Ich wage kaum zu berühren, damit nicht der Kuss verbrennt meine Lippen. Ach, Herr, welch kleinen Genuss,
bitter-kurzen Genuss, man erhält für eine große Sünd’
Doch Du weißt, wie süß er ist, welch’ Wonn’ im Überfluss.
Als sie am Institut eintrafen, wurden sie bereits von Sophie und Agatha erwartet, die mit flackernden Laternen in der weit geöffneten Tür standen. Vor Müdigkeit wäre Tessa beim Aussteigen aus der Kutsche fast gestrauchelt und sie stellte überrascht und dankbar fest, dass Sophie sofort herbeieilte und ihr die Stufen hinaufhalf. Charlotte und Henry hatten Nathaniel unter den Armen gepackt und schleppten ihn die Treppe hoch. Hinter ihnen ratterte der Einspänner mit Will und Jem durch das Tor und Thomas’ tiefe Stimme klang klar durch die kühle Nachtluft, als er Sophie und Agatha begrüßte. Jessamine war dagegen nirgends zu sehen — was Tessa allerdings nicht überraschte.
Charlotte und Henry brachten Nathaniel in ein Zimmer, das Tessas Schlafzimmer sehr ähnelte — das gleiche schwere Mobiliar aus dunklem Holz, das gleiche große Bett und der gleiche wuchtige Kleiderschrank. Während Charlotte und Agatha ihren Bruder ins Bett steckten, ließ Tessa sich in einen der Sessel sinken, fast fiebernd vor Sorge und Erschöpfung. Stimmen, gedämpft wie in einem Krankenzimmer, schwirrten um sie herum. Sie hörte, wie Charlotte von den Brüdern der Stille sprach und Henry leise irgendetwas erwiderte. Nach einer Weile tauchte Sophie an ihrer Seite auf und drängte sie, etwas zu trinken: Sie reichte ihr eine Tasse mit einer heißen, süßsauren Flüssigkeit, die bereits nach dem ersten Schluck durch Tessas Adern zu strömen schien und ihr langsam neue Kraft schenkte. Kurz darauf konnte sie sich sogar schon wieder aufsetzen, und als sie sich ein wenig umschaute, registrierte sie überrascht, dass der Raum bis auf ihren Bruder und sie leer war. Alle anderen hatten sich dezent zurückgezogen.
Besorgt schaute sie auf Nathaniel hinunter. Er lag vollkommen reglos da, sein bleiches Gesicht mit Blutergüssen übersät, die verfilzten Haare gegen das Kopfkissen gedrückt. Mit einem Stich im Herzen erinnerte Tessa sich an ihren elegant gekleideten Bruder von früher, dessen Haare immer sorgfältig gepflegt und gekämmt gewesen waren und dessen Schuhwerk nie auch nur den kleinsten Fleck aufgewiesen hatte. Der Nathaniel, der nun vor ihr im Bett lag, sah nicht aus wie jemand, der seine kleine Schwester fröhlich tanzend im Wohnzimmer herumgewirbelt oder der vor lauter Lebensfreude leise vor sich hin gesummt hatte. Tessa beugte sich vor, um sein Gesicht eingehender zu untersuchen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Rasch drehte sie den Kopf, stellte aber fest, dass sie nur ihr eigenes Spiegelbild gesehen hatte, das vom Spiegel an der gegenüberliegenden Wand reflektiert wurde. In Camilles Kleid wirkte sie selbst in ihren eigenen Augen wie ein kleines Mädchen, das große Dame spielte — sie war viel zu schmächtig für diese äußerst elegante Robe. Sie sah aus wie ein Kind, ein albernes Kind. Kein Wunder, dass Will ...
»Tessie?« Nathaniels schwache, zittrige Stimme riss sie sofort aus ihren Gedanken. »Tessie, bitte lass mich nicht allein. Ich glaube ... ich bin krank.«
»Nate.« Tessa griff nach seiner Hand und nahm sie zwischen ihre behandschuhten Finger. »Du wirst wieder gesund. Es ist alles in Ordnung. Sie haben schon nach den Ärzten geschickt ...«
»Wer ist ›Sie‹?«, stieß er mit dünner, hoher Stimme hervor. »Wo sind wir hier? Ich kenne diesen Ort nicht.«
»Wir sind im Londoner Institut der Schattenjäger. Hier bist du in Sicherheit.«
Nathaniel blinzelte. Dunkle, fast schwarze Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab und seine Lippen waren aufgeplatzt und verkrustet, vermutlich mit getrocknetem Blut. Sein Blick sprang unruhig hin und her, ohne irgendwo länger als eine Sekunde zu verweilen. »Schattenjäger«, hauchte er matt, »ich hätte nicht gedacht, dass sie wirklich existieren ...« Plötzlich wisperte er leise: »Der Magister ...«, und Tessa zuckte nervös zusammen. »Der Magister hat gesagt, sie seien das Gesetz. Er sagte, man müsse sich vor ihnen in Acht nehmen. Aber in dieser Welt existieren keine Gesetze. Hier gibt es keine Strafe — nur töten und getötet werden«, flüsterte er und fuhr dann mit lauterer Stimme fort: »Tessie, es tut mir so leid ... einfach alles ...«
»Der Magister — meinst du damit de Quincey?«, hakte Tessa nach, aber im nächsten Moment gab Nate ein Röcheln von sich und starrte an ihr vorbei, die Augen vor Angst weit aufgerissen. Tessa ließ seine Hand los und drehte sich um, um nachzusehen, was ihn so erschreckt hatte.
