre Mutter in einer besseren Umgebung unterzubringen . . .«

»Jetzt reicht es!« Martin hatte sich aufgerichtet und starrte sie an. »Verdammt, Celia! Ich weiß, was man mit Geld machen kann. Also kommen Sie mir nicht mit dem Quatsch über Leute wie mich, denen es egal sein soll. Mir ist es absolut nicht egal - und Sie wollen mich damit in Versuchung führen, einen Vorteil daraus ziehen . . .«

»Das ist ja lächerlich!« fuhr sie ihn an. »Woraus einen Vorteil ziehen?«

»Daß Sie meine Eltern kennengelernt und gesehen haben, wie sie leben und wieviel mir an ihnen liegt. Sie bieten mir einen goldenen Apfel, spielen Eva.« Er sah sich um. »Und noch dazu in einem Paradies.«

»Es ist kein giftiger Apfel«, sagte Celia mit ruhiger Stimme, »und es ist auch keine Schlange in diesem Kahn. Hören Sie, es tut mir leid, wenn . . .«

»Es tut Ihnen überhaupt nicht leid!« unterbrach Martin sie wütend. »Sie sind eine Geschäftsfrau, die ihren Job versteht - sogar verdammt gut versteht, das kann ich Ihnen bescheinigen! Eine Geschäftsfrau, die aufs Ganze geht, die sich durch nichts davon abhalten läßt, zu kriegen, was sie haben will. Sie sind ziemlich skrupellos, stimmt's?«

»Finden Sie?«

»Ja«, erwiderte er mit Nachdruck.

»Na schön«, sagte Celia. »Angenommen, ich bin eine gute Geschäftsfrau. Und angenommen, alles, was Sie gesagt haben, ist wahr. Ist es aber nicht genau das, was Sie auch wollen? Die Antwort auf die Alzheimersche Krankheit! Das Gehirnpeptid, nach dem Sie suchen! Wissenschaftlichen Ruhm! Fühlen Sie sich dadurch etwa betrogen?«

»Nein«, sagte Martin, »betrogen fühle ich mich nicht.« Er setzte sein typisches Lächeln auf, das aber etwas schief geriet. »Ich hoffe, Sie werden gut bezahlt, Celia. Als plumpe Amerikanerin, wie Sie sich selbst bezeichnet haben, machen Sie sich ganz toll.« Er stand auf und griff nach der Stange. »Es wird Zeit für die Rückfahrt.«

Schweigend fuhren sie flußabwärts. Martin stakte mit wütender Entschlossenheit, und Celia grübelte darüber nach, ob sie zu weit gegangen war. Als sie sich der Stadt und dem Bootshafen näherten, ließ Martin den Kahn einfach treiben. Von seinem Sitz im Heck sah er Celia ernst an.

»Ich weiß noch keine Antwort. Ich weiß nur, daß Sie mich beunruhigt haben«, sagte er. »Aber eine Antwort habe ich noch nicht.«

Es war früher Abend, als Martin Celia in Cambridge am Bahnhof absetzte und sie sich förmlich, fast ein wenig angestrengt verabschiedeten. Celias Zug fuhr geradezu quälend langsam und hielt in fast jedem Ort, so daß es schon nach halb zwölf Uhr nachts war, als sie endlich wieder in King's Cross Station in London eintraf. Sie nahm ein Taxi zum Berkeley-Hotel und kam kurz vor Mitternacht dort an. Während der Fahrt hatte Celia sich die Ereignisse des Tages noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Was sie am tiefsten getroffen hatte, war Martins Anschuldigung: Sie sind ziemlich skrupellos, stimmt 's ? War sie wirklich skrupellos? Celia betrachtete sich wie in einem Spiegel und mußte zugeben, daß es womöglich zutraf. Dann korrigierte sie sich: Nicht >womöglich<, sondern ganz sicher. Aber war nicht ein bißchen Skrupellosigkeit nötig? Vor allem für eine Frau, die Karriere machen, die es so weit bringen wollte wie sie?

