TEIL VIER 1977-1985

1

Majestätisch und würdevoll wie kein anderes Transportmittel bahnte sich der Frachter SS SantaIsabellaseinen Weg durch den Fort Armstrong Channel nach Honolulu Harbor.

Andrew und Celia standen zusammen mit anderen Passagieren unter der Kommandobrücke an Deck, und Andrew suchte mit einem Fernglas den Hafen und die Gebäude daneben ab.

Als der Aloha Tower vor ihnen aufragte und vor dem azurblauen Himmel im goldenen Glanz der hawaiischen Sonne erstrahlte, drehte das Schiff nach Steuerbord. Die Schiffssirene heulte, und die Mannschaft der Santa Isabella machte sich zum Anlegemanöver bereit.

Andrew ließ das Fernglas sinken und warf Celia einen Blick zu. Wie er selbst war auch sie braungebrannt und sah frisch und gesund aus - kein Wunder nach fast sechs Monaten Muße und Erholung, die sie größtenteils an der frischen Luft verbracht hatten. Celia war entspannt, das konnte man sehen - kein Vergleich zu ihrer schlechten Verfassung vor der Abreise. Zweifellos hatte ihnen beiden die relative Isolation und das Fehlen von Streß und Anspannung gutgetan.

Er hob das Fernglas wieder an die Augen.

»Was suchst du denn?« wollte Celia wissen.

Ohne den Kopf zu wenden, antwortete er: »Wenn ich es gefunden habe, werd' ich's dir sagen.«

»Na schön.« Sie seufzte. »Ich kann kaum glauben, daß das alles fast schon vorbei ist.«

Aber so war es. Ihre Reise, die sie durch fünfzehn Länder gerührt hatte, sollte hier zu Ende gehen. Nach einem kurzen Aufenthalt in Honolulu würden sie nach Hause fliegen, um ihr Leben mit allem, was sie dort erwartete, wiederaufzunehmen. Die Veränderungen würden vor allem Celia betreffen. Seit ihrer Abreise Anfang März hatte sie sich bemüht, nicht an die Zukunft zu denken. Jetzt war es Mitte August, und sie mußte sich ihr stellen.

Sie berührte Andrews Arm. »Diese schöne Zeit werde ich nie vergessen - alles, was wir gesehen, alles, was wir erlebt und getan haben . . .«

Es gab so viel, woran sie sich erinnern würde: an das zauberhafte Mondlicht am Nil, den Sand und die glühende Hitze im Tal der Könige . . . wie sie durch das neun Jahrhunderte alte Labyrinth gepflasterter Straßen in Lissabon flaniert waren, die vielen Blumen überall . . . Jerusalem - »Der Hügel dicht am Himmel, auf dem der Mensch seine Hand dem Wind entgegenstreckt und die Stimme Gottes hört« . . . Roms paradoxe Mischung aus Irdischem und Ätherischem . . . Griechenlands Inseln, Juwelen in der Ägäis. Erinnerungen an gleißendes Licht, an weiße, terrassenförmig angelegte Dörfer, Berge, Olivenhaine . . . das durch öl reich gewordene, blühende Abu Dhabi und das freudige Wiedersehen mit Celias jüngerer Schwester Janet, ihrem Mann und ihrer Familie .. . Indien, Subkontinent schroffer Gegensätze - Sinnenlust und Schmutz und Erniedrigung ... ein Postkartenbild: Jaipur, die rosa Stadt . . . dann das Great Barrier Reef, das australische Korallenriff, der Traum eines jeden Tauchers . . . und nicht weit davon entfernt: Kyoto in Japan: die zarte, traumhafte Schönheit der kaiserlichen Villa in Shugakuin, das Versteck eines Herrschers und ein Ort der Poesie, noch immer vor dem großen Touristenstrom bewahrt . . . das frenetische Tempo Hongkongs - als würde die Zeit fliehen, und so war es tatsächlich! . . . Singapur, inmitten großer Wohlhabenheit die bescheidenen Stände der Straßenhändler, ein Feinschmeckerparadies, in dem nasi beryani an der Glutton's Corner feilgeboten wurde . . .

In Singapur schließlich waren Andrew und Celia an Bord der Santa Isabella gegangen, um gemächlich das Südchinesische Meer zu durchqueren und bis in den Pazifik zu gelangen. Und hier und jetzt, in Hawaii, war die Reise zu Ende.

Es waren noch etwa zwanzig andere Passagiere an Bord, und die meisten von ihnen genossen die Geräumigkeit des Schiffes, den Komfort und die Bequemlichkeiten ohne die hektische, organisierte Fröhlichkeit einer konventionellen Kreuzfahrt.

Während der Frachter sich langsam dem Hafen näherte, ließ Celia ihre Gedanken schweifen . . .

Sie hatte sich zwar bemüht, nicht über die Zukunft nachzudenken, aber die Vergangenheit hatte sie nicht völlig aus ihrem Gedächtnis streichen können. Vor allem in den letzten Tagen hatte sie sich immer wieder gefragt, ob es falsch gewesen war, Felding-Roth so überstürzt zu verlassen. Sie hatte impulsiv gehandelt. war das unklug gewesen? Celia wußte es nicht, und manchmal fragte sie sich, ob sie es nicht eines Tages bedauern und ihr Ärger darüber nicht größer sein würde als ihre gegenwärtigen Zweifel.

Ihr Ausscheiden hatte weder auf die Firma noch auf das Medikament Montayne Auswirkungen gehabt. Im Februar war Montayne, wie geplant, auf den Markt gebracht worden, offenbar mit großem Erfolg. Nach den Berichten der Wirtschaftspresse, die Celia vor Antritt der Reise interessiert verfolgt hatte, war Mon-tayne sofort auf breiter Basis eingesetzt worden und vor allem bei berufstätigen Frauen, die während ihrer Schwangerschaft weiterarbeiten und die morgendliche Übelkeit ausschließen wollten, sehr beliebt. Wie es schien, war das neue Medikament für Felding-Roth eine Goldgrube.

Und als sie sich in Frankreich aufhielten, hatte sie erfahren, daß dasselbe auch bei der französischen Firma der Fall war. Die Berichte im France-Soir über die Vorfälle in Nouzonville und in Spanien hatten dem guten Ruf von Montayne offensichtlich nichts anhaben können. Genausowenig wie die Argumente von Dr. Maud Stavely, die sie vehement gegen das Mittel vorbrachte und die doch in keiner Weise den Verkauf in den Staaten beeinflußten.

Celia wurde in ihren Gedanken unterbrochen. Das Schiff würde gleich am Pier 10 anlegen.

Plötzlich rief Andrew neben ihr: »Da!« Er reichte ihr das Fernglas. »Sieh mal zum zweiten großen Fenster hinüber - links vom Turm.«

Erstaunt gehorchte sie. »Wonach soll ich denn suchen?«

»Das wirst du gleich sehen.«

Außer Andrew und Celia waren nur noch zwei oder drei Passagiere an Deck, die anderen waren schon in ihre Kabinen gegangen.

Celia schwenkte suchend das Fernglas hin und her. Dann rief sie: »Ja, jetzt seh' ich's, aber ich kann's kaum fassen . . . Lisa und Bruce!« Sie nahm das Fernglas in die eine Hand und winkte mit der anderen in Richtung Fenster. Auch Andrew winkte. Hinter dem großen Fenster standen, ebenfalls lachend und winkend, Lisa und Bruce.

»Wir haben die Kinder doch gar nicht erwartet. Wie sind sie bloß hierhergekommen?« machte Celia ihrer Verwunderung Luft.

»Ich habe sie erwartet«, erwiderte Andrew. »Ich habe es organisiert, habe von Singapur ein paarmal telefoniert. Immer wenn du nicht da warst. Und es war gar nicht schwer, sie zu überreden, als ich ihnen erklärte, warum sie kommen sollen.« Er nahm ihr das Fernglas ab und verstaute es in der Tasche.

»Ich verstehe noch immer nicht«, sagte Celia. »Du wolltest, daß die Kinder herkommen?«

»Damit ich ein Versprechen einlösen kann, das ich dir vor vielen Jahren gegeben habe.« Sie sah ihn erstaunt an.

»Auf unserer Hochzeitsreise«, erklärte Andrew. »Weißt du das nicht mehr? Wir hatten uns darüber unterhalten, warum du die Flitterwochen lieber auf den Bahamas als auf Hawaii verbringen wolltest. Du sagtest, Hawaii würde dich traurig machen, weil dein Vater in Pearl Harbor mit der Arizona untergegangen ist.«

Ja, jetzt wußte sie es wieder - nach all den Jahren.

Damals, auf ihrer Hochzeitsreise, am Strand, hatte sie Andrew von ihrem Vater erzählt, das Wenige, das sie von ihm wußte, von Chief Petty Officer Willis de Grey . . . »Wenn er zum Urlaub nach Hause kam, war immer etwas los bei uns, und wir hatten viel Spaß. Er war sehr groß, mit einer dröhnenden Stimme; er brachte die Leute zum Lachen, und er mochte Kinder gern. Er war auch stark. . . «

Andrew hatte voller Verständnis gefragt: »Bist du schon mal in Pearl Harbor gewesen ?«

Und sie hatte geantwortet: »Ich bin noch nicht soweit. Vielleicht findest du das komisch, aber ich würde später gern einmal dorthin fahren, allerdings nicht allein. Ich würde gern meine Kinder mitnehmen.«

» Wenn unsere Kinder soweit sind, es zu begreifen, werde ich es arrangieren«, hatte Andrew ihr damals versprochen.

Ein Versprechen, das zwanzig Jahre zurücklag!

Während die Sant Isabella am Pier 10 festmachte, sagte Andrew zu Celia: »Morgen fahren wir hin, es ist alles vorbereitet. Wir gehen zum Arizona Memorial, zum Ort, wo dein Vater mit seinem Schiff untergegangen ist. Und deine Kinder werden bei dir sein.«

Celias Lippen zitterten. Sie brachte kein Wort heraus und ergriff Andrews Hände. Ihre Augen blickten ihn voller Bewunderung an. »Du bist wunderbar, ein wunderbarer Mann!«

2

Um zehn Uhr vormittags wartete eine von Andrew gemietete Limousine vor dem Kahala Hilton-Hotel. Es war ein warmer Tag Ende August. Eine leichte Brise kam aus Süden - Kona-Wetter, wie es die Hawaiianer nannten. Über den klaren Himmel zogen vereinzelte Wolkenfetzen.

Lisa und Bruce hatten mit ihren Eltern in der behaglichen Hotel-Suite gefrühstückt, von der aus man auf den Waialae-Golf-kuirs und den Pazifischen Ozan blickte. Seit dem Wiedersehen war der Redefluß nicht abgerissen. Lisa hatte mit Begeisterung ihr erstes Jahr in Stanford hinter sich gebracht. Bruce, dessen letztes Jahr in The Hill begann, hatte sich um Aufnahme ins William College in Massachusetts beworben, wo er sich weiterhin seinem Lieblingsfach Geschichte widmen wollte.

In Erwartung des heutigen Tages hatte Bruce sich eingehend mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor im Jahr 1941 beschäftigt. »Wenn ihr Fragen habt, werde ich sie euch gern beant-worten«, informierte er die anderen.

»Du bist unerträglich!« sagte Lisa. »Aber da deine Dienste unentgeltlich sind, werde ich mich vielleicht dazu herablassen, sie in Anspruch zu nehmen.«

Celia, die den familiären Neckereien am Frühstückstisch nur mit Mühe folgen konnte, fühlte sich wie von allem losgelöst - als sei an diesem Tag ein Teil ihrer Vergangenheit zurückgekehrt. Als sie am Morgen aufgewacht war, hatte sie das Gefühl gehabt, vor einem besonderen Erlebnis zu stehen, und dieses Gefühl hielt an. Als sie sich in ihrem Faltenrock und der blau-weißen Bluse im Spiegel betrachtet hatte, war ihr ein Gedanke durch den Kopf gegangen: Wenn er doch noch lebte und mich jetzt sehen könnte - seine Tochter mit ihrer Familie!

Als wollten sie auf Celias Gefühle Rücksicht nehmen, hatten sich auch die anderen nicht so leger gekleidet wie sonst. Lisa, die gewöhnlich Jeans trug, hatte heute ein einfaches geblümtes, luftiges Kleid an; sie wirkte darin jung und strahlend schön, und einen Augenblick lang sah Celia sich selbst, als sie so alt war wie Lisa, mit neunzehn, vor siebenundzwanzig Jahren.

Andrew hatte sich für einen leichten Anzug entschieden und trug seit vielen Tagen zum ersten Mal eine Krawatte. Er wurde bald fünfzig, hatte schon graue Haare und sah mit den Jahren immer distinguierter aus, fand Celia. Bruce trug den hübschen Blazer der Hill School und ein offenes Hemd und sah auf eine ernsthafte Weise noch sehr jungenhaft aus.

Als die Jordans zum Mietauto kamen, tippte der Fahrer höflich an seine Uniformmütze und hielt die Wagentür auf. »Dr. Jordan? Sie wollen zur Arizona, nicht wahr?«

»Das ist richtig.« Andrew zog einen Notizzettel aus der Tasche. »Aber man hat mir geraten, Ihnen zu sagen, daß Sie nicht zum Besucherzentrum fahren sollen, sondern direkt zum Privathafen der CINCPACFLT.«

Der Fahrer zog die Augenbrauen hoch. »Sie müssen ein großes Tier sein.«

»Nicht ich.« Andrew lächelte und sah Celia an. »Meine Frau.«

Als sie in der Limousine saßen, fragte Lisa: »Was ist das – CINC?«

Bruce antwortete: »Commander-in-Chief Pacific Fleet. Hör mal, Dad, du hast wohl ein paar Beziehungen spielen lassen!«

Celia sah Andrew neugierig an. »Wie hast du das nur fertiggebracht?«

»Ich habe deinen Namen benutzt«, erklärte er. »Falls du es noch nicht weißt, meine Liebe - er öffnet sämtliche Türen. Es gibt eine Menge Leute, die dich bewundern.«

Alle drängten ihn, das näher zu erklären, und schließlich gestand er: »Wenn ihr es unbedingt wollt - ich habe mit dem Manager von Felding-Roth in Hawaii telefoniert.«

»Tano Akamura?« fragte Celia.

»Richtig. Und er läßt dir ausrichten, daß man dich sehr vermißt. Akamuras Frau hat zufällig eine Schwester, die mit einem Admiral verheiratet ist. Der Rest war einfach. Wir werden auf einer Admiralsbarkasse zur Arizona fahren.«

»Dad«, sagte Bruce, »das hast du toll gemacht!«

»Bei deinem Gespräch mit Tano, hattest du da Gelegenheit, ihn zu fragen, wie die Dinge stehen?« wollte Celia wissen.

Andrew zögerte. »Du meinst bei Felding-Roth . . . und wegen Montayne?«

»Ja.«

Er hatte gehofft, daß sie nicht fragen würde. »Offenbar sehr gut.«

»Das ist doch bestimmt nicht alles, was du erfahren hast«, drängte Celia. »Erzähl schon.«

Zögernd fügte Andrew hinzu: »Er betonte, Montayne sei ein großer Erfolg und würde sich >wie verrückt verkaufe«.«

Celia nickte. Es war nicht mehr, als alle erwartet hatten, und bestätigte das, was nach dem Start von Montayne bekanntgeworden war.

Der Wagen kam schnell voran, fuhr über die Autobahnen von Lunalilo und Moanalua und durchquerte dann Honolulu mit seinen modernen, hoch aufragenden Gebäuden. Nach zwanzig Minuten verließen sie die Autobahn in der Nähe des Aloha-Sta-dions und gelangten bald darauf in die US Navy Reservation an der Aiea Bay. Der eher kleine CINCPACFLT-Privathafen befand sich in einem landschaftlich schönen Gebiet, das von den Familien des Militärs benutzt wurde.

Ein fünfzehn Meter langes Marineboot - die sogenannte Ad-miralsbarkasse - wartete im Hafen mit laufendem Dieselmotor. Das Boot wurde von zwei weißgekleideten Leichtmatrosen bedient. Ein halbes Dutzend anderer Passagiere hatte schon an Deck unter einem Sonnendach Platz genommen.

Ein weiblicher Matrose zog die Leinen an, nachdem die Jordans an Bord waren. Der Steuermann, der auf der Kommandobrücke in der Mitte des Schiffs stand, manövrierte das Boot vom Anlegeplatz in den Hafenverkehr von Pearl Harbor.

Der Wind, den sie schon an Land gespürt hatten, wurde auf dem Wasser stärker, und die Wellen schwappten gegen den Bootsrumpf; gelegentlich spritzte Wasser über Bord. Das Wasser im Hafen hatte eine trübe graugrüne Farbe, unter der Oberfläche war wenig oder nichts zu erkennen. Der weibliche Matrose kommentierte die Fahrt wie eine Fremdenführerin, als sie gegen den Uhrzeigersinn um Ford Island herumfuhren. Andrew, Lisa und Bruce hörten aufmerksam zu, aber Celia, die mit ihren Erinnerungen beschäftigt war, fing nur Bruchstücke auf.

»Sonntagmorgen, siebenter Dezember 1941 . . . japanische Flieger griffen ohne Vorwarnung an . . . die erste Welle um sieben Uhr fünfundfünfzig . . . um acht Uhr fünf erschütterten Explosionen die aufgereihten Schlachtschiffe . . . acht Uhr zehn, Arizona, ins Munitionslager getroffen, explodierte und sank . . . gegen acht Uhr zwölf bekam Utah Schlagseite . . . California und West Virginia sanken . . . Oklahoma kenterte . . . Verluste: zwei-tausendvierhundertdrei Tote, eintausendeinhundertachtundsieb-zig Verwundete . . .«

Das ist alles so lange her, dachte sie - sechsunddreißigJahre; mehr als ein halbes Leben. Und doch war es ihr bis zu diesem Augenblick noch nie so nahe vorgekommen.

Das Marineboot änderte seinen Kurs, als es in die Nähe der Kanaleinfahrt von Pearl Harbor gelangte, korrigierte ihn noch einmal, als es die Südspitze von Ford Island umrundete. Und plötzlich, direkt vor ihnen: das Arizona Memorial, weiß im gleißenden Sonnenlicht.

Hier ist es passiert, und ich hin schließlich doch noch hergekommen.

Ein paar Zeilen eines Gedichts fielen Celia ein. »Gib mir eine Muschelschale voll Ruhe . . . und ich werde meine Pilgerreise fortsetzen.«

Als sie geradeaus sah, über den Bug des Boots hinaus, drängte sich ihr ein widersinniger Gedanke auf. Das Mahnmal war nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Statt dessen sah es aus wie ein langer weißer Eisenbahnwagen, der in der Mitte in sich zusammengefallen war. Aber das spielte keine Rolle. Nur das Schiff war wichtig, und jetzt wurden seine Umrisse sichtbar - unglaublich, nur ein paar Meter unter der Oberfläche des graugrünen Wassers.

». . . und das Mahnmal überspannt das gesunkene Schlachtschiff.«

Meines VatersSchiff, seineHeimat, wenneraufSee war, wo ergestorben ist . . . als ich zehn Jahre alt war, fünftausend Meilen entfernt in Philadelphia.

Andrew ergriff Celias Hand und hielt sie fest. Niemand sprach. Unter den Passagieren herrschte befangene Stille.

Das Boot legte am Ponton, am Eingang zum Mahnmal, an. Der weibliche Matrose belegte die Leinen, und die Jordans stiegen zusammen mit den anderen aus. Sie spürten keine Bewegung unter ihren Füßen; das Mahnmal ruhte auf Pfeilern, die in den Grund des Hafens getrieben worden waren.

Ungefähr in der Mitte des Mahnmals blieben Celia, Andrew und Lisa an einer Öffnung stehen, von der aus man hinunter auf das Hauptdeck der Arizona sehen konnte, die jetzt ganz deutlich zu erkennen war.

Bruce, der ein Stück weitergegangen war, kam zu ihnen zurück. »Ich habe Großvaters Namen gefunden«, sagte er. »Ich zeige euch, wo.« Sie folgten ihm, bis sie neben den anderen vor einer Marmortafel standen, auf der Hunderte von Namen und Dienstgraden aufgeführt waren.

In diesen wenigen Minuten des heftigen japanischenAngriffs waren allein auf der Arizona eintausendeinhundertsiebenundsiebzig Mann umgekommen. Später hatte es sich als unmöglich erwiesen, das Schiffzu heben, das für mehr als tausend Tote zum endgültigen Grab geworden war. Eine Inschrift lautete:

ZUR ERINNERUNG AN DIE TAPFEREN MÄNNER DIE HIER BEGRABEN SIND

Bruce deutete auf eine Stelle der Tafel. »Da, Mom.«

W F DE GREY CEM

Sie standen ehrfürchtig und in Gedanken versunken davor. Dann führte Celia sie zurück zu der Stelle, von wo aus sie auf den gesunkenen Schiffskörper hinunterblicken konnten. Die Aufbauten waren längst entfernt worden. Es sah zum Greifen nah aus! Und plötzlich stieg von irgendwo weit unten eine Ölblase auf. Das Öl breitete sich wie eine Blüte auf der Wasseroberfläche aus. Ein paar Minuten später wiederholte sich der Vorgang auf unheimliche Weise.

»Diese Ölblasen stammen von den Resten aus den Treibstofftanks«, erklärte Bruce. »Sie steigen auf, seit das Schiff gesunken ist. Niemand weiß, wie lange das Öl noch reichen wird, aber es könnte noch gut zwanzig Jahre dauern.« »Ich wünschte, ich hätte Großvater gekannt«, sagte Lisa. Und als hätte Lisas Bemerkung das mühsam bewahrte Gleichgewicht endgültig ins Wanken gebracht, brach Celia, von Schmerz und Kummer überwältigt, zusammen.

Andrew, der sie besorgt beobachtet hatte, machte einen Schritt auf sie zu, aber Lisa und Bruce waren schneller. Die beiden umarmten ihre Mutter, trösteten sie und weinten mit ihr. Andrew nahm sie alle drei in die Arme.

An diesem Abend versammelte sich die Familie zum Essen im Maile Room des Kahala Hilton. »Andrew, mein Lieber, ich möchte gern Champagner trinken«, erklärte Celia.

Andrew winkte einem Kellner.

Seit dem Vormittag hatten sie kaum über ihren Ausflug nach Pearl Harbor gesprochen. Als Celia die Fassung verlor, hatten die anderen Besucher des Mahnmals höflich weggesehen. An diesem Ort, der traurige Erinnerungen weckte, hatten sich gewiß schon viele solcher Szenen abgespielt.

Als der Ober den Champagner gebracht und eingeschenkt hatte, hob Celia ihr Glas. »Auf euch alle! - Ich liebe euch und danke euch für alles! Für euren Trost und euer Verständnis, das ich nie vergessen werde. Das heutige Erlebnis war für mich wie ein Reinigungsprozeß - eine Katharsis. Ich habe beschlossen, damit aufzuhören, mich selbst zu bemitleiden. Ich will mein Leben wieder in die Hand nehmen. Es waren wunderbare Ferien, die schönsten, die ich je erlebt habe, aber in zwei Tagen wird alles vorbei sein.« Sie sah Andrew liebevoll an. »Ich kann mir vorstellen, daß du dich auch wieder auf deine Praxis freust.«

Andrew nickte.

»Das kann ich verstehen«, sagte Celia, »und auch ich werde nicht untätig sein. Ich habe die Absicht, mir wieder eine Arbeit zu suchen.«

»Was willst du denn tun?« fragte Bruce.

Celia nahm einen Schluck Sekt, bevor sie antwortete. »Ich habe eine Menge darüber nachgedacht und mir viele Fragen gestellt und bin immer zu demselben Ergebnis gekommen. In der Pharma-Branche kenne ich mich am besten aus, daher sollte ich auch dabei bleiben.«

»Ja, das finde ich auch«, stimmte Andrew zu.

»Könntest du nicht zu Felding-Roth zurückgehen?« fragte Lisa.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Ich habe die Brücken hinter mir abgebrochen. Es gibt keinen Weg zurück zu Felding-Roth, selbst wenn ich das wollte. Nein, ich werde es bei anderen Firmen versuchen.«

»Wenn die nicht sofort zugreifen, können sie nicht bei Verstand sein«, meinte Andrew. »Hast du schon überlegt, wer in

Frage käme?«

»Ja. Es gibt eine Firma, die ich schon immer bewundert habe -Merck. Wenn es einen >Rolls-Royce< der Pharma-Industrie gäbe, dann wäre es Merck. Daher werde ich mich zuerst dort bewerben.«

»Und danach?«

»Smith Kline sagt mir zu und auch Upjohn. Beides sind Gesellschaften, für die ich gerne arbeiten würde. Und dann gibt es noch eine ganze Reihe anderer.«

Andrew hob sein Glas. »Trinken wir auf die glückliche Firma, die Celia Jordan für sich gewinnen kann.«

3

Im Schlafzimmer der Hotel-Suite der Jordans klingelte kurz vor sechs Uhr morgens neben dem Bett durchdringend das Telefon.

Celia schlief fest. Andrew, der neben ihr lag und gerade die Grenze vom Schlaf zum Wachsein überschritten hatte, bewegte sich unruhig bei dem beharrlichen Geklingel.

Als sie am Abend zu Bett gegangen waren, hatten sie die Glastüren zum Balkon geöffnet, um die frische Meeresluft hereinzulassen. Jetzt wurden draußen in der Dämmerung allmählich Umrisse sichtbar. In fünfzehn Minuten würde die Sonne hinter dem Horizont hervorkommen.

Andrew richtete sich im Bett auf, war jetzt wach. Er griff nach dem Hörer.

Celia drehte sich um und fragte verschlafen: »Wie spät ist es denn?«

»Viel zu früh!« sagte Andrew, und in den Hörer: »Ja - was gibt's?«

»Ich habe eine Voranmeldung für Mrs. Celia Jordan«, sagte die Telefonistin.

»Wer will sie sprechen?«

Eine andere weibliche Stimme kam in die Leitung. »Mr. Seth Feingold von Felding-Roth in New Jersey.«

»Weiß Mr. Feingold, wie spät es hier ist?« »Ja, Sir. Das weiß er.«

Celia saß aufrecht im Bett, sie war jetzt hellwach. »Ist es Seth?« Und als Andrew nickte, sagte sie: »Ich nehme den Anruf entgegen.«

Er reichte ihr den Telefonhörer. Celia vernahm die Stimme von Seth Feingold. »Sind Sie's, Celia?«

»Ja, ich bin's.«

»Man hat mir gerade gesagt, daß wir Sie geweckt haben, und ich möchte mich dafür entschuldigen. Aber hier ist es Mittag. Wir konnten einfach nicht noch länger warten.«

Verwirrt fragte sie: »Wer ist >wir

»Celia, was ich Ihnen zu sagen habe, ist außerordentlich wichtig. Bitte hören Sie genau zu.«

»Sprechen Sie«, sagte Celia. »Ich rufe an im Namen und auf Wunsch des Aufsichtsrats. Ich habe die Anweisung, Sie zuallererst darüber zu informieren, daß Sie bei Ihrer Kündigung - deren Gründe ja bekannt sind - recht hatten und alle anderen . . .« Ihm versagte die Stimme, dann fuhr er fort: »Wir haben uns alle getäuscht.«

Sie überlegte bestürzt, ob sie richtig gehört hatte und ob sie auch wirklich wach war. »Ich verstehe nicht, Seht. Sie sprechen doch nicht etwa von Montayne.«

»Leider ja.«

»Aber nach allem, was ich gelesen und gehört habe, ist Mon-tayne doch ein großer Erfolg.« Sie mußte an den positiven Bericht denken, den sie erst gestern über Andrew von Tano, dem Repräsentanten von Felding-Roth in Hawaii, erhalten hatte.

»Das haben wir auch alle gedacht, bis vor kurzem. Aber inzwischen hat sich alles geändert - ganz plötzlich. Und wir sitzen hier in einem schrecklichen Schlamassel.«

»Warten Sie einen Augenblick.«

Sie bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand und sagte zu Andrew: »Es ist etwas passiert. Ich weiß nicht genau, was. Aber hör bitte auf dem anderen Apparat mit.«

Im Badezimmer war ein zweiter Telefonanschluß. Celia war-tete, bis Andrew den Hörer aufgenommen hatte, dann sagte sie: »Fahren Sie fort, Seth.«

»Aber das ist noch nicht alles, Celia, der zweite Grund meines Anrufs ist, daß der Aufsichtsrat Sie zurückhaben möchte.«

Celia wollte ihren Ohren nicht trauen. Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Es ist besser, Sie wiederholen das noch mal.«

»Gut. Also dann.«

Sie spürte, wie Seth seine Gedanken ordnete. »Sie erinnern sich an die Berichte über die Mißbildungen bei Neugeborenen in Australien, Frankreich und Spanien.«

»Selbstverständlich.«

»Inzwischen hat es eine ganze Reihe weiterer Fälle gegeben, auch in anderen Ländern. Und zwar so viele, daß es gar keinen Zweifel mehr geben kann - Montayne ist die Ursache dafür.«

»O mein Gott!« Celia fuhr sich mit der Hand ans Gesicht. Bitte laß es nicht wahr sein! Das ist doch nur ein schlechter Traum, es ist nicht wirklich. Ich will nicht recht behalten, nicht auf diese schreckliche Weise.

Dann sah sie Andrews grimmiges Gesicht durch die offene Badezimmertür und wußte, daß es kein Traum war, sondern Wirklichkeit.

Seth zählte jetzt Einzelheiten auf. ». . . fing vor zweieinhalb Monaten mit vereinzelten Meldungen an . . . ähnliche Fälle wie die früheren . . . dann wurden es immer mehr . . . seit neuestem eine ganze Flut . . . alle Mütter haben während der Schwangerschaft Montayne genommen ... bis jetzt fast dreihundert Neugeborene mit Mißbildungen . . . wahrscheinlich werden es noch mehr, vor allem in den USA, wo Montayne erst sieben Monate im Handel . . .«

Celia schloß die Augen, während die Schreckensgeschichte weiterging. Hunderte von Babys, die normal sein könnten und die nun niemals denken oder gehen oder ohne Hilfe aufrecht würden sitzen können, ihrganzesLeben langnicht, die sich niemals normal würden bewegen können. . . Und es würden noch mehr werden.

Ihr war zum Heulen zumute. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien vor Zorn und Entsetzen. Tränen und Zorn aber halfen nichts. Dafür war es zu spät.

Hätte sie diese grausame Tragödie verhindern können?

Ja!

Sie hätte nach ihrer Kündigung den Mund aufmachen, mit ihren Zweifeln an der Unbedenklichkeit von Montayne an die Öffentlichkeit gehen können, anstatt sich still zu verhalten. Aber hätte das irgendeinen Unterschied gemacht? Hätten die Leute auf sie gehört? Wahrscheinlich nicht, obgleich - irgend jemand hätte es vielleicht doch getan, und wenn nur ein einziges Baby gerettet worden wäre, dann hätte sich die Mühe schon gelohnt.

Als habe er über fünftausend Meilen hinweg ihre Gedanken gelesen, sagte Seth: »Wir alle haben uns hier natürlich Fragen gestellt, Celia. Wir haben schlaflose Nächte verbracht, und es gibt wohl keinen von uns, der nicht ein Stückchen Schuld mit ins Grab nehmen wird. Aber Sie brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, Celia. Sie haben alles getan, was in Ihrer Macht stand. Es war nicht Ihre Schuld, daß Ihre Warnungen von uns allen nicht ernst genommen wurden.«

Es wäre so leicht und bequem gewesen, sich diese Ansicht anzueignen, dachte Celia. Aber sie wußte, daß sie bis ans Ende ihrer Tage Zweifel haben würde.

Ganz plötzlich kam ihr ein neuer, beunruhigender Gedanke. »Seth, haben Sie das alles schon bekanntgegeben? Haben Sie die Presse informiert? Haben Sie die Frauen vor Montayne gewarnt?«

»Also . . . nicht ganz. Natürlich hat es vereinzelte Meldungen gegeben, aber - überraschenderweise - nicht sehr viel.«

Daher hatten sie und Andrew noch nichts gehört.

Seth fuhr fort: »Anscheinend hat sich bis jetzt noch keiner von den Zeitungsleuten die ganze Geschichte zusammengereimt. Aber es dauert bestimmt nicht mehr lange, fürchte ich.«

»Sie fürchten. . .«

»Offenbar hatte man bis jetzt nichts unternommen, die Sache an die Öffentlichkeit zu bringen, und das bedeutete, daß Mon-tayne weiter verkauft und eingenommen wurde. Wieder mußte Celia an Andrews Bericht von gestern und an Tanos Worte denken: »Montayne verkauft sich wie verrückt.« Es lief ihr kalt den Rük-ken herunter, als sie fragte: »Und was wurde getan, um das Medikament zurückzurufen und alle Vorräte einzuziehen?«

Seth wählte seine Worte mit Bedacht. »Gironde-Chimie will Montayne noch in dieser Woche in Frankreich einziehen. Und die Engländer bereiten eine Erklärung vor, wie ich hörte. In Australien hat die Regierung den Verkauf bereits gestoppt.«

»Ich spreche von den Vereinigten Staaten!« schrie sie in den Hörer.

»Ich versichere Ihnen, Celia, daß wir alles getan haben, um dem Gesetz Genüge zu tun. Jede Information, die bei Felding-Roth eingegangen ist, wurde prompt nach Washington weitergegeben. Alles. Vince Lord hat sich persönlich darum gekümmert. Jetzt warten wir auf eine Entscheidung von der FDA.«

»Sie warten auf eine Entscheidung! Um Himmels willen, warum warten Sie denn noch? Welche andere Entscheidung erwarten Sie denn? Es gibt doch nur eine: Montayne einzuziehen!«

»Unsere Rechtsanwälte haben uns dringend geraten, in diesem Stadium zuerst den Beschluß der FDA abzuwarten.«

Celia hätte fast laut aufgeschrien. Aber sie nahm sich zusammen und erwiderte: »Die FDA ist langsam. Das kann doch Wochen dauern.«

»Ich nehme an, ja. Aber die Rechtsanwälte bestehen darauf zu warten. Wenn wir Montayne von uns aus zurückziehen, könnte der Eindruck entstehen, daß wir einen Fehler begangen haben und die Schuld zugeben. Wenn man an die finanziellen Folgen . . .«

»Wen interessieren denn finanzielle Dinge, wenn schwangere Frauen auch weiterhin Montayne nehmen. Wenn ungeborene Babys . . .«

Celia unterbrach sich, weil ihr klar wurde, daß es sinnlos war, sich zu streiten, daß sie das nicht weiterbrachte, und sie fragte sich, warum sie mit Feingold sprach und nicht mit Sam Hawthorne.

Entschlossen sagte sie: »Ich muß mit Sam sprechen.«

»Das ist leider nicht möglich, wenigstens nicht im Augenblick.« Es folgte eine verlegene Pause. »Sam ist . . . nun er ist nicht ganz er selbst. Er hat persönliche Probleme. Das ist auch ein Grund, warum wir möchten, daß Sie zurückkommen - wir brauchen Sie.«

»Sie weichen mir aus«, fuhr ihn Celia durchs Telefon an. »Was soll das heißen?«

Sie hörte einen langen, tiefen Seufzer.

»Eigentlich hätte ich es Ihnen lieber später gesagt, weil ich weiß, daß Sie darüber entsetzt sein werden.« Seths Stimme war leise und traurig. »Sie wissen doch . . . kurz bevor Sie weggingen, wurde Sam Großvater.«

»Juliets Baby.« Celia erinnerte sich an die Feier in Sams Büro, bei der sie den anderen mit ihren Zweifeln an Montayne die Stimmung verdorben hatte.

»Offenbar litt Juliet während der Schwangerschaft sehr stark an morgendlichem Unwohlsein. Sam gab ihr Montayne.«

Bei Seths letzten Worten überlief es Celia eiskalt. Sie hatte das schreckliche Gefühl zu wissen, was als nächstes kommen würde.

»Letzte Woche stellten die Ärzte fest, daß Juliets Kind durch das Medikament Schaden genommen hat.« Seths Stimme war brüchig, er konnte kaum weitersprechen. »Sams Enkelsohn ist geistig behindert und kann seine Glieder nicht bewegen - ein vor sich hinvegetierendes Etwas.«

Celia schrie vor Kummer und Schmerz auf, dann fragte sie ungläubig: »Aber wie konnte Sam das nur tun? Zu der Zeit war Montayne doch noch gar nicht zugelassen.«

»Es gab Probepackungen für Ärzte, wie Sie wissen. Sam hat niemandem etwas gesagt, außer Juliet. Ich nehme an, er war so überzeugt von Montayne, daß es für ihn kein Risiko bedeutete. Natürlich war das auch seine ganz persönliche Angelegenheit. Und ein bißchen Stolz wird ebenfalls dabeigewesen sein.

Schließlich war es Sam, der Montayne bei Gironde-Chimie eingekauft hat.«

»Ja, ich weiß.« In Celias Kopf ging alles durcheinander. Seth unterbrach ihre Gedanken.

»Ich sagte, daß wir Sie brauchen, Celia, und das stimmt. Wie Sie sich vorstellen können, ist Sam im Augenblick zu nichts zu gebrauchen. Aber das ist nur die eine Seite. Hier geht alles drunter und drüber. Wir sind wie ein angeschlagenes, steuerloses Schiff, und wir brauchen Sie, damit Sie den Schaden abschätzen und die Führung übernehmen. Außerdem sind Sie die einzige, die über genügend Wissen und Erfahrung verfügt. Hinzu kommt, daß alle etwas auf Ihr Urteil geben - auch der Aufsichtsrat -, vor allem jetzt. Und, ach ja - Sie würden als Vizepräsidentin zurückkommen.«

Vizepräsidentin von Felding-Roth. Nur eine Stufe unter dem Präsidenten und mehr, als sie als Verkaufsleiterin gewesen wäre, die Beförderung, die sie durch ihre Kündigung eingebüßt hatte. Es gab einmal eine Zeit, dachte Celia, da hätte sie sich über ein Angebot wie dieses gefreut, hätte es als einen Meilenstein in ihrem Leben angesehen. Jetzt bedeutete es ihr plötzlich so wenig.

»Sie werden sich vielleicht denken können«, fuhr Seth fort, »daß ich nicht allein bin, daß einige Mitglieder des Aufsichtsrats bei mir sind und diesem Gespräch zuhören. Wir warten hier und hoffen, daß Ihre Antwort positiv ausfällt.«

Celia sah, wie Andrew ihr vom Bad her Zeichen machte. Zum zweiten Mal während dieses Gesprächs sagte sie: »Einen Augenblick bitte.«

Andrew legte den Hörer des Nebenapparates auf und kam ins Zimmer. Celia bedeckte die Sprechmuschel mit der Hand und fragte ihn: »Was meinst du?«

»Das mußt du selbst entscheiden«, sagte er. »Aber vergiß das eine nicht: Wenn du zurückgehst, dann wird es keine Rolle mehr spielen, daß du vorher gekündigt hattest und gar nicht da warst. Ein Teil der Montayne-Verantwortung wird dann auch auf dich fallen.«

»Ich weiß.« Celia überlegte. »Aber ich war so lange bei der Firma. Es waren gute Jahre, und jetzt brauchen sie mich. Doch ich werde nur zurückgehen, wenn . . .«

Sie nahm den Telefonhörer wieder auf.

»Seth, ich habe genau zugehört, was Sie gesagt haben. Ich werde das Angebot annehmen, aber nur unter einer Bedingung.«

»Und die wäre?«

»Montayne muß noch heute aus dem Handel gezogen und die Öffentlichkeit über seine Gefährlichkeit informiert werden. Nicht morgen, nicht nächste Woche, und es darf auch nicht abgewartet werden, welche Entscheidung die FDA trifft. Es muß noch heute geschehen.«

»Celia, das ist unmöglich. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß unsere Rechtsanwälte uns davor gewarnt haben - wegen der Schuldfrage. Dadurch könnten wir Schadenersatzforderungen auslösen, die in die Millionen gehen und unsere Firma ruinieren.«

»Prozesse wird es auf jeden Fall geben.«

»Das wissen wir auch. Aber wir wollen nicht alles noch schlimmer machen. Inzwischen können wir mit Ihnen hier beraten . . .«

»Ich will nicht darüber beraten. Ich will, daß etwas geschieht. Ich will die Verlautbarung noch heute im Fernsehen und im Radio hören und innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden in allen Zeitungen des Landes lesen. Ich werde abwarten. Und wenn nichts geschieht, kommen wir nicht ins Geschäft.«

Jetzt sagte Seth: »Einen Augenblick bitte.«

Celia konnte am anderen Ende der Leitung gedämpfte Stimmen hören. Offenbar gab es Meinungsverschiedenheiten. Dann hörte sie, wie Seth sagte: »Sie läßt sich nicht davon abbringen«, und einen Augenblick später: »Natürlich meint sie es ernst. Und vergessen Sie nicht, daß wir sie mehr brauchen als sie uns.«

Die Diskussion in New Jersey dauerte noch ein paar Minuten, das meiste konnte Celia nicht verstehen. Schließlich kam Seth wieder ans Telefon.

»Celia, wir akzeptieren Ihre Bedingungen. Was Sie verlangen, wird sofort in die Wege geleitet - innerhalb der nächsten Stunde. Ich garantiere es Ihnen persönlich. Und jetzt . . . wann können Sie hier sein?«

»Ich nehme den nächsten Flug«, erwiderte sie. »Erwarten Sie mich morgen im Büro.«

4

Es gelang ihnen, vier Plätze in einer Maschine der United Airlines zu buchen, die Honolulu nachmittags um zehn vor fünf verließ. Es war ein Nonstop-Flug nach Chicago, wo sie in ein Flugzeug umsteigen sollten, das am folgenden Tag um neun Uhr früh in New York landen würde. Celia nahm sich vor, unterwegs möglichst viel zu schlafen, um ausgeruht bei Felding-Roth zu erscheinen.

Lisa und Bruce, die vorgehabt hatten, noch zwei Tage in Hawaii zu bleiben, beschlossen, mit ihren Eltern nach Hause zurückzukehren.

Bei dem hastig eingenommenen Frühstück in Andrews und Celias Suite, das durch mehrere Telefongespräche unterbrochen wurde, erklärte Andrew den Kindern die Situation um Mon-tayne.

»Ich werde schon noch darüber reden«, hatte Celia gesagt, »aber jetzt nicht. Ich stehe noch unter einem Schock.« Immer noch fragte sie sich, ob es richtig gewesen war, das Angebot anzunehmen und in die Firma zurückzukehren. Aber dann dachte sie an ihre Bedingung, Montayne sofort aus dem Handel zu ziehen, wodurch wenigstens ein paar Kinder und Mütter vor diesem schrecklichen Schicksal bewahrt blieben.