Charlotte war fast geräuschlos eingetreten. Sie trug noch immer ihre Schattenjägermontur, hatte sich allerdings einen altmodischen, langen Umhang übergeworfen, der von einer doppelten Schnalle am Hals zusammengehalten wurde. Sie wirkte sehr klein - ein Eindruck, der dadurch verstärkt wurde, dass Bruder Enoch neben ihr stand und einen riesigen Schatten auf den Boden warf. Wie am Tag ihrer ersten Begegnung trug er wieder die pergamentfarbene Robe; allerdings hielt er nun einen schwarzen Stab in der Hand, dessen Knauf in Gestalt zweier dunkler Flügel geschnitzt war. Er hatte die Kapuze hochgeschlagen, sodass seine Gesichtszüge im Schatten lagen.
»Tessa, du erinnerst dich bestimmt an Bruder Enoch«, sagte Charlotte. »Er ist gekommen, um Nathaniel zu helfen.«
Im selben Moment stieß Nate einen fast animalischen Schrei aus und griff entsetzt nach Tessas Handgelenk. Sie sah ihn verwirrt an: »Was hast du, Nathaniel? Was ist los?«
»De Quincey hat mir von ihnen erzählt«, keuchte Nathaniel. »Die Gregori ... die Stillen Brüder. Es heißt, sie können einen Mann allein durch ihre Gedanken töten.« Er schauderte. »Tessa.« Seine Stimme war kaum noch ein Wispern. »Sieh dir doch nur sein Gesicht an.«
Und Tessa schaute Bruder Enoch ins Gesicht, der während ihres kurzen Wortwechsels mit ihrem Bruder die Kapuze geräuschlos nach hinten geschoben hatte. Leere, glatte Augenhöhlen reflektierten das Elbenlicht, das die schwarzen Nähte über den Lippen unbarmherzig zum Vorschein kommen ließ.
Bedächtig trat Charlotte einen Schritt vor. »Wenn Bruder Enoch nun Mr Gray untersuchen könnte ...«, setzte sie an.
»Nein!«, schrie Tessa sofort auf. Sie befreite ihre Hand aus Nates Umklammerung und postierte sich zwischen ihrem Bruder und dem Mann in der pergamentfarbenen Robe. »Rührt ihn ja nicht an.«
Bestürzt hielt Charlotte inne. »Aber die Brüder der Stille sind unsere besten Heilkundigen. Ohne Bruder Enochs Hilfe wird Nathaniel ...« Sie verstummte einen Moment und fuhr dann leise fort. »Nun ja, ansonsten können wir nicht viel für ihn tun.«
Miss Gray.
Tessa benötigte einen Augenblick, bis sie erkannte, dass ihr Name nicht laut ausgesprochen worden war, sondern wie der Fetzen eines halb vergessenen Liedes in ihrem Kopf widerhallte. Allerdings nicht in der Stimme ihrer eigenen Gedanken. Dies hier war eine andere, fremde, harsche Stimme — Bruder Enochs Stimme. Auf dieselbe Weise hatte er sich auch an ihrem ersten Tag im Institut an sie gewandt.
»Es ist wirklich interessant, Miss Gray«, fuhr Bruder Enoch fort, »dass Sie ein Schattenwesen sind, Ihr Bruder indes nicht. Wie konnte es dazu kommen?«
Abrupt hielt Tessa inne. »Das ... das können Sie nur durch einen Blick auf ihn erkennen?«, fragte sie ungläubig.
»Tessie!« Nathaniel drückte sich aus den Kissen hoch, sein blasses Gesicht zeigte fiebrige Flecken.
»Was tust du da? Sprichst du etwa mit dem Gregori? Er ist gefährlich!«
»Es ist schon gut, Nate«, erwiderte Tessa, ohne den Blick von Bruder Enoch abzuwenden. Sie wusste, dass sie eigentlich Furcht empfinden sollte, aber tatsächlich verspürte sie nur tiefe Enttäuschung. »Wollen Sie damit sagen, dass an Nate nichts Ungewöhnliches ist?«, fragte sie leise. »Keine übernatürlichen Kräfte?«
Nein, rein gar nichts, erklärte der Bruder der Stille. Bis zu diesem Moment war Tessa überhaupt nicht bewusst gewesen, wie sehr sie innerlich gehofft hatte, dass ihr Bruder so sei wie sie. Mit vor Enttäuschung angespannter Stimme fragte sie: »Da Sie ja so vieles wissen, darf ich dann davon ausgehen, dass Sie auch wissen, was ich bin? Bin ich eine Hexe?«
»Das vermag ich nicht zu sagen. Sie haben durchaus etwas an sich, das Sie als eines von Liliths Kindern kennzeichnet. Dennoch tragen Sie kein Dämonenmal.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen«, pflichtete Charlotte ihm bei und Tessa erkannte, dass die Schattenjägerin Bruder Enochs Stimme ebenfalls hören konnte. »Ich dachte, dass sie vielleicht doch keine Hexe ist. Schließlich werden manche Menschen mit besonderen Fähigkeiten geboren, zum Beispiel dem zweiten Gesicht. Oder sie trägt womöglich Feenblut in sich ...«
»Sie ist kein Mensch — sie ist etwas anderes. Ich werde mich noch eingehend damit beschäftigen. Möglicherweise findet sich etwas in den Archiven, das mir weiterhelfen wird.« Obwohl er keine Augen besaß, schien Bruder Enoch Tessas Gesicht genau zu studieren. »Ich spüre, dass Sie eine ganz besondere Kraft haben. Eine Kraft, die kein anderes Hexenwesen besitzt.«
»Meine Fähigkeit zur Gestaltwandlung, meinen Sie sicher.«
»Nein. Die meine ich nicht.«
»Aber was denn dann?«, fragte Tessa verwundert.