Außerdem, beruhigte sie sich, war Skrupellosigkeit nicht mit Unehrlichkeit gleichzusetzen - jedenfalls nicht zwangsläufig. Im wesentlichen war es die Verpflichtung sich selbst gegenüber, in geschäftlichen Dingen hart zu sein, Entscheidungen zu treffen, zum Kern einer Sache vorzudringen und sich allzu große Sorgen um die Mitmenschen abzugewöhnen. Wenn sie in Zukunft noch mehr Verantwortung zu tragen hatte, würde sie weit härter, weit skrupelloser sein müssen als bisher. Wenn aber Skrupellosigkeit zum Geschäft gehörte, warum hatte Martins Bemerkung sie dann so verletzt? Wahrscheinlich, weil sie ihn mochte und achtete und deshalb wollte, daß er in bezug auf sie ähnlich empfand. Tat er das? Celia dachte kurz darüber nach, dann kam sie zu dem Schluß: Offenbar nicht, nachdem sie am Nachmittag die Karten offen auf den Tisch gelegt hatte.

Aber war Martins Meinung über sie wirklich von Bedeutung? Die Antwort lautete: Nein! Ein Grund dafür war, daß Martin mit seinen zweiunddreißig Jahren noch immer etwas von einem Kind an sich hatte. Irgend jemand hatte einmal über Wissenschaftler gesagt: Sie verbringen die meiste Zeit ihres Lebens damit, sich immerfort weiterzubilden, so daß sie kaum noch für andere Dinge Zeit haben, und in gewisser Hinsicht bleiben sie Kinder.

Das traf auch ein wenig auf Martin zu. Celia war sicher, daß sie viel mehr von der Welt wußte als er.

Aber was war dann wichtig? Nicht Martins persönliche Gefühle und auch nicht die von Celia, sondern wie es heute ausge-gangen war. Und was das betraf - Celia seufzte -, da war sie nicht gerade optimistisch. Sicher hatte sie alles verpatzt, indem sie zu plump vorgegangen war - wie Sam sich ausgedrückt hätte. Je länger sie darüber nachdachte, desto weniger gefiel ihr, was sie getan hatte, und um so deprimierter wurde sie. In niedergeschlagener Stimmung kam sie im Hotel an.

Im Foyer des Berkeley-Hotels wurde sie vom Portier begrüßt. »Hatten Sie einen angenehmen Tag, Mrs. Jordan?«

»Ja, danke.« Aber in Gedanken fügte sie hinzu: Nur teilweise.

Der Portier gab ihr den Schlüssel und mehrere Nachrichten, die für sie abgegeben worden waren. Sie würde sie später in ihrem Zimmer lesen. Als sie sich gerade umdrehen wollte, sagte der Portier: »Übrigens, Mrs. Jordan - vor ein paar Minuten kam ein Anruf für Sie. Ich habe ihn selbst entgegengenommen. Der Herr sagte, Sie würden es schon verstehen.«

Müde und desinteressiert warf Celia einen Blick auf das Blatt, das er ihr reichte, dann starrte sie fassungslos auf die Nachricht. Sie lautete:

FÜR ALLES GIBT ES EINE GUTE ZEIT, AUCH FÜR PLUMPE

AMERIKANERINNEN MIT GESCHENKEN. DANKE. ICH NEHME AN. MARTIN.

Zur Mißbilligung des Portiers hallte durch das Foyer des vornehmen Hotels Celias lauter und durchdringender Schrei.

»Hurra!«

11

Ein paar Tage vor Celias Fahrt nach Cambridge waren Sam und Lilian Hawthorne zu einem kurzen Besuch nach Paris aufgebrochen und am Samstag von dort aus direkt nach New York geflogen. Daher erreichte Celia Sam erst am Montag um halb vier Uhr nachmittags, Londoner Zeit, telefonisch in seinem Büro bei Fel-ding-Roth in New Jersey.

Als sie ihm Martin Peat-Smiths Entscheidung mitteilte, war er begeistert.