Daß Felding-Roth das Versprechen gehalten hatte, erfuhr sie, kurz bevor sie das Kahala Hilton verließen, um zum Flughafen von Honolulu zu fahren. Im Radio wurde das Musikprogramm wegen einer Sondermeldung unterbrochen, in der es hieß, daß Montayne wegen möglicherweise schädlicher Nebenwirkungen, die noch einer Untersuchung bedurften, bis auf weiteres aus dem Handel gezogen werde. Die Ärzte wurden davor gewarnt, das Medikament weiterhin zu verschreiben, und schwangeren Frauen riet man, das Mittel nicht mehr einzunehmen.

In den darauffolgenden Nachrichtensendungen war Montayne eines der Hauptthemen, und auf dem Flughafen gab es schon eine Nachmittagsausgabe des Honolulu Star-Bulletin, der eine Meldung der Associated Press auf der Titelseite brachte. Ein ganzes Sperrfeuer von Veröffentlichungen hatte eingesetzt und würde nicht so bald versiegen.

Das Flugzeug war ausgebucht, aber sie hatten vier einander gegenüberliegende Plätze im hinteren Teil der Maschine, so daß sie sich ungestört unterhalten konnten. Nach einer Weile sagte Ce-lia: »Vielen Dank für eure Geduld. Nun könnt ihr Fragen stellen, wenn ihr wollt.«

Bruce begann als erster:

»Wie konnte so was nur passieren, Mom - daß ein Medikament erst für okay befunden wird und dann trotzdem diese schlimmen Nebenwirkungen auftreten?«

Celia überlegte sich ihre Worte, bevor sie sprach:

»Woran du zuerst denken mußt«, sagte sie, »ist, daß ein Medikament, jedes Medikament, etwas Fremdes im menschlichen Körper ist. Es wird - gewöhnlich vom Arzt verschrieben - mit der Absicht eingesetzt, irgend etwas, das im Körper falsch läuft, zu korrigieren. Aber es kann nicht nur nützlich sein, es kann auch Schaden anrichten. Die schädlichen Einflüsse nennt man Nebenwirkungen, obwohl es natürlich auch ganz harmlose Nebenwirkungen geben kann.«

Und Andrew fügte hinzu: »Dazu kommt etwas, das man >Scha-den-Nutzen-Analyse< nennen kann. Der Arzt muß beurteilen, ob man den Schaden in Kauf nehmen kann, um die Resultate zu erzielen, die er und der Patient wünschen. Manche Medikamente bringen mehr Risiken mit sich als andere. Aber selbst beim simplen Aspirin besteht ein Risiko - manchmal ein durchaus ernsthaftes, denn Aspirin kann innere Blutungen auslösen.«

»Aber bestimmt testen die Pharma-Firmen doch die Medikamente, bevor sie sie verkaufen«, sagte Lisa, »und die FDA ist dazu da, die Risiken festzustellen.«

»Ja, das ist richtig«, bestätigte Celia. »Aber häufig verstehen die Leute einfach nicht, daß den Tests Grenzen gesetzt sind, selbst heutzutage. Wenn ein neues Medikament erprobt wird, wendet man es zuerst bei Tieren an. Und wenn die Versuche erfolgreich verlaufen sind, wird es an Menschen ausprobiert, die sich freiwillig zur Verfügung stellen. Das ganze dauert mehrere Jahre. Aber auch wenn die Versuche an Menschen abgeschlossen sind und das Medikament unbedenklich zu sein scheint, kommt es zunächst nur bei ein paar hundert, vielleicht ein paar tausend Menschen zur Anwendung.«

»Und es kann sein, daß bei keiner einzigen Testperson irgendwelche schädlichen Nebenwirkungen auftreten - oder nur geringfügige, unbedeutende«, ergänzte Andrew.

Celia nickte zustimmend, dann fuhr sie fort: »Aber wenn das Medikament erst einmal auf dem Markt ist und von Zehntausensend, vielleicht sogar Millionen Menschen genommen wird, kann es vorkommen, daß sich bei einigen wenigen, einem winzigen Prozentsatz der Bevölkerung, schädliche Nebenwirkungen einstellen - Reaktionen, die während der Testversuche nicht vorausgesehen werden konnten. Wenn der Prozentsatz jedoch hoch ist und die neu aufgetretenen Reaktionen sich als ernst oder gar lebensgefährlich erweisen, muß das Medikament selbstverständlich aus dem Handel gezogen werden. Das Dilemma ist nur, daß es keine Möglichkeit gibt, sich über ein Medikament ganz sicher zu sein, bevor man es nicht auf breiter Basis angewendet hat.«

»Derartige Reaktionen«, sagte Bruce, »müssen doch bekanntgegeben werden, oder?«

»Aber ja. Und wenn eine pharmazeutische Firma von irgendwelchen schädlichen Nebenwirkungen erfährt, ist sie bei uns gesetzlich verpflichtet, die FDA sofort davon zu unterrichten. Normalerweise geschieht das auch.«

Lisa runzelte die Stirn. »Nur >normalerweise

»Manchmal ist es schwierig zu entscheiden, was bei einem Medikament eine echte Reaktion ist und was irgendeine andere Ursache hat«, erklärte Celia. »Häufig hängt das von der wissenschaftlichen Beurteilung ab, die widersprüchlich ausfallen kann. Und noch etwas darf man nicht vergessen; daß eine übereilte Entscheidung vielleicht ein gutes oder gar lebenswichtiges Medikament verhindern kann.«

»Aber im Falle von Montayne«, wandte Andrew ein, »ist alles ganz anders verlaufen. Eure Mutter hatte mit ihrem Urteil über die aufgetretenen Reaktionen recht, und alle anderen hatten unrecht.«

Celia schüttelte den Kopf. »Das ist auch nicht ganz richtig. Ich bin nur meinem Instinkt gefolgt, ohne wissenschaftliche Begründung, und der Instinkt hätte sich genausogut als falsch erweisen können.«

»Er hat sich aber nicht als falsch erwiesen«, sagte Andrew. »Das ist das Entscheidende. Mehr noch - du hast an dem, woran du geglaubt hast, festgehalten, und dann hast du den Mut gehabt, deine Stellung zu kündigen. So was tun nur ganz wenige. Und deshalb ist deine Familie sehr stolz auf dich.«

Bruce sagte: »Was man nur schwer glauben kann, Mom, ist, daß die Presse und das Fernsehen nicht wußten, was mit Mori-tayne los war - jedenfalls haben sie nicht alles gewußt, bis heute.«

»So was kann vorkommen«, erklärte Andrew, »und es ist auch schon mal vorgekommen, fast auf die gleiche Weise, bei Thalido-jnid nämlich. Ich habe eine Menge darüber gelesen. 1961 und 1962 ignorierte die amerikanische Presse einfach, was sich in Europa bereits als eine Thalidomid-Katastrophe herausgestellt hatte. Selbst als eine amerikanische Ärztin, Dr. Heien Taussig, bei einer Anhörung vor dem Kongreß Dias von behinderten Kindern vorführte, die den Kongreßleuten Schauer über den Rücken jagten, schwieg sich die amerikanische Presse darüber aus.«

»Das ist ja unglaublich«, sagte Lisa.

Ihr Vater zuckte die Achseln. »Manche Reporter sind eben faul. Diejenigen, die bei den Anhörungen hätten dabeisein sollen, waren nicht anwesend und haben später nicht mal das Protokoll gelesen. Aber einer war absolut nicht faul - Morton Mintz, ein Reporter der Washington Post. Er hat die einzelnen Stücke des Puzzles zusammengesetzt und daraus die Thalidomid-Story gemacht und war damit allen anderen um eine Nasenlänge voraus. Natürlich war seine Story eine Sensation, genau wie jetzt bei Montayne.«

»Ihr müßt wissen«, sagte Celia zu den Kindern, »daß euer Vater von Anfang an gegen Montayne war.«

»Weil du geahnt hast, daß Montayne all diese schrecklichen Dinge anrichten würde?« fragte Lisa.

»Absolut nicht«, erwiderte Andrew. »Als Arzt vertrete ich allerdings die Meinung, daß man kein Medikament einnehmen soll, nur um ein Gefühl des Unwohlseins zu beseitigen, bei dem es sich ganz offensichtlich um einen zeitlich begrenzten Zustand handelt.«

»Was soll das heißen, >zeitlich begrenzter Zustand

»Übelkeit während der Schwangerschaft, zum Beispiel, ist ein >zeitlich begrenzter Zustand<. Das ist normal und auf die ersten Monate der Schwangerschaft beschränkt. Nach einiger Zeit vergeht es von allein und ohne Schäden zurückzulassen. In dieser Zeit irgendwelche Medikamente einzunehmen - außer wenn eine medizinische Notwendigkeit vorliegt - ist unsinnig und im-ttier mit einem Risiko verbunden. Als ihr unterwegs wart, hat eure Mutter nichts eingenommen. Darauf habe ich geachtet.«

Andrew sah seine Tochter an. »Und wenn es mal bei dir soweit ist, wirst du auch nichts nehmen, kleines Fräulein. Und wenn du ein kräftiges, gesundes Baby haben willst: keinen Alkohol und keine Zigaretten, hörst du?«

»Ich verspreche es«, sagte Lisa.

Celia hatte plötzlich eine Ahnung, wie sich aus der Montayne-Erfahrung vielleicht eines Tages sogar etwa Positives ergeben könnte.

»Wir Ärzte haben in vielem, was die Medikamente betrifft, auch schuld. Zum einen verschreiben wir sie zu häufig - oft auch unnötigerweise - und zum Teil deshalb, weil wir wissen, daß es Patienten gibt, die sich betrogen fühlen, wenn sie die Arztpraxis ohne ein Rezept verlassen. Zum ändern läßt sich mit dem Ausfüllen eines Rezepts das Gespräch mit einem Patienten ganz leicht beenden, damit der nächste hereinkommen kann.«

»Das sind ja tolle Geständnisse heute«, sagte Bruce. »Was machen Ärzte denn sonst noch alles falsch?«

»Viele von uns kennen sich mit Medikamenten nicht besonders gut aus - jedenfalls nicht so gut, wie wir eigentlich sollten, vor allem wissen wir sehr wenig über Neben- und Wechselwirkungen von Medikamenten untereinander. Natürlich ist es unmöglich, alle Informationen im Kopf zu behalten, aber gewöhnlich kümmern sich die Ärzte gar nicht erst darum oder sind zu stolz, in Gegenwart des Patienten in einem Buch nachzuschlagen.«

»Zeige mir einen Arzt, der sich nicht scheut, etwas in Gegenwart eines Patienten nachzuschlagen«, sagte Celia, »und ich zeige dir einen guten, verantwortungsbewußten Arzt. Euer Vater ist so einer. Ich habe es selbst erlebt.«

Andrew lächelte. »Natürlich bin ich, was Medikamente betrifft, im Vorteil - dank eurer Mutter.«

»Werden von den Ärzten viel schlimme Fehler mit Medikamenten gemacht?« fragte Lisa.

»Das kommt häufig vor«, sagte Andrew. »Es gibt aber auch Fälle, in denen ein wachsamer Apotheker einen Arzt vor einem Fehler bewahrt, indem er ein Rezept in Frage stellt. Gewöhnlich wissen Pharmazeuten besser über Medikamente Bescheid als Ärzte.«

»Gibt es viele Ärzte, die das auch zugeben?« fragte Bruce.

»Leider nein«, antwortete Andrew. »Sehr oft werden die Apotheker nicht als medizinische Kollegen angesehen, die sie doch in Wirklichkeit sind.« Er lächelte. »Natürlich machen auch Apotheker Fehler. Und manchmal bringen die Patienten selbst etwas durcheinander, indem sie die verschriebene Dosis verdoppeln oder gar verdreifachen - wie sie später im Ambulanzwagen zugeben -, nur weil sie sich eine schnellere Wirkung erhoffen.«

»Und all das«, sagte Celia entschieden, »ist mehr, als ein müder Pharma-Mensch wie ich an einem Tag verdauen kann. Ich glaube, ich werde jetzt versuchen, ein bißchen zu schlafen.«

Sie schlief die meiste Zeit während des restlichen Fluges.

Zu Celias Erstaunen wartete am Kennedy Airport ein Firmenwagen mit Chauffeur auf sie, um sie nach Morristown zu bringen. Der Chauffeur, den sie flüchtig kannte, überreichte ihr ei-nen versiegelten Umschlag, der einen Brief von Seth Feingold enthielt.

Liebe Celia, willkommen zu Hause - in jeder Hinsicht!

Wagen und Chauffeur mit den besten Empfehlungen vom Aufsichtsrat für Ihren ausschließlichen und ständigen Gebrauch als geschäftsführende Vizepräsidentin.

Kollegen und Untergebene - der Unterzeichnete eingeschlossen - freuen sich darauf, Sie wiederzusehen, wenn Sie sich von Ihrer Reise ausgeruht haben.

Ihr sehr ergebener Seth Im Haus der Jordans in Morristown gab es ein freudiges Wiedersehen mit Winnie und Hank April - Winnie war gewaltig in die Breite gegangen, ihre Entbindung stand in wenigen Wochen bevor. Während alle sie umarmten, warnte Winnie: »Drückt mich nicht so fest, ihr Lieben, sonst kommt der kleine Kerl noch in diesem Augenblick zur Welt.«

Andrew lachte. »Ich habe kein Baby mehr auf die Welt gebracht, seit ich Stationsarzt im Krankenhaus war - das ist lange her-, aber ich werde mir natürlich Mühe geben.«

Hank, der nie soviel sprach wie seine Frau, strahlte vor Glück und beschäftigte sich damit, das Gepäck auszuladen.

Ein wenig später tauschten Winnie, Celia und Andrew in der Küche Neuigkeiten aus, als Celia plötzlich ein schrecklicher Gedanke kam.

Sie hatte fast Angst zu fragen, aber dann tat sie es doch: »Winnie, hast du in deiner Schwangerschaft irgend etwas eingenommen ?« »Sie meinen gegen die Übelkeit am Morgen?« »Ja«, erwiderte Celia mit wachsender Angst. »So was wie dieses Montayne?« Winnie deutete auf ein Exemplar des Newark Star-Ledger vom selben Morgen, der auf dem Küchentisch lag und auf dessen Titelseite ein Artikel über Mon-tayne prangte.

Celia nickte bedrückt.

»Mein Arzt hat mir ein paar Proben gegeben und gesagt, ich soll es nehmen«, berichtete Winnie. »Das hätte ich auch fast getan. Mir war morgens immer so schlecht. Aber . . .« Sie warf Andrew einen Blick zu. »Kann ich es sagen, Dr. Jordan?«

»Ja«, versicherte er.

»Aber bevor Sie weggefahren sind, hat Dr. Jordan mir gesagt -er hat gesagt, das müsse ein Geheimnis zwischen uns bleiben -, wenn mir also jemand Montayne gäbe, dürfte ich es auf keinen Fall einnehmen, sondern sollte es im Klo runterspülen. Und das habe ich getan.«

Winnie sah mit Tränen in den Augen erst die Zeitung und dann Andrew an. »Dieses Baby hat mir ganz schön zu schaffen gemacht. Deshalb . . . Gott segne Sie, Dr. Jordan!«

Erleichtert nahm Celia Winnie in die Arme.

5

Sam Hawthorne sah aus wie ein wandelnder Leichnam.

Sein Anblick schockierte Celia in den ersten Tagen nach ihrer Rückkehr zu Felding-Roth so sehr, daß sie es nicht fertigbrachte, ihn anzusprechen. Deshalb war es Sam, der als erster das Wort ergriff.

»Na, ist das nicht ein erhebendes Gefühl, in Ruhm und Ehren zurückzukehren, recht behalten zu haben und unbescholten dazustehen?«

Die unfreundlichen Worte, mit krächzender Stimme hervorgebracht, versetzten ihr einen weiteren Schock. Es war sieben Monate her, seit Celia Sam zum letzten Mal gesehen hatte. In dieser Zeit schien er um mindestens zehn Jahre gealtert zu sein. Sein Gesicht war hager und blaß, seine Augen blickten trüb und lagen in tiefen Höhlen, und seine Schultern waren gebeugt. Er hatte erschreckend an Gewicht verloren.

»Nein, Sam«, sagte Celia, »ich fühle mich gar nicht besonders gut. Ich bin nur traurig, und es tut mir schrecklich leid - wegen Ihres Enkels. Und was meine Rückkehr betrifft, so bin ich nur hier, um zu helfen.«

»Ach, ja, dachte ich mir's doch, daß Sie . . .«

»Sam«, unterbrach sie ihn, »können wir nicht irgendwo hingehen, wo wir ein bißchen ungestörter sind?«

Celia war gerade von einer Besprechung mit Seth Feingold und mehreren Direktoren gekommen, und sie standen auf dem Gang. Das Büro des Präsidenten war nicht weit entfernt. Schweigend gingen sie hinein.

Drinnen drehte Sam sich zu ihr um. Seine Stimme hatte noch immer den rauhen, mürrischen Klang. »Ich dachte mir, daß es Ihnen leid tun würde. Aber warum sagen Sie nicht, was Sie wirklich denken?«

»Vielleicht ist es besser, wenn Sie mir sagen, was ich denke«, entgegnete sie ruhig.

»Verdammt! Ich weiß selbst, daß es von mir verantwortungslos war, kriminell, Juliet das Montayne zu geben, als es noch nicht einmal zugelassen war. Daß ich es bin, ich allein, der schuld daran ist, daß Juliets und Dwights Baby, mein Enkelsohn, so ist -die sinnlose Hülle eines Menschen, nichts als ein . . .« Sam erstickte an den letzten Worten und wandte sich ab.

Celia stand, von Kummer und Mitgefühl überwältigt, schweigend da und überlegte, was sie sagen sollte. Schließlich begann sie:

»Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, Sam - und das scheint im Augenblick das beste zu sein -, ja, das habe ich gedacht. Und ich glaube, das denke ich noch immer.«

Sam sah sie an, hing an jedem Wort von ihr, während sie fortfuhr:

»Aber es gibt auch noch anderes, an das Sie sich erinnern sollten. Daß man hinterher immer klüger ist als vorher. Daß wir alle Fehler gemacht haben, als es um die Beurteilung . . .«

»Sie nicht. Nicht diesen. Nicht all die Fehler, die ich gemacht habe.« Noch immer klang Bitterkeit aus seinen Worten.

»Ich habe andere gemacht«, sagte Celia. »Jeder, der Verantwortung trägt, begeht Fehler. Und wie schwerwiegend die Folgen sind, ist oft reine Glückssache.«

»Dieser Fehler war der schlimmste, den man sich vorstellen kann.« Sam ließ sich hinter seinem Schreibtisch in den Sessel fallen. »Und all die anderen Kinder, auch die noch ungeborenen. Ich bin dafür verantwortlich . . .«

»Nein«, sagte sie mit Bestimmtheit. »Das ist nicht wahr. Genauso wie alle anderen haben Sie sich auf Gironde-Chimie und die wissenschaftlichen Gutachten verlassen. Sie stehen nicht allein da. Die anderen, die auch die Verantwortung getragen haben, dachten genauso wie Sie.«

»Außer Ihnen. Wieso sind Sie nicht darauf reingefallen?«

»Zuerst war ich ja auch dafür«, wandte sie ein.

Sam stützte den Kopf in die Hände. »O Gott! Was habe ich nur angerichtet!« Er sah Celia an. »Celia, ich bin ungerecht und gemein zu Ihnen, nicht wahr?«

»Das macht nichts.«

Er sprach jetzt leiser, nicht mehr so gereizt. »Es tut mir leid, ganz ehrlich. Ich glaube, ich bin nur neidisch auf Sie. Und ich wünschte, ich hätte auf Sie gehört, Ihren Rat befolgt.«

Dann sprach er nur noch in abgehackten Sätzen. »Kann nicht schlafen. Liege Stunde für Stunde wach, grüble, erinnere mich, fühle meine schwere Schuld. Mein Schwiegersohn spricht nicht mit mir. Meine Tochter will mich nicht sehen. Lilian will uns allen helfen, weiß aber nicht, wie.«

Sam zögerte, fuhr dann fort: »Und da ist noch etwas, von dem Sie nichts wissen.«

»Was weiß ich nicht?«

Er wandte den Kopf ab. »Das werde ich Ihnen nie sagen.«

»Sam«, drängte Celia, »Sie müssen sich zusammennehmen. Es hilft nichts und niemandem, wenn Sie sich quälen.«

Als hätte er sie gar nicht gehört, sagte er: »Ich bin fertig. Das wissen Sie.«

»Nein. Das weiß ich nicht.«

»Ich wollte zurücktreten. Aber die Rechtsanwälte sagen, daß ich das nicht tun darf, noch nicht. Ich muß an meinem Platz bleiben.« Und voller Bitterkeit fuhr er fort: »Man muß das Gesicht wahren. Um die Firma zu schützen. Um diesen Schakalen von Rechtsanwälten mit ihren verdammten Prozessen nicht noch mehr in die Hand zu geben. Deshalb bleibe ich noch eine Weile hier auf diesem Stuhl - wegen der Aktionäre.«

»Ich bin froh, daß es so ist«, sagte Celia. »Sie werden zur Leitung der Firma gebraucht.«

Er schüttelte den Kopf. »Dafür sind Sie doch da. Hat man Ihnen das nicht gesagt? So hat es der Aufsichtsrat beschlossen.«

»Seth hat mich erst teilweise informiert. Aber ich brauche Sie.«

Er sah sie an, in seinen Augen lag wortloser Schmerz.

Celia traf plötzlich eine Entscheidung. Sie ging zur Tür und schob von innen einen Riegel vor. Auf gleiche Weise verschloß sie auch die Tür zum Sekretariat. Dann hob sie den Telefonhörer ab. »Hier ist Mrs. Jordan. Ich bin bei Mr. Hawthorne. Wir möchten nicht gestört werden.«

Sam saß noch immer, ohne sich zu rühren, an seinem Schreibtisch.

»Haben Sie schon mal geweint, seit es passiert ist?« fragte sie ihn.

Er schien überrascht, dann schüttelte er den Kopf. »Wozu?«

»Manchmal hilft es.«

Sie beugte sich zu ihm und nahm ihn in den Arm. »Sam«, flüstere sie, »lassen Sie sich gehen.«

Einen Augenblick entzog er sich ihr, starrte ihr ins Gesicht, unsicher, zitternd, dann, ganz plötzlich, als sei ein Damm gebrochen, legte er wie ein Kind den Kopf an ihre Schulter und weinte.

Seit Celias erstem Treffen mit Sam wurde immer deutlicher, daß er ein gebrochener Mann war und zur Leitung der Firma wenig oder gar nichts beitragen konnte. Celia war darüber tief betroffen, mußte sich aber mit dieser Situation abfinden.

Sam kam jeden Tag mit seinem silbergrauen Rolls-Bentley in die Firma, den er in der obersten Etage des Parkhauses, dem sogenannten »Laufsteg«, abstellte. Gelegentlich trafen er und Celia gleichzeitig dort ein, Celia in ihrem Firmenwagen mit Chauf-feur, über den sie sehr froh war, denn er ermöglichte es ihr, unterwegs zu arbeiten. Dann ging sie gemeinsam mit Sam zum Hauptgebäude, und zuweilen ergab sich dabei ein kurzes Gespräch.

Niemand fragte, was Sam in seinem Büro eigentlich tat, aber abgesehen von ein paar unwesentlichen Mitteilungen kam von ihm nichts. Bei Konferenzen, die immer rechtzeitig angekündigt wurden, fehlte Sam stets.

Schon vom zweiten Tag ihrer Rückkehr an gab es nicht den geringsten Zweifel, daß Celia die Firma leitete.

Wichtige Entscheidungen, die die Firmenpolitik betrafen, wurden ihr überlassen. Andere Probleme, die in der Luft hingen, wurden ihr zur Lösung vorgelegt. Sie kümmerte sich um alles -so prompt, so vernünftig und so zielbewußt, wie es für sie typisch war.

Die Besprechungen mit den Rechtsanwälten nahmen den größten Teil ihrer Zeit in Anspruch.

Als Folge der Publicity, die Montayne zuteil wurde, als die Firma es aus dem Handel zog, hatte es die ersten gerichtlichen Klagen gegeben. Manche schienen berechtigt. Inzwischen waren in den USA einige Fälle aufgetaucht, die denen in den anderen Ländern ähnelten.

Ganz bestimmt würden weitere folgen. Aufgrund einer vertraulichen, firmeninternen Schätzung mußte man in den USA mit über vierhundert behinderten Kindern rechnen, deren Mißbildungen auf Montayne zurückzuführen waren. Zu dieser Zahl war man aufgrund von Statistiken aus Frankreich, Australien, Spanien, Großbritannien und anderen Ländern gelangt. Die Berechnungen stützten sich auf die Zeitspanne, während der Mon-tayne in diesen Ländern im Handel gewesen war, sowie auf die verkaufte Menge und die entsprechenden Zahlen für die Vereinigten Staaten.

Andere Gerichtsverfahren waren von werdenden Müttern angestrengt worden, die Montayne eingenommen hatten. Sie verlangten eine Entschädigung für die Angst, die sie vor der Geburt ihres Kindes ausstehen mußten, und verklagten Felding-Roth vor allem wegen Fahrlässigkeit. Eine Minderheit handelte in betrügerischer Absicht, wie man annahm, aber auch mit ihr mußte man sich befassen.

Was die Kosten insgesamt betraf, so hatte Celia erfahren, daß Felding-Roth eine Produkt-Haftpflicht-Versicherung abgeschlossen hatte, die sich auf hundertfünfunddreißig Millionen Dollar belief. Außerdem verfügte die Firma über eine stille Reserve, die für den gleichen Zweck zurückgestellt worden war und zwanzig Millionen Dollar ausmachte.

»Diese hundertfünfundfünfzig Millionen hören sich großartig an, und vielleicht decken sie auch alle Ansprüche, die auf uns zukommen«, sagte Childers Quentin, ein Rechtsanwalt, zu Celia. »Aber ich würde mich nicht darauf verlassen. Wahrscheinlich müssen Sie noch mehr lockermachen.«

Quentin, ein weißhaariger Mann von über siebzig mit sehr höflichen Manieren, war der Chef einer Anwaltskanzlei in Washington, die auf Probleme der Pharma-Industrie spezialisiert war, vor allem auf Schadenersatzverfahren.

Quentin wurde, wie Celia erfuhr, von seinen Kollegen »Mister O. C. Fixit« genannt; die Abkürzung kam von »out of court« -weil er dafür bekannt war, Streitigkeiten außergerichtlich beizulegen. »Er hat die Nerven eines Pokerspielers«, bemerkte ein Rechtsanwalt der Firma, »denn er scheint genau zu wissen, wie weit er gehen kann, um Schadenersatzansprüche zu befriedigen, ohne vor Gericht gehen zu müssen.«

Celia beschloß gleich von Anfang an, Childers Quentin volles Vertrauen zu schenken.

»Was Sie und ich versuchen müssen, meine Liebe«, informierte er sie, als spräche er mit seiner Lieblingsnichte, »ist, möglichst schnell Vergleiche herbeizuführen, die vernünftig und großzügig sind. Das ist außerordentlich wichtig, um eine derart katastrophale Situation in den Griff zu bekommen. Und was die Großzügigkeit betrifft - so müssen Sie sich folgendes immer vor Augen halten: Das Schlimmste, was uns passieren kann, ist, daß ein Montayne-Fall vor Gericht kommt und mit der Anerkennung einer Multimillionen-Dollar-Entschädigung endet. Damit wäre für alle anderen ein Präzedenzfall geschaffen und die Firma ruiniert.«

»Besteht denn eine Chance, alles außergerichtlich zu regeln?« fragte Celia.

»Eine bessere, als Sie vielleicht denken.« Er erklärte es ihr:

»Wenn einem Kind schwerer, nicht wiedergutzumachender Schaden zugefügt wird - wie das bei Montayne der Fall ist -, dann reagieren die Eltern zunächst mit Verzweiflung, danach mit Zorn. In ihrem Zorn wollen sie diejenigen bestrafen, die ihnen diesen Kummer zugefügt haben; daher gehen sie zu einem Rechtsanwalt. Vor allem aber wollen die Eltern - wie sich gezeigt hat - unbedingt ihren Auftritt vor Gericht.

Aber wir Rechtsanwälte sind pragmatisch. Wir wissen, daß Fälle, die vor Gericht kommen, verloren werden können, und nicht immer aus Gründen der Gerechtigkeit. Wir wissen außerdem, daß überlastete Gerichte, Verzögerungstaktiken der Verteidigung und ähnliches dazu führen können, daß Jahre vergehen, bis es zur Verhandlung kommt. Und dann können, selbst wenn der Prozeß gewonnen wird, jahrelange Berufungen die Dinge weiter in die Länge ziehen.

Außerdem wissen die Rechtsanwälte, daß, wenn der erste Zorn verraucht ist, ihre Klienten müde und desillusioniert werden. Die Vorbereitungen auf den Prozeß bestimmen ihr Leben, beschäftigen sie pausenlos, erinnern sie ständig an ihren Kummer. Und deshalb wünschen sich die Leute eine schnelle Einigung, damit sie ihr normales Leben wiederaufnehmen können.«

»Ja«, sagte Celia, »das kann ich gut verstehen.«

»Aber es kommt noch etwas hinzu. Die Rechtsanwälte für Schadenersatzansprüche, mit denen wir es zu tun haben werden, haben häufig vor allem auch ihre eigenen Interessen im Auge. Viele nehmen einen Fall nur auf der Basis einer Erfolgsprovision von einem Drittel - oder mehr - der erzielten Summe an. Und Rechtsanwälte haben eine Menge Rechnungen zu bezahlen . . .« Quentin zuckte die Achseln. »Das sind Menschen wie du und ich. Die möchten ihr Geld auch gern bald haben, nicht erst in unsicherer ferner Zukunft. Das ist ein Faktor, der sich auf gütliche Einigungen positiv auswirkt.«

»Das leuchtet mir ein.« Celia dachte über das eben Gehörte nach und sagte dann: »Seit ich wieder in der Firma bin, habe ich an manchen Tagen das Gefühl, kalt und berechnend zu sein, weil ich immer nur über die Kosten nachdenke.«

»Ich kenne Sie bereits gut genug, um zu wissen, daß das niemals der Fall sein wird«, sagte Quentin. »Außerdem, meine Liebe, kann ich Ihnen versichern, daß ich dieser schrecklichen Tragödie auch nicht ungerührt gegenüberstehe. Sicher, ich muß meine Arbeit tun, und ich werde sie tun. Aber ich bin selbst Vater und Großvater, und mir blutet das Herz, wenn ich an diese Kinder, an diese zerstörten Leben denke.«

Durch dieses und andere Gespräche wurde erreicht, daß weitere fünfzig Millionen Dollar für eventuelle gütliche Einigungen bereitgestellt wurden.

Drohend zeichneten sich auch die geschätzten Kosten von acht Millionen Dollar für die Zurücknahme und Vernichtung aller Vorräte von Montayne ab.

Als Celia Seth Feingold diese Summen nannte, nickte er ernst, war aber nicht so erschrocken, wie sie erwartet hatte.

»Seit Beginn des Jahres haben wir zwei überraschende Einnahmequellen«, erklärte der Chef des Rechnungswesens. »Das eine sind die außerordentlich guten Gewinne aus unseren rezeptfreien Produkten, bei denen der Umsatz viel höher liegt als erwartet. Außerdem haben wir einen üppigen, unerwarteten, aber >einmaligen< Gewinn aus den Auslandsverkäufen erzielt. Normalerweise würden davon natürlich unsere Aktionäre profitieren. Aber wie es jetzt aussieht, werden die Gewinne in dem Reserve-Fonds landen.«

»Wir können dankbar sein«, sagte Celia. Sie mußte daran denken, daß es nicht das erste Mal war, daß die rezeptfreien Produkte, die sie einmal geringgeschätzt hatte, Felding-Roth in schweren Zeiten über Wasser gehalten hatten.

»Etwas anderes, das für uns zu arbeiten scheint«, fuhr Seth fort, »sind die vielversprechenden Nachrichten aus Großbritannien. Sie haben sicherlich davon gehört.«

»Ja. Ich habe die Berichte gelesen.«

»Daraufhin werden uns die Banken bei Bedarf Kredit gewähren.«

Celia war überglücklich gewesen, als sie von den Fortschritten im Harlower Institut erfahren hatte. Peptid 7, ein aufregendes neues Medikament, würde höchstwahrscheinlich bald vorgestellt werden - »bald« bedeutete allerdings im Jargon der Arzneimittelentwicklung soviel wie weitere zwei Jahre, bevor bei den zuständigen Behörden der Zulassungsantrag gestellt werden konnte. Um Sam wieder in die Firmenpolitik einzubeziehen, war Celia zu ihm gegangen, um mit ihm die letzten Neuigkeiten aus Großbritannien zu besprechen.

Da das Institut in England Sams Idee gewesen war und er darum gekämpft hatte, es weiter zu unterstützen, nahm sie an, daß er sich freuen würde, sein Vertrauen bestätigt zu sehen; sie hoffte, daß es ihm helfen würde, seine Depression zu überwinden. Das war nicht der Fall. Sam reagierte gleichgültig. Er lehnte auch den Vorschlag ab, nach England zu fliegen, um mit Martin Peat-Smith zu reden und zu beurteilen, welche Bedeutung das, was dort vor sich ging, hatte.

»Ich bin überzeugt, daß Sie das auch ohne mich herausfinden können«, erklärte er Celia.

Aber selbst Sams Einstellung änderte nichts an der Tatsache, daß Harlow für die Zukunft von Felding-Roth von größter Bedeutung war.

Und noch etwas kam hinzu.

Vincent Lords langjährige Untersuchungen über das, was chemisch »die Ausschaltung der freien Radikale« genannt wurde, die Beseitigung schädlicher Nebenwirkungen von sonst nützlichen Medikamenten, hatten endlich positive Ergebnisse erbracht. Diese Ergebnisse sahen so günstig aus und wiesen auf einen so großen wissenschaftlichen Durchbruch hin - was sich Vincent Lord schon immer erträumt hatte -, daß in den amerikanischen Labors von Felding-Roth die Weiterentwicklung auf Hochtouren lief.

Zwar würde das britische Peptid 7 auf jeden Fall zuerst verfüg-bar sein, aber Vincent Lords Erfindung, die provisorisch »Hexin W« hieß, würde wahrscheinlich nur ein oder zwei Jahre später kommen. Das hatte zur Folge, daß Lords Zukunft bei Felding-Roth gesichert war. Celia hatte schon überlegt, ob sie Lord nicht durch jemand anders ersetzen sollte, weil er sich für Montayne so stark gemacht hatte und auch aus anderen Gründen. Aber jetzt schien er zu wertvoll, als daß man ihn gehen lassen konnte.

Somit sah die Zukunft der Firma erstaunlicherweise und trotz der Wolke, die wegen Montayne über ihr hing, plötzlich wieder freundlicher aus.

6

In Harlow waren Yvonne Evans und Martin Peat-Smith immer häufiger zusammen.

Obgleich Yvonne ihre kleine Wohnung behalten hatte, war sie selten dort. An den Wochenenden und in den meisten Nächten während der Woche war sie bei Martin und kümmerte sich um seinen Haushalt, widmete sich aber auch hingebungsvoll der Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse - und natürlich auch ihrer eigenen.

Yvonne hatte die Küche völlig verwandelt. Hier bereitete sie abwechslungsreiche, leckere Mahlzeiten und erwies sich als talentierte Köchin. Sie hinterließ Zettel mit Anweisungen für die Zugehfrau, so daß das ganze Haus bald einen sauberen und gepflegten Eindruck machte.

Martins Menagerie wurde um eine Siamkatze erweitert. Und eines Sonnabends, als Martin im Institut arbeitete, brachte Yvonne an der Hintertür im Erdgeschoß eine »Katzenschwing-tür« an, so daß die Katzen kommen und gehen konnten, wann sie wollten.

Wenn Yvonne über Nacht blieb, führte sie morgens die Hunde aus, so daß sie jetzt zweimal täglich Bewegung hatten, da Martin abends mit ihnen spazierenging.

Martin fand das alles wunderbar.

Und noch etwas gefiel ihm - Yvonnes fröhliches, meist be-langloses unaufhörliches Geplapper. Sie redete über alle möglichen Dinge: über Filme, die gerade im Kino liefen; über das Privatleben von Stars, Popmusikern und deren private Eskapaden; über das Fernsehen und den Klatsch im Institut und über sexuelle Ausschweifungen von Geistlichen, von denen die aufmerksame britische Presse berichtete; auch über politische Skandale . . . Yvonne merkte sich alles, was sie sah und hörte, und saugte es auf wie ein Schwamm.

Ein besonderes Interesse - es war fast eine Passion - galt dem Prince of Wales und seinen zahlreichen Romanzen.

»Wenn er noch ein bißchen Geduld hat, findet er bestimmt eine, die besser zu ihm paßt«, erklärte sie in bezug auf eine Kandidatin.

»Er wird sich selbst auch schon Sorgen machen. Warum schreibst du ihm nicht mal und beruhigst ihn?« spottete Martin.

Aber Yvonne hörte gar nicht zu. »Was er braucht, ist eine englische Rose«, sagte sie fast poetisch.

Auch wenn sie Klatschgeschichten über alles liebte, war sie doch keineswegs einfältig. Sie interessierte sich auch für viele ernsthafte Dinge, vor allem für die Theorie, auf die sich die Forschungen im Institut stützten, die Martin ihr geduldig erklärte und die sie auch zu verstehen schien. Und sie war wißbegierig, als sie von seiner Verehrung für John Locke erfuhr. Martin traf sie mehrmals mit einem aufgeschlagenen Exemplar von Lockes Essay an, in dem sie mit gerunzelter Stirn las.

»Das ist nicht leicht zu verstehen«, gab Yvonne zu.

»Nein«, sagte er. »Man muß sich eingehend damit beschäftigen.«

Martin war überzeugt, daß über ihr Verhältnis geklatscht wurde - Harlow war klein. Aber innerhalb des Forschungsinstituts trafen sie sich nie, es sei denn, daß die Arbeit es erforderte. Außerdem war Martin der Ansicht, daß sein Privatleben niemanden etwas anginge.

Er hatte noch nicht ernsthaft darüber nachgedacht, wie lange diese Beziehung andauern sollte, aber aus ihren beiläufigen Bemerkungen war zu entnehmen, daß keiner es für nötig erachtete, darüber zu reden, oder es als etwas anderes ansah als eine vorübergehende Verbindung.

Beide aber waren über die Fortschritte im Institut überglücklich.

Martin schrieb in einem seiner seltenen Berichte nach New Jersey: »Die Struktur von Peptid 7 ist jetzt bekannt. Wir haben das Gen hergestellt und in Bakterien eingeführt; größere Mengen sind in Vorbereitung.« Dieser Vorgang ähnelte »der Zubereitung von menschlichem Insulin«, wie er es ausdrückte. Gleichzeitig wurden Tests an Tieren durchgeführt, um die Sicherheit und Wirksamkeit von Peptid 7 zu prüfen. Sie hatten schon umfassende Daten gesammelt und würden in ein paar Monaten soweit sein, die Erlaubnis für Versuche an Menschen einzuholen.

Vielleicht war es gar nicht zu vermeiden, daß die Presse von den Forschungen im Institut Wind bekam. Obgleich Martin Interviews ablehnte, weil er fand, daß es für Veröffentlichungen noch zu früh war, erschienen einige Artikel, die im großen und ganzen den Tatsachen entsprachen. Sie berichteten von einer »Wunderdroge, die das Altern hinauszögert und gerade an Tieren erprobt wird«, wie auch von der »bemerkenswerten gewichtsreduzierenden Wirkung des Mittels«. Martin war wütend, weil diese Informationen nur von jemandem aus seinem Team stammen konnten.

Martin forderte Nigel Bentley auf herauszufinden, wer es war, aber ohne Erfolg.

»Im Grunde hat die Publicity keinen Schaden angerichtet«, bemerkte der Verwalter. »In wissenschaftlichen Kreisen ahnt man doch bereits, was Sie vorhaben - vergessen Sie nicht die beiden Spezialisten, die hier waren. Und wenn die Öffentlichkeit jetzt ein bißchen neugierig gemacht wird, kommt das später dem Verkauf von Peptid 7 zugute.«

Eine unwillkommene Folge dieser Publicity war eine Flut von Briefen, Pamphleten und Petitionen von den Verfechtern der »Tierrechte« - Extremisten, die gegen jede Art von Tierversuchen waren. Manche bezeichneten Martin und sein Harlower Team als »Sadisten«, »Peiniger«, »Barbaren« und »herzlose Verbrecher«.

Nachdem Martin einige dieser Schmähbriefe zu Hause gelesen hatte, sagte er zu Yvonne: »In jedem Land gibt es Eiferer, die sich gegen Tierversuche auflehnen, aber in England sind sie am schlimmsten.« Er nahm einen anderen Brief in die Hand, legte ihn aber angewidert beiseite: »Diese Leute wollen nicht etwa nur, daß die Tiere sowenig wie möglich leiden müssen - das möchte ich auch, und ich glaube, daß es dafür strengere Gesetze geben muß -, diese Leute verlangen, daß unser gesamter Wissenschaftszweig, der auf die Tiere angewiesen ist, zum Erliegen kommt.«

»Glaubst du, daß es mal eine Zeit geben wird, in der die Forschung Tierversuche wird entbehren können?« frage Yvonne.

»Ja, vielleicht später einmal. Denn schon heute werden für manche Tests andere Methoden angewendet - Gewebekulturen, Mengenpharmakologie und Computer. Aber ganz ohne Tiere . . .« Martin schüttelte den Kopf. »Vielleicht wird es das einmal geben, aber bis dahin vergeht noch viel Zeit.«

»Dann kümmere dich einfach nicht darum.« Yvonne stopfte die Protestbriefe in eine Aktentasche. »Außerdem - denk doch mal an unsere Tiere. Durch Peptid 7 sind sie gesünder und gescheiter.«

Aber ihre Worte konnten Martin nicht aus seiner düsteren Stimmung reißen. Die Flut von Protestschreiben hatten ihn deprimiert.

Im Institut herrschte jedoch eine völlig andere Stimmung, die in krassem Gegensatz zu früheren Tagen stand, als man noch völlig im dunkeln tappte und es kaum Fortschritte, nur negative Einflüsse gab. Das veranlaßte Martin, Rao Sastri gegenüber zu bemerken: »Ich mache mir Sorgen. Wenn etwas so gut läuft wie bei uns, kann es passieren, daß man plötzlich hinter der nächsten Kurve zurückgeworfen wird.«

Seine Worte sollten sich früher als erwartet bewahrheiten.