»Welche Kraft könnte ich denn sonst ...« Sie verstummte abrupt, als Nathaniel ein Geräusch hervorstieß, und drehte sich zu ihm um: Er hatte sich aus den Decken befreit und versuchte aufzustehen; sein Gesicht war schweißüberströmt und kreidebleich. Ein heißes Schuldgefühl überkam Tessa: Sie hatte sich so sehr auf Bruder Enochs Worte konzentriert, dass sie ihren Bruder fast völlig vergessen hatte.
Sofort stürzte sie zu ihm und mit Charlottes Hilfe gelang es ihr, Nate mit sanftem Druck zurück ins Bett zu befördern. Sein Zustand schien sich dramatisch verschlechtert zu haben. Als Tessa seine Decke feststeckte, griff er erneut nach ihrem Handgelenk und schaute sie mit einem wilden Ausdruck in den Augen an. »Weiß er es?«, fragte er drängend. »Weiß er, wo ich bin?«
»Wen meinst du? De Quincey?«
»Tessie.« Nate klammerte sich an ihr Handgelenk, zog sie zu sich hinunter und wisperte: »Tessie, du musst mir verzeihen. Er hat mir gesagt, er würde dich zur Königin der Nachtkinder machen. Und er hat gedroht, er würde mich sonst umbringen. Ich will nicht sterben, Tessie, ich will nicht sterben!«
»Natürlich nicht«, versuchte sie, ihn zu beruhigen, doch er schien sie nicht zu hören. Seine Augen, die auf ihr Gesicht geheftet waren, wurden plötzlich groß und er stieß einen lauten Schrei aus.
»Halt ihn von mir fern! Halt ihn fern!«, kreischte er. Dann drückte er Tessa ruckartig von sich fort und wälzte den Kopf wild hin und her. »Lieber Gott, lass nicht zu, dass er mich anfasst!«
Bestürzt riss Tessa ihre Hand zurück und drehte sich hilfesuchend zu Charlotte um — doch Charlotte war einen Schritt beiseitegetreten und hatte Bruder Enoch Platz gemacht, der mit reglosem Gesicht vor ihr stand. »Miss Gray, Sie müssen mir gestatten, Ihrem Bruder nun zu helfen. Oder er wird nicht mehr lange zu leben haben,« wandte er sich an Tessa.
»Wovon fantasiert er da?«, fragte Tessa kläglich.
»Was ist mit ihm passiert?«
»Die Vampire haben ihm ein Mittel verabreicht, um ihn zu beruhigen, während sie sich an ihm bedienten.
Wenn wir nicht bald mit seiner Behandlung beginnen, wird diese Droge ihn in den Wahnsinn und schließlich in den Tod treiben. Er hat bereits die ersten Halluzinationen.«
»Es ist nicht meine Schuld!«, schrie Nathaniel. »Ich hatte keine andere Wahl! Es ist nicht meine Schuld!«
Ruckartig drehte er das Gesicht zu Tessa, die zu ihrem Entsetzen sah, dass seine Augen sich vollkommen schwarz verfärbt hatten wie Insektenaugen. Erschrocken schnappte sie nach Luft und wich zurück.
»Helfen Sie ihm. Bitte helfen Sie ihm«, stammelte sie und griff nach Bruder Enochs Ärmel, was sie jedoch sofort bereute: Der Arm unter dem Stoff war hart wie Marmor und fühlte sich eiskalt an. Entsetzt zog sie ihre Hand zurück, doch der Bruder der Stille schien sie gar nicht wahrzunehmen. Er war um sie herum ans Bett getreten und legte nun zwei narbenübersäte Finger auf Nathaniels Stirn. Sofort schloss Nathaniel die Augen und sank zurück in die Kissen.
»Sie müssen jetzt gehen«, richtete Bruder Enoch erneut das Wort an Tessa, ohne sich jedoch vom Bett abzuwenden. »Ihre Anwesenheit wird seinen Heilungsprozess nur verzögern.«
»Aber Nate hat mich gebeten, zu bleiben ...«
»Gehen Sie!« Die Stimme in Tessas Kopf klang eisig.
Tessa warf einen Blick auf ihren Bruder: Er lag reglos in den Kissen, sein Gesicht völlig erschlafft. Als sie sich zu Charlotte umdrehte, um zu protestieren, begegnete die Schattenjägerin ihrem Blick jedoch mit einem leisen Kopfschütteln. Der Ausdruck in ihren Augen war teilnahmsvoll, aber unnachgiebig.
»Ich werde dir sofort Bescheid geben, sobald sich der Zustand deines Bruders verbessert«, versicherte sie Tessa. »Das verspreche ich dir.«
Noch immer zweifelnd, schaute Tessa zu Bruder Enoch. Er hatte inzwischen einen Beutel von seinem Gürtel genommen und langsam und methodisch mehrere Gegenstände auf das Nachttischschränkchen platziert: Glasphiolen mit verschiedenen Pulvern und Flüssigkeiten, Bündel getrockneter Pflanzen, kurze Stäbe aus irgendeiner schwarzen Substanz, die an Fettkohle erinnerte. »Falls Nate irgendetwas zustoßen sollte, werde ich Ihnen das nie verzeihen«, wandte Tessa sich an den Bruder der Stille. »Niemals!«
Doch genauso gut hätte sie auch mit einer Statue reden können - Bruder Enoch zuckte nicht einmal mit der Wimper.
Resigniert floh Tessa aus dem Zimmer.
Nach dem dämmrigen Licht in Nates Krankenzimmer stach die Helligkeit der Elbenlichtleuchten im Flur Tessa regelrecht in den Augen. Niedergeschlagen lehnte sie sich an die Wand neben der Tür und kämpfte gegen die Tränen an.