»Wie haben Sie das nur fertiggebracht, Celia?«

Sie hatte die Frage erwartet und sagte vorsichtig: »Ich bin nicht sicher, ob es Ihnen gefallen wird.« Dann berichtete sie von ihrer Unterhaltung mit Martin und daß mehr als alles andere das Geld ihn dazu gebracht hatte, seine Meinung zu ändern. »Verdammt«, stöhnte Sam am anderen Ende der Leitung. »Und ich hatte Ihnen geraten, auf keinen Fall von Geld zu reden. Wie konnte ich mich nur so täuschen?«

»Sie konnten es nicht wissen«, beruhigte sie ihn. »Aber ich hab' ein bißchen nachgeforscht und ein paar von Martins Problemen zutage gefördert. Übrigens hat er mich daraufhin skrupellos genannt.«

»Macht nichts! Sie haben erreicht, was wir wollten. Eigentlich hätte ich selbst darauf kommen sollen, aber Sie hatten den besseren Durchblick und mehr Ausdauer.«

UndAndrew, um mich beraten zu lassen, ergänzte Celia in Gedanken. Laut sagte sie: »Hören Sie auf, Sam, sich Vorwürfe zu machen! Das ist doch nicht nötig.«

»Also gut, aber versprechen Sie mir eins.«

»Was denn?« fragte sie.

»Wenn es je dazu kommen sollte, daß Sie und ich bei einer wichtigen Sache unterschiedlicher Meinung sind, müssen Sie mich an diesen Vorfall erinnern, bei dem Sie recht hatten und ich nicht.«

»Ich hoffe, dazu wird es nie kommen«, sagte Celia.

»Ich habe übrigens auch eine gute Nachricht«, erklärte Sam. »Als ich in der letzten Woche in Paris war, habe ich für Felding-Roth die amerikanischen Patente für ein neues französisches Medikament erworben. Es ist noch im Experimentierstadium und wird erst in frühestens zwei Jahren zur Verfügung stehen. Aber es sieht außerordentlich vielversprechend aus.«

»Gratuliere! Wie heißt es denn?«

»Es heißt Montayne«, sagte Sam. »Und Sie werden noch viel davon hören.«

Bis Anfang 1973 fuhr Celia noch fünfmal nach England. Bei zwei Reisen begleitete Andrew sie, bei einer anderen kamen Lisa und Bruce mit. Andrew lernte auch Martin kennen, und die beiden Männer waren sich sofort sympathisch. »Das einzige, was Martin noch fehlt«, sagte Andrew zu Celia, »ist eine Frau wie du. Ich hoffe, er findet sie.«

Nachdem Martin sich für Felding-Roth entschieden hatte, traf er seine Anweisungen in bezug auf Laboreinrichtungen und Personal mit großer Entschiedenheit. Als Stellvertreter engagierte er einen Chemiker, Dr. Rao Sastri, einen jungen Pakistani, der auf Nukleinsäuren spezialisiert war. Außer ihm gab es noch andere Spezialisten, zum Beispiel einen Experten für Zellkulturen und einen Fachmann für die elektrophoretische Trennung von Proteinen und Nukleinsäuren. Die Aufsicht über Hunderte von Ratten und Kaninchen, die für die Versuche benötigt wurden, führte eine Frau.

Bei Celias Besuchen in Harlow sprach Martin mit ihr über die Laboranordnung, das Personal und die weiteren Einrichtungen. Der Umbau hatte bereits begonnen, aber bis das Institut fertig war, würde Martin in seinem Labor in Cambridge bleiben. Abgesehen von diesen notwendigen Ausflügen nach Harlow bestand Martin darauf, nicht zu sehr mit Verwaltungsangelegenheiten belastet zu werden, und fand bei Sam Hawthorne und Celia dafür Unterstützung.

Celia stellte einen Verwalter namens Nigel Bentley ein. Bentley war ein kleiner, selbstsicherer Mann von Mitte Fünfzig, der bis vor kurzem im Rang eines Majors in der Royal Air Force gedient hatte, wo ihm die Leitung eines großen RAF-Krankenhauses oblag.

In Celias Gegenwart sagte Bentley zu Martin: »Je weniger ich Sie störe, Sir, je weniger Sie mich zu Gesicht bekommen, desto besser verrichte ich meine Arbeit.« Was er gesagt hatte, gefiel Celia, auch das »Sir«, denn es war ein Hinweis darauf, daß Bentley verstand, wie sich die Beziehung zwischen ihm und dem viel jüngeren Wissenschaftler gestalten sollte.