Es geschah am darauffolgenden Wochenende. Sonntag nacht, kurz nach ein Uhr, wurde Martin durch einen Telefonanruf geweckt. Yvonne schlief neben ihm.

Als Martin den Hörer abnahm, meldete sich Nigel Bentley.

»Ich bin im Institut«, sagte der Verwalter. »Die Polizei hat mich gerufen. Ich glaube, es ist besser, wenn Sie herkommen.«

»Was gibt es denn?«

»Schlechte Nachrichten, fürchte ich.« Bentleys Stimme klang wütend. »Aber es wäre mir lieber, wenn Sie es sich selbst ansähen. Können Sie schnell kommen?«

»Bin schon unterwegs.«

Inzwischen war Yvonne aufgewacht. Als Martin in seine Hose fuhr, zog sie sich auch schnell an.

Sie nahmen Martins Auto. Vor dem Institut standen schon mehrere Fahrzeuge, zwei davon Polizeiwagen mit Blaulicht. Ein Feuerwehrwagen fuhr gerade ab. Die Eingangstüren zum Institut standen weit offen.

Bentley kam ihnen entgegen. Er war in Begleitung eines Polizeiinspektors in Uniform. Falls Bentley überrascht war, Yvonne zu sehen, ließ er es sich nicht anmerken.

»Es ist eingebrochen worden«, erklärte er. »Von Tierschützern.«

Martin runzelte die Stirn. »Tierschützer?«

»Ja, Sir«, sagte der Polizist, »die Leute nennen sich >Armee zur Rettung der Tiere<. Sie haben uns schon öfter Schwierigkeiten gemacht.« Der Inspektor, ein Mann mittleren Alters, hatte das resignierte, ironische Benehmen eines Menschen, der schon vielen Verrückten begegnet ist.

»Was haben sie getan? Was ist geschehen?« fragte Martin ungeduldig.

»Sie sind eingebrochen und haben alle Tiere freigelassen«, erwiderte Bentley. »Manche laufen noch immer im Gebäude herum. Aber die meisten Käfige haben sie rausgebracht und geöffnet, und natürlich sind die Tiere auf und davon. Dann haben sie alle Akten und Berichte, die sie finden konnten, eingesammelt, nach draußen geschafft und mit Benzin übergössen.«

»Sie haben damit ein Feuer gemacht, Doktor«, sagte der Inspektor. »Jemand in einem anderen Gebäude hat es gesehen und Alarm geschlagen. Die Feuerwehr war da und hat es gelöscht, als wir hier eintrafen. Wir kamen gerade noch rechtzeitig, um zwei

Verdächtige zu ergreifen, eine Frau und einen Mann. Der Mann war schon mal wegen ähnlicher Vorkommnisse im Gefängnis, wie er selbst zugibt.«

»Die beiden werden in meinem Büro festgehalten«, fuhr Bentley fort. »Es scheint sich um eine Gruppe von sechs Leuten zu handeln. Sie haben den Nachtwächter überwältigt und in einen Schrank gesperrt. Sie wußten auch, wie man den Alarm abschaltet.«

»Das ganze Unternehmen war sorgfältig geplant«, sagte der Polizeiinspektor. »Das ist typisch für diese Leute.«

Martin konnte kaum zuhören. Seine Augen waren auf vier Ratten gerichtet, die sich in einer Ecke der Empfangshalle zusammendrängten. Durch die vielen Stimmen erschreckt, liefen sie jetzt durch eine offene Tür nach draußen. Martin folgte ihnen, rannte in Richtung der Labors und Tierställe. Er stand vor einem totalen Chaos. Die Käfige waren entweder offen und leer oder gar nicht mehr vorhanden. Notizbücher waren verschwunden, Aktenordner aus den Regalen gerissen, der Inhalt auf dem Boden verstreut. Viele fehlten, waren wahrscheinlich verbrannt.

Bentley, der Inspektor und Yvonne waren Martin gefolgt.

»O mein Gott!« murmelte Yvonne.

Martin, der völlig verzweifelt war, konnte nur stammeln. »Aber warum? Warum denn nur?«

»Vielleicht sollten Sie diese Frage dem Pärchen stellen, das wir festgenommen haben, Doktor«, schlug der Inspektor vor.

Martin nickte wortlos, und der Inspektor ging voraus zum Büro des Verwalters, in dem ein junger Polizist einen Mann und eine Frau bewachte.

Die Frau, Mitte Dreißig, war groß und schlank. Sie hatte hagere, arrogante Gesichtszüge und einen kurzen Haarschnitt. Zwischen ihren Lippen hing eine brennende Zigarette. Sie trug enge Jeans, einen Lumberjack und wadenhohe Gummistiefel. Als der Inspektor und die anderen hereinkamen, blickte sie ihnen voller Verachtung entgegen.

Der Mann, etwa im gleichen Alter, war schmächtig, und man hätte ihn unter anderen Umständen vielleicht sogar als freund-lich und still bezeichnen können. Er wirkte wie ein Buchhalter, hatte gelichtete Haare, eine leicht krumme Haltung und trug eine Nickelbrille. Er lächelte die Eintretenden trotzig an.

»Da haben wir das entzückende Pärchen«, sagte der Inspektor. »Sie wurden bereits belehrt, daß sie keine Aussage zu machen brauchen, aber sie scheinen reden zu wollen. Sind richtig stolz auf sich.«

»Das können wir auch sein«, sagte der Mann. Er hatte eine rauhe und unstete Stimme und hustete nervös. »Wir haben eine gute Tat vollbracht.«

»Haben Sie eigentlich eine Ahnung«, schrie Martin ihn an, »was Sie angerichtet haben? Wieviel wichtige Forschungsergebnisse Sie vernichtet haben?«

»Wir wissen«, sagte die Frau, »daß wir ein paar arme Kreaturen davor bewahrt haben, von Ihnen seziert zu werden - wir haben sie aus den Händen von Tyrannen befreit, die aus egoistischen Motiven Tiere ausbeuten.«

»Sie haben ja keine Ahnung!« Martin hätte die beiden am liebsten geschlagen, hielt sich aber zurück. »Alle Tiere, die Sie ausgesetzt haben, sind in Gefangenschaft geboren. Draußen können sie nicht überleben. Sie werden auf schreckliche Weise umkommen. Und die noch im Haus sind, wird man töten müssen.«

»Immerhin besser«, sagte die Frau, »als Ihre unmenschlichen Grausamkeiten ertragen zu müssen.«

»Er ist nicht unmenschlich! Er ist nicht grausam!« Yvonne stand mit rotem Gesicht da, ihre Stimme war schrill. »Dr. Peat-Smith ist einer der gütigsten Menschen. Er liebt Tiere.«

»Wohl als Haustiere«, sagte der Mann höhnisch.

»Wir halten nichts von Schoßtieren«, erklärte die Frau. »Das sind doch nur Sklaven. Wir glauben, daß Tiere die gleichen Rechte haben sollten wie Menschen. Außerdem darf es für Tiere keine Beschränkungen geben, sie dürfen nicht eingeengt sein oder leiden müssen, nur damit Menschen glücklicher oder gesünder werden.« Sie sprach sehr selbstsicher und überzeugt, so wie jemand, der meint, die Moral gepachtet zu haben.

»Außerdem glauben wir auch, daß die menschliche Rasse an-deren Rassen keineswegs überlegen ist«, erklärte der Mann.

»In Ihrem Fall glaube ich das gern«, entgegnete der Inspektor.

Martin wandte sich an die Frau. »Sie und Ihr verrückter Freund haben gerade jahrelange wissenschaftliche Arbeit zunichte gemacht. Und es wird Jahre dauern, sie zu wiederholen. Und in dieser Zeit müssen Tausende, vielleicht Hunderttausende von Menschen, die Hilfe benötigen, auf ein Medikament verzichten, das ihnen ein erträglicheres Leben ermöglicht hätte . . .«

»Fein«, unterbrach ihn die Frau und spuckte Martin die Worte geradezu ins Gesicht, »das ist gut für unsere Organisation! Das höre ich gern. Ich bin froh, daß unsere Bemühungen Erfolg hatten. Und wenn Sie das, was Sie wissenschaftliche Arbeit nennen, ich aber barbarische Greueltaten, wiederholen, dann kann ich nur hoffen, daß Sie dabei eines qualvollen Todes sterben.«

»Sie sind ja verrückt!« schrie Yvonne und stürzte sich auf die Frau. Einen Augenblick war es still, niemand begriff im ersten Moment, was geschah, dann hatte sich Yvonne auch schon über die Frau hergemacht und zerkratzte ihr mit den Fingernägeln das Gesicht.

Martin und der Inspektor rissen Yvonne zurück.

»Das war ein tätlicher Angriff!« kreischte die Frau. »Ein verbrecherischer Überfall.« Während Blut über ihr Gesicht strömte, forderte sie die beiden Polizisten auf: »Nehmen Sie diese Furie sofort fest! Sie muß vor Gericht gestellt werden.«

»Diese Dame festnehmen?« Der Inspektor schien bestürzt. Er warf einen Blick auf Yvonne, die am ganzen Körper zitterte. »Weshalb festnehmen? Ich habe nichts gesehen.« Er blickte den jungen Polizisten an. »Haben Sie was gesehen?«

»Nein, Sir«, erwiderte der. »Ich nehme an, die Wunden wurden der Gefangenen von den Tieren beigebracht, als sie die Käfige öffnete.«

Martin legte den Arm um Yvonne. »Gehen wir. Es hat keinen Sinn, mit diesen Leuten zu reden.«

Sie hörten noch, wie der Inspektor fragte: »Und wie war's, wenn wir jetzt vernünftig wären und ich die Namen von den anderen erführe, die noch dabei waren?«

»Verdufte, Bulle«, zischte die Frau.

Bentley war Martin und Yvonne gefolgt. »Die beiden kommen ins Gefängnis«, versicherte er. »Und dort werden sie andere von ihrer Organisation treffen, die wegen früherer Delikte eingesperrt sind. Diese Leute halten sich für Märtyrer. Ich hab' schon viel über sie gelesen. Offenbar haben sie 'ne Menge Anhänger im ganzen Land.« Düster fügte er hinzu: »Es tut mir leid. Ich hätte damit rechnen müssen.«

»Das konnte keiner von uns wissen«, sagte Martin. Er stieß einen Seufzer aus. »Morgen werden wir damit beginnen, alles aufzuräumen, um zu sehen, was uns noch geblieben ist.«

7

Die deprimierende Aufgabe, den Schaden im Harlower Forschungsinstitut abzuschätzen, nahm mehrere Tage in Anspruch. Am Ende wurde deutlich, daß der Einbruch sie um mindestens zwei Jahre zurückgeworfen hatte.

Aus der Asche eines verkohlten Papierhaufens vor dem Gebäude wurde ein kleiner Teil des Materials gerettet, aber nicht viel. Später berichtete Nigel Bentley: »Diese Irren müssen gewußt haben, wonach sie suchen und wo sich alles befand. Das bedeutet, daß ihnen jemand aus dem Institut geholfen haben muß, und wie die Polizei meint, paßt das genau zu den anderen Überfällen, die sie auf dem Kerbholz haben. Wie ich hörte, überreden sie meist Leute wie Putzfrauen oder so, ihnen Informationen zu geben. Ich werde mich bemühen herauszufinden, wer bei uns der Judas war - allerdings habe ich nicht viel Hoffnung.«

Bentley traf für die Zukunft stärkere und teurere Sicherheitsvorkehrungen. »Das ist zwar so, als würde man den Safe erst im nachhinein einbauen, aber diese Leute geben nicht so leicht auf und kommen vielleicht zurück«, meinte er.

Martin gab einen Tag nach dem Einbruch telefonisch einen Bericht nach New Jersey durch. Er sprach mit Celia Jordan. Martin hatte schon erfreut von Celias Rückkehr in die Firma gehört. Jetzt drückte er sein Bedauern aus, daß ihr erstes Gespräch mit so schlechten Nachrichten zu tun hatte.

Celia war schockiert, als sie von der Verwüstung in Harlow erfuhr, die in einem so krassen Gegensatz zu den letzten erfreulichen Berichten über die Fortschritte mit Peptid 7 stand.

»Wir werden alle Tierversuche wiederholen müssen«, sagte Martin, »um wieder zu Meßdaten zu kommen, die wir benötigen, bevor der Antrag auf Zulassung gestellt werden kann. Es ist ein schrecklicher Zeitverlust, verbunden mit erheblichen zusätzlichen Kosten.«

»Handelt es sich wirklich um zwei Jahre?«

»Wir werden uns bemühen, soviel Zeit einzusparen wie möglich. Natürlich wissen wir jetzt mehr als vor zwei Jahren und können deshalb vielleicht ein paar Verfahren abkürzen. Wir werden uns jedenfalls Mühe geben.«

»Sie sollten wissen«, sagte Celia, »daß Peptid 7 für uns ungemein wichtig geworden ist. Erinnern Sie sich an unser Gespräch damals in Ihrem Haus? Sie sagten, wenn man Ihnen ein bißchen mehr Zeit ließe, dann könnten Sie ein Medikament herstellen, das Felding-Roth sehr reich machen würde. Das waren Ihre eigenen Worte.«

Martin verzog am anderen Ende der Leitung das Gesicht. »Ich fürchte, daran kann ich mich nicht erinnern. Da habe ich mich nicht gerade sehr wissenschaftlich ausgedrückt, und ich hoffe, daß außer uns beiden niemand etwas davon erfährt.«

»Bestimmt nicht. Aber ich habe Sie daran erinnert, weil der erste Teil Ihrer Voraussage eingetroffen ist. Jetzt benötigen wir dringend den Rest.«

»Zwei Jahre, um wieder so weit zu kommen, wie wir waren«, wiederholte Martin. »Viel weniger wird es nicht sein.«

Aber das Gespräch spornte ihn an, sich mit der Neuorganisation zu beeilen. Es wurden Ersatztiere bestellt, und nach deren Eintreffen wurde im Institut wieder mit den Versuchen begonnen - eine Arbeit, die man vor langer Zeit schon einmal verrichtet hatte. Nach drei Wochen lagen bereits die ersten Ergebnisse vor.

Während dieses ganzen qualvollen Unterfangens unterstützte Yvonne Martin in jeder Hinsicht. Sie nahm seinen Haushalt völ-lig in die Hand, damit er seine ganze Aufmerksamkeit und Kraft dem Institut widmen konnte. Dann wieder tröstete sie ihn, schien instinktiv zu wissen, wann sie schweigend zuhören oder ihn mit ihrem fröhlichen Geplapper unterhalten sollte. Einmal, nach einem besonders anstrengenden Tag, forderte sie ihn beim Schlafengehen auf, sich auf den Bauch zu legen, und dann massierte sie ihn, bis er in tiefen Schlaf fiel, der bis zum Morgen anhielt.

Als Martin sie am nächsten Tag fragte, woher sie das könne, erwiderte sie: »Ich habe mal mit einer Freundin zusammengewohnt, die Masseuse war.«

»Es ist frappierend«, sagte er. »Du läßt nie eine Gelegenheit aus, etwas zu lernen. Genauso wie mit John Locke. Hast du in letzter Zeit wieder etwas von ihm gelesen.«

»Ja.« Yvonne zögerte, dann sagte sie: »Ich habe etwas gefunden, das irgendwie auf diese Verfechter der Tierrechte paßt. Über Begeisterung.«

»Ich weiß nicht, ob ich mich daran erinnere«, sagte Martin neugierig. »Könntest du mir den Absatz heraussuchen?« Lockes Es-Sflylag im Zimmer auf dem Tisch, aber Yvonne machte sich nicht die Mühe, es zu holen, sondern zitierte auswendig:

»Die intuitive Offenbarung ist ein viel leichterer Weg für die Menschen, sich Meinungen zu bilden und Richtungen einzuschlagen, als die mühsame und nicht immer erfolgreiche Arbeit strikter Beweisführung, daher nimmt es nicht wunder, daß manche dazu neigen, die Offenbarung vorzutäuschen und sich selbst einzureden, daß ihre Handlungen und Meinungen unter der besonderen Führung des Himmels stehen . . .«

Während sie offenbar aus dem Gedächtnis zitierte, sah Martin sie erstaunt an. Sie bemerkte es, unterbrach sich, wurde rot und fuhr dann fort:

»Wenn ihre Gedanken auf diese Weise vorbereitet sind, dann ist jede unbegründete Meinung, die sie sich bilden, eine Erleuchtung des Heiligen Geistes und folglich maßgebend; und wie merkwürdig eine Handlung, zu der sie sich getrieben fühlen, auch sein mag - letztlich handelt es sich um einen Ruf oder eine Anweisung des Himmels . . .«

Yvonne unterbrach sich erneut, kicherte und sagte dann verlegen: »Das reicht.« »Nein!« drängte Martin. »Mach weiter, wenn du kannst.« »Du machst dich über mich lustig«, sagte sie mißtrauisch. »Nicht im geringsten.« »Na, gut.« Sie fuhr fort:

». . . Begeisterung, die sich nicht auf den Verstand oder die heilige Offenbarung stützt, sondern aus einem erhitzten oder hochmütigen Verstand kommt . . . die Menschen gehorchen vorwiegend den Impulsen, die sie aus sich selbst erhalten . . . denn eine starke Idee, ein neues Prinzip, reißt leicht alle mit, wenn sie über den gesunden Menschenverstand hinausgeht und von den Einschränkungen der Beweisführung befreit ist . . .«

Yvonne sprach den Absatz zu Ende, schwieg dann, ihre blauen unschuldigen Augen waren auf Martin gerichtet, als wüßte sie nicht, wie er reagieren würde. Ungläubig sagte er: »Ich erinnere mich jetzt an das Zitat. Und ich glaube, du hast kein einziges Wort verändert. Wie hast du das gemacht?« »Na ja . . . ich habe eben ein gutes Gedächtnis.« »In allen Einzelheiten?« »Ich glaube ja.«

Martin erinnerte sich jetzt wieder daran, daß Yvonne, selbst wenn es sich um banalen Klatsch handelte, immer alle Einzelheiten genau kannte . . . Namen, Daten, Orte, Quellen, die Hintergrundstory. Er hatte es beiläufig schon längst bemerkt, hatte dem aber bis jetzt keine Bedeutung beigemessen.

»Wie oft mußt du denn etwas lesen, bis du es im Gedächtnis behältst?« fragte er. »Meistens einmal. Aber bei Locke mußte ich es zweimal le-sen.« Yvonne sah noch immer verlegen aus, als hätte Martin ein schlimmes Geheimnis aufgedeckt. »Ich möchte gern etwas ausprobieren«, sagte er. Er ging ins Nebenzimmer und holte ein Buch, von dem er genau wußte, daß Yvonne es noch nicht gelesen hatte. Es war Lok-kes The Conduct af the Understanding. Er schlug eine Seite auf, die er sich früher einmal angestrichen hatte, und sagte: »Lies das. Von da bis da.« »Darf ich es zweimal lesen?« »Natürlich.«

Sie beugte den Kopf, ihre langen blonden Haare fielen nach vorn, während sie sich konzentrierte und die Stirn runzelte, dann ließ sie das Buch sinken. Martin nahm es ihr ab und forderte sie auf: »Und jetzt sag mir, was du gelesen hast.« Er verfolgte die Worte im Buch, während sie sie wiederholte.

»Es gibt fundamentale Wahrheiten, die am Grund der Dinge liegen, auf denen eine große Anzahl anderer aufbaut und in denen sie ihre Beständigkeit finden. Das sind fruchtbare Wahrheiten, reich an Gehalt, mit dem sie den Verstand ausrüsten, und wie die Lichter am Himmel sind sie nicht nur selbst schön und unterhaltsam, sondern sie geben auch anderen Dingen Licht und Klarheit, die ohne dem nicht sichtbar oder faßbar wären. Das ist dasselbe wie die bewundernswerte Entdek-kung Herrn Newtons, daß alle Körper der Schwerkraft unterliegen . . .«

Sie zitierte noch einige weitere Absätze, und Martin stellte fest, daß jedes Wort genau dem Buchtext entsprach. Am Ende verkündete Yvonne: »Die Stelle ist schön.« »Genau wie du«, sagte er, »und wie das, was du besitzt. Weißt du, was das ist?« Wieder schon Yvonne verlegen, zögerte. »Sag es mir.« »Du hast ein fotografisches Gedächtnis. Das ist etwas ganz Besonderes und Einzigartiges. Das mußt du doch gewußt haben.« »Eigentlich ja. Aber ich wollte kein Wundertier sein, kein Ge-dächtnis-Monster.«

Yvonnes Stimme zitterte. Zum erstenmal, seit er sie kannte, spürte Martin, daß sie den Tränen nahe war.

»Um Himmels willen, wer hat dir denn das gesagt?«

»Eine Lehrerin von der Schule.«

Auf Martins vorsichtige Fragen hin kam die Geschichte heraus. Sie hatte eine Arbeit geschrieben, und wegen ihres fotografischen Gedächtnisses waren viele ihrer Antworten mit dem Text im Schulbuch identisch. Die Lehrerin beschuldigte Yvonne, abgeschrieben zu haben. Und man glaubte Yvonne nicht, als sie es abstritt. In ihrer Verzweiflung hatte sie, wie eben bei Martin, ein ähnliches Beispiel für ihre Fähigkeit gegeben, sich an Gelesenes genau zu erinnern.

Die Lehrerin war wütend, weil sie unrecht hatte, machte sich über Yvonnes Fähigkeit lustig, nannte sie ein Gedächtnis-Monster und bezeichnete ihre Art zu lernen als »wertlos«.

Martin unterbracht sie: »Es ist nicht wertlos, wenn du verstehst, was du gelernt hast.«

»Aber das tu ich doch. Ich verstehe es.«

»Das glaube ich dir«, versicherte er. »Du bist intelligent. Das weiß ich.«

Aber nach ihrem Zusammenstoß mit der Lehrerin hatte sich Yvonne nicht nur bemüht, ihr Talent zu verbergen, sondern auch, es völlig abzulegen. Während ihres Studiums hatte sie versucht, sich nicht an Sätze und Absätze zu erinnern, und zum Teil war es ihr auch gelungen. Aber wenn sie das tat, verstand sie alles nicht mehr richtig und schnitt bei den Prüfungen schlecht ab, und bei einer fiel sie sogar durch, so daß sie nicht auf die tierärztliche Hochschule kam.

»Lehrer können eine Menge Gutes tun«, sagte Martin. »Aber törichte Lehrer können auch viel Schaden anrichten.«

Yvonne sah traurig aus und schwieg. In den darauffolgenden Minuten dachte Martin angestrengt nach.

»Du hast schon soviel für mich getan«, sagte er schließlich.

»Vielleicht kann ich zur Abwechslung einmal etwas für dich tun. Möchtest du noch immer gern Tierärztin werden?«

Die Frage überraschte sie. »Ist das denn möglich?«

»Vieles ist möglich. Wichtig ist nur: Willst du es wirklich?«

»Natürlich. Das habe ich immer gewollt.«

»Dann werde ich mal sehen, was sich machen läßt.«

Zwei Tage später, nach dem Abendessen, erklärte Martin: »Ich muß dir etwas sagen.«

Er machte es sich in dem kleinen Wohnzimmer in seinem Ledersessel bequem, während Yvonne sich zu seinen Füßen auf den Teppich hockte. Trotz aller Anstrengungen hatte sie zu ihrem Kummer noch immer nicht an Gewicht verloren, obgleich Martin ihr schon oft klargemacht hatte, daß es ihn nicht störte; ihm gefiel Yvonnes fülliger Körper.

»Es bestehen gute Chancen für dich, am tierärztlichen Institut aufgenommen zu werden. Du könntest von uns finanzielle Unterstützung bekommen, und falls das nicht klappt, fällt mir bestimmt etwas anderes ein.«

»Aber zuerst muß ich doch die Examen bestehen«, wandte sie ein.

»Ja, und ich weiß auch, welche du brauchst. Es sind drei - in Chemie, in Physik und in Zoologie, Biologie oder Botanik. Für dich wäre wohl Zoologie am vernünftigsten.«

Etwas zweifelnd fragte sie: »Würde das bedeuten, daß ich meinen Job aufgeben muß?«

»Nicht unbedingt, solange du dich auf die Examen vorbereitest. Du kannst am Abend und an den Wochenenden lernen. Ich helfe dir. Wir werden zusammen arbeiten.«

»Ich kann es kaum glauben«, sagte Yvonne atemlos. »Und ich verspreche dir, tüchtig zu lernen.«

Martin lächelte. »Ich weiß. Und mit deinem erstaunlichen Gedächtnis wirst du die Examen mühelos bestehen. Allerdings mußt du lernen, die Texte nicht herunterzubeten, sondern es in deinen eigenen Worten zu sagen. Sonst werden die Prüfer mißtrauisch.«

Yvonne sprang auf und fiel ihm um den Hals.

Bei Felding-Roth hielt die leichte Euphorie, die sich kurz nach Celias Rückkehr ausgebreitet hatte, nicht lange an.

Die Nachricht vom Überfall auf das Institut in Harlow hatte sie erschüttert. Und dann ereignete sich in Boonton eine Tragödie, die alles andere in den Schatten stellte.

Es war ein Unfall - wenigstens wurde es von der Polizei in Boonton so aufgenommen -, und er ereignete sich an einem Wochentag, genau drei Wochen nach Celias Rückkehr in die Firma.

Ein paar Minuten vor neun Uhr morgens traf Celia mit ihrem Firmenwagen auf dem »Laufsteg« des Felding-Roth-Parkhauses ein. Celias Fahrer hatte den Wagen links an die Rampe gefahren, denn er hatte - wie er später aussagte - im Rückspiegel Mr. Haw-thornes Rolls-Bentley dicht hinter sich erkannt. Da er wußte, daß der Präsident auf seinen Parkplatz an der Außenwand rechts von der Stelle, wo Celias Wagen hielt, fahren würde, hatte er darauf geachtet, genügend Zwischenraum zu lassen.

Celia sah Sams Wagen erst, als der Chauffeur ihr zum Aussteigen die Tür aufhielt. In diesem Augenblick tauchte die ausgeprägte Kühlerhaube auf der Parkpalette auf.

Da sie mit Sam zusammen zum Direktionslift gehen wollte, blieb Celia abwartend stehen.

Und dann passierte es.

Mit einem plötzlichen Aufheulen des Motors und begleitet vom Quietschen der Reifen schoß der schwere Wagen wie ein silbergrauer Pfeil an Celia und dem Fahrer vorbei, über Sams Parkplatz hinweg in die dahinterliegende Wand hinein. Die schulterhohe Mauer, die nach oben hin offen war und die Parkpalette begrenzte, brach ein, und der Wagen stürzte fünfzehn Meter in die Tiefe.

Zunächst - es kam Celia wie eine Ewigkeit vor - herrschte Stille. Dann war von unten, außerhalb ihrer Sichtweite, ein schwerer Aufschlag, das Geräusch von berstendem Metall und zersplitterndem Glas zu hören.

Der Chauffeur lief zu der Öffnung in der Wand, und Celias er-ster Impuls war, ihm zu folgen. Aber sie unterdrückte ihn. Ihre Gedanken rasten. Über das Autotelefon rief sie Feuerwehr und Krankenwagen an den Schauplatz.

Dann setzte sie sich mit der Telefonzentrale von Felding-Roth in Verbindung und gab Anweisung, daß jeder verfügbare Mediziner - die Firma beschäftigte mehrere - sofort zur Unglücksstelle kommen sollte. Erst danach ging sie zu dem klaffenden Loch, durch das Sams Wagen gestürzt war, und blickte hinunter.

Was sie sah, erfüllte sie mit Entsetzen.

Ganz offensichtlich war der Wagen zuerst auf die Kühlerhaube gefallen. Die Wucht des Aufpralls nach dem fünfzehn Meter tiefen Fall hatte die Karosserie wie eine Ziehharmonika zusammengedrückt. Aus dem Wrack stieg Rauch auf, aber es hatte noch kein Feuer gefangen. Ein verbogenes Rad drehte sich wie wild um sich selbst.

Zum Glück war der Wagen an einer Stelle aufgeprallt, wo niemand vorbeikommen konnte. Lediglich ein paar Büsche und Gras waren in Mitleidenschaft gezogen.

Inzwischen liefen mehrere Leute auf das zerstörte Fahrzeug zu, und Celia hörte Sirenen näher kommen. Es schien allerdings ausgeschlossen, daß der Fahrer den Sturz überlebt hatte.

Es dauerte mehr als eine Stunde, bis Sams Körper aus dem Wrack befreit war, eine grausige Aufgabe, mit der sich die Rettungsmannschaft der Feuerwehr nicht gerade beeilte, da ein Arzt bereits bestätigt hatte, was offensichtlich war - Sam war tot.

Celia, die die Sache in die Hand genommen hatte, teilte Lilian so schonend wie möglich die Unglücksnachricht mit und riet ihr dringend davon ab, an den Unfallort zu kommen.

Celia bot Lilian an, sie zu besuchen, aber Lilian antwortete nach langem Schweigen, daß sie allein sein wolle. Ihre Stimme schien von weit her zu kommen. Was müssen Frauen doch alles ertragen, dachte Celia.

»Bitte geben Sie mir Bescheid, wo Sam hingebracht wird«, brachte Lilian mühsam heraus.

Celia versuchte auch, Juliet und ihren Mann Dwight anzuru-fen, konnte aber beide nicht erreichen.

Als nächstes ließ sie den für Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Julian Hammond in ihr Büro kommen. »Geben Sie sofort eine Pressemeldung über Sams Tod heraus. Beschreiben Sie es als tragischen Unfall. Ich möchte, daß das Wort >Unfall< betont wird, um alle Spekulationen von vornherein zu unterbinden. Sie könnten in etwa sagen, daß vermutlich das Gaspedal geklemmt hat und der Wagen außer Kontrolle geraten ist.«

»Aber das wird uns doch niemand abnehmen«, protestierte Hammond.

Celia, die am liebsten laut geweint hätte, konnte sich gerade noch beherrschen und fuhr ihn an: »Sparen Sie sich Ihre Worte! Tun Sie, was ich Ihnen sage, und zwar sofort!«

Der letzte Dienst, den sie Sam erweisen konnte, dachte sie, nachdem Hammond gegangen war, bestand darin, ihm zu ersparen, vor der Öffentlichkeit als Selbstmörder zu gelten.

Aber für alle, die ihm nahestanden, gab es an Sams Selbstmord keinen Zweifel. Am wahrscheinlichsten schien es, daß Sam seine Schuldgefühle wegen Montayne nicht verwinden konnte, und als er die Garagenwand vor sich gesehen hatte, war ganz plötzlich der Gedanke aufgetaucht, seinem Leben ein Ende zu setzen. Typisch für Sam war, meinten seine Freunde, daß er dabei berücksichtigt hatte, daß er niemanden in Gefahr brachte.

Celia quälte sich mit Fragen und Schuldgefühlen. Hatte Sam sich schon lange mit diesem Gedanken getragen, oder war es ein spontaner Einfall gewesen, als er sie, Celia, so selbstsicher und beherrscht dort stehen sah, Celia, die eine Position in der Firma einnahm, die eigentlich ihm zugestanden hätte . . .? Celia brachte es nicht fertig, die Frage, auf die sie nie eine Antwort bekommen würde, zu Ende zu denken.

Und auch etwas anderes wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Gleich am ersten Tag nach ihrer Rückkehr hatte er in seinem Büro gesagt: ». . . und da ist noch etwas, von dem Sie nichts wissen.« Und einen Augenblick später: »Das werde ich Ihnen nie sagen.«

Was war das für ein Geheimnis? Celia versuchte es zu erraten, aber es gelang ihr nicht. Sam hatte es mit ins Grab genommen.

Auf Wunsch der Angehörigen fand Sams Beerdigung im engsten Familienkreis statt. Celia war die einzige Firmenangehörige. Andrew begleitete sie.

Als sie auf dem unbequemen Klappstuhl in der Kapelle des Bestattungsinstituts saß und ein Geistlicher, der Sam gar nicht gekannt hatte, mit salbungsvoller Stimme religiöse Phrasen von sich gab, bemühte sich Celia, die Gegenwart aus ihren Gedanken zu verbannen und sich die Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen.

VorzwanzigJahren - alsSam sie alsPharma- Vertreterin eingestellt hatte . . . Sam auf ihrer Hochzeit. . . ihr Entschluß, ihm auf der Leiter des Erfolgs zu folgen . . . die New Yorker Verkaufstagung, als er seinen Job riskiert und sie verteidigt hatte: »Ich stehe hier, um mich auszählen zu lassen. Wenn wir Mrs. Jordan jetzt fortschicken, sind wir alle kurzsichtige Narren« . . . Sam, wie er die Opposition besiegte, ihre Beförderung zur Verkaufsleiterin für rezeptfreie Produkte, später ihren Einsatz für den lateinamerikanischen Verkauf durchsetzte: »Die Zukunft lieg im internationalen Geschäft« . . . Sam, der Anglophile, der in bezug auf das britische Forschungsinstitut Weitblick bewiesen hatte: »Celia, ich möchte, daß Sie meine rechte Hand werden« . . . Sam, der für einen Irrtum mit seinem guten Ruf bezahlt hatte -und jetzt mit seinem Leben.

Sie sah, daß Andrew ihr ein Taschentuch reichte. Erst da wurde ihr bewußt, daß ihr Tränen über das Gesicht rannen.

Lilian und Juliet begleiteten den Sarg allein zum Grab. Celia sprach kurz mit beiden, bevor sie ging. Lilian war blaß, wirkte fast leblos, Juliets Gesicht war hart; sie schien während der Totenfeier nicht geweint zu haben. Dwight war gar nicht erst erschienen.

In den darauffolgenden Tagen hielt Celia hartnäckig an ihren Bemühungen fest, Sams Tod offiziell als einen Unfall hinzustellen. Sie hatte Erfolg damit, vor allem, weil - wie sie Andrew gegenüber erklärte - »niemand das Herz zu haben schien, etwas Gegenteiliges zu sagen. Sam besaß keine Lebensversicherung, so daß es finanziell keinen Unterschied macht«.

Nach einer angemessenen Zeitspanne von zwei Wochen trat der Aufsichtsrat von Felding-Roth zusammen, um einen neuen Präsidenten zu wählen. Innerhalb der Firma war klar, daß es sich nur um eine Formalität handelte und daß es Celia sein würde.

Seth Feingold kam ein paar Minuten nach Schluß der Sitzung in ihr Büro. Er sah wütend aus.

»Ich bin dazu bestimmt worden, Ihnen folgendes mitzuteilen«, sagte er, »und ich tue es nicht gern: Sie werden nicht zur Präsidentin ernannt werden.«

Als Celia nicht reagierte, fuhr er fort: »Sie werden es vielleicht nicht glauben, und es ist, bei Gott, nicht fair, aber es gibt im Aufsichtsrat noch immer ein paar Männer, die sich einfach nicht an den Gedanken gewöhnen können, daß eine Frau die Firma leitet.«

»Das glaube ich gern«, sagte Celia. »Und mit dieser Erfahrung stehe ich nicht allein.«

»Es wurde lange diskutiert, manchmal ging es ganz schön hoch her«, sagte Seth. »Die Meinungen waren geteilt, und ein paar haben sich sehr für Sie eingesetzt. Aber die anderen haben sich nicht gebeugt. Und am Ende mußten wir einen Kompromiß schließen.«

Es war ein Präsident pro tempore ernannt worden, erklärte Seth, Preston O'Halloran, ein pensionierter Bankdirektor, der seit vielen Jahren dem Aufsichtsrat von Felding-Roth angehörte. Er war achtundsiebzig Jahre alt und ging am Stock. Ein angesehener Finanzexperte, der aber vom Pharma-Geschäft nicht besonders viel verstand - kaum mehr als das, was er bei den Aufsichtsratssitzungen erfuhr.

Celia war O'Halloran schon mehrmals begegnet, kannte ihn aber nicht besonders gut.

»O'Halloran hat eingewilligt, längstens sechs Monate zur Verfügung zu stehen. In dieser Zeit wird der Aufsichtsrat eine dauerhafte Lösung suchen.« Seth verzog das Gesicht. »Das kann ich Ihnen auch gleich sagen - man sieht sich nach jemandem außerhalb der Firma um.«

»Ich verstehe.«

»Ich schätze, ich sollte das nicht sagen - aber ehrlich, Celia, wenn ich Sie wäre, würde ich sie alle zum Teufel jagen, auf der Stelle meinen Hut nehmen und gehen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht, dann würde es gleich wieder heißen: >Typisch Frau!< Außerdem habe ich eingewilligt zurückzukommen, um Ordnung zu schaffen, und das werde ich auch tun. Aber wenn ich damit fertig bin . . . nun, dann werden wir weitersehen.«

Das Gespräch erinnerte sie an ein anderes, das sie vor fahren mit Sam geführt hatte, als sie lediglich zur stellvertretenden Leiterin der Abteilung für Verkaufstraining ernannt worden war und nicht zur Leiterin, weil das - wie Sam es damals ausgedrückt hatte - »für manche in der Firma einfach zuviel wäre. Für den Augenblick.«

Plus ca change,plus c'esflameme chose, zitierte sie in Gedanken. Je mehr sich die Dinge ändern, desto mehr ähneln sie sich.

»Bist du sehr gekränkt?« fragte Andrew nach dem Abendessen.

Celia dachte nach, bevor sie antwortete. »Ich glaube, ja. Die Ungerechtigkeit macht mir zu schaffen. Aber andererseits stelle ich merkwürdigerweise fest, daß es mir nicht mehr soviel ausmacht wie früher.«

»Das dachte ich mir. Möchtest du, daß ich dir sage, warum?«

Sie lachte. »Bitte, Herr Doktor.«

»Das kommt, weil du eine ausgefüllte Frau bist, meine Liebe. In jeder Hinsicht ausgefüllt. Du bist die beste Ehefrau, die sich ein Mann nur wünschen kann, und eine ausgezeichnete Mutter, und du bist klug, verantwortungsbewußt und tüchtig in deinem Beruf und steckst die meisten Männer in die Tasche. Du hast tausendmal bewiesen, wie gut du bist. Daher hast du Titel und Positionen gar nicht mehr nötig, weil jeder, der dich kennt, weiß, was du wert bist - einschließlich dieser Chauvis bei Felding-Roth, von denen dir kein einziger das Wasser reichen kann. Deshalb sollte dich das, was heute geschehen ist, keine Sekunde lang kränken, denn die Leute, die diese Entscheidung getroffen haben, sind die Dummen, und früher oder später werden sie es merken.« Andrew schwieg, dann sagte er: »Entschuldige. Ich hatte nicht die Absicht, eine Rede zu halten. Ich wollte nur ein paar Wahrheiten aussprechen und dich vielleicht ein bißchen aufmuntern.«

Celia stand auf und legte die Arme um ihn. Sie gab ihm einen Kuß und sagte: »Das ist dir auch gelungen.«

Am nächsten Tag wurde Winnies Baby, ein gesunder Sohn, geboren. Über dieses Ereignis freuten sich nicht nur Winnie und Hank, sondern die ganze Familie Jordan. Lisa rief Winnie aus Kalifornien an, Bruce aus Pennsylvania.

Wie üblich hatte Winnie alles mühelos bewältigt. »Sieht aus, als hätte ich einen Volltreffer gelandet«, erklärte sie zufrieden. »Jetzt könnten wir mal probieren, ob wir Zwillinge schaffen.«

9

Vincent Lord war wie verwandelt. Er wirkte glücklich und strahlte Kraft und Energie aus.

Nach fast zwanzig Jahren konzentrierter wissenschaftlicher Arbeit an einer einzigen Idee, der Verfolgung eines Traums, an den außer ihm nur wenige glaubten - ein Mittel zu entwickeln, das die freien Radikale ausschaltete -, war dieser Traum nun Wirklichkeit geworden.

Jetzt bedurfte es nach den geltenden Gesetzen nur noch der Erprobung an Tieren und Menschen, um ein Präparat herzustellen, das andere Medikamente, deren Einnahme bis dahin mit einem Risiko verbunden war, zuträglicher und unbedenklicher machte.

Hexin W - der provisorische Name für Lords Erfindung -hatte bisher gehalten, was man sich von ihm versprach, und wurde in der Branche eifrig diskutiert, obgleich Einzelheiten natürlich das Geheimnis von Felding-Roth blieben. Andere pharmazeutische Firmen, stets auf der Suche nach Patenten, begriffen, was Hexin W bedeutete, und ließen bereits ihr Interesse erkennen.

Der Chef einer großen Konkurrenzfirma sagte während eines Telefongesprächs zu Celia: »Natürlich hätten wir gern selbst entdeckt, was Dr. Lord anscheinend gefunden hat, aber da es nun mal nicht so ist, wollen wir wenigstens die ersten in der Schlange sein, wenn Sie bereit sind, über eine Lizenz zu verhandeln.«

Genauso interessant war, daß sich das neue Medikament auf zweierlei Weise anwenden ließ. Zum einen konnte es anderen Arzneimitteln beigegeben werden. Und zum anderen konnte man es als Einzelsubstanz in Tablettenform herstellen, damit es zusätzlich zu anderen Präparaten eingenommen werden konnte.

Hexin W war ein »Mehrzweck-Mittel«. Es war ein Medikament, das sich auch von Herstellern anderer pharmazeutischer Produkte verwenden und deshalb vermarkten ließ. Diese anderen Firmen mußten eine Lizenz zu beträchtlichen Gebühren von Felding-Roth erwerben.

Am meisten würden Arthritis- und Krebspatienten von Hexin W profitieren, gegen deren Beschwerden es zwar bereits wirksame Mittel gab, die aber nur wenig oder gar nicht verschrieben wurden, weil sie gefährliche Nebenwirkungen aufwiesen. Hexin W würde diese Nebenwirkungen und Risiken beseitigen oder deutlich reduzieren.

Während einer Marketing-Konferenz erklärte Vincent Lord Celia und einigen anderen mit einfachen Worten, wie sich sein Medikament bei Arthritis auswirken würde.

»Der Betroffene hat eine Entzündung in den Gelenken, die Unbeweglichkeit und Schmerz verursacht. Die Entzündung tritt auf, wenn im Krankheitsverlauf freie Radikale erzeugt werden, die wiederum Leukozyten - weiße Blutkörperchen - anziehen. Die Leukozyten sammeln sich an, verursachen und verschlimmern die Entzündung. Hexin W aber«, fuhr Lord fort, »stoppt die Produktion der freien Radikale und folglich auch die Ansammlung der Leukozyten. Das Ergebnis: keine Entzündung, der Schmerz verschwindet.«

Mehrere Zuhörer klatschten Beifall, und Lord errötete vor Freude.