Dies war schon das zweite Mal an diesem Abend, dass sie fast in Tränen ausgebrochen wäre, und sie war sehr ungehalten über sich selbst. Verärgert ballte sie die rechte Hand zur Faust und schlug so fest gegen die Wand hinter ihr, dass ein heftiger Schmerz durch ihren Arm jagte. Und der beseitigte ihre Tränen sofort und machte ihren Kopf wieder frei.
»Das sah aus, als hätte es wirklich wehgetan.«
Überrascht fuhr Tessa herum. Jem war so lautlos wie eine Katze hinter ihr im Flur aufgetaucht. Er hatte die Kampfmontur abgelegt und trug eine weite dunkle Hose und ein weißes Hemd, das nur wenige Töne heller wirkte als sein Teint. Sein feines helles Haar schimmerte feucht und kringelte sich an den Schläfen und im Nacken.
»Stimmt, es hat wehgetan«, räumte Tessa ein und drückte die malträtierte Hand an ihre Brust. Der Handschuh hatte den Schlag etwas abgemildert, aber ihre Knöchel schmerzten noch immer.
»Dein Bruder ... wird er wieder gesund werden?«, fragte Jem teilnahmsvoll.
»Ich weiß es nicht. Er ist da drin, mit einem dieser ... dieser Mönchswesen.«
»Bruder Enoch.« Jem schenkte Tessa einen verständnisvollen Blick. »Ich weiß, welchen Eindruck die Brüder der Stille erwecken, aber sie sind wirklich exzellente Ärzte. Sie verstehen sich hervorragend auf die Kunst der Heilung, und da sie sehr lange leben, verfügen sie auch über einen immensen Wissensschatz.«
»Es erscheint mir kaum erstrebenswert, ein langes Leben zu führen, wenn man dann so aussieht ...«
Seine Mundwinkel zuckten. »Ich vermute, das hängt ganz davon ab, wofür man lebt.« Er musterte sie eingehender.
Jem hatte eine ganz besondere Art, andere anzusehen, überlegte Tessa — so als könnte er durch sie hindurchschauen. Doch nichts, was er dort sah oder wahrnahm, schien ihn zu beunruhigen, zu verärgern oder zu enttäuschen. »Bruder Enoch ...«, nahm sie den Faden abrupt wieder auf. »Weißt du, was er gesagt hat? Er hat mir mitgeteilt, dass Nate anders ist als ich. Er ist durch und durch ein Mensch. Und besitzt überhaupt keine besonderen Kräfte.«
»Und das bestürzt dich?«
»Ich bin mir nicht sicher. Einerseits würde ich ihm diese ... diese Sache ... niemals wünschen, weder ihm noch sonst irgendjemandem. Aber wenn er anders ist als ich, dann bedeutet das, dass er nicht hundertprozentig mit mir verwandt und bestenfalls mein Halbbruder sein kann. Allerdings ist er der Sohn meiner Eltern. Nur ... wessen Tochter bin ich dann?«
»Du solltest dich mit dieser Frage nicht belasten. Gewiss wäre es wundervoll, wenn wir alle genau wüssten, wer wir sind. Aber dieses Wissen erlangt man nicht von außen, es kommt von innen. ›Erkenne dich selbst‹, wie das Orakel zu sagen pflegt.« Jem grinste. »Ich bitte vielmals um Verzeihung, falls dies nach Haarspalterei klingen sollte, doch ich berichte dir nur das, was ich aus eigener Erfahrung gelernt habe.«
»Aber ich kenne mich nun mal nicht selbst!«, erwiderte Tessa und fügte dann kopfschüttelnd hinzu:
»Entschuldige bitte. So wie du bei de Quincey gekämpft hast, musst du mich für einen schrecklichen Feigling halten: Da stehe ich hier und jammere, weil mein Bruder kein Monstrum ist und ich nicht den Mut habe, ganz allein ein Monstrum zu sein.«
»Du bist kein Monstrum«, widersprach Jem. »Und auch kein Feigling. Ganz im Gegenteil: Ich war ziemlich beeindruckt, als du auf de Quincey geschossen hast. Wenn mehr Kugeln in der Pistole gewesen wären, hättest du ihn zweifellos getötet.«
»Ja, das denke ich auch. In diesem Moment wollte ich jeden Einzelnen der Vampire töten.«
»Genau dazu hatte Camille uns aufgefordert. Sie alle zu töten. Vielleicht hast du ja ihre Gefühlsregungen empfunden?«
»Aber Camille hatte doch gar keinen Grund, sich um Nate zu sorgen oder Angst um sein Leben zu haben — und das war genau der Moment, in dem ich die größte Blutrunst verspürte. Als ich Nate dort kauern sah ... als mir bewusst wurde, was sie ihm antun wollten ...« Tessa holte schaudernd Luft. »Ich weiß nicht, wie viel davon meine eigenen Gefühle waren und wie viel von Camille stammte. Und ich weiß nicht einmal, ob es richtig ist, diese Sorte von Gefühlen zu empfinden . .«
»Du meinst, ob es für ein Mädchen richtig ist, so zu empfinden?«, fragte Jem.