Als Lisa im September 1972 vierzehnjährig das Elternhaus verließ, um in das Emma-Willard-Internat im nördlichen Teil des Staates New York einzutreten, seufzte Celia wehmütig: »Wo sind nur die Jahre geblieben?«

Die Antwort erhielt sie von der praktischen Lisa selbst: »Sie sind vorübergegangen, während du in deiner Firma Karriere gemacht hast, Mommy. Und ich habe mir ausgerechnet, daß ich gerade mit dem College fertig sein werde, wenn du Mr. Hawthor-nes Platz einnimmst.« Darüber mußten alle lachen, und die gute Stimmung hielt auch am nächsten Tag, als sie zusammen mit den anderen Familien in die Traditionen der Emma Willard School eingeführt wurden.

Zwei Wochen später kehrte Celia noch einmal nach England zurück. Sam Hawthorne, der als Präsident der Firma mit anderen Dingen beschäftigt war, hatte ihr die Verantwortung für das britische Institut fast völlig überlassen.

Im Februar 1973 wurde das >Felding-Roth Research Institute (U.K.) Limited< offiziell eröffnet. Gleichzeitig siedelte Dr. Martin Peat-Smiths Forschungsprojekte über die Alzheimersche Krankheit und den mentalen Alterungsprozeß von Cambridge nach Harlow um.

Die Firma hatte beschlossen, im Augenblick keine weiteren Forschungen in England zu beginnen, da - wie Sam dem Aufsichtsrat bei einer Sitzung in New Jersey anvertraute - »das Projekt, das wir verfolgen, zeitlich richtig liegt, verdammt aufregend ist und große kommerzielle Möglichkeiten birgt; daher sollten wir uns vorerst einzig und allein darauf konzentrieren«.

Die Eröffnung in Harlow ging ohne große Feierlichkeiten vonstatten. »Dafür«, erklärte Sam, der extra nach England gekommen war, »haben wir noch Zeit, wenn wir etwas vorzuzeigen haben, aber soweit sind wir noch nicht.«

Und wann würde es soweit sein?

»Geben Sie mir zwei Jahre«, sagte Martin zu Sam und Celia, als sie einen Augenblick allein waren. »Bis dahin müßte ich Fortschritte gemacht haben.«

Nach der Eröffnung des Instituts wurden Celias Besuche in England immer seltener und kürzer. Nigel Bentley schien das Vertrauen, das sie in ihn gesetzt hatten, in jeder Hinsicht zu rechtfertigen. Von Martin hörten sie in den folgenden Monaten kaum etwas, außer - durch Bentley - daß die Forschungen weiterliefen.

In der Zentrale von Felding-Roth in New Jersey übte Celia weiterhin die Funktion einer persönlichen Assistentin des Präsidenten aus und erledigte die Aufgaben, die Sam ihr übertrug.

Wie Millionen Menschen auf der ganzen Welt verfolgten Ce-Ha und Andrew in dieser Zeit den Ablauf des Dramas um Watergate auf dem Fernsehschirm, und Celia erinnerte sich, wie sie vor einem Jahr, als sie mit Sam nach Harlow gefahren war, den ersten Bericht über einen Einbruch in Watergate als unwichtig abgetan hatte.

Zur gleichen Zeit - was weniger bedeutend für die Öffentlichkeit, aber ein wichtiges Ereignis für die Familie Jordan war - verließ auch Bruce das Haus, um die Hill School in Pottstown, Pennsylvania, zu besuchen.

Bis ins Jahr 1975 hielt sich Felding-Roth, ohne daß etwas Spektakuläres hervorgebracht wurde, leidlich über Wasser. Das war zwei Präparaten zu verdanken - einem Antirheumaticum und Staidpace, einem Beta-Blocker, der den Herzschlag verlangsamte und den Blutdruck senkte. Das Antirheumaticum hatte nur begrenzt Erfolg, aber Staidpace erwies sich als ein ausgezeichnetes Präparat, das weite Verbreitung erfuhr.