Den großen Durchbruch hatte Vince Lord vor drei Monaten erzielt. Es war der glorreiche, befriedigende Sieg nach dem mühsamen, ermüdenden Prozeß des Probierens - ein Prozeß, der von sich ständig wiederholenden Mißerfolgen gekennzeichnet war.

Dieser Prozeß selbst war ein weiterer Beweis für Lords große Leistung, denn seine Methode wurde von vielen als unmodern betrachtet.

Mit anderen Worten: Bei diesem System wurden aus alten Medikamenten neue entwickelt, und zwar auf dem Weg der organischen Chemie. Am Anfang stand eine aktive Verbindung, die chemische Zusammensetzung des Medikaments wurde modifiziert . . . immer wieder und wieder und wieder . . . wenn nötig, bis ins Unendliche. Immer ging es um die Suche nach einem neuen, wirksamen Mittel, das aus einem alten heraus entwickelt wurde und keinen oder nur geringen Giftgehalt besaß. Vor zwei Jahren, nach fast tausend erfolglosen Versuchen, hatte Lord sich geschworen, niemals aufzugeben.

Ein anderer, neuerer Zugang - eröffnet von Sir James Black, dem hervorragenden Erfinder von Smith-Kline's Tagamet - war, zu entscheiden, welche biologische Störung sich pharmazeutisch korrigieren ließ, um dann ein völlig neues Medikament zu entwickeln. Martin Peat-Smith arbeitete in Harlow mit genetischen Methoden, die noch neuer waren. Jedoch schlössen die beiden letzten Methoden Jahre des Experimentierens ein und konnten in einem Fehlschlag enden, konnten jedoch ebensogut, wenn sie Erfolg hatten, zu revolutionären neuen Medikamenten führen.

Lord aber hatte sich für die ältere Methode entschieden, die seinen Zwecken und seinem Temperament besser entsprach, und, bei Gott!, er hatte recht gehabt, das wußte er jetzt.

Was im Augenblick für seine gute Laune sorgte, war die kleine Truppe von Spezialisten - Chemiker, Biologen, Physiker, klinische Pharmakologen, Physiologen, Toxikologen, Veterinäre, Pathologen und Statistiker -, die bei Felding-Roth alles daransetzte, Hexin W in seine endgültige Form zu bringen.

Aber wegen des komplexen Testprogramms mit Tieren und Menschen würde es bestimmt noch zwei Jahre dauern, bis der Zulassungsantrag für Hexin W bei der FDA gestellt werden konnte.

Obgleich er es nicht laut sagte, war Lord über den Zwischenfall, der Peat-Smiths Peptid-7-Programm zurückwarf, froh. Dadurch brauchten die in Harlow zwei Jahre länger, so daß Hexin W vielleicht doch zuerst auf den Markt kam.

Lords gehobene Stimmung hatte ihn sogar dazu veranlaßt, eine Initiative zu ergreifen, um mit Celia Frieden zu schließen. Bald nach ihrer Rückkehr in die Firma suchte er sie in ihrem Büro auf. Er gratulierte ihr zu ihrer Ernennung und erklärte: »Ich bin froh, daß Sie wieder bei uns sind.«

»Ich gratuliere Ihnen auch«, sagte Celia. »Ich habe gerade den Bericht über Hexin W gelesen.«

»Ich erwarte, daß Hexin W als eine der großen Entdeckungen des Jahrhunderts anerkannt wird«, erklärte Lord. Er war im Verlauf der Jahre vielleicht ein bißchen reifer geworden - aber seinem übertriebenen Selbstvertrauen hatte das keinen Abbruch getan.

Lord gab Celia gegenüber auch nicht zu, daß sie in bezug auf Montayne recht gehabt hatte und er selbst unrecht. Er fand, daß sie nur - völlig unwissenschaftlich - Glück gehabt hatte; dafür brauchte man ihr keine intellektuelle Anerkennung zu zollen, genausowenig wie einem Lotteriegewinner.

Trotz des Friedens, den er mit Celia geschlossen hatte, war er erleichtert, als sie nach Hawthornes Tod nicht zur Präsidentin ernannt wurde. Das hätte er nicht ertragen. Endlich einmal, dachte er, hatte der Aufsichtsrat Verstand gezeigt.

Mit Beginn des neuen Jahres, 1978, wurde Hexin W für Fel-ding-Roth mehr und mehr zum Gegenstand neuer Hoffnungen.

Die Ernennung von Preston O'Halloran zum Präsidenten auf Zeit änderte für Celia wenig oder gar nichts, was ihre Verantwortung und tägliche Routine betraf.

Am Tag nach der Sondersitzung des Aufsichtsrats hatte O'Halloran ganz offen mit ihr gesprochen.

Sie trafen sich - unter vier Augen - in der Büro-Suite des Präsi-denten. Der Anblick des neuen Amtsinhabers in diesem Zimmer war für Celia eine schmerzliche Erinnerung an Sam. Seinen Tod hatte sie noch nicht verwunden.

O'Halloran, der aus New England stammte, was man ihm deutlich anhörte, sagte: »Mrs. Jordan, ich möchte, daß Sie wissen, daß ich nicht zu denjenigen gehört habe, die sich gegen Ihre Ernennung zur Präsidentin ausgesprochen haben. Ich will aber ehrlich sein und zugeben, daß ich Ihre Kandidatur auch nicht besonders unterstützt habe. Ich hätte mich der Mehrheit jedoch angeschlossen. Das habe ich den anderen vom Aufsichtsrat ausdrücklich gesagt.«

»Interessant, daß Sie es ihnen sogar gesagt haben«, erwiderte Celia mit einer Spur Schärfe.

»Touche!« Der alte Mann lächelte, und Celia dachte: Wenigstens hat er Sinn für Humor.

»In Ordnung, Mr. O'Halloran«, fuhr sie kurz angebunden fort, »jetzt wissen wir also beide, wo wir stehen, und darüber bin ich froh. Und nun benötige ich von Ihnen Anweisungen - was Sie von mir erwarten und wie wir die Pflichten aufteilen sollen.«

»Meine Freunde nennen mich Snow.« Wieder das trockene Lächeln. »Der Name stammt noch aus meiner verbummelten Jugend, in der ich viel Ski gefahren bin. Ich würde mich freuen, wenn Sie mich auch so nennen würden - und vielleicht darf ich Celia sagen?«

»Einverstanden«, erwiderte Celia. »Und jetzt wollen wir überlegen, wie wir uns die Arbeit teilen.«

»Ganz einfach. Ich möchte, daß Sie genauso weitermachen wie bisher - und ich bin mir darüber im klaren, daß es mit großer Kompetenz und Tüchtigkeit geschehen wird.«

»Und Sie, Snow? Was werden Sie tun, während ich kompetent und tüchtig bin?«

»Der Präsident braucht seinem Stellvertreter keine Rechenschaft abzulegen, Celia«, tadelte er sie sanft. »Aber damit es zwischen uns keine Mißverständnisse gibt, will ich gern zugeben, daß ich bei weitem nicht soviel vom Pharma-Geschäft verstehe wie Sie. Aber wovon ich etwas verstehe - ganz sicher mehr als Sie -, das sind die Finanzen einer Firma. Und denen müssen wir gerade jetzt unsere besondere Aufmerksamkeit widmen. Daher werde ich in den sechs Monaten die meiste Zeit damit verbringen, mich um Geldangelegenheiten zu kümmern, jedenfalls solange ich auf diesem Stuhl sitze.«

Celia mußte zugeben, daß er sie höflich und mit Geduld behandelt hatte. Sie sagte, schon freundlicher als vorher: »Danke, Snow, ich werde mich bemühen, meinen Teil der Abmachung, so gut ich kann, zu erfüllen.«

»Ich bin sicher, daß Sie das tun werden.«

Der neue Präsident kam nicht jeden Tag ins Büro, aber er entwickelte einen Plan für die finanzielle Strategie der Firma, der sich über den Zeitraum von fünf Jahren erstreckte und den Seth Feingold Celia gegenüber als »ein Juwel, eine echte Bereicherung« bezeichnete.

Und der Leiter des Rechnungswesens fügte hinzu: »Der alte Kauz braucht vielleicht einen Stock zum Gehen, aber nicht für seinen Verstand - der ist noch immer so scharf wie eine Rasierklinge.«

Auch Celia lernte O'Halloran schätzen - seine Unterstützung bei allem, was sie tat, und seine unfehlbare Höflichkeit. Er war im wahrsten Sinne des Wortes »ein Gentleman der alten Schule«.

Deshalb tat es ihr aufrichtig leid, als sie in der letzten Januarwoche 1979 erfuhr, daß er mit einer Grippe zu Bett lag, und als Snow O'Halloran eine Woche später an einem Verschluß der Herzkranzgefäße starb, war sie traurig.

Diesmal wartete man nicht erst zwei Wochen, um einen Nachfolger zu benennen. Die Angelegenheit wurde bereits einen Tag nach O'Hallorans Beerdigung geregelt.

Außerhalb der Firma hatte sich noch immer kein geeigneter Kandidat gefunden, obwohl seit O'Hallorans Amtsantritt bereits mehr als vier Monate vergangen waren.

Es gab nur eine mögliche Wahl, und der Aufsichtsrat traf die Entscheidung, die er bereits im vergangenen September hätte treffen sollen, innerhalb von fünfzehn Minuten. Celia Jordan wurde zur Präsidentin von Felding-Roth ernannt.

1O

Die Idee war ihr, ausgelöst durch die Bemerkung von Andrew, im vergangenen August auf dem Flug von Hawaii gekommen.

Andrew hatte damals im Zusammenhang mit der Montayne-Katastrophe bei Schwangerschaften gesagt: »Als Arzt vertrete ich dieMeinung, daß man keinMedikament einnehmen soll, nur um ein Gefühl des Unwohlseins zu beseitigen, bei dem es sich ganz offensichtlich um einen zeitlich begrenzten Zustand handelt

Und wenn es mal bei dir soweit ist, wirst du auch nichts nehmen, kleines Fräulein«, hatte er sich an seine Tochter gewandt.

»Und wenn du ein kräftiges, gesundes Baby haben willst: keinen Alkohol und keine Zigaretten, hörst du ?«

Diese Sätze waren der Grundstein für eine Firmenpolitik, die Celia als »Felding-Roth-Doktrin« zum Vorschlag bringen wollte.

Sie hatte sich schon früher, als Vizepräsidentin, mit diesem Gedanken getragen, hatte ihn aber wieder fallenlassen, weil sie befürchtete, überstimmt zu werden.

Selbst nach ihrer Ernennung zur Präsidentin wartete sie noch eine Weile damit, weil sie wußte, daß das, was sie vorhatte, der Zustimmung des Aufsichtsrats bedurfte. Jetzt, nach sieben Monaten, wagte sie es.

Bill Ingram, seit kurzem Leiter der Abteilung Verkauf und Marketing, hatte ihr dabei geholfen, die Felding-Roth-Doktrin zu formulieren, die nun folgendermaßen lautete:

Felding-Roth Pharmaceuticals Incorporated gelobt feierlich:

Artikel eins: Felding-Roth wird nie ein pharmazeutisches Produkt entwickeln, herstellen, verteilen oder direkt oder indirekt auf den Markt bringen, das bei einer Schwangerschaft dazu dienen soll, einen vorübergehenden, normalen Zustand wie etwa Übelkeit und Schwindelgefühl zu behandeln, der eine natürliche Begleiterscheinung bei Schwangerschaften ist.

Artikel zwei: Felding-Roth wird sich auf jede mögliche Weise aktiv dafür einsetzen, daß kein Produkt wie in Artikel eins beschrieben, von welchem Hersteller auch immer, in die Hände einer Schwangeren gelangt.

Artikel drei: Felding-Roth wird schwangeren Frauen raten, die Anwendung aller rezeptpflichtigen und nicht rezeptpflichtigen Medikamente zu vermeiden, es sei denn, diese werden aus besonderen Gründen vom Arzt verschrieben.

Artikel vier: Felding-Roth wird sich auch weiterhin dafür einsetzen, daß Frauen während der Schwangerschaft keine alkoholischen Getränke zu sich nehmen und das Rauchen und den Aufenthalt in verrauchten Räumen vermeiden.

Es gab darüber hinaus eine Empfehlung an die Ärzte, die einerseits die beratende und vertrauensvolle Beziehung zwischen Arzt und Patient betraf, andererseits aber der Beschwichtigung der Ärzte diente, die ja als Rezeptschreiber Felding-Roths beste Kunden waren. Und es gab Hinweise auf besondere Umstände, Notfälle, zum Beispiel, bei denen die Verwendung von Medikamenten unumgänglich war.

»Die Sache ist einleuchtend und überzeugend«, meinte Bill Ingram. »Das war längst überfällig.«

Ingram, der bei der entscheidenden Sitzung, die Celias Kündigung vorausgegangen war, für Montayne gestimmt hatte, war zuerst zerknirscht und befangen gewesen, als sie zu Felding-Roth zurückkehrte. Ein paar Wochen später hatte er zugegeben: »Ich habe mich nach allem, was geschehen ist, gefragt, ob Sie überhaupt noch mit mir arbeiten wollen.«

»Aber ja«, hatte Celia ihn beruhigt. »Ich kenne Ihre Fähigkeiten und weiß, daß ich Ihnen vertrauen und mich auf Sie verlassen kann. Was geschehen ist, gehört der Vergangenheit an - Sie haben sich geirrt, und das kann jedem passieren. Es war schlimm, daß dieser Irrtum so schreckliche Folgen hatte, aber Sie waren ja nicht der einzige, und ich kann mir vorstellen, daß Sie aus der Erfahrung gelernt haben.«

»Ja, und ich wünschte, ich hätte damals genug Einblick und Mut besessen, zu Ihnen zu halten.«

»Sie müssen nicht blindlings zu mir halten«, wehrte sie ab. »Auch jetzt nicht. Es wird bestimmt mal vorkommen, daß ich im Unrecht bin, und dann möchte ich, daß Sie's mir sagen.«

Nach Celias Ernennung zur Präsidentin hatte es einige Umstrukturierungen und auch mehrere Beförderungen gegeben, und Bill Ingram bewährte sich bereits in seiner neuen, leitenden Position.

Celia bereitete sich auf die Sitzung, in der die von ihr vorgeschlagene Felding-Roth-Doktrin zur Sprache kommen sollte, sorgfältig vor.

Sie erinnerte sich an Sams Probleme mit dem Aufsichtsrat und an den Widerstand, den es vor Jahren gegen das von ihm geplante britische Forschungsinstitut gegeben hatte, und erwartete auch jetzt eine starke Opposition.

Zu ihrer Überraschung gab es so gut wie keine Gegenstimmen.

Eines der Aufsichtsratsmitglieder, Adrian Caston, Vorsitzender eines Finanztrusts und in seinen Entscheidungen stets bedächtig, fragte: »Ist es klug oder nötig, daß wir uns für alle Zeiten von einem medizinischen Bereich distanzieren, von dem vielleicht irgendwann in der Zukunft neue, sichere und gewinnbringende Entwicklungen ausgehen könnten?«

Sie hatten sich im Konferenzraum der Geschäftsleitung versammelt, und Celia antwortete, während sie den langen Walnußtisch entlangblickte: »Ich meine, wir sollten genau das tun. Wir sollten es tun, weil wir damit uns und andere, die unserem Beispiel folgen, vor der Versuchung bewahren, noch einmal mit etwas Ähnlichem wie Montayne in Verbindung gebracht zu werden.«

Alle hörten ihr aufmerksam zu. »Erinnerungen verblassen. Viele junge Frauen, die jetzt in dem Alter sind, Kinder zu bekommen, erinnern sich nicht mehr an Thalidomid oder haben noch nie etwas davon gehört. In einigen Jahren wird es mit Montayne genauso sein, und dann werden schwangere Frauen wieder irgend etwas, das ihnen ihr Arzt verschreibt, einnehmen. Und wenn das geschieht, wollen wir keinen Anteil daran haben, denn wir wissen, daß der Versuch, den normalen Verlauf einer Schwangerschaft durch Medikamente zu beeinflussen, seit eh und je mit Unheil belastet war.

Die Erfahrung hat gezeigt, daß Schwangerschaft ein Zustand ist, den man am besten der Natur selbst überläßt. Wir bei Fel-ding-Roth müssen mit einer Katastrophe leben, die durch ein Schwangerschaftsmedikament ausgelöst wurde und für die wir jetzt bitter büßen. In Zukunft täten wir - moralisch und finanziell - gut daran, unsere Gewinne woanders zu suchen und andere Hersteller dazu zu bewegen, das ebenfalls zu tun.«

Clinton Etheridge, ein Veteran der Firma, von dem Celia Widerspruch erwartet hatte, meldete sich zu Wort, um sie zu unterstützen.

»Was die Gewinne betrifft, so gefällt mir Mrs. Jordans Idee, unser Montayne-Debakel zum kommerziellen Vorteil zu nutzen. Falls es jemand noch nicht bemerkt haben sollte: diese sogenannte Doktrin« - Etheridge hielt sie in die Höhe - »ist eine verdammt kluge Idee. Sie ist eine ausgezeichnete Reklame für die anderen Medikamente, die wir im Angebot haben. Im Lauf der Zeit werden wir, glaube ich, feststellen, daß sie sich in Dollars bezahlt macht.«

Celia zuckte innerlich zusammen, aber dann sagte sie sich, daß ihr jede Unterstützung, aus welchen Gründen auch immer, helfen konnte. Allerdings wunderte sie sich über Etheridge, da sie wußte, daß er ein Freund und Verbündeter von Vincent Lord war und bei den Sitzungen zuweilen die Ansichten des Leiters der Forschungsabteilung vertrat. Lord hatte von der Felding-Roth-Doktrin gewußt und auch, daß sie eines Tages zur Sprache gebracht werden würde, und er und Etheridge hatten sicher darüber geredet. Wollte Lord durch diese indirekte Unterstützung Celia sein Bedauern wegen Montayne zu verstehen geben?

Bei der anschließenden Diskussion ging es vor allem um die Frage, wie sich die Doktrin wirksam einsetzen ließ. Das letzte Wort hatte Owen Norton, der Rundfunk- und Fernseh-Zar, der wenige Tage zuvor seinen 82. Geburtstag gefeiert hatte.

Er sah Celia über den Sitzungstisch hinweg an und bemerkte trocken: »Sie werden festgestellt haben, Mrs. Jordan, daß wir uns schließlich doch dazu durchgerungen haben, Ihr weibliches Urteil zu respektieren - und ich persönlich kann nur bedauern, daß wir so lange dazu gebraucht haben.«

Die Abstimmung, die Celias Doktrin zur offiziellen Firmenpolitik erhob, erfolgte einstimmig.

Die Felding-Roth-Doktrin kam recht gut an, auch wenn sie in der breiten Öffentlichkeit nicht die Aufmerksamkeit fand, die Celia sich erhofft hatte.

Den Ärzten gefiel sie - mit nur wenigen Ausnahmen. Ein Gynäkologe schrieb:

Bitte schicken Sie mir weitere Exemplare, damit ich mir eins einrahmen und an meine Sprechzimmerwand hängen kann.

Wenn schwangere Patientinnen der Meinung sind, daß ich sie nicht angemessen behandele, weil ich mich weigere, ihnen irgendein überflüssiges schmerzstillendes Mittel zu verschreiben, werde ich ihnen Ihre Doktrin zeigen.

Sie haben uns, die wir nicht davon überzeugt sind, daß es für jede Gelegenheit ein Medikament geben muß, durch Ihre moralische Haltung sehr geholfen. Weiter so!

Er erhielt zusätzliche Exemplare, ebenso wie viele andere Ärzte, die gleichfalls darum baten.

Der Einwand mancher Ärzte beruhte auf der Auffassung, daß sie und nicht die Pharma-Firmen dafür zuständig seien, den Patientinnen zu sagen, welche Medikamente sie wann nehmen sollten. Aber sie waren, prozentual gesehen, eine kleine Minderheit.

Die Felding-Roth-Doktrin wurde in der Firmenwerbung, die sich allerdings nur auf medizinische und wissenschaftliche Pu-blikationen beschränkte, groß herausgestellt. Celia war zuerst dafür gewesen, auch in Zeitungen und Publikumszeitschriften zu inserieren, ließ sich aber davon überzeugen, daß die organisierte Ärzteschaft ebenso wie die FDA eine direkte Verbraucherwerbung für rezeptpflichtige Medikamente nicht gern sah.

Vielleicht schenkten die Tageszeitungen der Felding-Roth-Doktrin deswegen nur so geringe Aufmerksamkeit. Die New York Times brachte einen kurzen Artikel im Wirtschaftsteil, und Kurzmeldungen erschienen in Lokalzeitungen, soweit Platz vorhanden war. Das Fernsehen schwieg sich trotz angestrengter Pu-blic-Relations-Bemühungen aus.

»Wenn wir ein Medikament auf den Markt bringen, das unerwartet schädliche Nebenwirkungen aufweist«, beklagte sich Bill Ingram bei Celia, »dann stellen uns diese Fernsehtypen an den Pranger. Aber wenn wir etwas Positives tun, wie jetzt, gibt's nur das große Gähnen.«

»Der Fernseh-Journalismus muß stark vereinfachen«, erklärte Celia. »Die Themen müssen griffig und leicht verständlich sein, damit durch lange Erklärungen nicht teure Sendezeit verlorengeht. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Irgendwann kommt uns das vielleicht auch mal zugute.«

»Vergessen Sie nicht, mich darauf aufmerksam zu machen, wenn's soweit ist«, sagte Ingram zweifelnd.

Die Reaktion anderer Pharma-Firmen auf die Felding-Roth-Doktrin war unterschiedlich.

Diejenigen Firmen, die Schwangerschaftspräparate im Angebot hatten, nahmen eine eher feindselige Haltung ein. »Ein billiger Reklametrick, mehr nicht«, nannte ein Firmensprecher die Doktrin in der Öffentlichkeit.

Andere meinten, Felding-Roth versuche, »heiliger zu sein als die Heiligen«, was der Industrie schaden könnte - nähere Gründe dafür wurden nicht genannt. Ein oder zwei Konkurrenzfirmen sprachen jedoch ganz offen ihre Bewunderung aus. »Ich wünschte«, sagte ein bekannter Industrieboß zu Celia, »es wäre unsere Idee gewesen.«

»Das beweist alles gar nichts«, vertraute sie Andrew an, »außer vielleicht, daß man es nicht jedem recht machen kann.«

»Ihr müßt Geduld haben«, redete er ihr gut zu. »Ihr habt etwas auf den Weg gebracht, das Wellen schlagen wird. Du wirst dich noch wundern . . .«

Aber auch Montayne schlug Wellen. Und eine hatte den Capitol Hill in Washington erreicht.

Die Helfer von Senator Dennis Donahue, dem Kongreßveteranen, hatten sich ein Jahr lang mit der Montayne-Affäre befaßt und sie als ideales Objekt erkannt, mit dem sich ihr Chef in einem Hearing im Senat profilieren konnte. »Ideal« bedeutete in diesem Fall: starkes öffentliches Interesse, großer Wirbel und garantierte Sendezeit im Fernsehen. Denn der Senator betonte im Kreise seiner Mitarbeiter immer wieder gern: »Vergeßt nicht, daß Wählerstimmen nur übers Fernsehen zu gewinnen sind.«

Demgemäß kündigte der Senats-Unterausschuß für ethische Verkaufspolitik, dessen Vorsitzender Donahue war, für Anfang Dezember ein Hearing vor dem Kongreß in Washington an. Die Zeugen seien, wie der Senator in einer Pressekonferenz im Oktober verkündete, bereits vorgeladen. Andere, die über das Thema fachliche Aussagen machen konnten, waren ebenfalls geladen worden, um mit dem Ausschuß zusammenzuarbeiten.

Als Celia das erste Mal davon hörte, rief sie sofort Rechtsanwalt Childers Quentin in Washington an.

»Das sind allerdings schlechte Nachrichten«, bestätigte er. »Ich fürchte, daß Ihrer Firma - und Ihnen als ihrer Wortführerin -schlimme Zeiten bevorstehen. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, so sollten Sie mit den Vorbereitungen für das Hearing mit Hilfe eines juristischen Beraters bereits jetzt beginnen. Ich weiß, wie diese Dinge laufen, und Sie können sicher sein, daß das Team des Senators jede noch so geschmacklose Tatsache, jedes üble Gerücht ans Tageslicht zerren wird.«

11

Wenn das Wort Demagoge, oder demagogos, nicht von den alten Griechen geprägt worden wäre, hätte man es erfinden müssen, um Senator Dennis Donahue zu beschreiben. Ein treffenderes Beispiel dafür hat es nie gegeben.

Er war in wohlhabenden und privilegierten Verhältnissen aufgewachsen, gab sich aber stets als »Sohn einfacher Leute, einer von Ihnen, von dieser Erde«, wie er es auszudrücken beliebte. Nichts hätte unzutreffender sein können, aber wie alles, was oft genug wiederholt wird, wurde es von vielen geglaubt.

Eine andere Rolle, in der sich der Senator gefiel, war die eines »Sprechers für die Armen und Notleidenden, eines Kämpfers für die Unterdrückten«. Ob er in seinem Innern tatsächlich etwas für die Armen und Leidenden übrig hatte, wußte nur Donahue selbst. Auf jeden Fall verstand er es für sich zu nutzen.

Wo immer ein Kampf a la David und Goliath stattfand, eilte Donahue herbei und stellte sich eifrig an Davids Seite, selbst wenn Goliath - für Leute, die nachdachten - eindeutig im Recht war. »Es hat schon immer mehr Davids gegeben, und die sind bei Wahlen nützlich«, erklärte einmal ein Helfer Donahues in einem Augenblick unbedachter Offenheit.

Vielleicht unterstützte Donahue aus dem gleichen Grund bei jedem Streit mit Gewerkschaften unweigerlich die organisierten Arbeiter und stellte sich nie auf die Seite der Wirtschaft, selbst wenn die Gewerkschaften über das Ziel hinausschössen.

Die Arbeiter- und Arbeitslosenszene war für einen ehrgeizigen Politiker ein fruchtbares Feld, das hatte er frühzeitig erkannt. Aus diesem Grund reihte sich der Senator in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit hin und wieder in die Schlange der Arbeitssuchenden vor den Arbeitsämtern ein und redete mit ihnen. Angeblich, um sich »selbst ein Bild zu machen und zu erfahren, wie man sich als Arbeitsloser fühlt« - ein bewundernswertes Anliegen, gegen das kein vernünftiger Mensch etwas einwenden konnte. Interessant war nur, daß die Medien stets von der Absicht des Senators wußten, so daß immer Fernsehteams und Pressefotografen zur Stelle waren und sein wohlvertrautes Gesicht mit dem seelenvollen Blick noch am selben Abend in den Fernsehnachrichten und am nächsten Tag in den Zeitungen auf-tauchte.

Auch im Zusammenhang mit dem »einfachen Mann« hatte der Senator seit neuestem ein weiteres ergiebiges Thema entdeckt, und zwar die erste Klasse in öffentlichen Verkehrsmitteln und die von der Steuer absetzbaren Flugreisen der Geschäftsleute. Wenn diese Leute Privilegien wollten, so argumentierte er, sollten sie die aus eigener Tasche bezahlen und sie sich nicht von den Steuerzahlern finanzieren lassen. Er legte dem Senat einen Gesetzentwurf vor, nach dem Erster-Klasse-Flüge nicht mehr von der Steuer absetzbar waren; allerdings wußte er, daß ein solcher Gesetzentwurf im Verlauf des Legislaturprozesses irgendwo auf der Strecke bleiben würde.

Es war bemerkenswert, wie oft es ihm gelang, mit diesem Thema in die Nachrichten zu kommen. Um seine Idee zu bekräftigen, machte es sich Senator Donahue zur Gewohnheit, bei Flügen in der Touristenklasse zu reisen, und selbstverständlich informierte er die Presse vor jedem Flug darüber. Es gab keinen Er-ster-Klasse-Passagier, dem soviel Aufmerksamkeit zuteil geworden wäre wie Donahue hinten in der Touristenklasse. Eines allerdings vergaß er zu erwähnen, nämlich daß er den größten Teil seiner Flugreisen mit einem Privatflugzeug zurücklegte, das ihm entweder von der Familie oder von Freunden zur Verfügung gestellt wurde.

Donahue war untersetzt und hatte ein Engelsgesicht, das ihn jünger aussehen ließ, als er mit seinen neunundvierzig Jahren war. Er hatte Übergewicht, ohne fett zu sein, und nannte sich selbst »hübsch gepolstert«. Fast ständig, vor allem, wenn er sich in der Öffentlichkeit zeigte, trug er ein leichtes Grinsen zur Schau, das freundlich wirken sollte. Seine Kleidung und sein Haarschnitt waren gewollt leger und sollten zu dem Bild des »einfachen Mannes« passen.

Während objektive Beobachter Donahue für einen Opportunisten hielten, der er auch war, mochten ihn viele Leute gern, nicht nur die Mitglieder seiner eigenen Partei, auch manche aus den Reihen seiner politischen Gegner. Ein Grund dafür war, daß er Sinn für Humor hatte und es auch mal vertragen konnte, wenn auf seine Kosten gelacht wurde. Außerdem war er ein guter Gesprächspartner.

Letzteres machte ihn für manche Frauen anziehend, was er zu seinem Vorteil zu nutzen wußte, obwohl er verheiratet war und sich häufig in Begleitung seiner Frau und seiner Kinder zeigte.

Das also war Senator Donahue, der am ersten Dienstag im Dezember kurz nach zehn Uhr die Sitzung des Senats-Unterausschusses für ethische Verkaufspolitik eröffnete, indem er eine kurze Erklärung abgab.

Der Ausschuß tagte in Raum SR-253 des alten Senatsgebäudes, ein eindrucksvoller Rahmen. Der Vorsitzende und seine Senatoren-Kollegen saßen hinter einem erhöhten V-förmigen Tisch den Zeugen und den Zuhörern gegenüber. Von den drei großen Fenstern aus sah man auf den Park und den Springbrunnen. Der Kamin war aus Marmor, die Vorhänge waren beigefarben und mit dem Wappen der Vereinigten Staaten von Amerika bedruckt.

»Alle, die wir hier versammelt sind«, begann Dennis Donahue und sah auf ein Blatt Papier, »sind uns der gräßlichen, weltweiten Tragödie bewußt, deren Opfer Kinder sind, Kinder, deren Gehirne von einem Medikament zerstört wurden, das noch bis vor kurzem auch in diesem Land verschrieben und verkauft wurde. Der Name dieses Medikaments ist Montayne.«

Der Senator war ein starker, eindringlicher Redner, und die etwa hundert Leute im Raum lauschten aufmerksam. Fernsehkameras waren auf ihn gerichtet. Außer Donahue waren noch acht weitere Senatoren anwesend - fünf von Donahues eigener führender Partei und drei von der Opposition. Links vom Vorsitzenden saß Stanley Urbach, der Anwaltsvertreter des Unterausschusses, ein früherer Staatsanwalt aus Boston. Hinter den Senatoren hielten sich sitzend oder stehend fünfzehn Ausschußhelfer auf.

»In diesem Hearing soll untersucht werden«, fuhr Donahue fort, »wer die Verantwortung für diese Vorfälle trägt und ob . . .«

Celia, die als erste Zeugin vorgesehen war, vernahm eine Er-öffnungserklärung, die sich nach einem vorhersehbaren Muster abspulte. Sie saß an einem grün bespannten Tisch neben ihrem Berater Childers Quentin. Sie hatte Quentin zu dieser Rolle überredet, weil es, wie sie ihm erklärte, »keinen Anwalt gibt, der mehr über Montayne weiß als Sie, und ich Vertrauen zu Ihnen habe«.

Für diesen Tag hatte er ihr einen ganz spezifischen Rat gegeben. »Legen Sie alles so ehrlich und knapp wie möglich dar«, hatte Quentin verlangt, »und versuchen Sie nicht, clever zu sein oder Dennis Donahue übertreffen zu wollen.«

Die letzte Warnung war im Hinblick darauf erfolgt, daß Celia die Absicht geäußert hatte, daran zu erinnern, daß Donahue vor mehr als zwei Jahren, als die Zulassung von Montayne durch die FDA verzögert wurde - was viele für unvernünftig hielten -, zu denen gehört hatte, die gegen diese Verzögerung protestiert und sie als »unter diesen Umständen einfach lächerlich« bezeichnet hatten.

»Das tun Sie auf gar keinen Fall!« hatte Quentin gesagt. »Do-nahue wird sich selbst oder durch seine Leute daran erinnern, so daß er auf diesen Vorwurf vorbereitet ist und entsprechend reagieren würde. Wahrscheinlich würde er sagen, daß er nur eins der vielen Opfer ist, die die Propagandamethoden der Pharmaindustrie auf dem Gewissen haben, oder so ähnlich. Und außerdem würden Sie ihn sich damit zum Feind machen, was außerordentlich unklug wäre.«

Dann klärte der Rechtsanwalt Celia über einige Fakten der Washingtoner Szene auf.

»Ein Senator besitzt unglaubliche Macht und Einfluß, in manchen Fällen mehr als ein Präsident, weil die Macht, die er ausübt, nicht so deutlich sichtbar ist. Es gibt kein Ministerium, in dem ein Senator keinen Einfluß hat, vorausgesetzt, es handelt sich um nichts Ungesetzliches. Wichtige Leute in und außerhalb der Regierung laufen sich die Hacken ab, um einem Senator einen Gefallen zu tun - ohne Rücksicht auf Verluste. Bei diesem System des Gebens und Nehmens übt ein Senator in jeder Hinsicht die größte Macht aus. Deshalb muß jemand schon sehr dumm sein, wenn er es darauf anlegt, sich einen US-Senator zum Feind zu machen.«

Celia hatte sich den Ratschlag zu Herzen genommen und wollte sich Mühe geben, bei jedem Schlagabtausch mit Dennis Donahue daran zu denken.

Vincent Lord war ebenfalls anwesend; er saß auf der anderen Seite von Quentin. Während Celia für Felding-Roth eine Erklärung abgeben und dann ins Kreuzverhör genommen werden sollte, brauchte der Leiter der Forschungsabteilung, falls erforderlich, nur Fragen zu beantworten.

Senator Donahue beendete seine einleitenden Worte, machte eine kurze Pause und verkündete dann: »Unsere erste Zeugin ist Mrs. Celia Jordan, Präsidentin von Felding-Roth Pharmaceuticals in New Jersey. Mrs. Jordan, möchten Sie uns Ihre Begleitung vorstellen?«

Mit wenigen Worten stellte Celia Quentin und Lord vor.

Donahue nickte. »Mr. Quentin kennen wir gut. Und wir freuen uns auch, Dr. Lord bei uns zu haben. Mrs. Jordan, Sie möchten sicher eine Erklärung abgeben.«

Celia blieb am Zeugentisch sitzen, während sie ins Mikrofon sprach. »Herr Vorsitzender, Mitglieder des Unterausschusses: Zuerst und vor allem möchten wir all jenen Familien, die von dem Unglück betroffen sind, das Senator Donahue vor ein paar Minuten völlig richtig als eine weltweite Tragödie bezeichnet hat, unsere Betroffenheit und unser Mitgefühl aussprechen. Obwohl noch keine eindeutigen wissenschaftlichen Beweise vorliegen und es vielleicht noch Jahre dauern wird, bis alles geklärt ist, muß zur Zeit als sicher angenommen werden, daß das Medikament Montayne für die Schäden an den ungeborenen Kindern verantwortlich zu machen ist - bei einem sehr kleinen Teil der Gesamtbevölkerung und unter Begleitumständen, die bei der umfassenden Erprobung dieses Medikaments, zuerst in Frankreich, später in anderen Ländern und vor der offiziellen Zulassung durch die FDA auch in den Vereinigten Staaten, unmöglich vorauszusehen waren.«

Celia sprach deutlich, aber leise und mit Absicht nicht besonders eindringlich. Die Erklärung, die sie zusammen mit Childers Quentin abgefaßt hatte, war danach noch von mehreren Leuten sorgfältig überarbeitet worden. Sie hielt sich im großen und ganzen an den Text und fügte nur ab und zu einen Satz ein.

»Meine Firma möchte hervorheben, daß sie in allem, was Montayne betrifft - in jedem Stadium der Erprobung, Verbreitung und Berichterstattung -, mehr getan hat, als das Gesetz verlangt. Meine Firma hat Montayne sogar, als ernsthafte Zweifel an dem Medikament aufkamen, freiwillig aus dem Handel gezogen, ohne erst den Beschluß der FDA abzuwarten.

Ich möchte etwas weiter ausholen und auf den Ursprung von Montayne eingehen, das von Laboratoires Gironde-Chimie entwickelt wurde, einer französischen Firma mit ausgezeichnetem Ruf und einer langen Geschichte erfolgreicher . . .«

Der Bericht war nicht nur sachlich und präzise, er wurde auch völlig unpersönlich vorgetragen. Auch das hatte man bei den Diskussionen in der Zentrale von Felding-Roth und in der Kanzlei von Childers Quentin in Washington beschlossen.

»Wie wollen Sie die Sache mit Ihrer Kündigung wegen Montayne behandeln?«

»Überhaupt nicht«, hatte sie erwidert. »Meine Kündigung hatte rein persönliche Gründe, war eine Frage des Gewissens. Jetzt bin ich wieder zurückgekehrt und repräsentiere die Firma.«

»Und was ist mit Ihrem Gewissen?«

»Ist noch intakt«, hatte sie scharf erwidert. »Wenn man mich wegen meiner Kündigung befragt, werde ich ehrlich antworten. Ich möchte nur nicht von selbst darauf zu sprechen kommen.«

Celia hatte Quentin auch daran erinnert, daß es für ihre Kündigung keinen wissenschaftlich belegbaren Grund gegeben hatte -dessen war sie sich bewußt, und das war auch der Grund dafür gewesen, daß sie nicht an die Öffentlichkeit gegangen war.

Jetzt informierte sie den Unterausschuß des Senats: »Bis im Juni 1976 ein Bericht aus Australien eintraf, gab es an der Unbedenklichkeit von Montayne überhaupt keine Zweifel. Aber selbst dann schien es noch keinen Grund zur Sorge zu geben, weil eine Untersuchungskommission der australischen Regierung . . .«

Schritt für Schritt beschrieb sie die Geschichte von Montayne. Der Bericht dauerte vierzig Minuten, und Celia schloß mit den Worten: »Meine Firma hat die Auflagen des Untersuchungsausschusses erfüllt und Dokumente vorgelegt, die alles, was ich gesagt habe, bestätigen. Wir sind bereit, auch weiterhin in jeder Hinsicht mit Ihnen zusammenzuarbeiten und Fragen zu beantworten.«

Die Fragen kamen sofort, die erste von Stanley Urbach, dem Anwalt des Komitees, der ein langes schmales Gesicht und dünne Lippen hatte und den Eindruck machte, als würde er nur selten lächeln.

»Mrs. Jordan, Sie haben sich auf den australischen Bericht bezogen, der möglicherweise Zweifel an Montayne hätte wecken können. Das war sieben bis acht Monate, bevor Ihre Firma das Medikament in den Vereinigten Staaten auf den Markt brachte. Ist das richtig?«

Celia rechnete im Kopf nach. »Ja.«

»In Ihrer Erklärung haben Sie zwei weitere nachteilige Berichte erwähnt, einen aus Frankreich, einen anderen aus Spanien, die beide vorlagen, bevor Ihre Firma Montayne in den Vereinigten Staaten auf den Markt brachte. Ist auch das richtig?«

»Nicht ganz, Mr. Urbach. Sie haben die Berichte als nachteilig bezeichnet. Es waren - zu jenem Zeitpunkt - bloße Behauptungen, die von Laboratoires Gironde-Chimie verfolgt und für unbegründet erklärt wurden.« Der Anwalt machte eine ungeduldige Handbewegung. »Wenn wir Wortklauberei betreiben wollen, dann lassen Sie mich so fragen: Waren die Berichte günstig?«

»Nein, und vielleicht kann ich uns allen etwas Zeit sparen. In der Pharma-Branche hat >nachteiliger Bericht< eine ganz spezielle Bedeutung. Und diese Definition traf auf die Berichte aus Frankreich und Spanien nicht zu.«

Urbach stieß einen Seufzer aus. »Würde sich die Zeugin auf >bedenkliche Berichte< einigen?«

»Einverstanden.« Celia spürte schon jetzt, daß ihr schwierige Zeiten bevorstanden.

Senator Donahue mischte sich ein. »Es ist doch völlig klar, worauf der Anwalt hinaus will. Waren Ihnen - Ihrer Firma -diese drei Berichte bekannt, bevor Sie Montayne hier bei uns auf den Markt brachten?«

»Ja.«

»Und trotzdem haben Sie sich nicht aufhalten lassen und das Medikament verkauft?«

»Senator, bei jedem Medikament gibt es negative Stimmen. Sie müssen alle sorgfältig untersucht und abgewogen werden . . .«

»Ich habe Sie nicht um eine Lektion über die Praktiken der Pharma-Industrie gebeten, Mrs. Jordan. Meine Frage erfordert ein einfaches >Ja< oder >Nein<. Ich wiederhole: Hat Ihre Firma, obgleich sie von diesen Berichten wußte, das Medikament weiter hergestellt und an schwangere amerikanische Frauen verkauft?«

Celia zögerte.

»Wir warten, Mrs. Jordan.«

»Ja, Herr Senator, aber . . .«

»Das >Ja< genügt uns.« Donahue nickte Urbach zu. »Fahren Sie fort.«

»Wäre es nicht besser und vernünftiger gewesen«, fragte der Anwalt des Ausschusses, »wenn Felding-Roth diese Berichte erst noch einmal überprüft und den Start von Montayne verschoben hätte?«

Genau das waren ihre Argumente gewesen! dachte Celia. Und der Grund für ihre Kündigung. Aber hier saß sie als Sprecherin ihrer Firma, und deshalb antwortete sie: »Wenn man es im nachhinein betrachtet, ja. Aber damals folgte die Firma dem Rat der Wissenschaftler und machte weiter.«

»Wessen Rat war das?«

Sie überlegte, bevor sie antwortete. Natürlich war Lord derjenige gewesen, aber sie wollte fair sein. »Der unseres Forschungsleiters Dr. Lord, aber er richtete sich wiederum nach den Daten und Ergebnissen von Gironde-Chimie.«

»Wir werden Dr. Lord später selbst befragen. Inzwischen . . .« Urbach zog seine Notizen zu Rate. »Hatte die Entscheidung, weiterzumachen und Montayne trotz dieser nachteiligen . . . ent-schuldigen Sie bitte, bedenklichen Berichte nicht zu verschieben, irgend etwas mit den erhofften Gewinnen zu tun?«

»Nun, Gewinne sind immer ein Faktor . . .«

»Mrs. Jordan! Ja oder nein?«

Celia seufzte. Was halfs? Jede Frage war eine Falle, ein Schritt in Richtung eines vorgefaßten Beschlusses.