»Nein, eher generell, für jeden, vielleicht ... ach, ich weiß auch nicht. Vielleicht meine ich ja doch für ein Mädchen.«
In dem Moment blickte Jem sie an und schien dabei durch sie hindurchzuschauen, als würde er etwas hinter ihr sehen, jenseits des Flurs, jenseits der Institutsmauern. »Ganz gleich, wie das äußere Erscheinungsbild eines Menschen ist«, sagte er gedehnt, »ob du männlich oder weiblich, stark oder schwach, krank oder gesund bist — all diese Dinge sind von geringerer Bedeutung als das, was dein Herz enthält. Wenn du das Herz eines Kriegers hast, dann bist du auch ein Krieger. Alle anderen Dinge sind nur wie das Glas einer Lampe, aber du bist das Licht, das darin scheint«, erklärte er versonnen, schien sich dann wieder zu fangen und lächelte leicht verlegen. »Das glaube ich zumindest.«
Ehe Tessa etwas erwidern konnte, wurde die Tür von Nates Zimmer geöffnet und Charlotte kam heraus. Sie beantwortete Tessas fragenden Blick mit einem erschöpften Nicken. »Bruder Enoch hat deinem Bruder schon sehr helfen können«, sagte sie, »aber es müssen noch eine ganze Reihe von Maßnahmen ergriffen werden und vor morgen früh lässt sich nichts Definitives sagen. Ich schlage vor, dass du dich ein paar Stunden schlafen legst, Tessa. Es nutzt Nathaniel nichts, wenn du dich völlig verausgabst.«
Tessa musste sich zwingen, einfach nur zu nicken, statt Charlotte mit einer Fülle von Fragen zu bestürmen, von denen sie ohnehin wusste, dass die Schattenjägerin sie nicht würde beantworten können.
»Ach, Jem«, fuhr Charlotte fort, »könnte ich wohl ein paar Minuten mit dir sprechen? Wärst du so freundlich und würdest mich zur Bibliothek begleiten?«
Jem nickte. »Selbstverständlich.« Dann neigte er den Kopf ein wenig und schenkte Tessa ein Lächeln.
»Also dann, bis morgen«, sagte er und folgte Charlotte durch den Korridor.
Kaum waren die beiden um die Ecke verschwunden, rüttelte Tessa auch schon an der Tür von Nates Zimmer, aber sie war fest verschlossen.
Seufzend machte sie auf dem Absatz kehrt und ging in die andere Richtung. Vielleicht hatte Charlotte ja recht — vielleicht sollte sie wirklich zu schlafen versuchen.
Sie hatte gerade die Hälfte der Strecke zu ihrem eigenen Zimmer zurückgelegt, als sie wütendes Schimpfen hörte. Im nächsten Moment tauchte Sophie im Flur auf, in jeder Hand einen Metallkübel, und verpasste der Tür hinter ihr einen solchen Tritt, dass sie mit einem Knall zuflog. Das Dienstmädchen wirkte fuchsteufelswild. »Seine Gnaden sind heute wieder mal besonders guter Laune«, teilte sie Tessa mit, als diese näher kam. »Hat mir einfach einen Eimer an den Kopf geworfen, jawohl.«
»Wer?«, fragte Tessa, doch dann dämmerte es ihr.
»Oh, du meinst Will. Geht es ihm gut?«
»Jedenfalls gut genug, um mit Eimern zu werfen«, schnaubte Sophie, »und um mir schlimme Namen zu geben. Ich weiß nicht, was er da gerufen hat. Aber ich glaube, es war etwas Französisches und das bedeutet in der Regel, dass man jemanden als Hure beschimpft.« Sie presste die Lippen zusammen. »Ich sollte wohl besser Mrs Branwell holen. Vielleicht kann sie ihn ja dazu bewegen, seine Medizin zu nehmen — ich kann es jedenfalls nicht!«
»Seine Medizin?«
»Ja, er muss das hier trinken.« Sophie hielt Tessa einen der Kübel entgegen, in dem irgendeine Flüssigkeit schwappte, die für Tessa wie ganz normales Wasser aussah. »Er muss einfach. Ich möchte lieber nicht darüber sprechen, was passiert, wenn er sich weiterhin weigert.«
Plötzlich überkam Tessa ein verrückter Impuls.
»Ich werde ihm die Medizin bringen. Wo steckt er?«
»Oben. Auf dem Speicher.« Sophie schaute Tessa mit großen Augen an. »Aber wenn ich Sie wäre, Miss, würde ich das nicht tun. Er ist wirklich böse und gemein, wenn er eine seiner Launen hat.«
»Das ist mir egal«, erwiderte Tessa und streckte die Hände nach dem Eimer aus, den Sophie ihr sofort reichte, mit einer Mischung aus Erleichterung und Sorge im Gesicht. Der Kübel war erstaunlich schwer und bis oben hin mit Wasser gefüllt. »Will Herondale muss lernen, seine Medizin wie ein Mann zu nehmen«, fügte Tessa hinzu und öffnete die Tür zum Speicher — worauf Sophie ihr mit einem Ausdruck nachschaute, der eindeutig besagte, dass sie ernsthaft an Tessas Verstand zweifelte.
Hinter der Tür führte eine schmale Stiege nach oben zum Speicher. Obwohl Tessa den schweren Eimer mit gestreckten Armen vor sich hertrug, schwappte bei jeder Stufe kaltes Wasser auf das Mieder ihres Kleides und bereitete ihr eine Gänsehaut. Als sie endlich das obere Ende der Treppe erreicht hatte, war sie nass und außer Atem.
Die Treppe führte ohne Zwischentür direkt auf den Speicher, einen riesigen Raum mit einem derartig steilen Satteldach, dass die tiefen Dachsparren über Tessas Kopf den Eindruck einer niedrigen Decke erzeugten. In regelmäßigen Abständen waren kleine quadratische Fenster knapp oberhalb des rauen Dielenbodens in das Mauerwerk eingelassen, durch die Tessa das graue Licht der Morgendämmerung sehen konnte. Der Speicher war vollkommen unmöbliert und wurde nur vom schwachen Licht erhellt, das durch die Scheiben einfiel. Ein paar Schritte weiter führte eine noch schmalere Holztreppe zu einer verschlossenen Luke im Dach.