Staidpace hätte Felding-Roth noch mehr Gewinne eingebracht, wenn die behördliche Genehmigung durch die Food an Drug Administration nicht über eine schier unzumutbar lange Zeit hinausgezögert worden wäre - nach Ansicht der Firma zwei Jahre länger als nötig.

In der FDA-Zentrale in Washington schien - nach Auffassung des frustrierten Vincent Lord - »eine infektiöse Abneigung« vor-zuherrschen, »irgendeine Entscheidung zu treffen«. Dieser Meinung waren auch andere Firmen der Pharma-Industrie. Berichten zufolge hatte ein leitender FDA-Mitarbeiter stolz ein Schild mit dem berühmten Versprechen des französischen Marschalls Pe-tain aus dem Ersten Weltkrieg auf seinen Schreibtisch gestellt: »Sie werden nicht durchkommen.« Das war deutlich genug.

Etwa zu dieser Zeit kam der Ausdruck »Pillenverzug« auf, der besagte, daß nützliche Arzneimittel, die andernorts schon Anwendung fanden, in den USA nicht verfügbar waren.

Aber die Antwort auf jede Bitte um schnellere Bearbeitung eines Zulassungsantrags für ein neues Arzneimittel lautete stets: »Denken Sie an Thalidomid!«

Sam Hawthorne griff die Einstellung in einer Rede vor einem Kongreß offen an. »Strenge Sicherheitsmaßstäbe«, erklärte er, »sind im öffentlichen Interesse notwendig, und vor gar nicht langer Zeit hat es davon zuwenig gegeben. Aber nun tut man des Guten zuviel, so daß sich die bürokratische Unentschlossenheit jetzt als nachteilig erweist. Was die Kritik an unserer Branche betrifft, der immer wieder das Thalidomid vorgehalten wird - so wird die Zahl der Neugeborenen, die durch Thalidomid Mißbildungen aufweisen, inzwischen von der Zahl derer übertroffen, die leiden mußten oder gar gestorben sind, weil wirksame Mittel, die bei uns durch die Verzögerung der Behörden zurückgehalten werden, nicht zur Verfügung standen, als sie benötigt wurden.«

Das waren harte Worte und der Beginn einer Diskussion, die sich über viele Jahre erstrecken sollte.

Die Entwicklung bei dem französischen Medikament Montayne, dessen Lizenz Sam für die Vereinigten Staaten erworben hatte, war noch immer nicht soweit gediehen, daß die gesetzlich vorgeschriebenen Tests für Sicherheit und Wirksamkeit in den USA anlaufen konnten. Es war also noch ein weiter Weg, bis bei der FDA überhaupt ein Zulassungsantrag gestellt werden konnte.

Montayne war ein Mittel, das die morgendliche Übelkeit bei schwangeren Frauen beheben sollte, was besonders für berufstätige Frauen eine große Erleichterung bedeuten würde. Die Firma, die das Medikament entwickelt hatte - Laboratoires Gironde-Chimie -, war von der Qualität und Unbedenklichkeit des Medikaments überzeugt, für das ungewöhnlich umfangreiche Versuche an Tieren und an Menschen, die sich freiwillig zur Verfü-gung gestellt hatten, durchgeführt worden war und die, wie die Pariser Firma Felding-Roth mitteilte, ausgezeichnete Ergebnisse ohne nachteilige Nebenwirkungen erbracht hatten. Trotzdem erklärte der Leiter von Gironde-Chimie Sam in einem persönlichen Brief:

»Die Vorkommnisse in der Vergangenheit und die besondere Problematik dieses Medikaments zwingen uns zu äußerster Vorsicht. Daher haben wir beschlossen, weitere Testserien an Tieren und Menschen durchzuführen. Das wird noch einige Zeit in Anspruch nehmen.«

Sam mußte zugeben, daß bei dem vorherrschenden Klima zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen mehr als weise waren. Also wartete Felding-Roth weiterhin darauf, daß die Franzosen grünes Licht gaben, damit sie mit ihrer eigenen Arbeit an Montayne beginnen konnten.

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