»Ja«, gab sie zu.

»Waren diese Gewinne für Ihre Firma wichtig?«

»Ja, der Meinung war man.«

»Wie hoch schätzte man die Gewinne ein, die man sich versprach?«

Die unbarmherzige Inquisition ging weiter. Und doch fand Ce-lia Zeit, sich zu fragen: Waren sie unfair, wenn sie so dicht an die Wahrheit herankamen? Hatte sie sich nicht, vor gar nicht so langer Zeit, all diese Fragen selbst gestellt? Und war es nicht blanke Ironie, daß sie anstelle von Sam Hawthorne jetzt hier stand, dem man diese Fragen eigentlich hätte stellen sollen? Zum ersten Mal seit Hawaii mußte sie an Andrews warnende Worte denken: »Wenn du zurückgehst . . . dann wird ein Teil der Montayne-Verantwortung auch auf dich fallen.« Wie so oft hatte er recht behalten.

Ihre Befragung wurde zur Mittagspause abgebrochen. »Mrs. Jordan, Sie sind fürs erste entlassen«, erklärte Senator Donahue, »aber halten Sie sich bitte für weitere Fragen zur Verfügung. Nach der Mittagspause wird Dr. Vincent Lord als Zeuge aufgerufen.«

12

Quentin und Celia aßen auf dem Rücksitz einer Limousine, die vor dem alten Senatsgebäude auf sie gewartet hatte, ein Sandwich und tranken dazu Kaffee aus einer Thermosflasche. »Das geht schneller, und wir sind hier ganz unter uns«, hatte Quentin gesagt. Sie parkten am Jefferson Drive, nicht weit vom Smith-sonian Institut entfernt, während der Chauffeur draußen auf und ab ging.

Vincent Lord war auch dazu eingeladen gewesen, hatte aber wegen einer anderen Verabredung abgesagt.

»Die versuchen, Sie persönlich schlecht aussehen zu lassen«, erklärte Quentin nach einer Weile. »Wie fühlen Sie sich dabei?«

Celia verzog das Gesicht. »Es gefällt mir nicht besonders.«

»Das ist nichts als Taktik.« Der Rechtsanwalt nahm einen Schluck Kaffee. »Derlei Untersuchungen sind ja immer eine politische Übung, und dafür benötigt man eben ein schwarzes Schaf. Da Sie die Firma repräsentieren, sind Sie dran. Aber ich könnte etwas unternehmen, um es zu unterbinden.«

»Was denn?«

»Dazu muß ich Ihnen etwas erklären: Donahue und seine Leute wissen natürlich, daß Sie sich intern gegen Montayne ausgesprochen und auch aus diesem Grund gekündigt haben. Sie kennen wahrscheinlich auch die Bedingungen, die Sie für den Fall Ihrer Rückkehr gestellt haben, und sie kennen ganz bestimmt auch die Felding-Roth-Doktrin, deren Verfasserin Sie sind.«

»Aber warum . . .«

»Versuchen Sie es mal von deren Warte aus zu betrachten. Warum sollten Donahues Leute daran interessiert sein, Ihr gutes Image aufrechtzuerhalten? Und wenn - wen sollen sie dann unter Beschüß nehmen? Etwa einen Toten?«

»Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, stimmte Celia zu. »Trotzdem - ist denn die Wahrheit überhaupt nicht wichtig?«

»Wenn ich als Anwalt auf der anderen Seite stünde«, sagte Quentin, »würde ich Ihre Frage folgendermaßen beantworten: Die Wahrheit ist immer wichtig. Aber im Fall von Montayne liegt die Wahrheit in dem, was Felding-Roth getan hat: daß die Firma Montayne auf den Markt gebracht hat und die Verantwortung trägt. Und was Sie persönlich betrifft - nun gut, Sie sind zurückgetreten. Aber dann sind Sie zurückgekehrt und haben damit dokumentiert, daß Sie bereit sind, die Verantwortung für Montayne mitzutragen.« Quentin lächelte grimmig. »Natürlich könnte ich die ganze Sache auch anders herum betrachten und genauso überzeugend sein.« »Rechtsanwälte!« Celia lachte spöttisch. »Glauben die eigentlich an gar nichts?«

»Wir bemühen uns. Allerdings ist diese Ambivalenz eine ständige Gefahr.«

»Sie sagten, daß Sie etwas tun könnten . . .«

»Im Unterausschuß sitzen einige Mitglieder aus der Minderheitspartei, die Ihrer Branche durchaus freundlich gesonnen sind. Sie haben auch einen Anwalt in ihren Reihen. Bis jetzt hat keiner von ihnen das Wort ergriffen, und wahrscheinlich werden sie es auch weiterhin nicht tun, um nicht in den Ruf zu geraten, sie seien für Montayne. Aber wenn ich einen von ihnen bitte, Fragen zu stellen, die Sie in positivem Licht erscheinen lassen, würde er es tun.«

»Würde das dann auch für Felding-Roth günstig sein?«

»Nein. Wahrscheinlich nicht - ganz im Gegenteil.«

Celia zuckte resigniert die Achseln. »Dann sollten wir es lieber bleibenlassen.«

»Wie Sie wollen«, sagte der Rechtsanwalt enttäuscht. »Schließlich geht es um Ihren Kopf.«

Als die Nachmittagssitzung begann, griff Vincent Lord zu dem für die Zeugen bestimmten Mikrofon.

Urbach begann die Befragung, indem er Lord seine wissenschaftliche Laufbahn beschreiben ließ. Dann ging der Anwalt des Untersuchungsausschusses zu den Anfängen von Montayne zurück, und Lord beantwortete alle Fragen selbstsicher und entspannt.

Nach etwa fünfzehn Minuten fragte Urbach: »Als diese Berichte aus Australien, Frankreich und Spanien in Ihrer Firma bekannt wurden, kurz bevor Montayne in den Vereinigten Staaten auf den Markt kommen sollte, haben Sie da empfohlen, den Start zu verschieben?«

»Nein, das habe ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Zu diesem Zeitpunkt war es Sache der Geschäftsleitung, zu entscheiden, ob der Start verschoben würde. Als Forschungslei-ter gingen mich nur die wissenschaftlichen Fakten etwas an.«

»Erklären Sie das bitte genauer.«

»Gern. Ich hatte die Aufgabe, die damals verfügbaren Informationen, die wir von Laboratoires Gironde-Chimie erhielten, wissenschaftlich zu bewerten. Und von dieser Warte aus hatte ich keinen Grund, davon abzuraten, Montayne, wie geplant, auf den Markt zu bringen.«

Hartnäckig bohrte Urbach weiter. »Sie haben von einer wissenschaftlichen Bewertung< gesprochen. Hatten Sie, abgesehen von der rein wissenschaftlichen Seite, irgendein Gefühl, einen Instinkt in bezug auf diese drei Berichte?«

Zum ersten Mal zögerte Lord, bevor er antwortete. Dann sagte er: »Das könnte sein.«

»Könnte es nur sein, oder war es so?«

»Na ja, irgendwie war mir nicht ganz wohl dabei. Aber schließlich war vom wissenschaftlichen Standpunkt aus nichts einzuwenden.«

Celia, die bisher entspannt zugehört hatte, wurde plötzlich aufmerksam.

»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Dr. Lord«, fuhr Urbach fort, »dann befanden Sie sich gewissermaßen in einem Dilemma.«

»Ja, das könnte man sagen.«

»Ein Dilemma zwischen dem wissenschaftlichen Aspekt einerseits und Ihrem persönlichen >Unbehagen< andererseits - ich wiederhole Ihre eigenen Worte. Ist das richtig?«

»Ich glaube, so könnte man es nennen.«

»Es geht nicht um die Frage, wie man es nennen könnte, Dr. Lord, sondern einzig und allein darum, wie Sie es nennen.«

»Nun . . . ja, ich würde es so nennen.«

»Danke.« Der Anwalt des Untersuchungskomitees warf einen Blick in seine Notizen. »Um es noch einmal festzuhalten, Doktor: Haben Sie sich, nachdem Sie diese Berichte, von denen hier die Rede ist, gelesen hatten, für den Verkauf von Montayne ausgesprochen oder nicht?«

»Nein, das habe ich nicht.«

Celia fuhr zusammen. Das war eine Lüge. Lord hatte sich nicht nur für Montayne eingesetzt, er hatte auch auf der Sitzung, die Sam abgehalten hatte, dafür gestimmt, hatte sich über Celias Zweifel und ihre Bitte um Verschiebung lustig gemacht.

Senator Donahue beugte sich zum Mikrofon. »Ich möchte dem Zeugen gern folgende Fragen stellen: Dr. Lord, wenn Sie für das Management verantwortlich gewesen wären und nicht nur für die wissenschaftliche Seite, hätten Sie sich dann für eine Verschiebung ausgesprochen?«

Wieder zögerte Lord. Dann antwortete er mit fester Stimme: »Ja, Herr Senator, das hätte ich getan.«

Dieses Schwein! Celia kritzelte etwas auf einen Zettel, den sie Quentin zuschieben wollte: Das ist nicht wahr . . . Dann hielt sie inne. Was machte es für einen Unterschied? Angenommen, sie stellte Lords Ehrlichkeit in Frage und es entwickelte sich daraus ein Streit - was würde das ändern? Bei diesem Hearing jedenfalls nichts. Angewidert zerknüllte sie den Zettel.

Nach ein paar weiteren Fragen dankte man Lord für sein Erscheinen und entließ ihn. Er verließ sofort den Saal, ohne in Ce-lias Richtung zu blicken.

Als nächste Zeugin wurde Dr. Maud Stavely aufgerufen.

Die Vorsitzende der Organisation »Bürger für mehr Sicherheit in der Medizin« schritt selbstbewußt nach vorn zum Mikrofon am Zeugentisch, der nicht weit von Celia und Quentin entfernt war. Sie blickte nicht in ihre Richtung.

Senator Donahue begrüßte die Zeugin freundlich, und Dr. Stavely verlas eine vorbereitete Erklärung. Darin führte sie ihre medizinischen Qualifikationen an, beschrieb die Struktur der New Yorker Organisation, die negative Einschätzung der Pharma-Fir-men und die Zweifel an Montayne, die ihre Gruppe von Anfang an zum Ausdruck gebracht hatte.

Obwohl Celia den Ton, in dem die Erklärung abgehalten war, und einige Anspielungen nicht mochte, mußte sie zugeben, daß Dr. Stavely kompetent und überzeugend wirkte. Sie sah noch immer so attraktiv und gepflegt aus wie vor zwei Jahren, als sie sich kennengelernt hatten, und trug ein einfaches, aber modisches kastanienbraunes Kostüm.

Dr. Stavely fuhr fort: »Leider hatten wir nur sehr wenig Geld, um unserem Protest Nachdruck zu verleihen. BSM besitzt nicht die Summen, die Firmen wie Felding-Roth in ihre Werbekampagnen stecken, um die Ärzte und die Öffentlichkeit irrezuführen.«

»Ich kann mir vorstellen«, unterbrach Dennis Donahue, »daß die Spenden für Ihre Organisation zugenommen haben, nachdem sich Ihre Meinung über Montayne als richtig erwiesen hat.«

»Das ist in der Tat der Fall, Herr Senator. Und wir hoffen, daß sich dies nach der Untersuchung, die wir begrüßen, weiter fortsetzt.«

Donahue lächelte, und Dr. Stavely fuhr fort.

Zu Celias Ärger berichtete sie von ihrem Besuch in der CSM-Zentrale. Das würde alles nur noch mehr komplizieren!

Dieser Punkt kam erneut zur Sprache, als Stanley Urbach Dr. Stavely ins Kreuzverhör nahm.

Der Anwalt des Untersuchungskomitees fragte: »Was war das für ein Tag, an dem Mrs. Jordan zu Ihnen ins Büro kam?«

Dr. Stavely sah in ihre Notizen. »Der zwölfte November 1978.«

»Hat Mrs. Jordan Ihnen einen Grund für ihren Besuch genannt?«

»Sie sagte, sie wolle sich mit mir unterhalten. Eines der Themen, über die wir gesprochen haben, war Montayne.«

»Zu diesem Zeitpunkt war Montayne, glaube ich, noch nicht im Handel, obgleich es von der FDA bereits zugelassen war. Ist das richtig?«

»Ja, das ist richtig.«

»Stimmt es, daß sich Ihre Organisation damals sehr darum bemüht hat, die Zulassung rückgängig zu machen?«

»Ja. Wir haben uns ungemein dafür eingesetzt.«

»Hatten Sie den Eindruck, daß sich Mrs. Jordan wegen dieser Ihrer Anstrengungen Sorgen machte?«

»Nun, erfreut war sie ganz bestimmt nicht darüber. Sie hat sich in unserer Unterhaltung für Montayne ausgesprochen und behauptet, es sei ungefährlich. Natürlich habe ich ihr widersprochen.«

»Hat sie gesagt, warum sie glaubte, das Medikament sei ungefährlich?«

»Nein - das hat sie nicht getan. Natürlich ist sie auf medizinischer Ebene nicht qualifiziert genug, um sich darüber ein Urteil erlauben zu können - obwohl sie sich eines anmaßte.« Dr. Stavelys Stimme drückte Verachtung aus. »Ich war schockiert darüber, wie wenig sie wußte.«

»Können Sie uns genauer sagen, worüber Sie schockiert waren?«

»Ja. Dem australischen Gerichtsverfahren gegen Montayne wurde zu der Zeit große Beachtung geschenkt. Erinnern Sie sich?«

Urbach lächelte höflich. »Ich stelle hier die Fragen, Dr. Sta-vely.«

»Entschuldigen Sie bitte.« Dr. Stavely lächelte ebenfalls. »Was ich sagen will, ist, daß die Jordan nicht mal die australischen Gerichtsprotokolle gelesen hatte. Sie gab es selbst zu. Ich habe ihr dringend geraten, es zu tun.«

»Danke, Dr. Stavely. Hatten Sie während Ihres Gesprächs den Eindruck, daß Mrs. Jordan als Vertreterin ihrer Firma gekommen war?«

»Ganz sicher, ja.«

»Um wieder auf die Bemühungen Ihrer Organisation zurückzukommen, die Zulassung von Montayne rückgängig zu machen - hatten Sie den Eindruck, daß Felding-Roth sich darüber Sorgen machte und Mrs. Jordan geschickt hatte, um sie dahingehend zu beeinflussen, die Bemühungen einzustellen?«

»Dieser Gedanke ist mir allerdings gekommen, obwohl ich es nicht beweisen kann. Aber Sie muß sofort gemerkt haben, daß sie nicht die geringste Chance hatte, damit durchzukommen.«

Ebenso wie Vince Lord hatte die Stavely nicht direkt gelogen, dachte Celia. Aber was für einen Unterschied machte es doch, was und wie man etwas sagte!

Senator Donahue, der ein Papier in der Hand hielt, sprach jetzt ins Mikrofon: »Dr. Stavely, ich habe hier ein Dokument, das als >Felding-Roth-Doktrin< bezeichnet wird. Falls Sie sie noch nicht kennen sollten, gebe ich Ihnen gern diese Kopie.«

»Ich habe sie gelesen, Senator - und einmal genügt mir.«

Donahue lächelte. »Wir würden gern Ihre Meinung darüber hören.«

»Ich halte diese sogenannte Doktrin für eine geschmack- und schamlose Werbekampagne, für eine Beleidigung aller Opfer von Montayne.«

Celia war vor Zorn außer sich. Sie wollte aufspringen, als sie Quentins Hand auf ihrem Arm spürte. Es gelang ihr nur mit Mühe, sitzen zu bleiben.

Senator Jaffee, ein Mitglied der Parteienminderheit, bemerkte beschwichtigend.

»Aber Dr. Stavely, wenn eine Firma einen Fehler zugibt und für die Zukunft verspricht . . .«

»Ich wurde nach meiner Meinung gefragt, und die habe ich kundgetan«, fuhr die Stavely ihn an. »Mich kann man mit einem so faulen Zauber nicht hinters Licht führen.«

Senator Donahue legte lächelnd das Papier wieder auf den Tisch.

Nach ein paar abschließenden Fragen entließ man Dr. Stavely und kündigte als ersten Zeugen des nächsten Tages Dr. Gideon Mace von der FDA an.

Am Abend erhielt Celia in ihrer Suite im Madison-Hotel einen Telefonanruf. Es war Juliet Goodsmith, die ihr mitteilte, daß sie unten in der Halle sei. Celia bat sie heraufzukommen und nahm sie liebevoll in die Arme.

Die Tochter von Sam und Lilian sah älter aus als dreiundzwanzig, dachte Celia, allerdings brauchte man sich darüber nicht zu wundern.

Sie war schlank, fast mager geworden, lehnte aber Celias Einladung zum Essen ab.

»Ich bin nur vorbeigekommen«, sagte Juliet, »weil ich zufällig bei einer Freundin in Washington bin und etwas über dieses Hearing gelesen habe. Die sind nicht fair zu Ihnen. Sie sind die einzige in der Firma, die anständig war und dieses verdammte Medikament abgelehnt hat - und jetzt werden Sie dafür bestraft, daß andere geldgierig und korrupt waren.«

Sie saßen sich gegenüber, und Celia sagte leise: »Ganz so war es nicht und ist es auch jetzt nicht.«

Sie erklärte Juliet, daß sie als oberste Repräsentantin der Firma ganz automatisch ins Schußfeld der Angriffe geraten sei, und daß sich ihr persönliches Verhalten damals in keiner Weise auf den Verkauf von Montayne ausgewirkt hatte.

»Der springende Punkt ist«, sagte Celia, »daß Donahue versucht, Felding-Roth in der Öffentlichkeit zu verteufeln.«

»Vielleicht hat er damit recht«, sagte Juliet, »vielleicht hat die Firma tatsächlich nichts anderes verdient.«

»Nein, das lasse ich nicht zu!« erklärte Celia mit Nachdruck. »Die Firma hat in bezug auf Montayne einen schlimmen Fehler gemacht, aber sie hat in der Vergangenheit sehr viel Gutes geleistet und wird das auch in Zukunft tun.«

Selbst jetzt dachte sie mit großem Optimismus an Peptid 7 und Hexin W.

»Im übrigen muß ich dir sagen«, fuhr Celia fort, »daß dein Vater, welche Fehler er auch immer begangen hat, nichts von all dem war, was du gesagt hast: Er war weder >korrupt< noch >geld-gierig<. Er war ein guter Mensch, der das tat, was er zum gegebenen Zeitpunkt für richtig hielt.«

»Wie soll ich das glauben?« erwiderte Juliet. »Er hat mir diese Pillen gegeben, ohne mir zu sagen, daß sie noch nicht zugelassen waren.«

»Versuch deinem Vater zu verzeihen«, sagte Celia beschwörend. »Wenn du das nicht tust, jetzt, nachdem er tot ist, wird für dich alles nur noch schwerer sein.« Als Juliet den Kopf schüttelte, fügte Celia hinzu: »Ich hoffe, daß es dir mit der Zeit gelingen wird.«

Es war sicher nicht gut, sich nach Juliets Sohn zu erkundigen, der jetzt fast zwei Jahre alt war und sich in einem Pflegeheim für unheilbar Kranke befand, wo er für den Rest seines Lebens bleiben würde, deshalb fragte Celia: »Wie geht es Dwight?«

»Wir lassen uns scheiden.«

Celias Betroffenheit war echt. Sie dachte an den Hochzeitstag zurück und wie überzeugt sie gewesen war, daß Juliet und Dwight eine gute Ehe führen würden.

»Alles war wunderbar, bis zu dem Zeitpunkt, als das Baby ein paar Monate alt war. Als wir dann feststellten, was mit unserem Sohn los war, war alles aus. Dwight war auf meinen Vater noch böser als ich. Er wollte Felding-Roth und Daddy persönlich vor Gericht bringen, den Fall selbst in die Hand nehmen. Dazu hätte ich nie meine Zustimmung gegeben.«

»Das hätte alles zerstört«, bestätigte Celia. »Danach haben wir uns noch eine Weile um Versöhnung bemüht, aber es hat nicht geklappt«, sagte Juliet traurig. »Wir waren nicht mehr dieselben, und da haben wir beschlossen, uns scheiden zu lassen.«

Dazu gab es wenig zu sagen, aber Celia mußte daran denken, wieviel Tragik Montayne in so vieler Hinsicht über die Menschen gebracht hatte.

13

Von allen Zeugen, die vor dem Senats-Unterausschuß im Fall Montayne aussagten, hatte Dr. Gideon Mace bei weitem den schwersten Stand.

Während des Kreuzverhörs von Mace deutete Senator Dona-hue an einem dramatischen Punkt mit erhobenem Zeigefinger auf ihn und rief mit donnernder Stimme, die Jehova alle Ehre gemacht hätte: »Sie waren es, der stellvertretend für die Regierung und trotz aller Sicherheitsmaßnahmen diese Geißel über die amerikanischen Frauen und ihre wehrlosen, ungeborenen Kinder gebracht hat. Daher werden Sie nicht ungeschoren davonkommen.« Mace hatte ein paar Minuten zuvor zum Erstaunen aller zugegeben, daß er vor der Erteilung der Zulassung für Montayne ernsthafte Zweifel an dem Medikament gehegt habe, die auf dem er-sten australischen Bericht beruhten - Zweifel, die ihn nie ganz verlassen hätten.

Urbach, der das Kreuzverhör leitete, hatte geradezu gebrüllt: »Aber warum haben Sie es dann zugelassen?«

Worauf Mace lahm geantwortet hatte: »Das . . . das weiß ich einfach nicht.«

Diese Antwort - die schlimmste, die ihm hätte einfallen können - rief bei den Zuhörern einen sichtlichen Schock hervor. Unglauben und Entsetzen machten sich breit und lösten einen Augenblick später Donahues Ausbruch aus.

Bis zu diesem Punkt hatte Mace - obwohl ganz offensichtlich nervös - den Anschein erweckt, sich in der Gewalt zu haben und für seine Entscheidung als FDA-Mitarbeiter einstehen zu können. Er hatte mit einer kurzen Erklärung begonnen, dann die Berge von Akten erwähnt, die eingereicht worden waren -125.000 Seiten in 307 Bänden - und denen verschiedene Fragen von seiner Seite gefolgt waren.

Diese Fragen, so erklärte er, seien schließlich zu seiner Zufriedenheit beantwortet worden. Er bezog sich nicht auf den Bericht aus Australien, das tat er erst später, in Beantwortung diesbezüglicher Fragen.

Als man auf den australischen Fall zu sprechen kam, wurde Mace sichtlich nervös; er schien plötzlich zusammenzubrechen.

Und danach war das schreckliche Eingeständnis: »Ich weiß es einfach nicht« erfolgt.

Obwohl sich Celia über die schwache Position von Mace im klaren war, hatte sie Mitleid mit ihm und glaubte, daß man ihm die Last der Schuld zu Unrecht aufbürdete. Später sprach sie mit Childers Quentin darüber.

»In Augenblicken wie diesen«, sagte der Anwalt, »merkt man, wie sehr das britische Zulassungsverfahren dem unseren überlegen ist. In England berät ein Komitee für die Sicherheit von Medikamenten den Gesundheitsminister, und der Gesundheitsminister persönlich erteilt die Lizenz für ein neues Medikament. Der Minister wird von seinen Mitarbeitern nur beraten, die Ver-antwortung trägt er selbst. Und wenn irgendwas schiefgeht, muß er ganz allein dem Parlament Rede und Antwort stehen. Wo aber ist unser Minister? Vermutlich drückt er sich in seinem Büro herum oder macht sich einen schönen Tag auf dem Land. Und die Folge davon ist, daß die Leute von der FDA noch vorsichtiger sein werden, weil sie keine Lust haben, vor ein Kongreßkomitee gezerrt und gekreuzigt zu werden. Sie werden auf den Medikamenten sitzen bleiben und abwarten, lange, viel zu lange. Selbstverständlich ist bei neuen Medikamenten Vorsicht geboten, aber zuviel Vorsicht kann den Fortschritt in der Medizin behindern und Ärzten und Patienten Heilmittel vorenthalten, die sie dringend benötigen.«

Als Maces Befragung schließlich beendet war und eine Pause eingelegt wurde, atmete Celia erleichtert auf. Voller Mitgefühl stand sie auf und ging zu ihm.

»Dr. Mace, ich bin Celia Jordan von Felding-Roth. Ich wollte Ihnen nur sagen . . .«

Sie unterbrach sich bestürzt. Bei der Erwähnung von Felding-Roth hatten sich Maces Gesichtszüge vor Haß verzerrt. »Kommen Sie mir nicht zu nahe!« zischte er mit funkelnden Augen. »Kommen Sie mir niemals wieder zu nahe!«

Bevor Celia sich fassen und etwas erwidern konnte, hatte sich Mace umgedreht und war gegangen.

Quentin, der dicht hinter ihr stand, fragte neugierig: »Worum ging es denn?«

»Ich weiß nicht«, sagte Celia erschüttert. »Als ich den Namen unserer Firma erwähnte, schien er total auszuflippen.«

»Na und?« Der Rechtsanwalt zuckte die Achseln. »Dr. Mace mag den Hersteller von Montayne eben nicht. Das ist nur zu verständlich.«

»Nein. Es muß mehr sein. Da bin ich ganz sicher.«

»Ich würde mir deswegen keine Sorgen machen.«

Aber der Ausdruck abgrundtiefen Hasses ließ Celia den ganzen Tag nicht los und bereitete ihr Sorgen.

Vincent Lord war noch einen Tag länger in Washington geblieben, und Celia hatte ihn in ihrer Hotelsuite geradeheraus be-schuldigt, gelogen zu haben.

Zu ihrer Überraschung wies der Leiter der Forschungsabteilung ihre Anschuldigungen nicht zurück, sondern sagte zerknirscht:

»Sie haben recht. Es tut mir leid. Ich war nervös.«

»Sie kamen mir aber gar nicht nervös vor.«

»Ich hab's mir nicht anmerken lassen. Die Fragen sind mir unheimlich unter die Haut gegangen. Ich hab' gegrübelt, wieviel dieser Bursche, dieser Urbach, eigentlich weiß.«

»Was soll er denn wissen können?«

Lord zögerte und suchte nach einer Antwort. »Nicht viel mehr, als wir alle wissen, nehme ich an. Auf jeden Fall habe ich mir überlegt, daß ich auf die Art und Weise, wie ich geantwortet habe, die ganze Fragerei am schnellsten hinter mich bringe.«

Celia war noch nicht überzeugt. »Warum wollten Sie schneller als alle anderen da rauskommen? Sicher, was hier passiert, ist für keinen erfreulich, auch für mich nicht, und wir müssen es alle mit unserem Gewissen abmachen. Aber in Verbindung mit Mon-tayne ist nie irgend etwas Illegales geschehen.« Sie unterbrach sich. »Oder etwa doch?«

»Nein! Natürlich nicht!« Die Antwort kam eine Sekunde zu spät und war eine Spur zu betont.

Sams Worte fielen ihr wieder ein. »Da istnoch etwas. . . von dem Sie nichts wissen.«

Sie sah Lord fragend an. »Vince, gibt es irgend etwas, das mit Montayne und Felding-Roth zu tun hat, von dem ich nichts weiß ?«

»Nichts - das schwöre ich Ihnen. Was sollte es denn sein?«

Wieder log er. Sie wußte es. Sie wußte auch, daß Sam sein Geheimnis, was immer es sein mochte, nicht mit ins Grab genommen hatte - daß Lord es mit ihm teilte.

Aber im Augenblick konnte sie nichts tun.

Das Hearing dauerte vier Tage. Es gab weitere Zeugen, darunter zwei Ärzte - Neurologen, die durch Montayne geschädigte Babys untersucht hatten. Einer der Ärzte war in Europa gewesen, um den Fällen dort nachzugehen, und zeigte Dias von Kindern, die er gesehen hatte.

Äußerlich war den Kindern nicht anzusehen, daß sie nicht normal waren. Aber die meisten von ihnen waren im Liegen aufgenommen. »Sie werden nie auch nur die kleinste Bewegung selber machen können. Sie sind ihr Leben lang auf die Hilfe anderer angewiesen. Außerdem haben sie im embryonalen Zustand schwere Gehirnschäden davongetragen.«

Manche Gesichter waren schön. Das eine Kind - älter als die anderen - war ein zweijähriger Junge. Von einer unsichtbaren Hand gestützt, blickte er mit scheinbar seelenvollem Blick in die Kamera. Ausdruckslos und leer.

»Dieses Kind«, informierte der Neurologe die betroffenen Zuhörer, »wird niemals denken können und mit ziemlicher Sicherheit nie auch nur das geringste von dem, was in seiner Umgebung vorgeht, wahrnehmen können.«

Das Gesicht erinnerte Celia an Bruce, vor siebzehn Jahren. Bruce, der ihnen erst vor ein paar Tagen vom Williams College geschrieben hatte.

Liebe Mom, lieber Dad,

das College ist Klasse! Mir gefällt es hier ganz toll. Am meisten gefällt mir, daß sie von einem wollen, daß man denkt, denkt, denkt. . .

Celia war froh, daß es während der Diavorführung nur gedämpftes Licht gab, dann sah sie, daß sie nicht die einzige war, die ein Taschentuch hervorholte, um sich die Augen zu wischen.

Als der Arzt geendet hatte, schien Senator Donahue nur mit Mühe sprechen zu können. Trotz all seiner Großspurigkeit, dachte Celia, geht es auch ihm nahe.

Wie nahe es Donahue auch gegangen sein mochte - am Nachmittag des vierten und letzten Untersuchungstags, als Celia noch einmal in den Zeugenstand gerufen wurde, war von seiner gedämpften Stimmung nichts mehr zu bemerken. Selbst mit seinen eigenen Leuten war der Senator ungeduldig und gereizt. Bevor Celia aufgerufen wurde, flüsterte Quentin ihr zu: »Nehmen Sie sich in acht. Scheint, daß dem großen Mann eine Laus über die Leber gelaufen ist.«

Urbach stellte Celia Fragen, die mit einigen Aussagen der anderen Zeugen im Zusammenhang standen.

Er bezog sich unter anderem auf Vincent Lords Behauptung, daß er, wenn er etwas zu sagen gehabt hätte, dafür gewesen wäre, Montayne noch nicht in den Handel zu bringen, und Celia erwiderte: »Wir haben uns inzwischen darüber unterhalten. Ich erinnere mich zwar, daß Dr. Lord damals eine andere Meinung vertrat, aber ich sehe keinen Grund dafür, seine Behauptung zu bestreiten, also lassen Sie es ruhig dabei.«

Zu ihrem Besuch bei Dr. Stavely in der BSM-Zentrale bemerkte Celia: »Da sind wir verschiedener Auffassung. Ich entschloß mich ganz impulsiv, Dr. Stavely aufzusuchen; ich glaubte, daß wir etwas voneinander lernen könnten. Aber das war nicht der Fall.«

»Sind Sie hingegangen, weil Sie die Absicht hatten, über Montayne zu sprechen?« fragte Urbach.

»Nicht unbedingt.«

»Aber Sie haben über Montayne gesprochen?«

»Ja.«

»Hofften Sie, Dr. Stavely und ihre Organisation dazu überreden zu können, ihre Kampagne gegen Montayne einzustellen?«

»Nein, das hatte ich nicht vor. Dieser Gedanke ist mir nicht gekommen.«

»Hatte Ihr Besuch offiziellen Charakter, erfolgte er im Auftrag Ihrer Firma?«

»Nein. Bei Felding-Roth hat niemand davon gewußt, daß ich zu Dr. Stavely gegangen bin.«

Donahue, der neben Urbach saß, schien nicht zufrieden. Er fragte: »Sagen Sie auch die Wahrheit, Mrs. Jordan?«

»Selbstverständlich sage ich die Wahrheit.« Und zornig fügte sie hinzu: »Sie können mich ja an einen Lügendetektor anschließen.«

»Sie stehen hier nicht unter Anklage«, knurrte Donahue.

»Entschuldigen Sie bitte, Herr Senator, das war mir noch gar nicht aufgefallen.«

Mit finsterer Miene gab Donahue Urbach ein Zeichen weiterzumachen.

Die nächste Frage betraf die Felding-Roth-Doktrin.

»Sie haben gehört, daß Dr. Stavely diese Doktrin als eine >schamlose Werbekampagne< bezeichnet hat«, sagte Urbach. »Finden Sie das auch?«

»Natürlich nicht. Die Doktrin bezweckt nichts anderes, als die künftige Firmenpolitik darzulegen.«

»Ach, wirklich! Sie sind also überzeugt, daß sie auf gar keinen Fall werbewirksam ist?«

Celia spürte, daß man ihr eine Falle stellen wollte. Sie beschloß, auf der Hut zu sein.

»Das habe ich nicht gesagt. Aber wenn dieses ehrliche Bekenntnis am Ende auch in dieser Hinsicht eine Wirkung erzielen sollte, dann lag das jedenfalls nicht in der ursprünglichen Absicht.«

Donahue rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Urbach drehte sich fragend zu ihm um. »Herr Senator?«

Der Vorsitzende schien unentschlossen, ob er unterbrechen sollte oder nicht.

Dann sagte er mürrisch: »Das ist alles eine Frage der Interpretation. Es kommt nur darauf an, ob wir einer selbstlosen, engagierten Frau wie Dr. Stavely glauben sollen oder der Repräsentantin einer Industrie, der es nur um Gewinn geht und der es egal ist, ob sie regelmäßig Leute umbringt oder verunstaltet, nur weil sie Medikamente verkauft, von denen sie schon im voraus weiß, daß sie Schaden anrichten.«

Den Zuhörern stockte der Atem. Selbst Donahues Leute sahen verlegen drein, weil sie spürten, daß er zu weit gegangen war.

»Ist das eine Frage, Herr Senator«, gab Celia in scharfem Ton zurück, »oder ist es nicht vielmehr eine voreingenommene Erklärung Ihrerseits, die sich durch nichts beweisen läßt und die dieses Hearing als eine Scharade enthüllt, bei der das Ergebnis be-reits feststand, noch bevor irgendeiner von uns überhaupt gehört wurde?«

Donahue wies mit dem Finger auf Celia, wie er es schon bei Mace getan hatte. »Ich muß die Zeugin warnen: Sie könnte sich zu einem Verstoß hinreißen lassen, den wir Mißachtung des Kongresses nennen.« »Fordern Sie mich nicht heraus!« Celia war jetzt alles egal. »Ich verlange, daß Sie mir diese Bemerkung erklären!« brüllte der Senator.

Celia ließ nun jede Vorsicht außer acht. Sie hörte kaum, daß Quentin ihr beschwörend zuflüsterte, schüttelte seine Hand ab und sprang auf.

»Ich werde sie Ihnen erklären, indem ich darauf hinweise, daß Sie, der Sie hier über Montayne und Felding-Roth und die FDA zu Gericht sitzen, derselbe sind, der sich vor zwei Jahren öffentlich über eine Verzögerung des Zulassungsverfahrens von Mon-tayne beschwert und sie als lächerlich bezeichnet hat.«

»Das ist eine Lüge! Das ist ein Mißachtung, Madam. Eine derartige Erklärung habe ich nie abgegeben.«

In Celia machte sich ein Gefühl der Befriedigung breit. Dona-hue hatte es vergessen. Das war kaum verwunderlich - er gab ständig Erklärungen über alles mögliche ab. Und seine Helfer hatten es unterlassen, ihn daran zu erinnern, falls sie es überhaupt noch wußten. Quentin hatte sich geirrt.

Vor ihr auf dem Tisch lag ein Aktenordner, den sie bis jetzt ungeöffnet gelassen hatte. Sie hatte ihn nur für alle Fälle mitgebracht. Aber jetzt zog sie ein Bündel Zeitungsausschnitte heraus und nahm den obersten zur Hand.

»Dieser Ausschnitt stammt aus der Washington Post vom 17. September 1976.« Sie blieb stehen, während sie vorlas.

»Bezugnehmend auf das Arzneimittel Montayne, das der FDA seit einiger Zeit zur Prüfung vorliegt und für Frauen während der Schwangerschaft bestimmt ist, bezeichnete es Senator Dennis Donahue heute als ausgesprochen lächerlich<, daß die FDA noch immer keine Entscheidung getroffen habe.«

Und sie fügte hinzu: »Dieser Bericht ist auch in anderen Zeitungen erschienen.«

Celia machte eine Pause, dann fuhr sie fort: »Und da wäre noch etwas, Herr Senator.« Sie zog ein anderes Blatt aus dem Ordner.

Donahue, dessen Gesicht dunkelrot angelaufen war, griff nach seinem Hammer. Aber Senator Jaffee von der Opposition rief: »Lassen Sie die Zeugin zu Ende reden. Ich möchte es hören.«

»Sie haben die Pharma-Industrie beschuldigt, Menschen zu töten«, sagte Celia zu Donahue. »Ich habe hier eine Aufstellung darüber, wofür Sie in den vergangenen achtzehn Jahren bei den Abstimmungen über die Tabaksteuer gestimmt haben. Sie haben sich ausnahmslos für Steuerbegünstigungen ausgesprochen. Und damit, Herr Senator, haben Sie dafür gesorgt, daß der Lungenkrebs inzwischen mehr Menschen umgebracht hat als die pharmazeutische Industrie seit ihrem Bestehen.«

Die letzten Worte gingen im Tumult unter; alle schrien durcheinander, auch Donahue, der mit seinem Hammer auf den Tisch schlug. »Die Sitzung wird vertagt«, rief er.

14

Was für Celia als schlimme Erfahrung begonnen hatte, endete -jedenfalls sah es ganz danach aus - mit einem persönlichen Triumph.

Noch am selben Abend, kurz nach ihrem Zusammenstoß mit Senator Donahue, brachten die Fernsehanstalten - ABC, CBS und NBC - fast die gesamte dramatische Szene in ihren Abendnachrichten. »Das war großes Theater - eine Sternstunde des Fernsehens«, schrieb ein Kritiker.

Auch die Zeitungen behandelten den Vorfall am nächsten Tag vorrangig.

Die New York Times überschrieb ihren Artikel mit:

Temperamentvolle Lady übertrumpft Senator

Bei der Chicago Tribüne hieß es:

Sen. Donahue nimmt Jordan ins Kreuzverhör zu seinem eigenen Schaden

In diesem Fall hatten die Reporter von Presse und Fernsehen ihre Hausaufgaben gut gemacht und einiges ausgegraben. Einer sagte zu Julian Hammond, der es Celia weitererzählte: »Die meisten von uns haben die Sache mit Mrs. Jordans Kündigung wegen Montayne rausgekriegt und auch, daß sie, als sie zurückkam, darauf bestand, daß das Medikament sofort aus dem Handel gezogen wurde. Aber keiner wußte so recht, ob man diese Informationen verwenden sollte oder nicht, deshalb haben wir sie uns für später aufgehoben. Und das hat sich ja dann auch als viel effektvoller erwiesen.«

Und so kam Celia in den meisten Berichten nach dem Zusammenstoß in zweierlei Hinsicht gut weg. Zum einen hatte sowohl ihre Kündigung als auch ihre spätere Rückkehr zu Felding-Roth sie als eine Frau mit moralischen Prinzipien ausgewiesen. Zum anderen hatte sie, indem sie sich weigerte, sich beim Senatsverhörauf Kosten der Firma in ein gutes Licht zu setzen, bemerkenswerte Loyalität bewiesen. Im Wallstreet Journal begann der Leitartikel mit den Worten:

Gewöhnlich wird der Geschäftswelt nicht soviel Respekt gezollt, wie sie es verdient. Da ist es eine erfreuliche Abwechslung, wenn einmal jemandem aus der Geschäftswelt öffentlich Hochachtung entgegengebracht wird.

Ein paar Tage nach ihrer Rückkehr aus Washington kam Julian Hammond in Celias Büro. Der stellvertretende Leiter der Presseabteilung hielt stolz ein Bündel Zeitungsausschnitte in der Hand, die er auf Celias Schreibtisch ausbreitete. Einen Augenblick später wurde Childers Quentin gemeldet. Celia hatte den Rechtsanwalt aus Washington seit ihrem letz-ten Tag auf dem Capitol Hill nicht mehr gesehen. Bei seinem jetzigen Besuch wollte er mit ihr die Regelung der Montayne-Scha-denersatzansprüche besprechen.

Quentin sah müde aus und schien schlecht gelaunt, als sie sich begrüßten und sie ihn bat, Platz zu nehmen.

»Ich wollte gerade gehen, Mr. Quentin«, sagte Hammond. Er deutete auf die Zeitungsausschnitte. »Wir genießen die Früchte des Erfolgs.«

Quentin schien nicht sehr beeindruckt. »Ach, so nennen Sie das?«

»Ja, sicher.« Hammond schien überrascht. »Sie nicht?«

Die Antwort kam mürrisch. »Wenn Sie das so sehen, sind Sie beide kurzsichtig.«

Celia brach das darauffolgende Schweigen.

»Na schön, Herr Anwalt. Sie haben etwas auf dem Herzen. Heraus damit.«

»Das da«, Quentin zeigte auf die Zeitungsausschnitte, »und das ganze Aufhebens, das im Fernsehen um Sie gemacht wird, ist eine tolle Sache. In wenigen Wochen aber wird das meiste wieder vergessen sein. Die ganze Publicity zählt nicht.«

»Und was zählt dann?« fragte Hammond.

»Was zählt, ist, daß die Firma - und Sie persönlich, Celia - sich einen gefährlichen Feind gemacht haben. Ich kenne Donahue. Sie haben ihn lächerlich gemacht. Schlimmer noch, Sie haben es auf seinem eigenen Territorium getan, im Senat, und dabei haben Ihnen Millionen Menschen zugesehen. Das wird er Ihnen nie verzeihen. Niemals. Wenn er irgendwann in der Zukunft Gelegenheit bekommen sollte, Felding-Roth oder Ihnen, Celia, zu schaden, dann wird er es tun, und zwar mit Vergnügen. Vielleicht sucht er schon gezielt nach einer solchen Gelegenheit, und ein Senator der Vereinigten Staaten sitzt - wie schon einmal gesagt -am Machthebel.«

Celia fühlte eine eisige Kälte in sich aufsteigen. Sie wußte, daß Quentin recht hatte.