Will lag in der Mitte des Raums, rücklings und barfuß auf dem Holzboden. Eine ganze Reihe schwerer Metalleimer umgab ihn und die Dielen um ihn herum glänzten feucht. Kleine Rinnsale flossen über die Bretter und sammelten sich in den unebenen Vertiefungen des Bodens zu Pfützen, die teilweise rötlich schimmerten, als hätte sich das Wasser mit Blut vermischt. Einen Arm halb über das Gesicht gelegt, wälzte sich der junge Schattenjäger ruhelos hin und her, als winde er sich vor Schmerz.
Als Tessa vorsichtig näher trat, stieß er etwas mit rauer Stimme hervor, etwas, das wie ein Name klang.
Cecily, glaubte Tessa zu verstehen. Ja, es klang tatsächlich danach, als hätte er diesen Namen gemurmelt. »Will?«, fragte sie. »Mit wem redest du?«
»Ach, schon zurück, Sophie?«, erwiderte Will, ohne den Kopf anzuheben. »Ich hab dir doch gesagt, wenn du es wagst, noch einen dieser teuflischen Kübel anzuschleppen, dann ...«
»Hier ist nicht Sophie«, sagte Tessa. »Ich bin’s. Tessa.«
Einen Moment lang lag Will schweigend und reglos da; lediglich seine Brust hob und senkte sich mit jedem Atemzug. Er trug nur eine schwarze Hose und ein weißes Hemd, das genauso triefend nass war wie der Holzboden um ihn herum. Der Stoff klebte an seiner Haut und seine schwarzen Haare hingen in nassen Strähnen an ihm herab. Bei der Kälte, die auf dem zugigen Speicher herrschte, musste er eigentlich völlig durchgefroren sein, überlegte Tessa.
»Dann hat man dich heraufgeschickt?«, fragte er schließlich. In seiner Stimme schwang Fassungslosigkeit und noch etwas anderes mit.
»Ja«, antwortete Tessa, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprach.
Will schlug die Augen auf und wandte ihr das Gesicht zu. Selbst im Dämmerlicht des Speichers konnte Tessa die leuchtende Farbe seiner Pupillen sehen. »Na schön. Dann lass das Wasser hier und geh.«
Tessa warf einen Blick auf den Eimer. Aus irgendeinem Grund wollten ihre Hände den Henkel nicht freigeben. »Was ist hier eigentlich drin? Ich meine, was genau habe ich dir gebracht?«, erkundigte sie sich.
»Das hat man dir nicht gesagt?«, fragte er verwundert. »Das ist Weihwasser. Um das herauszuspülen, was ich in mir habe.«
Nun starrte Tessa ihn verwundert an. »Was meinst du ...?«
»Ich vergesse immer wieder, wie vieles du noch nicht weißt«, sagte Will. »Erinnerst du dich, wie ich heute Abend de Quincey in den Arm gebissen habe? Nun ja, dabei habe ich auch ein paar Tropfen seines Bluts geschluckt. Keine großen Mengen, aber dazu bedarf es auch nicht viel.«
»Wozu?«
»Es bedarf nicht viel, mich in einen Vampir zu verwandeln.«
Bei diesen Worten ließ Tessa beinahe den Kübel fallen. »Du verwandelst dich in einen Vampir?«, stammelte sie.
Will grinste breit und stützte sich auf seinen Ellbogen. »Kein Grund zur Panik. Es dauert Tage, bevor dieser Prozess einsetzt, und selbst dann müsste ich erst einmal sterben, ehe die Verwandlung sich manifestieren könnte. Allerdings bewirkt de Quinceys Blut, dass ich mich unwiderstehlich zu Vampiren hingezogen fühle — in der Hoffnung, dass sie mich zu einem der ihren machen. Genau wie ihre Domestiken.«
»Und das Weihwasser ...«
»Neutralisiert die Wirkung des Bluts. Das bedeutet, dass ich es konstant trinken muss. Natürlich bereitet es mir Übelkeit ... und sorgt dafür, dass ich das Vampirblut und alles andere in mir hervorwürge, bis nichts davon mehr übrig ist.«
»Gütiger Gott.« Bestürzt streckte Tessa ihm den Kübel entgegen. »Dann sollte ich es dir wohl besser schnellstmöglich geben.«
»Ja, das solltest du wohl.« Will setzte sich auf, nahm den Eimer entgegen, warf einen finsteren Blick auf den Inhalt und hob den Kübel schließlich widerwillig an die Lippen. Nachdem er mehrere Schlucke getrunken hatte, verzog er angewidert das Gesicht, goss sich das restliche Wasser kurzerhand über den Kopf und schleuderte den leeren Eimer beiseite.
»Und das hilft?«, fragte Tessa mit aufrichtigem Interesse. »Sich das Wasser einfach so über den Kopf zu gießen?«
Will stieß ein unterdrücktes Geräusch hervor, das nur teilweise nach einem Lachen klang. »Du stellst Fragen ...« Er schüttelte den Kopf, sodass mehrere Wassertropfen von seinen Haaren auf Tessas Kleidung flogen. Das Wasser hatte den Kragen und die Front seines weißen Hemdes völlig durchweicht, wodurch das Gewebe nun transparent wirkte. Es klebte an seiner nackten Haut und ließ die Konturen seines Körpers deutlich hervortreten — die Rippen seiner harten Muskulatur, die scharfe Linie des Schlüsselbeins und die Runenmale, die sich wie schwarze Flammen durch den Stoff zu brennen schienen. Der Anblick erinnerte Tessa an eine Maltechnik, bei der man ein hauchdünnes Blatt Papier über eine Messing-Gravurplatte legte und mit Zeichenkohle darüberstrich, um die Konturen hervorzuholen. Sie musste kurz schlucken.
»Das Blut erzeugt einen Fieberanfall, der die Haut förmlich glühen lässt«, erklärte Will schließlich. »Es gelingt mir nicht, meine Temperatur zu senken. Und deshalb hilft das Wasser auch auf diesem Weg.«
Tessa starrte ihn stumm an. Als er im Dunklen Haus in ihr Zimmer eingedrungen war, hatte sie ihn für den attraktivsten jungen Mann gehalten, dem sie je begegnet war. Doch nun schaute sie ihn an, sah ihn auf eine Weise, wie sie noch nie einen Mann betrachtet hatte — auf eine Weise, die ihr das Blut in die Wangen schießen ließ und ihr die Kehle zuschnürte. Und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihn zu berühren, seine feuchten Haare zu berühren und seine muskulösen Arme ... um zu fühlen, ob sie wirklich so kräftig und hart waren, wie sie wirkten, und ob seine schwieligen Handflächen wirklich so rau waren. Und dann wollte sie ihre Wange an seine legen und spüren, wie seine Wimpern über ihre Haut streiften. Seine langen Wimpern ...
»Will«, brachte sie mühsam hervor, wobei ihre Stimme selbst in ihren eigenen Ohren dünn klang.
»Will, ich möchte dich etwas fragen ...«
Er schaute zu ihr hoch. Das Wasser ließ seine Wimpern zusammenkleben, sodass sie sternenförmige kleine Spitzen bildeten. »Ja?«
»Du verhältst dich oft so, als wäre dir alles egal«, fuhr Tessa atemlos fort. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie einen steilen Berg hinaufgeklettert und würde nun auf der anderen Seite bergab stürmen, gegen ihren Willen und ohne Verschnaufpause — die Schwerkraft zog sie mit sich und es gab kein Halten mehr. »Aber ... ein jeder hat doch irgendetwas, das ihm nicht gleichgültig ist ... das ihm etwas bedeutet, oder?«
»Oder?«, wiederholte Will leise. Als sie nicht reagierte, stützte er sich mit den Händen auf dem Boden hinter ihm ab. »Tess«, sagte er. »Komm her und setz dich zu mir.«
Tessa tat wie ihr geheißen. Der Boden war feucht und kalt, aber sie ließ sich auf den unebenen Dielen nieder und raffte ihre Röcke so um sich, dass nur noch ihre Schuhspitzen unter dem Saum hervorschauten. Dann sah sie Will an — sie saßen einander nun direkt gegenüber. Im grauen Morgenlicht erschien sein Profil kalt und hart; lediglich seine Lippen wirkten weicher.
»Du lachst nie«, stellte Tessa fest. »Du tust immer so, als wenn für dich alles ein Witz wäre, aber du lachst nie. Nur manchmal, wenn du dich unbeobachtet fühlst, lächelst du vor dich hin.«
Will schwieg einen Moment und setzte dann fast widerstrebend an: »Du ... du bringst mich zum Lachen. Vom ersten Moment an ... als du mich mit dieser Flasche geschlagen hast.«
»Das war ein Krug«, berichtigte Tessa automatisch. Wills Mundwinkel zuckten. »Zum Beispiel mit deiner Eigenart, mich ständig zu korrigieren ... mit diesem seltsamen Ausdruck im Gesicht. Oder als du Gabriel Lightwood angefahren hast. Und sogar, als du de Quincey in seine Schranken verwiesen hast. Du bringst mich zum ...« Er verstummte und schaute sie an und Tessa fragte sich, ob sie wohl so aussah, wie sie sich fühlte — vollkommen sprach- und atemlos.
»Lass mich mal deine Hände sehen, Tessa«, forderte er sie plötzlich auf.
Tessa hielt ihm ihre Hände entgegen, die Handflächen nach oben.
Dabei warf sie selbst kaum einen Blick darauf — sie konnte sich einfach nicht von seinem Gesicht losreißen.
»Da klebt ja noch Blut«, konstatierte Will. »Hier, an den Handschuhen.«
Tessa schaute nach unten: Er hatte recht. Sie trug noch immer Camilles weiße Lederhandschuhe, die jedoch mit Blut und Asche beschmiert waren und an den Fingerspitzen eingerissen — eine Folge ihrer vergeblichen Bemühungen, Nates Handfesseln zu lösen.
»Oh«, sagte sie leise und versuchte, ihre Hände zurückzuziehen, um die Handschuhe abzustreifen. Doch Will gab nur ihre linke Hand frei; die rechte hielt er weiterhin leicht am Handgelenk fest. An seinem rechten Zeigefinger steckte ein schwerer Silberring mit einer kunstvollen Gravur — Vögel, die hoch in den Lüften schwebten. Er hatte den Kopf gesenkt, sodass seine feuchten schwarzen Haare nach vorn fielen und sein Gesicht verdeckten. Behutsam strich er mit den Fingerspitzen über den Handschuh, der am Gelenk mit vier Perlmuttknöpfen geschlossen war. Als er seine Finger darübergleiten ließ, sprangen sie auf und die Kuppe seines Daumens streifte über die nackte Haut an Tessas Handwurzel, unter der ihre blauen Adern schimmerten.
Die Berührung ließ Tessa heftig zusammenzucken.
»Will.«
»Tessa«, sagte er leise. »Was willst du von mir?«, murmelte er. Dann streichelte er erneut die Innenseite ihres Handgelenks, was seltsame, elektrisierende, wundervolle Impulse durch ihre Haut und Nerven jagte.
»Ich ... ich möchte dich verstehen«, erwiderte Tessa mit zittriger Stimme.