»Und was schlagen Sie vor?« fragte sie.

Der Anwalt zuckte die Achseln. »Für den Augenblick gar nichts. Und für die Zukunft: Seien Sie so vorsichtig wie möglich. Und hüten Sie sich davor, in eine Situation zu geraten, in der Ihnen Senator Donahue schaden kann.«

15

»Was ist Mrs. Jordan für eine Frau?« fragte Yvonne Martin.

Er dachte kurz nach, bevor er antwortete.

»Attraktiv. Stark. Intelligent. Außerordentlich tüchtig in ihrem Beruf. Direkt und ehrlich. Man weiß immer, woran man mit ihr ist.«

»Ich bin schon ganz nervös wegen ihres Besuchs.«

Er lachte. »Das brauchst du nicht. Ich kann dir schon jetzt sagen, daß ihr euch gut verstehen werdet.«

Es war ein Freitagabend im Juli, und sie befanden sich in Martins Haus in Harlow, in das Yvonne vor fast einem Jahr eingezogen war. Ihre kleine Wohnung hatte sie aufgegeben.

Im Wohnzimmer waren überall Bücher und Papiere verstreut -Yvonnes Vorbereitungen auf ihr Examen, das in sechs Monaten stattfinden sollte. Eineinhalb Jahre waren vergangen, seit sie auf Martins Drängen hin die Mühen auf sich genommen hatte, die ihr am Ende, wie sie hoffte, Zugang zum tierärztlichen Studium verschaffen würden.

Mit dem Lernen kam sie gut voran. Es machte ihr Spaß, und sie war noch nie glücklicher gewesen. Ihre Freude durchdrang das ganze Haus, und Martin teilte sie mit ihr. Tagsüber arbeitete sie weiter im Forschungsinstitut, und an den Abenden und Wochenenden hatte sie Unterricht. Martin half Yvonne, wie versprochen, und ergänzte den Lernstoff mit praktischen Erfahrungen.

Ein weiterer Grund zur Freude waren die Fortschritte, die im Institut gemacht wurden. Nach dem folgenschweren Einbruch der »Tierrechtler« waren sie mit dem erneuten Sammeln von Daten schneller vorangekommen als erwartet. Inzwischen war alles wieder aufgeholt und die Entwicklung von Peptid 7 an einem Punkt angelangt, an dem es an der Zeit war, die Ergebnisse der

Geschäftsleitung zu unterbreiten.

Zu diesem Zweck sollte Celia zusammen mit einigen anderen am Mittwoch der kommenden Woche in Harlow eintreffen.

Im Augenblick aber konzentrierte sich Martin mit gerunzelter Stirn auf ein Lehrbuch - auf Murrays Grundlagen der organischen Chemie.

»Sie haben es seit meiner Studienzeit überarbeitet. Manches von dem neuen Zeug ist unrealistisch. Du lernst es, und hinterher vergißt du es wieder.«

»Meinst du diese chemischen Bezeichnungen?« fragte Yvonne.

»Ja, allerdings.«

Das Genfer System für chemische Formeln wurde von der International Union ofPure andApplied Chemistry, abgekürzt IUPAC und »U-pak« ausgesprochen, aufgestellt. Dahinter steckte der Gedanke, daß der Name einer chemischen Verbindung gleichzeitig auch ihre Struktur ausdrücken sollte. So daß Isoktan zu 2,2,4-Trimethylpentan, Essigsäure - gewöhnlicher Essig - zu Äthylsäure und ganz gewöhnliches Glyzerin zu Propan-1,2,3-Triol wurde. Und obwohl die Prüfer im Examen danach fragten, benutzten die Chemiker die IUPAC-Namen in der Praxis nur selten. Daher lernte Yvonne die neuen Namen für die Examen und die alten für ihre künftige Arbeit im Labor.

»Benutzt ihr die IUPAC-Namen denn gar nicht im Labor?« fragte sie.

»Nicht sehr oft. Die meisten von uns haben sie vergessen; außerdem sind sie umständlich. Auf jeden Fall werde ich dich beides abfragen.«

Martin fragte sie nach zwanzig chemischen Verbindungen, und Yvonne nannte jedesmal, ohne zu zögern, beide Bezeichnungen.

Martin klappte das Buch zu und schüttelte bewundernd den Kopf. »Dein Gedächtnis ist wirklich erstaunlich. Ich wünschte, ich hätte so eins.«

»Läßt du mich deshalb kein Peptid 7 nehmen?«

»Zum Teil, ja. Aber vor allem möchte ich kein Risiko eingehen.«

Vor einem Monat hatte Martin im Institut eine Mitteilung angebracht: Freiwillige gesucht.

Jeder Mitarbeiter des Instituts, der bereit war, sich für die ersten Tests mit Peptid 7 zur Verfügung zu stellen, sollte seinen Namen auf die Liste setzen. Martin hatte Ziele und Risiken genau erklärt. Sein Name stand als erster auf der Liste.

Rao Sastri trug sich gleich nach ihm ein. Nach ein paar Tagen standen vierzehn weitere Namen darauf, auch der von Yvonne.

Aus der endgültigen Liste wählte Martin insgesamt zehn Freiwillige aus. Yvonne gehörte nicht dazu. Als sie ihn nach dem Grund fragte, tat er es mit den Worten »vielleicht später, jetzt noch nicht« ab.

Diese ersten Erprobungen am Menschen wurden nicht durchgeführt, um die positiven Ergebnisse von Peptid 7 zu untersuchen, sondern um eventuelle nachteilige Nebenwirkungen festzustellen. »In England dürfen wir diese Tests selbst durchführen, für die man in Amerika die Zustimmung der FDA benötigt«, hatte Martin Celia am Telefon erklärt.

Bis jetzt - nach zwanzig Tagen - waren keine erkennbaren Nebenwirkungen aufgetreten. Martin war erleichtert, obwohl er wußte, daß noch sehr viel mehr Tests nötig sein würden.

Yvonne seufzte. »Ich möchte auch bald Peptid 7 haben. Sonst nehme ich nie ab.«

Martins Stimme war ernst geworden. »Ich werde morgen meine Mutter besuchen. Vater sagte mir heute, die Ärzte meinen, daß es nicht mehr lange dauert.«

Obwohl sich der körperliche Zustand von Martins Mutter nur wenig verschlechtert hatte, war die Alzheimersche Krankheit unbarmherzig fortgeschritten.

Vor ein paar Monaten hatte Martin sie in ein Pflegeheim in Cambridge gebracht, wo sie nur noch vor sich hin dämmerte. Martins Vater bewohnte eine kleine, aber hübsche Wohnung, die Martin, seit er für Felding-Roth arbeitete, für seine Eltern gemietet hatte.

»Das tut mir leid.« Yvonne berührte mitfühlend seine Hand. »Ich komme mit - wenn es dir nichts ausmacht, daß ich auf der Fahrt lerne.«

Sie beschlossen, gleich nach dem Frühstück loszufahren. Martin wollte auf dem Weg noch kurz in seinem Büro vorbeischauen.

Während Martin am nächsten Morgen im Institut einen Blick auf die Post und einen Computerausdruck vom Vortag warf, schlenderte Yvonne durch den Tierhalteraum. Martin fand sie dort eine Weile später. Sie stand vor einem Käfig, in dem sich mehrere Ratten befanden, und Martin hörte sie ausrufen: »Du lüsterner alter Bock!«

»Wen meinst du?« fragte er amüsiert.

Yvonne deutete auf den Käfig. »Diese Bande da - das sind die lüsternsten kleinen Biester, die ich je gesehen habe, scheinen nicht genug zu kriegen. Sex interessiert sie mehr als das Fressen.«

Martin betrachtete neugierig die Ratte, die sich unverdrossen weiter mit einer willfährigen weiblichen Ratte paarte, während sich im Nachbarkäfig ein anderes Pärchen auf die gleiche Weise vergnügte.

Er warf einen Blick auf die Beschriftungen an beiden Käfigen. Allen Tieren war eine neue, verfeinerte Version von Peptid 7 injiziert worden. »Du sagtest >seit neuestem< - sind sie erst >seit neuestem< so scharf? Seit wann denn?«

Yvonne zögerte, dann sah sie Martin an. »Ich glaube . . . seit sie ihre Injektionen kriegen.«

»Und es sind keine jungen Ratten?«

»Als Menschen könnten sie bereits Rente beziehen.«

Martin lachte. »Ist wahrscheinlich ein Zufall.« Dann überlegte er: War es wirklich ein Zufall?

Als könnte sie seine Gedanken lesen, fragte Yvonne: »Was wirst du tun?«

»Überprüf doch bitte am Montag mal die Geburtenrate von Ratten, die Peptid 7 bekommen haben. Ich möchte wissen, ob sie

über dem Durchschnitt liegt.«

»Dazu brauche ich nicht bis Montag zu warten, das kann ich dir gleich sagen: Sie liegt weit über dem Durchschnitt. Aber bis zu diesem Augenblick habe ich es nicht mit -«

»Tu's nicht!« unterbrach Martin sie scharf. »Bring es nicht damit in Verbindung! Falsche Vermutungen führen einen oft in die Sackgasse. Schick mir die Zahlen, die du hast.«

»Gut«, sagte sie gehorsam.

»Und danach stell bitte zwei neue Gruppen mit älteren männlichen und weiblichen Ratten zusammen, halte aber beide Gruppen voneinander getrennt. Die eine Gruppe wird Peptid 7 bekommen, die andere nicht. Ich möchte eine Computerstudie über die jeweiligen Paarungsgewohnheiten.«

Yvonne kicherte. »Ein Computer wird dir wohl kaum sagen können, wie oft sie . . .«

»Wahrscheinlich nicht. Aber er wird mir die Anzahl der Jungen nennen. Damit wollen wir uns begnügen.«

Sie nickte, und Martin spürte, daß ihr etwas anderes durch den Kopf ging.

»Was ist?« fragte er.

»Ich mußte gerade an etwas Komisches denken, das ich gestern gehört habe, als ich einkaufen war. Mickey Yates ist doch einer von den Freiwilligen, stimmt's?«

»Ja.« Yates, ein Laborant, war der Älteste der Peptid-7-Freiwil-ligen. Seit dem mehrere Jahre zurückliegenden Vorfall mit Celia und der geköpften Ratte war er darum bemüht, sich Martin gegenüber nützlich zu erweisen. Dazu gehörte auch seine Teilnahme am Testprogramm.

»Also, ich traf seine Frau auf dem Markt, und sie erzählte mir, wie erfreulich es sei, daß sich Mickey durch seine Arbeit wieder so jung fühle.«

»Wie hat sie das gemeint?«

»Das hab' ich sie auch gefragt. Und da wurde sie rot und sagte, in letzter Zeit fühle sich Mickey so >beschwingt und tatkräftig< -das waren ihre Worte -, daß sie sich gar nicht mehr vor ihm retten könne - im Bett.«

»Meinte sie, erst seit neuestem?«

»Ja.«

»Und vorher war er anders?«

»Es kam so gut wie nie vor - sagte sie.«

»Ich wundere mich, daß sie dir das erzählt hat.«

Yvonne lächelte. »Du kennst die Frauen nicht.«

Während der Fahrt hörten sie die Nachrichten im Radio. Zum ersten Mal in der britischen Geschichte war vor zwei Monaten ein weiblicher Premierminister gewählt worden, und jetzt impften Margaret Thatcher und ihre Regierung der Nation einen Unternehmungsgeist ein, den sie seit dem Zweiten Weltkrieg hatte vermissen lassen.

Martin schaltete das Radio ab und wandte sich näherliegenden Problemen zu.

»Ich mache mir Sorgen«, sagte er, »und ich möchte nicht, daß das, was wir heute morgen besprochen haben, bekannt wird. Du mußt das alles für dich behalten, und erzähl auch niemandem von der neuen Untersuchung. Halte die Ergebnisse unter Verschluß, bis du sie mir gibst. Und keine Geschichten mehr über Mickey Yates und seine Frau!«

»Okay«, sagte Yvonne, »aber ich verstehe nicht, warum du dir Sorgen machst.«

»Das will ich dir sagen. Wir haben ein Medikament entwickelt, das ernst genommen und sinnvoll gegen Krankheiten eingesetzt werden soll. Wenn sich aber herumspricht, daß es den Geschlechtstrieb anregt und außerdem zu Gewichtsverlust führt, wäre das das Schlimmste, was uns passieren könnte. Es wäre, als hätten wir das Schlangenöl neu entdeckt.«

»Ich glaube, ich verstehe, was du meinst«, sagte Yvonne. »Und ich verspreche dir, nicht darüber zu reden. Aber es wird schwer sein, andere davon abzuhalten.«

»Das fürchte ich auch«, bemerkte Martin düster.

Am späten Vormittag kamen sie in Cambridge an. Martin fuhr direkt zum Pflegeheim seiner Mutter. Sie lag im Bett, wo sie die meiste Zeit verbrachte, und konnte sich nicht einmal an die ein-fachsten Dinge erinnern. Wie seit vielen Jahren schon gab sie nicht die geringsten Anzeichen des Wiedererkennens von sich, als Martin sich über sie beugte.

Sie schien von Tag zu Tag dahinzuschwinden. Ihr Körper war abgezehrt, die Wangen hohl, die Haare dünn. In all den Jahren des allmählichen Verfalls - auch noch zu der Zeit, als Celia das alte Haus in Kite besucht hatte - war noch ein Rest von fraulicher Schönheit zu erkennen gewesen. Aber jetzt war auch der verschwunden. So als würde die Alzheimersche Krankheit, die ihr Gehirn zersetzt hatte, auch ihren Körper auflösen.

»Es war immer mein Traum«, sagte Martin zu Yvonne, »etwas zu entwickeln, das hilft, den geistigen Verfall zu verhindern. Natürlich wird es noch Jahre dauern, bevor wir wissen, ob wir Erfolg gehabt haben. Und wegen seiner grundlegenden Bedeutung möchte ich nicht, daß das Mittel auf irgendeine Weise herabgesetzt wird.«

»Das kann ich gut verstehen. Vor allem jetzt«, sagte Yvonne.

Bei ihren früheren Besuchen hatte Yvonne immer die Hände der alten Frau ergriffen und sie wortlos gehalten. Obwohl es sich nicht mit Sicherheit sagen ließ, hatte Martin den Eindruck gehabt, daß es seiner Mutter guttat. Heute aber, als Yvonne wieder ihre Hände nahm, schien selbst dieser dürftige Rest von Kommunikation nicht mehr vorhanden.

Vom Pflegeheim aus fuhren sie zu Martins Vater. Die Wohnung lag im Nordwesten der Stadt, nicht weit vom Girton College entfernt. Sie fanden Martins Vater in dem winzigen Hof hinter dem Haus. Überall lagen Werkzeuge verstreut, und er meißelte und hämmerte an einem kleinen Marmorblock herum.

»Weißt du eigentlich, daß mein Vater früher Steinmetz war?« fragte Martin Yvonne.

»Ja. Aber ich wußte nicht, daß Sie Ihren Beruf noch immer ausüben, Mr. Peat-Smith.«

»Tu ich auch nicht«, sagte der alte Mann. »Meine Finger sind schon viel zu steif. Allerdings würde ich gern einen Grabstein für deine Ma machen, mein Sohn. Ungefähr das einzige, was man noch tun kann für sie. Darf man das sagen, wo sie noch nicht tot ist?«

Martin legte seinem Vater den Arm um die Schultern. »Ja, das darf man, Dad. Brauchst du irgendwas?«

»Ich brauche einen Marmorstein. Kostet aber ein bißchen.«

»Mach dir keine Sorgen. Bestell einfach, was du brauchst, und sag, sie sollen die Rechnung an mich schicken.«

Als Martin Yvonne ansah, liefen ihr die Tränen über das Gesicht.

16

»Was das betrifft, bin ich ganz Ihrer Meinung«, sagte Celia zu Martin. »Wenn Peptid 7 auf irgendeine Weise in den Ruch kommt, ein Aphrodisiakum zu sein, wird es als Medikament wohl nicht mehr ernst genommen.«

»Vielleicht können wir das geheimhalten«, sagte Martin.

»Das glaube ich kaum«, erklärte Celia. »Ich kann nur hoffen, daß Sie recht behalten.«

Es war der zweite Tag ihres Besuchs im Harlower Institut, und es schien lange her, seit sie auf Anweisung von Sam nach Harlow gekommen war, um zu entscheiden, ob das Institut geschlossen werden sollte. Und sieben Jahre waren vergangen seit dem bemerkenswerten ersten Treffen zwischen Sam, ihr und Martin in Cambridge.

»Es scheint kaum einen Zweifel daran zu geben, daß Sie etwas Großartiges erreicht haben«, sagte sie.

Sie waren in keiner Weise befangen.

Falls sich einer von ihnen an die gemeinsam verbrachte Nacht erinnerte, so ließ er sich das nicht anmerken. Es war ganz eindeutig ein Zwischenspiel, das voll und ganz der Vergangenheit angehörte.

Während Celia sich in Martins Büro aufhielt, informierten sich ihre Mitarbeiter über den Stand der Dinge und besprachen die zukünftig notwendigen Schritte, die Herstellung, Qualitätskontrolle, Material und Bezugsquellen, Kosten, Verpackung, Pro-duktmanagement, Vertrieb im In- und Ausland betrafen.

Obwohl die klinische Erprobung noch immer über ein Jahr in Anspruch nehmen würde und erst danach der Antrag auf Zulassung gestellt werden konnte, mußten viele Entscheidungen bereits jetzt getroffen werden. Eine der wichtigsten war, ob und wieviel Felding-Roth in eine neue Fabrikationsanlage investieren würde - was entweder ein kostspieliges, verlustreiches Unternehmen oder aber ein geschickter, erfolgreicher Schachzug sein konnte.

Wichtig war auch, in welcher Form das Medikament verabreicht werden sollte.

»Damit haben wir uns ausgiebig beschäftigt«, erklärte Martin Celia, »und wir empfehlen die Anwendung durch ein Nasenspray. Das ist modern und zukunftsträchtig.«

»Ich weiß. Auch in Verbindung mit Insulin wurde schon darüber gesprochen. Auf jeden Fall bin ich froh, daß es nicht injiziert werden soll.«

Ein Medikament, das gespritzt werden mußte, ließ sich nie so gut verkaufen wie solche, die der Patient leicht selbst zu Hause einnehmen konnte.

»Als Nasenspray«, erklärte Martin, »wird Peptid 7 eine Kochsalzlösung sein die mit einem Detergens vermischt ist. Das De-tergens gewährleistet die beste Absorptionsrate.«

Sie hatten mit verschiedenen reinigenden Stoffen experimentiert. Als bestes nichttoxisches Mittel, das auch keine Reizung der Nasenschleimhäute hervorrief, hatte sich ein neues Felding-Roth-Präparat herausgestellt, das seit kurzem in den Vereinigten Staaten zur Verfügung stand.

Celia war erfreut.

»Das heißt, daß alles in einer Hand bleibt?«

»Genau.« Martin lächelte. »Ich dachte mir, daß Sie sich darüber freuen würden.«

Als normale Dosis, fuhr er fort, war die zweimal tägliche Anwendung vorgesehen. Zwei Ärzte, die seit kurzem in Harlow arbeiteten, würden die klinischen Erprobungen in England leiten, die sofort beginnen konnten. »Wir werden uns auf die Vierzig-bis Sechzigjährigen konzentrieren, obgleich sich das natürlich variieren läßt, und werden das Mittel auch an Patienten erproben, die sich im ersten Stadium der Alzheimerschen Krankheit befinden. Es wird sie natürlich nicht heilen, aber vielleicht ein wenig hinauszögern.«

Celia berichtete ihrerseits von den Testplänen für die Vereinigten Staaten. »Wir wollen so bald wie möglich damit beginnen. Aufgrund der Vorbereitungen und weil wir erst die Genehmigung der FDA benötigen, werden wir Ihnen allerdings ein bißchen hinterherhinken.«

Sie schwelgten noch eine Weile in hoffnungsvollen Zukunftsplänen.

Die Harlower Gespräche führten zu dem Ergebnis, daß sich für Peptid 7 am besten eine kleine Plastikflasche mit Druckverschluß eignete, der auf Fingerdruck die richtige Dosis spenden würde. Es boten sich gute Möglichkeiten für eine attraktive, interessante Verpackung.

Wahrscheinlich würde Felding-Roth die Flaschen nicht selbst herstellen, sondern bei einem darauf spezialisierten Unternehmen in Auftrag geben. Aber diese Entscheidung mußte in New Jersey getroffen werden.

Während Celias Aufenthalt in Harlow arrangierte Martin ein Essen zu dritt. Celia schrieb es seiner Feinfühligkeit zu, daß er sie nicht ins Churchgate-Hotel, sondern ins SaxonInn einlud.

Anfangs musterten die Frauen einander neugierig, dann aber schienen sie trotz des beträchtlichen Altersunterschieds - Celia war achtundvierzig, Yvonne siebenundzwanzig - Freundschaft zu schließen, wobei ihre Zuneigung zu Martin sicher eine Rolle spielte.

Celia bewunderte Yvonnes Entschluß zum tierärztlichen Studium. Und als Yvonne darauf hinwies, daß sie bei Studienbeginn älter sein würde als die meisten Studenten, tröstete Celia sie: »Deshalb werden Sie auch besser sein.« Und zu Martin sagte sie: »Wir haben bei Felding-Roth einen Fonds für die Weiterbildung von Angestellten. Vielleicht können wir Yvonne finanziell unterstützen.«

Als Yvonne sich bedanken wollte, winkte Celia lächelnd ab. »Nach allem, was ich erfahren habe, haben Sie sehr viel zur Entwicklung von Peptid 7 beigetragen.«

Als Yvonne sie für einen Augenblick allein ließ, sagte Celia: »Sie ist ein ganz besonders reizendes Mädchen. Es geht mich ja eigentlich nichts an, Martin, und Sie brauchen es mir auch nicht zu sagen, wenn Sie nicht wollen - aber werden Sie sie heiraten?«

Die Frage überraschte ihn. »Das ist sehr unwahrscheinlich. Darüber haben wir noch nicht nachgedacht.«

»Yvonne schon.«

»Warum sollte sie? Sie hat eine berufliche Karriere vor sich. Sie wird andere Städte, andere Männer kennenlernen, die in ihrem Alter sind. Ich bin schließlich zwölf Jahre älter als sie.«

»Zwölf Jahre sind gar nichts.«

»Heutzutage schon«, entgegnete Martin. »Das sind zwei völlig verschiedene Generationen. Außerdem braucht Yvonne ihre Freiheit und ich auch. Für den Augenblick haben wir ein Arrangement getroffen, das uns beiden zusagt, aber das kann sich ändern.«

»Männer!« sagte Celia mit einem Seufzer. »Manchmal holt ihr das Beste aus euren >Arrangements< heraus, aber manchmal seid ihr auch blind.«

An Celias Abreisetag starb Martins Mutter. Sie glitt still und ohne Aufhebens aus dem Leben. »Wie ein Boot, das auf einem stillen See in die Nacht hinaustreibt«, hatte einer der Ärzte zu Martin gesagt.

Diese Stille, mußte Martin in einem Gefühl von Traurigkeit und Erleichterung denken, hatte für seine Mutter viel zu lange gedauert. Es waren die Stürme, nicht die stillen Gewässer, die dem Leben seine Würze gaben. Die Alzheimersche Krankheit hatte seiner Mutter diese Würze genommen, und bei dem Gedanken daran erwachte wieder die Hoffnung, die sich mit Pep-tid 7 verband.

An der Beerdigung nahmen nur Martin, sein Vater und Yvonne teil. Gleich darauf kehrte Martins Vater zu dem Marmorstein zurück, den er bestellt hatte und der vor ein paar Tagen geliefert worden war. Martin und Yvonne fuhren schweigend zurück nach Harlow.

In den folgenden Monaten wurden bei Felding-Roth in New Jersey wichtige Entscheidungen getroffen.

Der wirksame Bestandteil von Peptid 7, ein weißes, kristallines Pulver, sollte in einer neu zu errichtenden Fabrik, für die der Platz bereits ausgewählt und die Pläne der Architekten in Vorbereitung waren, in der Republik Irland hergestellt werden. Es würde die erste Fabrik von Felding-Roth sein, die sich auf Molekularbiologie spezialisierte. Sie wurde von vornherein großzügig geplant um später genügend Platz für die Herstellung des chemischen Grundstoffs von Hexin W zu bieten.

Die Herstellung der endgültigen flüssigen Form von Peptid 7 sollte in einer bereits bestehenden Fabrik in Puerto Rico erfolgen. Dorthin sollten die Behälter, die von noch einer anderen Firma geliefert wurden, verschifft werden. Diese Arrangements boten wesentliche Steuervorteile gegenüber einer Herstellung in den Vereinigten Staaten.

Für das gesamte Unternehmen waren riesige Investitionen nötig, die nach heftigen Debatten und gegen starke Bedenken vom Aufsichtsrat genehmigt wurden.

Eines Abends beim Essen erläuterte Celia Andrew diese Bedenken: »Wir haben das Geld nicht selbst, müssen es uns also leihen. Und wenn es ein Flop wird, bedeutet das auch das Ende für Felding-Roth. Wir haben uns entschlossen, es dennoch zu tun - ein gewagtes Spiel.«

Es ging auch um andere, vielleicht nicht ganz so wesentliche Entscheidungen, zum Beispiel um den Markennamen für Peptid 7.

Die Werbeagentur von Felding-Roth - Quadrille-Brown in New York - führte eine kostspielige, ausgiebige Untersuchung über bereits existierende Markennamen durch und schlug nach langen Überlegungen neue vor, von denen die meisten sofort abgelehnt wurden. Nach mehrmonatigem Hin und Her traf man sich zu einer Konferenz auf höchster Ebene in der Geschäftszentrale von Felding-Roth.

Von seiten der Firma nahmen Celia, Bill Ingram und ein halbes Dutzend andere Mitarbeiter teil.

Howard Bladen, jetzt Präsident von Quadrille-Brown, war persönlich erschienen, »um der guten alten Zeiten willen«, wie er sich ausdrückte, und führte das kleine Team der Agentur an. Bevor die Sitzung begann, erinnerten sich Celia, Ingram und Bladen an die sechzehn Jahre zurückliegende Konferenz, bei der sie sich kennengelernt hatten und die zu dem erfolgreichen Plan für das neue Healthotherm geführt hatte, das sich noch immer gut verkaufte.

Tafeln und Staffeleien wurden in den Sitzungsraum gebracht.

»Unter den Vorschlägen, die wir in Betracht gezogen haben«, erklärte ein Mitarbeiter der Agentur, »sind Namen, die sich auf das Gehirn oder die menschliche Wahrnehmung beziehen: Appercep, Compre, Percip und Braino.«

Der vierte Name wurde eilig zurückgezogen, als Bill Ingram auf seine Ähnlichkeit mit Drano - einem Haushaltsreiniger -hinwies.

»Das ist mir äußerst peinlich«, sagte Bladen, »und ich verstehe nicht, daß wir das alle nicht bemerkt haben.«

Es folgten Namen, die »an etwas Kluges erinnern sollen - etwas, das vor Intelligenz nur so strahlt«: Argent und Nitid.

Zwei weitere: Genus und Compen. Letzteres sollte, wie es hieß, zum Ausdruck bringen, daß das Medikament etwas »kompensiert«, was sonst verlorengehen könnte.

Eine Stunde lang wurde über die Namen diskutiert. Bill Ingram gefiel Appercep, Nitid lehnte er ab, und die anderen ließen ihn ziemlich kalt. Drei Firmenangehörige sprachen sich für Ar-gent aus, Bladen war für Compen.

Celia hielt sich zurück und ließ sich die Argumente durch den Kopf gehen.

Schließlich fragte Bladen: »Und was meinen Sie dazu, Mrs. Jordan? Sie hatten früher immer so ausgezeichnete Ideen.«

»Ich frage mich, warum wir unser neues Medikament nicht einfach Peptid 7 nennen«, sagte Celia.

Nur Ingram kannte Celia so gut, daß er es sich erlauben konnte, laut herauszulachen.

Bladen zögerte, dann hellte sich sein Gesicht langsam auf. »Was Sie eben vorgeschlagen haben, Mrs. Jordan, ist, glaube ich, schlicht genial.«

»Nur weil ich Kunde bin, muß es nicht gleich genial sein. Es ist einfach vernünftig«, erwiderte Celia schroff.

Nach einer äußerst kurzen Diskussion wurde beschlossen, Peptid 7 unter diesem Namen zu verkaufen.

Das folgende Jahr verging in Windeseile.

Die klinischen Erprobungen von Peptid 7, die schneller vorangegangen waren, als irgend jemand erwartet hatte, waren sowohl in England als auch in den Vereinigten Staaten außerordentlich erfolgreich verlaufen. Ältere Patienten hatten auf das Medikament positiv angesprochen. Nachteilige Nebenwirkungen waren nicht aufgetreten. Jetzt waren alle Daten an das Komitee für die Sicherheit in der Medizin in London und an die FDA in Washington geschickt worden. Nach eingehenden Beratungen sowohl in Harlow als auch in Boonton, an denen Martin Peat-Smith, Vincent Lord, Celia und einige andere teilnahmen, wurde beschlossen, einen »offiziellen Hinweis« auf die gewichtsreduzierende Wirkung von Peptid 7 nicht zu beantragen. Das bedeutete, daß dieser Nebeneffekt des Medikaments zwar in den Informationen für die Ärzte erwähnt wurde, das Mittel aber nicht zu diesem Zweck empfohlen wurde.

Man war sich darüber im klaren, daß manche Ärzte es dennoch zu diesem Zweck verschreiben würden. Aber dafür würden sie selbst die Verantwortung tragen und nicht Felding-Roth.

Was die sexuelle Stimulans betraf, so hatten die Untersuchungen an Tieren derartiges tatsächlich bewiesen, bei den Tests an Menschen aber hatte man nicht eigens danach gesucht und die-sen Effekt in dem Untersuchungsbericht auch so unauffällig wie möglich erwähnt.

In beiden Fällen vertrat man auch weiterhin die Ansicht, daß es sich bei Peptid 7 um ein ernsthaftes Medikament handelte, das den mentalen Alterungsprozeß hinauszögern sollte. Jeder andere, »frivole« Gebrauch würde von dieser wichtigen Funktion ablenken und dem Ruf des Medikaments abträglich sein.

Angesichts der makellosen Resultate aus den klinischen Tests und der Tatsache, daß ein besonderer Indikationshinweis nicht verlangt wurde, schien es unwahrscheinlich, daß die Zulassung von Peptid 7 auf sich warten lassen würde.

Inzwischen waren die Arbeiten an der Fabrik in Irland und die Umstellungen in dem Werk in Puerto Rico so gut wie abgeschlossen.

In Harlow hatte Martin, obwohl er an den Ergebnissen der klinischen Erprobungen sehr interessiert war, alle Einzelheiten seinem Personal überlassen. Er arbeitete an einer Modifizierung von Peptid 7, erforschte die Möglichkeiten, andere Gehirnpep-tide herzustellen, um an die früheren Erfolge anzuknüpfen.

Martin und Yvonne lebten noch immer zusammen. Im Januar 1980 hatte Yvonne ihr Examen gemacht und zu ihrer eigenen und Martins großer Freude in allen Fächern mit Auszeichnung bestanden. Aufgrund ihrer guten Examensergebnisse war sie beim Lucy Cavendish College angenommen worden. Der College-Prospekt hatte Yvonne gefallen, weil darin von einer »Gemeinschaft der Frauen, besonders derjenigen, die ihr Studium verschieben oder unterbrechen mußten«, die Rede war. Sie besuchte das College seit dem September, nachdem sie bei Felding-Roth gekündigt hatte.

Inzwischen war ein Monat vergangen, und sie hatte sich daran gewöhnt, zu den Vorlesungen täglich nach Cambridge und wieder zurück zu fahren, was eine Stunde in Anspruch nahm.

Regen Anteil nahm Yvonne an der königlichen Romanze zwischen dem Prince of Wales und »Lady Di«, wie die Engländer sie nannten. Yvonne diskutierte dieses Thema unermüdlich mit Martin. »Ich habe ja schon immer gesagt, daß er nur lange genug warten muß, um eine englische Rose zu finden«, erklärte sie. »Und jetzt hat er sie gefunden.«

Im Januar - Präsident Reagan hatte viertausend Meilen entfernt gerade sein Amt als Präsident übernommen - erteilte der britische Gesundheitsminister die Genehmigung, Peptid 7 in England auf den Markt zu bringen. Zwei Monate später erfolgte die Zulassung durch die FDA für die Vereinigten Staaten. Kanada folgte, wie so oft, kurz danach.

In England sollte das Medikament im April, in den Vereinigten Staaten und Kanada im Juni auf den Markt kommen.

Im März aber, bevor das Medikament im Handel war, trat etwas ein, das die früheren Befürchtungen bestätigte und, wie es schien, die Zukunft von Peptid 7 gefährdete.

Es begann damit, daß ein Reporter der Londoner Daily Mail im Harlower Institut von Felding-Roth anrief. Er verlangte Dr. Peat-Smith oder Dr. Sastri zu sprechen. Als man erklärte, daß beide an diesem Morgen nicht anwesend seien, hinterließ er eine Nachricht, die eine Sekretärin notierte und auf Martins Schreibtisch legte. Sie lautete:

Die Mail hat erfahren, daß Sie in Kürze eine Wunderdroge herausbringen werden, die sexuell anregend wirkt, Gewichtsverlust herbeiführt und Menschen mittleren und gehobenen Alters dazu bringt, sich wieder jung zu fühlen. Eine Story darüber wird in unserer morgigen Ausgabe erscheinen, und wir hätten dafür gern noch heute eine Erklärung Ihrer Firma.

Als Martin eine halbe Stunde vor der Mittagspause diese Notiz las, reagierte er entsetzt. War diese verdammte Zeitung, die auf Sensationen aus war, etwa drauf und dran, seine Arbeit und seine Träume zu zerstören?

Als erste Reaktion rief er Celia in ihrer Privatwohnung an. In Morristown war es 6.30 Uhr morgens, und Celia stand gerade unter der Dusche. Martin wartete ungeduldig, bis sie sich abgetrocknet und einen Bademantel übergezogen hatte.

Als Celia sich meldete, las er ihr die Nachricht vor. Seine Stimme klang zornig. Celia war besorgt, sah die Dinge aber auch von der praktischen Seite.

»Die sexuelle Komponente von Peptid 7 ist also raus. Damit hatte ich eigentlich schon lange gerechnet.«

»Können wir nicht irgend etwas tun, um das zu verhindern?«

»Offensichtlich nicht. Der Bericht beruht auf Tatsachen. Daher können wir ihn nicht einfach dementieren. Außerdem wird keine Zeitung von einer derartigen Story ablassen, wenn sie erst mal dran ist.«

Martin, der ungewöhnlich hilflos klang, fragte: »Und was sollen wir jetzt tun?«

»Rufen Sie den Reporter an und beantworten Sie seine Fragen ehrlich, aber so kurz wie möglich«, riet sie ihm. »Betonen Sie, daß dieser sexuelle Nebeneffekt bis jetzt nur bei Tieren beobachtet wurde und daß das auch der Grund ist, warum wir das Mittel den Menschen in dieser Hinsicht nicht empfehlen. Das gleiche gilt für den Gewichtsverlust.« Und Celia fügte hinzu: »Vielleicht beschränken sie sich dann auf einen kurzen Artikel, der keine allzugroße Aufmerksamkeit erregt.«

»Das bezweifle ich sehr«, sagte Martin düster.

»Ich auch. Aber versuchen Sie es wenigstens.«

Drei Tage nach Martins Anruf erstattete Julian Hammond Celia Bericht. »Es ist, als hätte diese Zeitungsmeldung eine Schleuse geöffnet«, sagte er.

Die Daily Mail hatte ihren Bericht folgendermaßen überschrieben:

Wissenschaftlicher Durchbruch

Eine neue Wunderdroge, die Sie sexy, jünger und schlank macht.

Der Artikel ging ausführlich auf die sexuell stimulierende Wirkung von Peptid 7 ein, ließ aber die Tatsache, daß dies bisher nur bei Tieren beobachtet worden war, unerwähnt. Der Begriff »Aphrodisiakum«, vor dem sich Martin und die anderen bei Fel-ding-Roth gefürchtet hatten, wurde mehrmals verwendet. Noch schlimmer war, daß die Zeitung auf irgendeine Weise von Mik-key Yates erfahren und ihn interviewt hatte. Ein Foto trug die Überschrift »Ich danke dir, Peptid 7!« und zeigte den alternden Yates, vor Stolz strahlend, nachdem er seine neugeweckten sexuellen Kräfte herausposaunt hatte; neben ihm seine Frau, mit geziertem Lächeln, die die Aussage ihres Mannes bestätigte.

Darüber hinaus wurde erwähnt, daß auch noch mehrere andere freiwillige Testpersonen ebenfalls eine ungewöhnliche Belebung ihres Sexualtriebs verspürt hatten. Auch sie waren namentlich genannt und zitiert.

Celias Hoffnung, daß es mit dem einen Zeitungsartikel sein Bewenden haben würde, erfüllte sich nicht. Die Story der Daily Mail wurde nicht nur von der gesamten britischen Presse und dem Fernsehen übernommen, sondern auch von allen Nachrichtenagenturen ins Ausland verbreitet. In den Vereinigten Staaten herrschte sofort reges Interesse, und die meisten Zeitungen übernahmen die Meldung; im Fernsehen fanden Diskussionen statt.

Unmittelbar darauf liefen die Telefonleitungen von Felding-Roth heiß. Presse, Funk und Fernsehen wollten Einzelheiten erfahren. Obwohl man zögerte, der Sensationsgier Vorschub zu leisten, wurden die Informationen erteilt. Es gab keine andere Möglichkeit.

Nur einige wenige Anrufer interessierten sich für das eigentliche Anwendungsgebiet des Medikaments.

Fragen aus der Öffentlichkeit folgten. Die meisten Fragesteller waren nur an der sexuellen Stimulans oder dem Gewichtsverlust interessiert. Den Anrufern wurde eine kurze Erklärung des Inhalts vorgelesen, daß Peptid 7 für derartige Anwendungszwecke nicht empfohlen werden könne. Die Telefonistinnen berichteten, daß diese Antwort offenbar nicht als zufriedenstellend akzeptiert wurde.

Einige Anrufer gaben Obszönitäten von sich. »Mit einem Schlag ist alles, was wir so sorgsam geplant hatten, zu einer Nebensache geworden«, klagte Bill Ingram.

Wie würden die Ärzte reagieren? grübelte Celia. Würden sie beschließen, Peptid 7, dem schon jetzt ein schlechter Ruf vorauseilte, lieber nicht zu verschreiben?

Andrew bestätigte ihre Ängste. »Eine Reihe von Ärzten wird leider so reagieren. Die ganze Publicity läuft darauf hinaus, daß Peptid 7 auf eine Stufe mit Laetril, Ozo oder Spanish fly gestellt wird.«

»Hätte ich lieber nicht gefragt!« seufzte Celia. Weniger als einen Monat vor der geplanten großangelegten Einführung von Peptid 7 war sie aufs äußerste besorgt.

Martin aber war zutiefst verzweifelt.

17

»Wie sich herausstellte«, pflegte Celia sich später zu erinnern, »hatten wir in den ersten Monaten nach der Einführung von Pep-tid 7 tatsächlich Probleme - sehr ernste Probleme. Wir von der Geschäftsleitung verbrachten unzählige schlaflose Stunden. Aber das Merkwürdige war, daß die Probleme, die dann auf uns zukamen, völlig anders waren als erwartet.« Lachend pflegte sie hinzuzufügen: »Es hat sich wieder einmal gezeigt, daß man die Reaktion der Leute nie voraussagen kann.«

Die Probleme, die Celia meinte, betrafen die Lieferbarkeit des Präparats.

Von dem Augenblick an, da Peptid 7 verfügbar war - auf ärztliches Rezept in Apotheken erhältlich -, konnte das Angebot die Nachfrage über Monate nicht befriedigen. In den Apotheken bildeten sich lange Schlangen, und die meisten Kunden mußten wieder weggeschickt werden.

Das lag, wie später bekannt wurde, auch daran, daß, wie Bill Ingram meinte, »die verdammten Ärzte und Apotheker das Zeug selbst nahmen und den Rest für ihre Freunde auf die Seite legten«.

Diese Knappheit, die eine Zeitlang geradezu bedrohliche Ausmaße annahm, herrschte sowohl in England als auch in den Vereinigten Staaten. Langjährige Mitarbeiter der Firma hatten so et-was noch nie erlebt. Hektische Telefongespräche gingen zwischen New Jersey, Irland, Harlow, Puerto Rico, Chicago und Manchester hin und her - in den beiden letzten Orten wurden die Plastikbehälter und Druckhebel hergestellt. Vor allem in Puerto Rico schrie man nach neuen Behältern, die im Eiltempo gefüllt und umgehend wieder verschifft wurden.

Die Fabriken in Irland und Puerto Rico arbeiteten rund um die Uhr. Gleichzeitig pendelte ein Charterflugzeug zwischen Irland und Puerto Rico hin und her und lieferte die wertvolle aktive Peptid-7-Substanz ab. Ingram mußte in dieser schwierigen Zeit die Hauptlast tragen. Nach seinen Worten »lebten wir von der Hand in den Mund, jonglierten mit den vorhandenen Vorräten und bemühten uns, so gut es ging, die Massen, die nach Peptid 7 verlangten, zufriedenzustellen«.

Dann pflegte auch er bei der Erinnerung an diese Tage zu lachen. »Aber Gott sei Dank haben unsere Leute alle zugepackt, wo sie nur konnten. Sogar die Ärzte und Apotheker, die sich zunächst aufgespielt hatten, haben Peptid 7 zu seinem glänzenden, ja goldenen Erfolg verholfen.«

Das Wort golden war durchaus angemessen. Ein Jahr, nachdem das neue Medikament wie eine Bombe auf der pharmazeutischen Szene eingeschlagen hatte, überschrieb das Magazine Fortune einen Artikel folgendermaßen:

FELDING-ROTH FINDET REICH IST BESSER

Fortune schätzte die Einkünfte aus dem Verkauf von Peptid 7 im ersten Jahr auf 600 Millionen Dollar. Diese und frühere Schätzungen führten dazu, daß die Felding-Roth-Aktien, die an der New Yorker Börse gehandelt wurden, »durch das Dach in die Stratosphäre schössen«, wie es ein Börsenmakler ausdrückte. Kurz nachdem das Medikament im Handel war, verdreifachten sich innerhalb eines Monats die Aktienkurse und verdoppelten sich innerhalb eines Jahres noch einmal und nochmals während der darauffolgenden acht Monate. Danach beschlossen die Direktoren eine Aufteilung von fünf zu eins, um den Aktienkurs in vernünftigen Grenzen zu halten.

Bei der endgültigen Abrechnung dann erwies sich die FortuneSchätzung als immer noch um einhundert Dollar zu niedrig.

Und noch etwas schrieb Fortune: »Seit Tagamet, Smith Kline's bemerkenswertes Mittel gegen Geschwüre, 1976 eingeführt wurde, hat es kein Präparat gegeben, das sich mit dem Peptid-7-Phänomen vergleichen läßt.«

Der Erfolg war aber nicht nur auf die finanzielle Seite beschränkt. Tausende und Abertausende älterer Menschen sprühten sich das Medikament zweimal täglich in die Nase und erklärten, daß sie sich wohler fühlten, daß ihr Gedächtnis besser funktionierte, daß sie vitaler seien.

Wenn man sie fragte, ob diese »Vitalität« auch die sexuelle Energie mit einschließe, antworteten manche ganz offen mit ja, während andere nur lächelten und erklärten, daß das ihre Privatsache sei.

Aus medizinischer Sicht wurde die gedächtnisstärkende Eigenschaft des Mittels als die wesentlichste angesehen. Wer Pep-tid 7 nahm und früher an Vergeßlichkeit gelitten hatte, erinnerte sich jetzt mühelos an Namen und Telefonnummern. Ehemänner, die früher den Geburtstag ihrer Frau und ihren Hochzeitstag zu vergessen pflegten, dachten jetzt daran. Ein älterer Mann behauptete, sich spielend den gesamten Busfahrplan der Umgebung eingeprägt zu haben, und bewies es auch. Psychologen arbeiteten Gedächtnis-Tests für »davor und danach« aus und bestätigten die Wirksamkeit von Peptid 7.

Obwohl der gewichtsreduzierende Effekt erst an zweiter Stelle kam, war auch er bald unumstritten. Dicke Menschen, auch jüngere, nahmen ab und wurden gesünder. Diese Tatsache wurde von medizinischer Seite so weitgehend akzeptiert, daß Felding-Roth in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Kanada den Antrag stellte, dem Präprarat offiziell eine »Indikation« für Gewichtsverlust beizugeben. Es wurde kaum daran gezweifelt, daß dem Antrag stattgegeben würde.

Überall in der Welt bemühte man sich um die Lizenz für Pep-tid 7 und um die Lieferung von Vorräten.

Es war noch zu früh für den Beweis, daß das Medikament sich auch auf die Alzheimersche Krankheit auswirkte. Erkenntnisse würden sich erst in einigen Jahren einstellen, aber viele Menschen machten sich Hoffnungen.

Die Frage, ob Peptid 7, wie früher schon andere Medikamente, zu häufig verschrieben wurde, mußte mit ziemlicher Sicherheit mit ja beantwortet werden. Aber Peptid 7 unterschied sich von all den anderen Medikamenten dadurch, daß es, selbst wenn man es nicht benötigte, keinen Schaden anrichtete. Es machte nicht süchtig; nachteilige Berichte über irgendwelche Nebenwirkungen gab es so gut wie überhaupt nicht.

Eine Frau aus Texas beklagte sich in einem Brief, daß sie jedes Mal, wenn sie Peptid 7 genommen und danach Geschlechtsverkehr gehabt hatte, Kopfschmerzen bekäme. Die Beschwerde wurde von Felding-Roth routinemäßig an die FDA weitergeleitet und auch untersucht, dann aber fallengelassen, als sich herausstellte, daß die Frau zweiundachtzig Jahre alt war.

Ein Kalifornier klagte auf Garderobeersatz, da ihm seine alten Sachen nach der Einnahme von Peptid 7 nicht mehr paßten. Er hatte dreißig Pfund abgenommen. Die Klage wurde abgewiesen.

Aber das war auch fast schon alles.

Und der Enthusiasmus der Ärzte schien keine Grenzen zu kennen. Sie empfahlen ihren Patienten Peptid 7 als nützlich und unbedenklich und bezeichneten es als einen der größten Fortschritte in der Geschichte der Medizin.

»Diesmal hast du dich geirrt«, sagte Celia zu Andrew. »Die Ärzte haben sich durch die Publicity nicht abschrecken lassen. Ganz im Gegenteil.«

»Gut, ich habe mich geirrt«, gab ihr Mann zu, »und wahrscheinlich wirst du mich für den Rest meiner Tage daran erinnern. Aber ich bin froh, daß ich unrecht hatte. Du und Martin -ihr habt es verdient.«

Die Publicity hielt unvermindert an, vielleicht, meinte Celia, weil Peptid 7 so viel zur Verlängerung des menschlichen Glücks beitrug.

Presse und Fernsehen berichteten häufig darüber.

»Sie haben mal gesagt, daß uns das Fernsehen vielleicht eines Tages helfen würde«, erinnerte Bill Ingram Celia. »Das ist nun tatsächlich eingetroffen.«

Ingram, der ein Jahr zuvor zum geschäftsführenden stellvertretenden Präsidenten befördert worden war, hatte den größten Teil der Last zu tragen. Celia war im wesentlichen mit Überlegungen beschäftigt, was mit dem vielen Geld geschehen sollte, das zur Zeit und voraussichtlich auch im nächsten Jahr hereinfloß.

Seth Feingold, inzwischen pensioniert, übte weiterhin eine beratende Funktion aus und kam gelegentlich in ihr Büro. Eineinhalb Jahre nach der Zulassung von Peptid 7 in den USA warnte Seth Celia: »Sie müssen sich schnell entscheiden, wofür Sie einen Teil des Gelds verwenden wollen, sonst schlucken die Steuern alles.«

Eine Möglichkeit bestand darin, andere Firmen aufzukaufen. Auf Celias Drängen hin stimmte der Aufsichtsrat zu, die Chicagoer Firma, die die Peptid-7-Behälter produzierte, zu erwerben. Es folgte der Kauf eines Konzerns in Arizona, der sich auf neue Methoden der Auslieferung von Medikamenten spezialisiert hatte. Verhandlungen über den Kauf einer Firma für optische Geräte waren im Gange. Mehrere Millionen Dollar sollten für ein neues Forschungszentrum für Gentechnik ausgegeben werden.

In der Planung war auch eine neue Firmenzentrale, da das Gebäude in Boonton zu eng geworden war und manche Abteilungen außer Haus untergebracht waren. Der neue Bau sollte in Morristown entstehen, und ein Teil des hoch aufragenden Gebäudekomplexes sollte ein Hotel beherbergen.

Auch ein Düsenflugzeug wurde angeschafft - eine Gulfstream III. Celia und Ingram benutzten es auf ihren Inlandsflügen, die wegen der ausgedehnten Firmengeschäfte jetzt häufiger notwendig waren.

Bei einem anderen Gespräch, das Celia mit Seth geführt hatte, hatte er bemerkt: »Ein Gutes hat das viele Geld jedenfalls - daß ein Teil davon verwendet werden kann, um die Ansprüche der armen Eltern von Montayne-geschädigten Kindern zu erfüllen.«

»Darüber bin auch ich sehr froh«, bestätigte Celia. Seit einiger Zeit wußte sie, daß der Reservefonds fast erschöpft war.

»Ich werde mich wegen Montayne nie frei von Schuld fühlen können. Niemals«, erklärte Seth traurig.

Während des Siegeszuges von Peptid 7 schwebte Martin Peat- Smith buchstäblich im siebenten Himmel. Nicht einmal in seinen optimistischsten Augenblicken hatte er sich einen derartigen Erfolg vorstellen können. Sein Name war jetzt weithin bekannt, er wurde bewundert und geachtet, und er wurde mit Lob und Ehrungen nur so überhäuft. Er war zum Mitglied der Royal Society, Englands ältester wissenschaftlicher Gesellschaft, gewählt worden. Andere akademische Institutionen luden ihn ein, Vorträge zu halten. Man sprach bereits vom Nobelpreis. Und es ging das Gerücht um, daß er geadelt werden sollte.

Inmitten all dieses Trubels gelang es Martin nur mit Mühe, ein Privatleben zu führen. Er bekam eine neue und geheime Telefonnummer, und im Institut sorgte Nigel Bentley dafür, daß Martin nur die wichtigsten Anrufe und Besucher empfing. Dennoch war klar, daß Martin sein früheres unauffälliges Leben nie wieder würde führen können. Und noch etwas hatte sich geändert. Yvonne hatte beschlossen, nicht mehr bei Martin zu wohnen, und sich in Cambridge eine eigene Wohnung genommen.

Es hatte zwischen ihnen keinerlei Streit oder Mißstimmungen gegeben. Sie hatte einfach beschlossen, ihre eigenen Wege zu gehen. In letzter Zeit hatte Martin sie viel allein lassen müssen, und es kam ihr sinnlos vor, täglich von Harlow nach Cambridge und zurück zu fahren. Martin akzeptierte ihre Gründe kritiklos und verständnisvoll. Sie hatte erwartet, daß er wenigstens zum Schein etwas einwenden würde, aber als er es nicht tat, zeigte sie ihm ihre Enttäuschung nicht. Sie vereinbarten, einander gelegentlich zu sehen und gute Freunde zu bleiben.

Gleich nach ihrer Trennung war Martin eine Woche lang verreist. Er kehrte in ein dunkles, leeres Haus zurück. Es war über fünf Jahre her, seit es so leer gewesen war, und es gefiel ihm nicht. Nach einer Woche gefiel es ihm noch weniger. Er stellte fest, daß er sich einsam fühlte und den Anblick und das fröhliche Geplapper von Yvonne vermißte. Es war, dachte er eines Abends, als sei in seinem Leben plötzlich ein Licht ausgegangen.

Am nächsten Tag rief Celia aus geschäftlichen Gründen aus New Jersey an, und am Ende ihres Gesprächs sagte sie: »Martin, Sie hören sich deprimiert an. Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« Und da erzählte er ihr, wie sehr er Yvonne vermißte.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Celia. »Warum haben Sie sie gehen lassen?«

»Sie ist frei und kann tun und lassen, was sie will. Und sie wollte es so.«

»Haben Sie denn nicht versucht, sie zum Bleiben zu überreden?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Sie muß ihr eigenes Leben leben«, erklärte er.

»Und zweifellos will sie mehr davon, als Sie ihr gegeben haben. Haben Sie schon mal darüber nachgedacht, sie zu fragen, ob sie Sie heiraten will?«

»Am Tag ihres Auszugs habe ich darüber nachgedacht. Aber ich habe sie nicht gefragt, weil es mir . . .«

»Großer Gott!« rief Celia. »Martin Peat-Smith, wenn ich jetzt bei Ihnen wäre, würde ich Sie ganz schön ins Gebet nehmen. Wie kann jemand, der klug genug ist, Peptid 7 zu finden, nur so dumm sein? Sie Narr! Yvonne liebt Sie doch.«

»Woher wollen Sie das wissen?« fragte Martin.

»Weil ich eine Frau bin. Ich war noch nicht mal fünf Minuten mit ihr zusammen, da hab' ich's schon gewußt. Das ist so klar, wie Sie beschränkt sind.«

Es entstand eine Pause. Dann fragte Celia: »Und was wollen Sie jetzt tun?«

»Wenn es nicht zu spät ist . . . werde ich sie bitten, mich zu heiraten.«

»Und wie wollen Sie das anstellen?«

Er zögerte. »Ich könnte sie vielleicht anrufen.«

»Martin«, sagte Celia, »ich bin in dieser Firma Ihre Vorgesetzte, und ich befehle Ihnen, Ihr Büro sofort zu verlassen, sich in Ihr Auto zu setzen und zu Yvonne zu fahren, wo immer sie sich gerade aufhält. Was Sie dann tun, ist Ihre Sache, aber wenn nötig, sollten Sie vor ihr auf die Knie gehen und ihr sagen, daß Sie sie lieben. Ich bezweifle nämlich, daß Sie eine Frau finden, die besser zu Ihnen paßt oder die Sie mehr liebt. Und es wäre keine schlechte Idee, unterwegs anzuhalten und ein paar Blumen zu kaufen. Mit Blumen scheinen Sie sich ja auszukennen . . .«

Wenige Augenblicke später sahen die Angestellten des Harlo-wer Instituts mit Erstaunen ihren Chef den Korridor hinunter und durch die Halle rasen, in sein Auto springen und davonfahren.

Das Hochzeitsgeschenk von Celia und Andrew für Martin und Yvonne war ein Silbertablett, in das Celia Zeilen aus To a Bride von Francis Quarles, einem in Essex geborenen Dichter des 17. Jahrhunderts, hatte eingravieren lassen:

Laßt all eure Wonnen sein wie der Monat Mai, Als sei der Hochzeitstag noch nicht vorbei: Laßt Kummer, Krankheit und trübe Gedanken Wie Fremde sein.

Und dann gab es noch Hexin W.

Es sollte in einem Jahr auf den Markt kommen.

18

Bei den klinischen Erprobungen von Hexin W traten bei Patienten, die das Mittel zusammen mit anderen ausgewählten Medikamenten genommen hatten, Nebenwirkungen auf. Solche Kombinationen sollten über die Ausschaltung der freien Radikale zu einer wirksamen Behandlung führen. Es war von Übelkeit und Erbrechen sowie von Durchfall, Schwindelgefühlen oder erhöh-tem Blutdruck die Rede, doch war dies nichts Ungewöhnliches und kein Grund zur Sorge. Die Vorfälle waren nicht ernst, und es war auch nur ein geringer Prozentsatz der Patienten betroffen. Es kam außerordentlich selten vor, daß bei einem Medikament überhaupt keine Nebenwirkungen auftraten. Peptid 7 war eine bemerkenswerte Ausnahme.

Die Untersuchungen mit Hexin W, die zweieinhalb Jahre dauerten, wurden von Dr. Vincent Lord persönlich überwacht. Es gab andere Aufgaben an Mitarbeiter ab, um sich voll und ganz seinem »geistigen Kind« widmen zu können. Er mußte verhindern, daß in diesem wichtigen Endstadium irgend etwas schiefging, was seinen wissenschaftlichen Ruhm mindern konnte.

Mit gemischten Gefühlen hatte Lord den anhaltenden Erfolg von Peptid 7 beobachtet. Einerseits war er auf Martin Peat-Smith neidisch, andererseits war Felding-Roth dank Peptid 7 finanziell gestärkt und besser in der Lage, ein anderes Produkt mit Erfolgsaussichten zu unterstützen.

Die Ergebnisse der Untersuchungen mit Hexin W waren für Lord Anlaß zu Erleichterung und Freude. Nirgends waren Anzeichen nachteiliger Nebenwirkungen aufgetreten. Die wenigen geringfügigen waren leicht unter Kontrolle zu bringen.

Bei der sogenannten Testphase III wurde kranken Menschen das Medikament unter ähnlichen Bedingungen verabreicht, wie man sie für den späteren Einsatz vorsah, und die Ergebnisse waren durchweg gut. Das Medikament war über einen hinreichend langen Zeitraum von sechstausend Personen eingenommen worden, viele in Krankenhäusern unter kontrollierten Bedingungen - eine geradezu ideale Situation für Testzwecke.

Sechstausend - das waren mehr, als normalerweise bei den Tests der Phase III hinzugezogen wurden. Aber im Fall von Hexin W hatte man sich für diese Zahl entschieden, weil man seine Verträglichkeit in Kombination mit verschiedenen anderen Medikamenten genau untersuchen wollte.

Patienten mit Arthritis sprachen, wie erhofft, besonders gut darauf an. Sie vertrugen Hexin W nicht nur als Einzelpräparat, sondern auch zusammen mit anderen starken entzündungshemmenden Medikamenten, die man ihnen bisher hatte vorenthalten müssen.

Für die Koordination der Tests, die an mehreren voneinander entfernt liegenden Orten durchgeführt wurden, hatte man innerhalb wie außerhalb der Firma zusätzliche Hilfskräfte hinzuziehen müssen. Aber nun war es geschafft. In der Geschäftszentrale von Felding-Roth waren gewaltige Datenmengen gesammelt worden, und bevor sie zusammen mit dem Antrag auf Zulassung an die FDA weitergeleitet wurden, hatte Lord das Material so eingehend wie möglich geprüft.

Wegen seines starken persönlichen Engagements war die Arbeit für ihn ein Vergnügen - das ihm aber beim Lesen einer Serie von Krankenberichten schlagartig verging. Was er dort las, versetzte ihn zunächst in Sorge, dann in Bestürzung und schließlich in Wut.

Die Berichte stammten von einem Dr. Yaminer, der in Phoenix, Arizona, praktizierte. Lord kannte Yaminer nicht persönlich, wußte aber ein wenig über ihn Bescheid.

Yaminer war Internist. Er hatte eine große Privatpraxis und arbeitete auch ständig an zwei Krankenhäusern. Wie viele andere Ärzte, die mit dem Testprogramm von Hexin W zu tun hatten, war er von Felding-Roth vertraglich verpflichtet worden, die Wirkung des Medikaments an einer Gruppe von Patienten zu beobachten - in diesem Fall bei einhundert Personen. Zuvor mußte die Zustimmung der Patienten eingeholt werden, was aber in der Regel keine Schwierigkeiten bereitete.

Der Auftrag war zu Bedingungen erteilt worden, wie sie bei Pharma-Firmen, die ein neues Medikament ausprobieren wollten, allgemein üblich waren. Yaminer hatte schon mehrfach mit Felding-Roth und anderen pharmazeutischen Unternehmen zusammengearbeitet.

Ärzte, die sich für derartige Testzwecke verpflichten ließen, konnten dafür zwei Gründe haben. Einige waren an den Forschungen selbst interessiert, fast alle aber freuten sich über das beträchtliche Honorar, das es dafür gab.

Für ein bißchen zusätzliche, über mehrere Monat verteilte Arbeit konnte ein Arzt zwischen fünfhundert und tausend Dollar pro Patient kassieren, je nachdem, um welche Firma es sich handelte und wie wichtig das Medikament war. Für seine Tests und Beobachtungen im Fall von Hexin W hatte Yaminer 85.000 Dollar erhalten. Die Selbstkosten des Arztes waren dabei gering.

Aber das System hatte eine Schwäche.

Weil die Angelegenheit so lukrativ war, gaben manche Ärzte der Versuchung nach, mehr Aufträge anzunehmen, als sie gewissenhaft bewältigen konnten. Das führte zu Verkürzungen des Verfahrens und - erstaunlich häufig - zur Fälschung der Daten. Zu Betrug.

Lord war überzeugt, daß Dr. Yaminer mit seinen Berichten über die Wirkung von Hexin W einen Betrug begangen hatte.

Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder hatte Yaminer die Untersuchungen, die er an den namentlich aufgeführten Patienten hätte vornehmen sollen, nicht vorgenommen, oder ein Teil, wenn nicht die meisten der hundert von ihm genannten Patienten existierten gar nicht, außer in der Phantasie des Arztes. Er hatte sie, genauso wie die Test-»Ergebnisse«, erfunden.

Lords Erfahrung nach war letzteres am wahrscheinlichsten.

Wie war er darauf gekommen?

Erstens hatte Yaminer seinen Bericht in aller Eile angefertigt und war unvorsichtig gewesen. Lord war aufmerksam geworden, weil er auf den Formularen an verschiedenen Tagen eine große Ähnlichkeit der Handschrift bemerkt hatte. Gewöhnlich unterschieden sich diese Eintragungen nicht nur durch die Handschrift, sondern auch durch das Schreibgerät. Selbst wenn ein Arzt jeden Tag denselben Stift benutzte, sah das Geschriebene selten immer identisch aus.

Aber das war noch kein Beweis. Immerhin war es möglich, daß Yaminer sich vorher Notizen gemacht und sie dann ordentlich auf die Blätter übertragen hatte. Für einen vielbeschäftigten Arzt war das allerdings unwahrscheinlich. Daher sah sich Lord die Sache genauer an, und er fand noch mehr.

Zu den Tests gehörte einer, der den pH-Wert von Urin, also den Säure- oder Alkaligehalt, messen sollte. Der Durchschnittswert lag zwischen fünf und acht. Aber jede Messung - an verschiedenen Tagen vorgenommen - konnte unterschiedliche Ergebnisse haben, das hieß, daß ein Wert von vier am Dienstag bei derselben Person am Mittwoch nicht unbedingt wieder auftreten mußte. Anders ausgedrückt: Die Wahrscheinlichkeit, daß die pH-Werte an fünf aufeinanderfolgenden Tagen identisch waren, lag bei eins zu vier.

In Dr. Yaminers Berichten aber kamen wiederholt Tag für Tag identische pH-Werte vor. Sehr unwahrscheinlich, selbst bei einem einzigen Fall. Und ganz unmöglich bei fünfzehn Patienten, wie Lord in Yaminers Studie feststellen mußte.

Um absolut sicher zu sein, wählte Lord fünfzehn andere Patienten aus und verglich die Werte der Blutuntersuchungen. Wieder stieß er auf Werte, die sich mit unnatürlicher Häufigkeit wiederholten.

Er brauchte nicht weiterzusuchen. Jedem medizinischen Prüfer würde das, was Lord gefunden hatte, als Beweis für eine Fälschung genügen.

Im ganzen gesehen nahm sich der Bericht von Dr. Yaminer außerordentlich positiv aus. Aber das Medikament stand auch ohne ihn gut da, wie alle anderen Studien zeigten.

Lord war klar, was jetzt eigentlich seine Pflicht war.

Er mußte sofort die FDA benachrichtigen und dort die Akten vorlegen. Dann würde Dr. Yaminers Arbeit offiziell überprüft und er mit ziemlicher Sicherheit für schuldig befunden werden. Das war schon passiert, und manche Ärzte waren im Gefängnis gelandet.

Aber Lord wußte auch noch etwas anderes.

Wenn er die FDA in die Sache hineinzog und Yaminers Arbeit für ungültig erklärt würde, mußte alles noch mal von vorn beginnen. Darüber würde ein ganzes Jahr vergehen und die Einführung von Hexin W sich um eben diese Zeitspanne verzögern.

Lord verfluchte Yaminer wegen seiner Dummheit und des Dilemmas, in das er selbst dadurch geraten war.

Was sollte er tun?

Wäre die Sache in Verbindung mit einem Medikament passiert, bei dem Anlaß zu Zweifel bestand, redete Lord sich ein, hätte er nicht eine Sekunde gezögert. Er hätte Yaminer den FDA-Wölfen vorgeworfen und wäre beim folgenden Prozeß als Zeuge aufgetreten.

Bei Hexin W aber gab es keinerlei Zweifel. Mit oder ohne gefälschten Bericht - es war ein nützliches, erfolgreiches Medikament.

Warum sollte er die falsche Studie also nicht einfach mit den richtigen durchgehen lassen? Er war überzeugt, daß es bei der FDA niemand merken würde; bei dem gewaltigen Umfang des Antrags war es jedenfalls höchst unwahrscheinlich. Und selbst wenn ein FDA-Mitarbeiter Yaminers Bericht überprüfte, gab es noch lange keinen Grund anzunehmen, daß ihm die Fälschung auffallen würde. Nicht jeder war in diesen Dingen so bewandert wie Vincent Lord.

Lord hätte die Studie am liebsten ganz weggelassen, aber das ging nicht. Yaminers Name war in den Unterlagen, die sich bereits bei der FDA befanden, aufgeführt.

Lord war der Gedanke, daß Yaminer ungestraft davonkommen sollte, verhaßt, aber eine andere Möglichkeit schien es nicht zu geben.

Lord unterzeichnete also die Yaminer-Studie und legte sie auf einen Aktenberg, den er bereits durchgesehen hatte. Aber er würde dafür sorgen, nahm er sich vor, daß dieser Schweinehund nie wieder einen Auftrag von Felding-Roth bekam. In seiner Abteilung gab es eine Akte über Yaminer. Lord suchte sie heraus und stopfte die Notizen, die er sich gemacht hatte, hinein. Wenn er sie je benötigen würde, wußte er, wo sie sich befanden.

Lord hatte die Situation richtig eingeschätzt.

Der Antrag wurde eingereicht und nach erfreulich kurzer Zeit genehmigt.

Nur etwas machte Vincent Lord ein wenig nervös. Dr. Gideon Mace war inzwischen zum Leiter des National Center forDrugs and Biologics ernannt worden. Im Vergleich zu früher hatte sich Mace herausgemacht - er trank nicht mehr, führte eine gute Ehe und genoß an seinem Arbeitsplatz einen guten Ruf. Sein Auftritt vor dem Senatsausschuß schien ihm nicht geschadet zu haben. Er war - im Gegenteil - schon bald darauf befördert worden.

Wie Lord erfuhr, hatte Mace, obwohl er mit dem Hexin-W-Antrag nicht direkt zu tun hatte, Interesse daran gezeigt, wie offenbar an allem, was von Felding-Roth kam. Sicher hatte Mace noch immer einen Haß auf die Firma und wartete nur darauf, sich eines Tages revanchieren zu können.

Aber es passierte nichts, und als die FDA die Zulassung für Hexin W erteilte, schwand Lords Nervosität.

Wie bei Peptid 7 sollte auch Hexin W als Markenbezeichnung beibehalten werden.

»Es geht einem leicht von der Zunge und wird sich auf der Pak-kung gut machen«, erklärte Celia, als man diese Frage diskutierte.

Bill Ingram stimmte zu. »Hoffen wir, daß es uns genausoviel Glück bringt wie Peptid 7.«

Mit oder ohne Glück - Hexin W war sofort ein Erfolg. Die Ärzte, darunter auch angesehene von Universitätskliniken, priesen es als einen wichtigen Beitrag zum medizinischen Fortschritt, der bei der Behandlung schwerkranker Patienten neue therapeutische Möglichkeiten eröffnete. Die medizinischen Fachzeitschriften lobten sowohl das Medikament als auch seine Entdecker.

»Sieht aus, als hättet ihr da wieder einen Renner«, sagte Andrew zu Celia. »Könnte ein Durchbruch werden wie damals das Lotromycin.«

Immer mehr Ärzte verschrieben das Medikament, und Patienten dankten für die Erleichterung, die es ihnen verschaffte. Die Verkaufszahlen von Hexin W schnellten in die Höhe.

Andere pharmazeutische Firmen, die sich zunächst zurückgehalten hatten, erwarben die Lizenz und kombinierten Hexin W mit eigenen Produkten. Medikamente, die wegen ihres zu hohen Giftgehalts nie auf den Markt gekommen waren, wurden aus den Regalen geholt und in der Kombination mit Hexin W neu er-probt.

Eines dieser Medikamente war Arthrigo, ein Mittel gegen Arthritis. Der Inhaber des Patents war Exeter & Stowe Laboratories aus Cleveland, dessen Präsidenten Alexander W. Stowe Celia dem Namen nach kannte. Stowe war früher selbst Wissenschaftler gewesen und hatte vor zehn Jahren zusammen mit einem Partner die Firma aufgebaut. Obwohl sie klein blieb, hatte sie sich einen guten Ruf für hochqualifizierte rezeptpflichtige Produkte erworben.

Nachdem Verhandlungen über einen Lizenzabschluß eingeleitet waren, kam Stowe persönlich in die Zentrale von Felding-Roth. Er war Mitte Fünfzig und strahlte Freundlichkeit aus; er trug zerknitterte Anzüge, hatte zerzauste Haare und machte immer einen leicht abwesenden Eindruck, aber der Eindruck trog. Während eines Gesprächs mit Celia und Vincent Lord erklärte er:

»Unsere Firma hat die Genehmigung der FDA, eine Kombination von Arthrigo und Hexin W auf experimenteller Basis herzustellen. Da beide Medikamente antiarthritische Eigenschaften besitzen, machen wir uns große Hoffnungen auf ein gutes Ergebnis. Wir werden Sie, sobald Ergebnisse vorliegen, auf dem laufenden halten.«

Das war sechs Monate nach der Einführung von Hexin W.

Ein paar Wochen später, an einem Samstagabend, gaben Celia und Andrew in ihrem Haus in Morristown zu Ehren von Vincent Lord eine Party. Lisa und Bruce waren aus diesem Anlaß ebenfalls nach Hause gekommen.

Es wurde höchste Zeit, erklärte Celia, daß sie sich Lord gegenüber erkenntlich zeigten, einerseits in Anerkennung seiner hervorragenden Leistung, die der Firma zugute kam, aber auch, um deutlich zu machen, daß die Feindschaft zwischen ihnen jetzt vorbei und vergessen war.

Die Party war ein Erfolg und Lord entspannter und fröhlicher, als Celia ihn je gesehen hatte.

Sein schmales Gelehrtengesicht wurde rot vor Freude, als man ihn mit Komplimenten überhäufte. Er lächelte ununterbrochen und unterhielt sich angeregt mit den Gästen, unter denen sich die leitenden Angestellten von Felding-Roth sowie prominente Bürger aus Morristown befanden und einige, die eigens aus New York gekommen waren. Celia hatte sogar Martin Peat-Smith gebeten zu kommen.

Diese Geste erfreute Lord besonders, ebenso wie Martins Trinkspruch, den er auf Celias Bitte ausbrachte.

»Das Leben eines Forschers«, erklärte Martin, »bietet Herausforderungen und Aufregung. Aber es gibt auch Jahre des Mißerfolgs, Stunden der Verzweiflung und Einsamkeit. Nur jemand, der dies kennengelernt hat, kann verstehen, was Vincent bei seiner Suche nach Hexin W durchgemacht hat. Und doch hat sich sein Genius und sein Engagement darüber hinweggesetzt - bis zur heutigen Feier, bei der wir uns vor einer großen wissenschaftlichen Leistung verneigen.«

»Wenn die Nachricht über all die Erfolge der Firma, von denen heute abend die Rede war, nach draußen gelangt«, bemerkte Lisa, als die Gäste gegangen waren und die Familie unter sich war, »werden die Aktien von Felding-Roth gleich noch mal um ein oder zwei Punkte steigen.«

Lisa, die kurz vor ihrem sechsundzwanzigsten Geburtstag stand und vor vier Jahren Stanford verlassen hatte, arbeitete in einer Investment-Bank an der Wall Street. Im Herbst wollte sie sich auf der Wharton School of Business einschreiben.

»Du solltest deinen Kunden am Montag raten, Felding-Roth-Aktien zu kaufen«, sagte Bruce, zu seiner Schwester gewandt, »und dann am Dienstag gegenüber den Presseagenturen durchsickern lassen, daß Dr. Peat-Smith, der Erfinder von Peptid 7, auf Hexin W ganz scharf ist.«

»Das wäre unmoralisch«, gab sie zurück. »Oder ist bei Verlegern so was üblich?«

Seit seinem Abschlußexamen vor zwei Jahren arbeitete Bruce bei einem New Yorker Schulbuch-Verlag als Lektor für Geschichte. Auch er hatte für die Zukunft große Pläne - die Übersiedlung nach Paris und ein Studium an der Sorbonne.

»Wir befassen uns ununterbrochen mit Ethik«, sagte er. »Das ist auch der Grund, warum Verleger weniger Geld verdienen als Banker.«

»Es ist schön, euch beide wieder zu Hause zu haben«, sagte Ce-lia, »und zu wissen, daß sich nichts geändert hat.«

Für die Präsidentin einer erfolgreichen Firma wurden die Probleme keinesfalls kleiner, fand Celia. Im Vergleich zu der Zeit, als Felding-Roth noch relativ arm gewesen war, waren es jetzt eher mehr geworden. Allerdings waren sie anderer Natur. Außerdem herrschte in der Firma jetzt eine freudige und angeregte Stimmung, die es früher nicht gegeben hatte und die Celia sehr genoß.

Nach Lords Party war sie einige Zeit intensiv mit finanziellen und organisatorischen Dingen beschäftigt und mußte viele Reisen machen. Folglich vergingen fast drei Wochen, bis sie mit Lord wieder über den Lizenzvertrag mit Exeter & Stowe sprechen konnte. Er war aus einem anderen Grund in ihr Büro gekommen, und sie fragte: »Was gibt es Neues von Alex Stowe über Arthrigo und Hexin W?«

»Die klinischen Versuche scheinen gut zu laufen«, erwiderte er. »Es sieht alles sehr positiv aus.«

»Und gibt es irgendwelche ungünstigen Berichte über Hexin W im allgemeinen? Ich hatte schon lange keine mehr auf meinem Schreibtisch.«

»Ich habe Ihnen keine geschickt«, sagte Lord, »weil nichts von Bedeutung dabei war. Nichts, was Hexin W direkt betrifft.«

Celia, die inzwischen an gute Nachrichten gewöhnt war, hatte sich bereits einem anderen Thema zugewandt, daher entging ihr die leichte Unsicherheit in Lords Stimme.

Lord hatte - wieder einmal - nicht die volle Wahrheit gesagt.

19

Die Nachricht traf ganz unauffällig, fast beiläufig ein, und selbst dann war sie noch nicht deutlich zu erkennen. Später kam es Ce-lia vor, als habe sich das Schicksal auf Zehenspitzen hereingeschlichen, doch aus der unauffälligen Degenscheide sollte ein feuriges Schwert fahren.

Es begann mit einem Anruf, als Celia gerade nicht in ihrem Büro war. Bei ihrer Rückkehr erfuhr sie, daß Mr. Alexander Stowe von Exeter & Stowe Laboratories angerufen und um Rückruf gebeten habe.

Nichts deutete darauf hin, daß es sich um etwas Dringendes handelte, und so erledigte sie erst ein paar andere Dinge.

Etwa eine Stunde später ließ sich Celia mit Stowe verbinden. »Hallo, Alex. Ich habe heute morgen an Sie gedacht und mich gefragt, wie das Arthrigo-Hexin-W-Programm wohl vorankommt.«

Einen Augenblick herrschte Stille, dann sagte Stowe konsterniert: »Wir haben vor vier Tagen unseren Vertrag mit Ihnen gelöst, Celia. Wußten Sie das nicht?«

»Nein. Sind Sie sicher, daß derjenige, den Sie damit beauftragt haben, es auch wirklich erledigt hat?

»Ich habe es selbst erledigt«, sagte Stowe, offenbar noch immer irritiert. »Ich habe mit Vince Lord gesprochen. Aber heute fiel mir ein, daß ich noch gar nicht mit Ihnen darüber geredet habe, und das erschien mir mehr als unhöflich.«

Celia war verärgert, weil sie erst jetzt etwas erfuhr, das sie eigentlich längst hätte wissen müssen. »Ich werde mit Vince ein Wörtchen reden müssen. Und warum haben Sie den Vertrag gekündigt?«

»Also . . . ehrlich gesagt, wir machen uns Sorgen wegen dieser Todesfälle durch Infektionen. Wir hatten selbst zwei unter unseren Patienten, die unter Beobachtung standen, und auch wenn es nicht den Anschein hat, als wäre eines der beiden Medikamente -Arthrigo oder Hexin W - dafür verantwortlich, so gibt es doch eine Reihe offener Fragen. Deshalb haben wir beschlossen, nicht weiterzumachen, vor allem auch wegen der anderen Todesfälle.«

Celia fühlte, wie ein eiskalter Schauer sie erfaßte. Plötzlich wußte sie, daß das noch nicht alles war, daß noch mehr kommen und daß es ihr nicht gefallen würde.

»Was für andere Todesfälle?«

Diesmal dauerte die Pause länger. »Wollen Sie sagen, daß Sie davon auch nichts wissen?«

»Wenn ich davon wüßte, Alex, würde ich wohl nicht fragen«, gab sie ungeduldig zurück.

»Wir wissen von vier Fällen, wenn auch nicht in Einzelheiten, nur, daß alle Verstorbenen Hexin W genommen haben und an unterschiedlichen Infektionen gestorben sind.« Stowe unterbrach sich, und als er weitersprach, klang seine Stimme beherrscht. »Celia, ich möchte Ihnen raten, und halten Sie mich bitte nicht für anmaßend, da es ja schließlich um Ihre Firma geht, sich unbedingt mit Dr. Lord zu unterhalten.«

»Das wird wohl nötig sein.«

»Vince weiß von den Todesfällen - von denen bei uns und auch von den anderen -, wir haben darüber gesprochen. Außerdem wird er über die Einzelheiten unterrichtet sein und die FDA informiert haben.« Wieder ein kurzes Zögern. »Ich hoffe jedenfalls, daß er die FDA informiert hat.«

»Alex«, sagte Celia, »ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie es mir gesagt haben.«

»Bitte rufen Sie mich an, wenn Sie irgendwelche Informationen benötigen oder wenn ich Ihnen sonst irgendwie behilflich sein kann. Der eigentliche Grund meines Anrufs aber war, Ihnen zu sagen, wie leid es mir tut, daß wir von dem Vertrag zurücktreten mußten. Ich hoffe, daß es ein andermal besser klappt.«

Celia war mit ihren Gedanken schon woanders. »Vielen Dank, Alex. Das hoffe ich auch«, sagte sie automatisch.

Sie wollte sich gerade mit Vincent Lord verbinden lassen, überlegte es sich dann aber anders. Sie würde persönlich zu ihm gehen. Und zwar auf der Stelle.

Die erste Meldung von einem Todesfall, bei dem Hexin W eine Rolle spielte, traf zwei Monate nach Einführung des Medikaments bei Felding-Roth ein. Sie war, wie üblich, an Dr. Lord gegangen. Gleich nachdem er den Bericht gelesen hatte, verbannte er ihn aus seinen Gedanken.

Der Bericht stammte von einem Arzt aus Tampa, Florida, und besagte, daß der Verstorbene Hexin W in Kombination mit ei-nem anderen Medikament genommen hatte und an Fieber und einer Infektion gestorben war. Lord zog daraus den Schluß, daß der Tod in keinem Zusammenhang mit Hexin W stehen könne. Allerdings gab er den Bericht nicht wie üblich in die Ablage, sondern verschloß ihn in einem Ordner in seiner Schreibtischschublade.

Der zweite Bericht traf zwei Wochen später ein. Er kam von einem Felding-Roth-Vertreter nach einem Gespräch mit einem Arzt in Southfield, Michigan. Er hatte alle Informationen, die er bekommen hatte, sorgfältig aufgeführt.

Berichte über Nebenwirkungen von Medikamenten, auch nachteiliger Art, gelangten von verschiedenen Seiten zu den pharmazeutischen Firmen. Manchmal schrieben die Ärzte direkt an die Firma. Ein anderes Mal handelte es sich um routinemäßige Mitteilungen aus Krankenhäusern. Verantwortungsbewußte Apotheker reichten ebenfalls weiter, was sie erfuhren. Gelegentlich meldeten sich auch die Patienten selbst. Außerdem hatten die Pharma-Vertreter und -Vertreterinnen die Anweisung, alles, was sie über die Wirkung eines Präparats in Erfahrung bringen konnten, zu melden, wie banal es ihnen auch erscheinen mochte.

Jede pharmazeutische Firma sammelte solche Berichte und gab sie alle drei Monate an die FDA weiter. Dazu war sie gesetzlich verpflichtet.

Ein weiteres Gesetz forderte, daß jede schwerwiegende Reaktion auf ein Medikament innerhalb von fünfzehn Tagen nach Bekanntwerden mit dem Hinweis »Dringend« an die FDA weitergegeben werden mußte, auch wenn die Firma der Meinung war, daß ihr Medikament mit dem betreffenden Fall nichts zu tun hatte.

Der Bericht des Vertreters aus Southfield, den Lord ein zweites Mal las, legte dar, daß der Patient Hexin W und ein anderes an-tiarthritisches Medikament eingenommen hatte und kurz daraufhin an einer schweren Leberinfektion gestorben war. Das hatte eine Autopsie bestätigt.

Wieder entschied Lord, daß Hexin W unmöglich die Todesur-sache gewesen sein konnte. Er legte den Bericht zu dem anderen in den Ordner in seiner Schreibtischschublade.

Ein Monat verging, dann trafen gleichzeitig, aber unabhängig voneinander zwei weitere Berichte ein. Sie betrafen den Tod eines Mannes und einer Frau. In beiden Fällen hatten die Verstorbenen Hexin W in Kombination mit einem anderen Medikament eingenommen. Bei der Frau, die schon älter war, entwickelte sich am Fuß, den sie sich bei einem Unfall zu Hause verletzt hatte, eine schwere bakterielle Infektion. Der Fuß wurde amputiert, aber die Infektion breitete sich schnell weiter aus und führte schließlich zum Tod. Der Mann, der in einem schlechten Gesundheitszustand gewesen war, starb an einer schweren Gehirninfektion. Lord war verärgert. Warum mußte bei den beiden und ihren verdammten Krankheiten, an denen sie ohnehin gestorben wären, unbedingt Hexin W erwähnt werden, obwohl doch ganz eindeutig feststand, daß das Medikament in keinem der beiden Fälle verantwortlich gemacht werden konnte? Trotzdem - die sich häufenden Berichte wurden allmählich peinlich, begannen ihm Sorgen zu machen.

Inzwischen war sich Lord darüber im klaren, daß er die Gesetze verletzt hatte, als er die früheren Vorfälle nicht sofort der FDA meldete. Er befand sich jetzt in einer prekären Situation.

Wenn er die letzten Berichte an die FDA weiterleitete, konnte er die ersten nicht einfach unter den Tisch fallen lassen. Aber die waren nach der Fünfzehn-Tage-Frist längst überfällig, und wenn er sie jetzt nachreichte, würde man sowohl Felding-Roth als auch ihn selbst belangen. Voller Unbehagen dachte er an Dr. Gideon Mace, der wahrscheinlich in seinem Büro saß und auf eine solche Gelegenheit wartete.

Lord legte die beiden letzten Berichte zu den anderen. Schließlich war er der einzige, der davon wußte, beruhigte er sich. Alle Berichte waren einzeln eingetroffen. Die Absender wußten nichts voneinander.

Bis zu dem Zeitpunkt, als Alexander Stowe anrief, um den Vertrag zwischen Felding-Roth und Exeter& Stowe zu kündigen, hatte Lord zwölf Berichte gesammelt und lebte in ständiger Angst. Und dann erfuhr er, daß Stowe auf irgendeine Weise von vier dieser mit Hexin W in Verbindung gebrachten Todesfälle erfahren hatte. Lord sagte Stowe nicht, daß sich die tatsächliche Zahl auf zwölf belief; dazu kamen noch zwei weitere, von denen Lord noch gar nichts gehört hatte. Damit belief sich die Gesamtzahl der nunmehr bekannten Todesfälle bereits auf vierzehn.

Ein fünfzehnter Bericht traf an dem Tag ein, als Stowe mit Celia telefonierte. Inzwischen hatte Lord eine vage Idee, was der Grund für die Todesfälle gewesen sein könnte - jedenfalls für den überwiegenden Teil.

Vor ein paar Monaten hatte er während einer Marketing-Konferenz in Celias Büro die Wirkung von Hexin W folgendermaßen beschrieben: ». . . stoppt die Produktion der freien Radikale und folglich auch die Ansammlung der Leukozyten. Das Ergebnis: keine Entzündung, der Schmerz verschwindet«

All das stimmte.

Was ebenfalls aufgrund von Schlußfolgerungen und einigen eilig durchgeführten neuen Experimenten klar wurde, war, daß die Verbannung der Leukozyten gleichzeitig eine Schwächung bedeutete, eine Verwundbarkeit. Normalerweise töteten die Leukozyten an einem Krankheitsherd die Fremdkörper ab - die Bakterien. Somit waren Leukozyten, obgleich sie Schmerzen verursachten, auch ein Schutz. Aber wenn sie fehlten - bedingt durch die Auslöschung der freien Radikale -, dann blühten Bakterien und andere Organismen geradezu auf und riefen an verschiedenen Stellen des Körpers schwere Infektionen hervor.

Und konnten zum Tode führen.

Obgleich bis jetzt noch nichts bewiesen war, mußte sich Vincent Lord eingestehen, daß bei wenigstens einem Dutzend Todesfällen am Ende doch Hexin W die Ursache war. Ihm wurde jetzt auch klar - zu spät, um noch von irgendwelchem Nutzen zu sein -, daß es im klinischen Testprogramm von Hexin W eine schwache Stelle gegeben hatte. Die meisten Patienten waren in Krankenhäusern, unter ärztlicher Kontrolle beobachtet worden, wo sich eine Infektion nicht so schnell ausbreiten konnte. Aber alle ihm bekannten Todesfälle waren außerhalb von Krankenhäu-sern aufgetreten, ohne ärztliche Kontrolle, so daß sich die Bakterien ausbreiten und vermehren konnten . . .

Zu diesem Schluß - der seinen Mißerfolg bestätigte, seine Träume zerschlug und seine verzweifelten Ängste verstärkte -kam Lord ein paar Minuten, bevor Celia eintraf.

Er wußte jetzt, daß Hexin W vom Markt genommen werden mußte. Er wußte, daß er, weil er in seiner Verzweiflung versucht hatte, die Tatsachen zu vertuschen, sich schuldig gemacht hatte -da es zu weiteren Todesfällen gekommen war, die hätten vermieden werden können. Er würde unter Anklage gestellt und verurteilt werden und vielleicht sogar ins Gefängnis kommen.

Seine Gedanken wanderten siebenundzwanzig Jahre zurück, nach Champaign-Urbana, der University of Illinois, zu dem Tag, als er in das Büro des Dekans gegangen war, um eine beschleunigte Ernennung zu erreichen, die man ihm aber verweigert hatte.

Er hatte damals gespürt, daß der Dekan ihn, Vincent Lord, für charakterlos hielt. Jetzt fragte sich Lord zum ersten Mal in seinem Leben, ob er damit nicht vielleicht recht gehabt hatte.

Celia, die unangemeldet in Lords Büro erschien und die Tür hinter sich schloß, verlor keine Zeit.

»Warum weiß ich nichts davon, daß Exeter & Stowe vor vier Tagen den Vertrag mit uns gekündigt haben?«

Lord, der durch den plötzlichen Auftritt von Celia überrascht war, sagte unbeholfen: »Ich wollte es Ihnen mitteilen. Aber ich bin noch nicht dazu gekommen.«

»Wie lange hätten Sie denn noch gebraucht, wenn ich nicht gefragt hätte?« Und ohne eine Antwort abzuwarten: »Ich mußte erst von außerhalb erfahren, daß es nachteilige Berichte über Hexin W gibt. Warum habe ich auch von denen noch nichts gehört?«

»Ich habe sie geprüft . . . sie verglichen«, begann Lord lahm.

»Zeigen Sie sie mir«, befahl sie. »Alle. Sofort.«

Lord, dem klar war, daß es nichts mehr zu retten gab, zog den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Schreibtischschublade.

Celia erinnerte sich plötzlich daran, wie sie vor sieben Jahren hier erschienen war und die ersten negativen Berichte über Mon-tayne zu lesen verlangt hatte. Damals hatte Lord sie ihr zuerst nicht zeigen wollen, aber als sie nicht locker ließ, hatte er dieselbe verschlossene Schublade aufgesperrt. Damals hatte sie sich ebenfalls gewundert, daß die Berichte nicht in der allgemeinen Büroablage aufbewahrt wurden, wo sie für jeden zugänglich gewesen wären.

Die gleiche Handlung. Der Versuch, etwas zu verbergen.

Verbittert machte sich Celia Vorwürfe - sie hätte aus der ersten Erfahrung lernen müssen. Für diese schwache Stelle in der Organisation war sie als Präsidentin verantwortlich.

Doppelt und dreifach verantwortlich - denn sie hatte gewußt, daß Vincent Lord dazu neigte, schlechte Nachrichten zu vertuschen, und sie hatte nichts dagegen unternommen.

Lord reichte ihr einen dicken Ordner. Im ersten Augenblick war Celia entsetzt, wie umfangreich er war. Als sie aber darin zu lesen begann, während Lord sie schweigend beobachtete, erstarrte sie vor Entsetzen. Fünfzehn Tote. Und alle hatten vor ihrem Tod Hexin W eingenommen.

Am Ende stellte sie die unvermeidliche Frage - und wußte die Antwort im voraus.

»Haben Sie die FDA über diese Berichte informiert?«

Lords Gesichtsmuskeln zuckten. »Nein.«

»Sie kennen doch die Vorschriften und die Fünfzehn-TageFrist?«

Lord nickte, ohne etwas zu sagen.

»Ich habe Sie vor einiger Zeit gefragt«, sagte Celia, »ob es über Hexin W nachteilige Berichte gibt. Sie sagten, das sei nicht der Fall.«

Lord, der sich verzweifelt bemühte, noch etwas zu retten, erwiderte: »Ich habe nicht gesagt, daß es keine gibt. Ich habe gesagt -daß es nichts gibt, was Hexin W direkt betrifft.«

Jetzt erinnerte Celia sich daran: So hatte er es tatsächlich gesagt. Es war eine ausweichende Antwort gewesen, typisch für Lord, den sie seit siebenundzwanzig Jahren kannte.

Und weil sie ihn schon so lange und so gut kannte, hätte sie erkennen müssen, daß er ihrer Frage nur auswich, und hätte nachhaken müssen. Hätte sie es getan, wüßte man seit Monaten Bescheid, und es hätte weniger Tote gegeben, weil die FDA sofort etwas unternommen und die Patienten vor dem Mittel gewarnt hätte . . .

Statt dessen hatte sie sich in einer Euphorie gewiegt, war verliebt gewesen in einen zweiten großen Erfolg . . . zuerst Peptid 7 und nun Hexin W . . . hatte sich eingebildet, daß nichts schiefgehen konnte. Aber es war etwas schiefgegangen, und jetzt stürzte die Welt genauso über ihr zusammen wie über Vincent Lord.

»Warum haben Sie das getan?« fragte sie, ohne eine vernünftige Antwort zu erwarten.

»Ich habe an Hexin W geglaubt . . .«, begann Lord.

Sie winkte ab. »Lassen Sie.«

Celia legte die Berichte wieder in den Ordner und erklärte: »Den nehme ich mit. Ich werde noch heute Kopien davon nach Washington schicken - dringend und durch Boten. Und ich werde den Leiter der FDA anrufen, um dafür zu sorgen, daß man sich sofort darum kümmert.«

Und mehr zu sich selbst fügte sie hinzu: »Ich kann mir denken, daß wir sehr bald von ihnen hören werden.«

20

Die FDA reagierte schnell, höchstwahrscheinlich weil Celia den Leiter direkt angesprochen hatte. Es wurde beschlossen, Hexin W einstweilen zurückzurufen, wobei »einstweilen« die Möglichkeit offenließ, das Medikament später mit einschränkenden Angaben wieder zuzulassen. Aber selbst wenn das geschehen sollte, war klar: Die großen Tage von Hexin W waren vorbei.

»Was verdammt schade ist«, sagte Alex Stowe kurz darauf in einem Gespräch zu Celia. »Es ist trotz allem ein gutes Medikament, und abgesehen von der Art und Weise, wie sich Vince persönlich verhalten hat, eine hervorragende wissenschaftliche Leistung.« Und düster fügte er hinzu: »In unserer Gesellschaft wollen alle Medikamente, die frei von jedem Risiko sind, und wie wir beide wissen, gibt es so etwas nicht und wird es auch nie geben.«

Celia hatte es sich angewöhnt, regelmäßig mit Stowe zu reden, der ein kluger Freund und Vertrauter war.

»Sie werden Hexin W bestimmt wiedersehen«, versicherte er. »Vielleicht mit verstärkten Schutzmaßnahmen oder nachdem es noch weiter entwickelt wurde. Wir brauchen eine Methode zur Ausschaltung der freien Radikale, selbst wenn das mit einem gewissen Risiko verbunden ist; es ist eine Technik, die sich medizinisch ausweiten wird. In den nächsten Jahren werden wir immer mehr darüber lesen. Wenn es einmal soweit ist, Celia, können Sie voller Stolz daran denken, daß Felding-Roth dabei Pionierarbeit geleistet hat.«

»Danke, Alex«, sagte sie. »Im Augenblick sind wir für die kleinste Aufmunterung dankbar.«

Um die Einziehung zu beschleunigen, hatte Celia angeordnet, entsprechende Vorbereitungen zu treffen, noch bevor die FDA-Auflage ausgesprochen war. Sofort nach der offiziellen Verlautbarung wurde allen Ärzten per Brief geraten, das Medikament nicht länger zu verschreiben. Nach zwei Wochen war das Medikament aus den Regalen verschwunden. Celia hatte sich bemüht, die Rücknahme von Hexin W als freiwillige Entscheidung hinzustellen, aber die FDA bestand darauf, ihre Autorität unter Beweis zu stellen. Da noch immer ein Verfahren wegen der verspäteten Unterrichtung ausstand, rieten ihr die Anwälte, es nicht zu einem Streit kommen zu lassen.

Eine Weile blieb es um diese Berichte still, aber ein paar Wochen später meldete Pink Sheet, eine wöchentlich erscheinende Pharma-Rundschau:

In der Sache Felding-Roth und Hexin W hat die FDA ihre Untersuchungsergebnisse in bezug auf die verspätet eingereichten, angeblich nachteiligen Berichte an das Justizministerium weitergereicht, allerdings wurde nichts darüber verlautbart, ob es zu einem Verfahren kommen wird.

»Wie ich vertraulich erfahren habe«, sagte Childers Quentin während eines Telefongesprächs zu Celia, bei dem auch Bill Ingram und ein Firmenanwalt anwesend waren, »sind die Meinungen innerhalb der FDA geteilt.«

Auf Celias Bitten hin hatte Quentin in Washington die Fühler ausgestreckt, um festzustellen, was vor sich ging. Er berichtete von Zeit zu Zeit, was er in Erfahrung gebracht hatte; die Meldung im PinkSheet war der Anlaß seines heutigen Anrufs.

Quentin fuhr fort: »Zu der einen Partei gehören der Leiter und einige andere, die geneigt sind, die Sache langsam angehen zu lassen, weil sie wissen, daß Gerichtsverfahren eine heikle Sache sind und sich als Bumerang erweisen können, falls auch bei der FDA eine Nachlässigkeit aufgedeckt wird. Noch etwas - der Leiter war von Ihrer Ehrlichkeit sehr beeindruckt, Celia.« Quentin machte eine Pause. »Allerdings gibt es eine zweite FDA-Front, die von einem leitenden Beamten angeführt wird; und der besitzt Macht, ist ein Bürokrat und wird auch noch dort sein, wenn der Leiter, der ja nur kommissarisch tätig ist, längst wieder fort ist. Er gehört zu dem Flügel, der von einem Mann namens Gideon Mace angeführt wird, und Mace verlangt strenge Maßnahmen. Sie erinnern sich vielleicht an ihn. Damals auf dem Capitol Hill.«

»Ich erinnere mich sehr gut an ihn«, sagte Celia. »Dr. Mace scheint eine ziemliche Wut auf Felding-Roth zu haben, aber ich habe keine Ahnung, warum.«

»Können wir irgend etwas tun?« fragte Bill Ingram.

»Ja«, sagte Quentin. »Stillhalten, abwarten und hoffen. Es gibt in Washington Dinge, in die man sich einmischen kann, und manchmal hat man dabei sogar Glück, aber ein Verfahren gehört nicht dazu.«

Sie beließen es dabei und warteten. Es war nervenaufreibend.

Noch nervenaufreibender war das Auftauchen von Untersuchungsbeamten der Bundespolizei in der Geschäftszentrale von Felding-Roth, die einen vom US-Bundesgerichtshof in Newark ausgestellten Durchsuchungsbefehl vorlegten.

Hexin W war Anfang Oktober zurückgerufen worden. Mitte November suchte der Staatsanwalt von New Jersey auf Anweisung des Justizministeriums um die Erlaubnis nach, »alle Akten, Berichte, Korrespondenzen und andere Dokumente zu beschlagnahmen, die mit dem Präparat Hexin W zu tun haben«.

Es war eine Maßnahme ex parte, von der Felding-Roth vorher nichts wußte; daher war kein Firmenvertreter anwesend, als der Durchsuchungsbefehl beantragt und ausgestellt wurde.

Die Durchsuchungs- und Beschlagnahme-Taktik war für Celia und viele andere ein Schock, genauso wie die Anwesenheit der Beamten, die mehrere Tage blieben und am Ende ein Dutzend Kartons mit Akten in einem Lastwagen verstauten und davonfuhren. Zu dem beschlagnahmten Material gehörte der Inhalt von Aktenschränken in der Forschungsabteilung, einschließlich Vincent Lords Büro.

Lord versuchte, gegen das Eindringen in sein Büro zu protestieren, hatte aber keinen Erfolg.

Seit dem Tag, an dem Celia in Lords Büro die gesetzwidrig zurückgehaltenen Berichte entdeckt hatte, war der Leiter der Forschungsabteilung den anderen Firmenangehörigen, vor allem Celia, aus dem Weg gegangen. Jeder wußte, daß Lords Tage bei Felding-Roth gezählt waren. Aber ebenso wußten alle, daß die Firma bis zum Abschluß des Falls keine andere Wahl hatte, als gemeinsam mit Vincent Lord eine geschlossene Front zu bilden. Während Lord sich still verhielt, entwarf Celia einen Plan, um die Forschungsabteilung neu zu strukturieren, unter einem Leiter, der die Oberaufsicht hatte, und Abteilungsleitern, die spezielle Bereiche unter sich hatten, einschließlich der neuen Labors für Gentechnik. Für die Leitung der neuen Abteilung schwebten ihr einige geeignete Kandidaten vor.

Nach der Aktion im November war es bis zum Jahresende still. Kurz vor Weihnachten berichtete Childers Quentin: »Offiziell läuft die Untersuchung., aber sie haben eine Menge anderes zu tun, und Hexin W brennt ihnen nicht gerade unter den Nägeln.«

»Je länger sich die Sache hinzieht«, meinte Bill Ingram dazu, »um so größer ist die Chance, daß das Ganze ohne großes Aufhe-ben beigelegt wird.«

»Darauf läuft es meistens hinaus«, sagte Quentin. »Trotzdem würde ich mich nicht darauf verlassen.«

Der erste Tag des neuen Jahres brachte frohe Nachrichten. Das Gerücht, daß Martin Peat-Smith geadelt werden sollte, erwies sich als wahr. In London meldete die Times, die Ehrung sei in Anerkennung »herausragender Dienste an der Menschheit und der Wissenschaft« erfolgt.

Die offizielle Verleihung des Adelstitels durch die Königin sollte in der ersten Februarwoche im Buckingham Palace stattfinden. Celia, die Martin telefonisch gratulierte, sagte: »Andrew und ich werden in der Woche davor nach England kommen und anschließend für Sie und Yvonne eine Party geben.«

Und so flogen Celia und Andrew Ende Januar in Begleitung von Lilian Hawthorne nach London. Celia hatte sie dazu überredet. Seit Sams Tod vor siebeneinhalb Jahren war Lilian selten verreist. Aber Celia hatte sie darauf hingewiesen, daß dies in gewisser Weise auch ein Gedenken an Sam war, da das Harlower Institut seine Idee gewesen war und er Martin für die Leitung ausgesucht hatte.

Celia, Andrew und Lilian wohnten in einem Hotel, das gerade »in« war - Fortyseven Park Street in Mayfair.

Lilian, die vor ihrem sechzigsten Geburtstag stand, sah noch immer erstaunlich gut aus, und bei einem Besuch, den die drei dem Harlower Institut abstatteten, war Rao Sastri trotz des beträchtlichen Altersunterschieds offenbar sehr von ihr angetan.

Sastri führte Lilian durch die Labors, und danach verabschiedeten sie sich, um zusammen essen zu gehen. Celia war amüsiert, als sie erfuhr, daß die beiden sich für die kommende Woche an einem Abend verabredet hatten - zum Essen und zu einem Theaterbesuch. Am Montag, zwei Tage vor Martins Ehrung, bekam Celia einen Anruf von Bill Ingram. »Tut mir leid, aber ich habe schlechte Nachrichten«, begann er. »Eben hat Childers Quentin angerufen. Er sagt, in Washington sei die Hölle los.«

Die Nachrichten betrafen die FDA, Dr. Gideon Mace, das Ju-stizministerium, Senator Dennis Donahue und Hexin W.

»Wie Quentin meint«, sagte Ingram, »scheint Mace es satt zu haben, noch länger der Tatenlosigkeit des Justizministeriums zuzusehen. Daher hat er persönlich und ohne offiziellen Auftrag sämtliche Hexin-W-Unterlagen zum Capitol Hill getragen und einem von Donahues Helfern übergeben. Der hat sie Donahue gezeigt, für den sie ein rechtes Weihnachtsgeschenk waren. >Auf so was hab' ich schon lange gewartete, soll er gesagt haben.«

»Ja«, sagte Celia, »das kann ich mir denken.«

»Als nächstes«, fuhr Ingram fort, »hat Donahue den Generalstaatsanwalt angerufen, um ihn aufzufordern, schleunigst in Aktion zu treten. Bis jetzt hat Donahue - wie Quentin sagt - zu jeder vollen Stunde bei ihm angerufen.«

Celia stieß einen Seufzer aus. »Das ist ganz schön viel auf einmal. Gibt es sonst noch was?«

»Leider ja. Erstens steht jetzt fest, daß es zu einer Gerichtsverhandlung wegen der zurückgehaltenen Berichte von Hexin W kommen wird, mit allem, was sich sonst noch dabei herausstellen mag. Und der Generalstaatsanwalt, der wegen Donahue ein persönliches Interesse entwickelt hat, ist sicher, daß er Anklage erheben wird.«

»Gegen wen?«

»Gegen Vince Lord natürlich. Und - es tut mir leid, das sagen zu müssen, Celia - auch gegen Sie. Man will darauf hinaus, daß Sie die Verantwortung hatten. Quentin sagt, Donahue will Ihren Skalp.«

Celia wußte, warum. Sie mußte daran denken, wie Quentin sie nach der Senatsuntersuchung gewarnt hatte: »Sie haben ihn lächerlich gemacht. . . Wenn er irgendwann in der Zukunft Gelegenheit bekommen sollte, Felding-Roth oder Ihnen, Celia, zu schaden, dann wird er es tun, und zwar mit Vergnügen.«

Dann erinnerte sie sich an etwas, das Ingram gesagt hatte. »Bill, Sie sagten, >mit allem, was sich sonst noch dabei herausstellen mag<. Was haben Sie damit gemeint?«

Diesmal stieß Ingram einen tiefen Seufzer aus. »Das ist ein bißchen kompliziert, aber ich werde mich bemühen, es Ihnen zu erklären. Als die Ergebnisse der klinischen Tests mit Hexin W zusammen mit unserem Antrag in Washington eingereicht wurden, waren auch die üblichen medizinischen Untersuchungen dabei, auch eine Studie von einem Dr. Yaminer aus Phoenix. Jetzt stellte sich heraus, daß sie gefälscht war. Er hat Patienten aufgeführt, die es gar nicht gab.«

»Das tut mir leid«, sagte Celia, »aber so was kommt vor. Andere Firmen haben ähnliche Probleme. Doch wenn man den Betrug bemerkt - falls man ihn bemerkt -, meldet man ihn der FDA, und die holen sich den Arzt.«

»Richtig«, stimmte Ingram zu. »Was man allerdings nicht tun sollte, ist, die Daten mit dem Antrag einzureichen, nachdem man entdeckt hat, daß sie falsch sind.«

»Natürlich nicht.«

»Das hat Vince aber getan. Er hat Yaminers Bericht abgezeichnet und durchgehen lassen.«

»Aber woher will man wissen, daß Vince . . .«, fragte Celia.

»Darauf komme ich gleich. Als bei uns die Durchsuchung war und die Akten beschlagnahmt wurden, haben sie auch welche von Vince mitgenommen. Darunter befand sich eine über Dr. Yaminer. Und in dem Ordner waren handschriftliche Notizen von Vince, aus denen hervorgeht, daß er sehr wohl über Yami-ners Fälschung Bescheid wußte, und zwar bevor er alles an die FDA weitergegeben hat. Die Unterlagen befinden sich jetzt in den Händen der Justizbehörde.«

Celia schwieg. Dazu gab es nichts mehr zu sagen.

»Ich schätze, das ist alles«, sagte Ingram. »Außer . . .«

»Außer was?«

»Na ja ... es ist wegen Dr. Mace, die Art und Weise, wie er uns angreift. Ich erinnere mich, daß Sie einmal sagten, Sie wüßten nicht, warum.«

»Das weiß ich noch immer nicht.«

»Ich glaube, Vince weiß es«, sagte Ingram. »Ich hab' so ein Gefühl. Ich habe ihn beobachtet. Jedesmal wenn der Name von Mace erwähnt wird, zuckt er zusammen.«

Celia dachte über Ingrams Worte nach. Dann fiel ihr plötzlich das Gespräch ein, das sie während der Senatsuntersuchung mit Lord geführt hatte. Sie hatte ihn beschuldigt, im Zeugenstand gelogen zu haben, und . . .

Kurz entschlossen sagte sie: »Ich will ihn sehen. Hier.«

»Vince?«

»Ja. Sagen Sie ihm, es ist ein Befehl. Er soll die nächste Maschine nehmen und sich sofort bei mir melden.«

Jetzt standen sie sich gegenüber, Celia und Vincent Lord.

Sie befanden sich im Wohnzimmer des Hotel-Apartments in Mayfair.

Lord sah müde aus, älter als einundsechzig, und schien unter einer großen Anspannung zu stehen. Er hatte abgenommen, sein Gesicht war noch schmaler als früher, die Gesichtsmuskeln zuckten noch häufiger.

Celia erinnerte sich daran, daß sie vor vielen, vielen Jahren zu Lord gegangen war, um ihn um wissenschaftlichen Rat zu bitten. Sie hatte sich bemüht, freundlich zu sein, und ihm vorgeschlagen, daß sie sich mit Vornamen anredeten, und Lord hatte unfreundlich erwidert: »Es wäre wohl für beide Teile besser, Mrs. Jordan, wenn wir uns jederzeit an unseren unterschiedlichen Status erinnern. «

Gut, dachte Celia, jetzt würde sie seinen Rat befolgen.

»Ich will gar nicht erst über diese schändliche Yaminer-Ge-schichte reden, Dr. Lord«, begann sie kühl, »außer, daß es der Firma Gelegenheit gibt, sich von Ihnen zu trennen und Sie sich bei Ihrer Verteidigung vor Gericht selbst überlassen bleiben - auf Ihre Kosten.«

In Lords Augen blitzte Triumph auf, als er sagte: »Das können Sie nicht, denn Sie werden selbst auch unter Anklage stehen.«

»Wenn ich es will, kann ich es. Und die Verteidigung für mich selbst geht nur mich etwas an, nicht Sie.«

»Wenn Sie es wollen . . .?« Er schien verblüfft.

»Ich will mich jetzt nicht festlegen. Aber wenn die Firma Ihnen bei Ihrer Verteidigung helfen soll, dann muß ich darauf bestehen, alles zu erfahren.«

»Alles?«

»Da gibt es etwas aus früheren Tagen«, sagte Celia, »von dem ich nichts weiß. Es hat, glaube ich, etwas mit Dr. Mace zu tun.«

Sie hatten bis jetzt gestanden. Nun deutete Lord auf einen Sessel. »Darf ich?«

»Bitte.« Auch Celia nahm Platz.

»Nun gut«, sagte Lord, »da gibt es wirklich etwas. Aber es wird Ihnen nicht gefallen. Und wenn Sie es erfahren haben, wird es Ihnen leid tun, davon zu wissen.«

»Heraus damit!«

Er erzählte ihr alles - von den ersten Schwierigkeiten mit Gideon Mace, seiner Umständlichkeit, den Beleidigungen, den langen, unvernünftigen Verzögerungen bei der Genehmigung von Staidpace. Das schließlich ein gutes, lebensrettendes Medikament war . . . Später der Versuch, etwas über Mace in Erfahrung zu bringen . . . Lords Verabredung mit Tony Redmond in der Homosexuellen-Bar in Georgetown ... die Dokumente, die Lord von Redmond gekauft hatte und die Mace überführten, illegale Geschäfte getätigt zu haben. Zweitausend Dollar - eine Ausgabe, die Sam genehmigt hatte, Sam, der später auch zustimmte, diese Informationen nicht vor Gericht aufzudecken, sondern das Beweismaterial zu behalten, wodurch sich Sam und Lord zu Mitwissern einer kriminellen Handlung machten . . . zwei Jahre später, als Mace die Zulassung von Montayne verzögerte, die Entscheidung, auch Sams Entscheidung, Mace zu erpressen . . . das positive Resultat der Erpressung, trotz des Unbehagens, das Mace wegen des australischen Berichts im Zusammenhang mit Montayne verspürte, und trotz seiner ehrlichen Zweifel an dem Medikament . . .

Dann war alles gesagt, und Celia wußte, daß Lord recht gehabt hatte: daß sie sich wünschte, es nicht zu wissen. Aber es war wichtig für sie, für künftige Beschlüsse, die sie als Präsidentin von Felding-Roth fassen mußte.

Gleichzeitig war ihr jetzt vieles klar: Sams Verzweiflung und seine Schuldgefühle, der wirkliche und tiefere Grund für seinen Selbstmord . . . Der Zusammenbruch von Dr. Mace beim Senats-verhör und seine pathetische Antwort, als man ihn fragte, warum er Montayne die Zulassung erteilt habe: »Ich weiß es einfach nicht.« . . . Maces Haß auf Felding-Roth und auf alles, was damit zusammenhing.

Wenn ich Dr. Mace wäre, würde ich diese Firma auch hassen, dachte Celia.

Und nun, nachdem sie diese schlimme Geschichte kannte -was sollte sie tun? Wenn sie ihrem Gewissen folgte, gab es nur einen Weg: die Behörden zu informieren. An die Öffentlichkeit zu gehen. Die Wahrheit zu sagen. Jeder mußte selbst zusehen, wie er da herauskam - Vincent Lord, Gideon Mace, Felding-Roth, sie selbst.

Aber was passierte, wenn sie es tat? Was würde aus den beteiligten werden? Lord und Mace würden vernichtet werden - ein Gedanke, der sie nicht sonderlich berührte. Was sie aber sehr wohl berührte, war das Bewußtsein, daß auch die Firma an den Rand des Abgrunds geraten würde, und nicht nur die Firma als Institution, sondern alle Firmenangehörigen: die Angestellten, die Führungskräfte, die Aktionäre, die Wissenschaftler. Nur sie selbst würde vielleicht gut dastehen, aber das war unwichtig.

Deshalb würde sie nicht »ihrem Gewissen folgen«. Sie würde nicht an die Öffentlichkeit gehen. Sie wußte, ohne lange darüber nachzudenken, daß auch sie den Mund halten würde, daß sie sich an der Korruption beteiligen würde. Sie hatte keine andere Wahl. Lord wußte es. Auf seinen schmalen Lippen lag ein geisterhaftes Lächeln.

Sie verabscheute ihn. Haßte ihn mehr als irgend jemanden in ihrem Leben.

Er hatte sich selbst korrumpiert, hatte Mace korrumpiert. Sam korrumpiert. Jetzt hatte er auch sie korrumpiert.

Sie stand auf. Ihre Gefühle entluden sich in einem fast zusammenhanglosen Schrei: »Machen Sie, daß Sie mir aus den Augen kommen! Gehen Sie!«

Und er ging.

Andrew, der ein Londoner Krankenhaus besucht hatte, kehrte eine Stunde später zurück.

»Es ist etwas passiert«, sagte Celia. »Ich muß übermorgen sofort nach der Party zurückfliegen. Wenn du noch ein paar Tage bleiben möchtest . . .«

»Wir fliegen gemeinsam«, sagte Andrew und fügte beruhigend hinzu: »Ich erledige das. Du hast genug anderes im Kopf.«

Etwas später berichtete er: Die Concorde nach New York war für Donnerstag ausgebucht. Aber er hatte zwei Erster-Klasse-Plätze auf einer Maschine der British Airways bekommen. Sie würden am Donnerstagnachmittag in New York eintreffen und von dort aus gleich nach Morristown weiterfahren.

21

Yvonne konnte es kaum glauben. Befand sie sich wirklich im Buckingham-Palast? War das wirklich sie, die mit den anderen, deren Partner oder Eltern die gleichen Ehren empfingen, im State Ballroom saß - alle aufgeregt, je nach Temperament, und in Erwartung der Königin? Oder war das alles nur ein Traum?

Wenn es ein Traum war, dann war er wunderbar. Und dazu die Musik, die die Regimentskapelle der Coldstream Guards auf der Galerie über ihnen spielte: Early OneMorning.

Aber nein, es war kein Traum. Denn sie war mit Martin, der jetzt in einer Vorhalle auf die Zeremonie wartete, hergekommen. Martin hatte schon alles geprobt - mit einem Oberst in Paradeuniform.

Plötzlich eine Pause, die Musik brach ab. Alles erstarrte. Oben auf der Galerie hob der Kapellmeister den Taktstock und wartete auf ein Zeichen. Diener in Livree öffneten die Doppeltüren, und dann erschien die Königin.

Die Uniformierten standen stramm. Die Gäste hatten sich erhoben. Die Nationalhymne erklang.

Die Königin, im türkisfarbenen Seidenkleid, lächelte. Sie bewegte sich auf die Mitte des Ballsaals zu. Pflichtgemäß folgten ihr Lord Chamberlain und der Home Secretary. Die Zeremonie begann. Die Kapelle spielte gedämpft einen Walzer von Strauß.

Alles ging würdevoll und rasch vonstatten; es war ein Augen- blick, den keiner der Anwesenden je vergessen würde.

Yvonne speicherte jede Einzelheit in ihrem Gedächtnis. Martin war gleich nach einem Knight Commander of St. Michael and St. George an der Reihe. Gemäß den Anweisungen betrat Martin den Saal, machte drei Schritte nach vorn, verbeugte sich . . . schritt zu einem Schemel, um niederzuknien . . . rechtes Knie auf dem Schemel, linker Fuß am Boden . . . während Martin vor ihr kniete, reichte ein Oberstallmeister der Königin das Schwert, und sie berührte damit Martins Schultern, rechts und links. Martin stand auf . . . machte einen halben Schritt nach rechts, einen Schritt nach vorn . . . und während er mit leicht gebeugtem Kopf dastand, legte ihm die Königin ein goldenes Medaillon an einem rot-goldenen Band um den Hals.

Die Königin wechselte mit jedem ein paar Worte. Mit Martin sprach sie, wie Yvonne fand, länger als mit den anderen. Dann machte Martin drei Schritte rückwärts und eine Verbeugung -und war wieder verschwunden.

Ein paar Minuten später kam er zu Yvonne und setzte sich neben sie. »Was hat die Queen gesagt?« flüsterte sie.

Er lächelte und flüsterte zurück: »Die Queen ist gut informiert.«

Später würde Yvonne alles ganz genau erfahren, jedes Wort, das die Queen gesprochen hatte!

Allerdings war sie ein wenig enttäuscht, daß sie weder den Prinzen noch die Prinzessin von Wales gesehen hatte. Sie hatte sich vorher erkundigt und erfahren, daß sie sich wahrscheinlich gar nicht im Palast aufhielten. Eines Tages aber würde es schon noch dazu kommen - jetzt, da sie mit Martin verheiratet war, schien alles möglich.

Das einzige, woran sie sich nur schwer gewöhnen konnte, war, daß die Leute in Harlow und Cambridge sie nun mit »my lady« anredeten, auch der Pförtner im Lucy Cavendish College. Sie bat ihn, es nicht zu tun, aber er ließ es sich nicht nehmen. Mit der Zeit würde sie sich schon noch daran gewöhnen - wie an so vieles. Nicht mehr lange, dachte Yvonne belustigt, und die Bauern würden nach Lady Peat-Smith, der Tierärztin, rufen lassen, damit sie sich um ihre Schweine und Kühe kümmerte.

Der Empfang und die Party, die Celia und Andrew im DorschesterHotel für Sir Martin und Lady Peat-Smith gaben, war ein großer Erfolg. Er dauerte vom Nachmittag bis zum Abend, und es kamen fast hundert Gäste, auch die meisten leitenden Angestellten des Harlower Instituts. Rao Sastri war da, in Begleitung von Li-lian, und sie schienen guter Dinge. Celia sah, wie sie mehrmals die Köpfe zusammensteckten. Celia wußte, daß Rao alleinstehend war; nach Auskunft von Martin war er nie verheiratet gewesen.

Yvonne sah hübsch aus. Sie strahlte. Sie hatte abgenommen und vertraute Celia an, daß Martin ihr endlich erlaubt hatte, Pep-tid 7 zu nehmen.

Während der Party sagte Celia leise zu Martin: »Andrew und ich fliegen morgen früh zurück. Wenn hier alles vorbei ist, würde ich mich freuen, wenn wir vier ein paar Minuten unter uns sein könnten.«

Es war schon dunkel, als Celia, Andrew, Martin und Yvonne das kurze Stück vom Dorchester zum Fortyseven Park gingen. Es war ein kalter Februartag, klar und belebend.

Jetzt saßen sie entspannt in dem gemütlichen Apartment der Jordans.

»Martin«, sagte Celia, »ich komme gleich zur Sache; es war ein anstrengender Tag heute, und ich glaube, daß wir alle recht müde sind. Wie Sie wissen, baut Felding-Roth eine Forschungsanlage für Gentechnik. Sie wird in New Jersey liegen, nicht weit von unserer neuen Geschäftszentrale in Morristown entfernt, und die Labors werden mit allem ausgestattet sein, was sich ein Wissenschaftler nur wünschen kann.«

»Ich habe schon davon gehört«, sagte Martin. »Man spricht bereits davon, wie phantastisch alles sein wird.«

»Worauf ich hinaus will«, fuhr Celia fort, »ist: Wollen Sie und Yvonne in die Vereinigten Staaten kommen, und würden Sie die Leitung unserer Genforschung übernehmen? Ich kann Ihnen schon jetzt versprechen, daß Sie gänzlich freie Hand haben werden und alles tun können, was Sie wollen.«

Nach einer kurzen Pause sagte Martin: »Das ist ein wunderbares Angebot, Celia, und ich bin Ihnen sehr dankbar. Aber meine Antwort lautet nein.«

»Sie brauchen mir die Antwort nicht sofort zu geben«, sagte Celia eindringlich. »Denken Sie in aller Ruhe darüber nach. Und sprechen Sie mit Yvonne.«

»Die Antwort ist endgültig, fürchte ich«, sagte Martin. »Denn ich muß Ihnen auch etwas erzählen. Ich hätte es lieber zu einem anderen Zeitpunkt getan, aber: Ich kündige bei Felding-Roth.«

Celia war entsetzt. »Das darf nicht wahr sein.« Dann sah sie ihn scharf an. »Gehen Sie zu einer anderen pharmazeutischen Firma? Hat Ihnen jemand ein besseres Angebot gemacht?«

Martin schüttelte den Kopf. »Das würde ich Ihnen nicht antun. Jedenfalls nicht, ohne vorher mit Ihnen gesprochen zu haben. Nein, ich werde zu meiner alten Liebe zurückkehren.«

»Er meint Cambridge, nicht eine andere Frau«, sagte Yvonne. »Wir werden dort leben. Sein Herz gehört der Universität.«

Die Nachricht kam für sie völlig überraschend, aber instinktiv wußte sie, daß es keinen Sinn hatte, Martin zu überreden, und daher versuchte sie es erst gar nicht. Cambridge hatte gerufen, und er hatte wie eine Taube reagiert, die nach Hause fliegt. An einem sonnendurchfluteten Sonntag vor dreizehn Jahren hatte sie einen Sieg über die Universität errungen. Es hatte sich in jeder Hinsicht gelohnt. Aber die Räder der Zeit drehten sich weiter, und jetzt hatte Cambridge gewonnen und Celia und Felding-Roth waren die Verlierer.

Andrew wandte sich an Martin. »Ich habe mir immer gedacht, daß die Universität Sie eines Tages zurückholen würde. Werden Sie Institutsleiter? Ich habe gelesen, daß es ein paar freie Stellen gibt.«

»Ja«, erklärte Martin, »aber nicht für mich. Mit sechsundvierzig bin ich noch zu jung. Vielleicht wenn ich mal älter, berühmter bin . . .«

»Großer Gott!« rief Celia. »Wie berühmt müssen Sie denn noch werden? Sie haben einen wichtigen wissenschaftlichen Durchbruch erzielt, werden in der ganzen Welt mit Ehren überschüttet, zum Ritter geschlagen.«

»Martin lächelte. »All dies hat Cambridge schon oft erlebt. Die Universität läßt sich nicht so leicht beeindrucken. Nein, ich werde an dem >neuen Blutprogramm< mitarbeiten.«

Das war, erklärte Martin, ein von der Regierung gefördertes Programm, und er würde einen der wissenschaftlichen Forschungsbereiche leiten. Die Bezahlung sei, wie üblich, nicht besonders hoch - am Anfang nicht einmal zehntausend Pfund im Jahr. Aber ihr Einkommen sei durch Martins beträchtliche Einkünfte aus Peptid 7 trotzdem gesichert, und bestimmt würde er auch einen Teil davon dafür verwenden, die Spendengelder für seine Abteilung aufzustocken.

Ein paar Monate zuvor hatten die Finanzleute und Rechtsanwälte von Felding-Roth in New Jersey für Martin ein finanzielles Arrangement ausgearbeitet, das von Celia und später auch vom Aufsichtsrat akzeptiert worden war.

Nach britischem Gesetz - dem Patents Act von 1977 - hätte Martin vor Gericht gehen und für seine Peptid-7-Entdeckung eine Vergütung beantragen können, aber das wollte er genausowenig wie Felding-Roth. Daher war auf den Bahamas ein Fonds von zwei Millionen Pfund bereitgestellt worden, aus dem Martin regelmäßig Geld zufloß. Der Fonds wurde, im Rahmen der Legalität, so angelegt, daß er vor dem Zugriff des britischen Steuersystems sicher war und, wie Celia es ausdrückte, »Martin nicht seiner gerechten Belohnung beraubt« wurde.

Diese gerechte Belohnung, dachte sie jetzt voller Bedauern, hatte ihm den Weg zurück nach Cambridge geebnet. Aber sie wußte, daß sich Martin auch ohne das Geld von Peptid 7 so entschieden hätte.

Bevor Martin und Yvonne sich verabschiedeten, sagte Celia: »Felding-Roth wird Sie beide vermissen, aber ich hoffe, daß wir vier immer gute Freunde bleiben.«

Das versprachen sie sich gegenseitig.

Bevor Celia und Andrew abreisten, wurde noch eine andere Angelegenheit geregelt.

Ein paar Stunden, nachdem Martin und Yvonne gegangen waren und die Jordans gerade schlafen gehen wollten, klopfte es an die Tür ihres Apartments. Es war Lilian Hawthorne.

Andrew spürte, daß Lilian mit Celia allein sein wollte, und zog sich zurück.

»Ich bin froh, daß Sie mich überredet haben, mit nach England zu kommen«, sagte Lilian. »Sie haben sicher bemerkt, daß es eine schöne Zeit für mich war.«

»Ja«, sagte Celia lächelnd, »und Rao scheint es auch gefallen zu haben.«

»Rao und ich haben entdeckt, daß wir uns mögen - vielleicht sogar mehr als das.« Lilian zögerte. »Ich nehme an, Sie denken jetzt, daß ich eine alte Närrin bin . . .«

»Ich denke nichts dergleichen. Ich meine, daß es an der Zeit ist, daß Sie sich das Leben wieder ein wenig schön machen, Lilian, ein bißchen Spaß am Leben haben. Und zwar so, wie es Ihnen gefällt, und wenn das Rao Sastri mit einschließt - dann finde ich das wunderschön.«

»Ich bin froh, daß Sie so denken, denn ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.«

»Alles, was in meiner Macht steht«, sagte Celia.

»Also - Rao würde gern nach Amerika kommen. Er sagt, daß er das schon lange vorhat. Und ich möchte es auch gern, und wenn er vielleicht bei Felding-Roth Arbeit finden könnte . . .«

Sie beendete den Satz nicht.

Celia tat es für sie: »Dann käme es Ihnen beiden sehr gelegen.«

Lilian lächelte. »Ja, so ungefähr.«

»Ich bin sicher«, sagte Celia, »daß wir in dem neuen Genlabor etwas für ihn finden. Sie können Rao sagen, daß er sich darauf verlassen kann.«

Lilian strahlte. »Vielen Dank, Celia. Darüber wird er sich freuen. Er hatte es gehofft. Natürlich weiß er, daß er an jemanden wie Martin nicht heranreicht, daß er keine Führungsqualitäten besitzt. Aber er ist ein guter Wissenschaftler - «

»Ich weiß - und das macht alles ganz leicht«, sagte Celia. »Aber selbst wenn es nicht so wäre, hätte ich ihm geholfen. Sie haben mir vor Jahren einmal einen großen Gefallen getan, Lilian, und jetzt kann ich mich dafür ein bißchen revanchieren.«

Lilian lachte. »Sie meinen damals, als wir uns kennenlernten? Als Sie zu uns nach Hause kamen - so jung, so ungestüm - und hofften, daß ich Ihnen dabei behilflich sein könnte, Pharma-Ver-treterin zu werden, indem ich Sam beeinflußte?«

Von den Erinnerungen an Sam überwältigt, versagte ihr die Stimme.

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