Er hob den Kopf und betrachtete sie durch seine langen Wimpern. »Ist das wirklich erforderlich?«
»Ich ... weiß es nicht«, sagte Tessa. »Ich bin mir nicht sicher, ob überhaupt irgendjemand dich wirklich versteht — vielleicht abgesehen von Jem.«
»Jem versteht mich nicht«, erwiderte Will. »Er mag und sorgt sich um mich, so wie ein Bruder es täte. Aber das ist nicht dasselbe.« »Willst du denn nicht, dass er dich versteht?«
»Gütiger Gott, nein!«, stieß Will hervor. »Warum sollte er die Gründe dafür kennen, weshalb ich mein Leben so führe, wie ich es führe?«
»Vielleicht ... vielleicht möchte er ja auch nur einfach wissen, dass es überhaupt einen Grund gibt«, sagte Tessa.
»Spielt das denn eine Rolle?«, fragte Will leise und streifte mit einer raschen, geschickten Bewegung den Handschuh von ihrer Hand.
Die kühle Luft des Speichers traf schlagartig auf die nackte Haut ihrer Finger und ein Schauer jagte durch Tessas Körper, als stünde sie plötzlich vollkommen nackt in der Kälte.
»Spielen die Gründe noch eine Rolle, wenn man die Dinge doch nicht mehr ändern kann?«
Tessa suchte nach einer Antwort, doch ihr wollte keine einfallen. Sie zitterte am ganzen Körper, zitterte so sehr, dass sie kaum sprechen konnte.
»Ist dir kalt?« Will verschränkte seine Finger mit ihren und presste ihre Hand an seine Wange, deren fiebrige Hitze Tessa bestürzt zusammenzucken ließ.
»Tess«, murmelte er und seine Stimme klang vor Verlangen rau und sanft zugleich.
Und Tessa beugte sich zu ihm vor, schwankend wie ein Baum mit schneebeladenen Zweigen. Ihr ganzer Körper schmerzte, sehnte sich — sie sehnte sich, als befände sich tief in ihrem Inneren eine schreckliche Leere. Und sie war sich Wills Körper auf eine Weise bewusst, wie sie noch nie zuvor etwas anderes oder jemand anderen wahrgenommen hatte — das schwache Schimmern seiner blauen Augen unter den halb geschlossenen Lidern, der leichte Bartschatten um das Kinn, die verblassten weißen Narben auf seinen Schultern und an seiner Kehle. Und mehr als alles andere war sie sich seines Munds bewusst, mit den geschwungenen Konturen und der leichten Vertiefung in der Mitte. Als er sich langsam vorbeugte und sanft mit den Lippen über ihren Mund streifte, griff sie nach ihm und hielt sich an ihm fest, als würde sie sonst ertrinken.
Einen Moment lang pressten sich ihre Lippen heiß aufeinander und Will schob seine freie Hand in ihre Haare. Und als er schließlich die Arme um sie schlang und sie abrupt fest an sich zog, gegen den Widerstand ihres Kleides, dessen Saum sich in den Dielenbrettern verfangen hatte, rang Tessa nach Atem. Behutsam legte sie ihm die Hände um den Hals, der sich glühend heiß anfühlte. Durch das dünne, feuchte Gewebe seines Hemdes konnte sie die Muskeln seiner Schultern spüren, hart und geschmeidig.
Seine Finger fanden ihre mit Edelsteinen besetzte Haarspange und lösten sie, sodass ihre Haare weich auf ihre Schultern herabfielen und ihr einen kleinen, überraschten Aufschrei entlockten, seine Lippen noch immer auf ihren. Und dann, ohne jede Vorwarnung, riss er seine Hände von ihrem Körper und stieß Tessa so hart von sich, dass sie fast rückwärts umfiel und sich nur knapp auffangen konnte, die Hände auf den Boden hinter ihr gestützt.
Verwirrt starrte sie ihn an. Will hockte auf den Knien; seine Brust hob und senkte sich so heftig, als wäre er unglaublich schnell und weit gelaufen. Er war kreidebleich, bis auf zwei fiebrige Flecken auf seinen Wangen.
»Gott im Himmel!«, wisperte er. »Was war denn das?«
Tessa spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. War Will nicht derjenige, der eigentlich genau wissen musste, was das gewesen war? Und hätte sie nicht diejenige sein sollen, die ihn wegzustoßen hatte?
»Ich kann nicht.« Seine zu Fäusten geballten Hände lagen eng am Körper und bebten. »Tessa, ich denke, du solltest jetzt besser gehen«, stieß er hervor.
»Gehen?« Tessas Gedanken überschlugen sich. Sie hatte das Gefühl, als hätte sie an einem sicheren, warmen Ort verweilt und würde nun in eine dunkle, eisige Ödnis verstoßen. »Ich ... ich hätte nicht so kühn sein dürfen. Es tut mir leid ...«
Ein gequälter Ausdruck zuckte über sein Gesicht, als würde er einen starken Schmerz empfinden. »Großer ... Gott. Tessa.« Die Worte kamen nur mühsam über seine Lippen. »Bitte. Geh. Du kannst jetzt nicht hierbleiben. Es ... geht nicht.«
»Will, bitte ...«
»Nein.« Abrupt wandte er das Gesicht ab und heftete seinen Blick auf den Boden. »Morgen ... morgen werde ich dir alles erklären ... dir alles sagen, was du wissen willst. Aber jetzt lass mich bitte allein.« Seine Stimme brach. »Tessa. Ich bitte dich. Begreifst du denn nicht? Ich flehe dich an. Bitte, bitte geh!«
»Wie du wünschst«, erwiderte Tessa und bemerkte mit einer Mischung aus Verwunderung und Schmerz, dass die Anspannung seiner Schultern schlagartig nachließ. War es für ihn denn so schrecklich, sie hierzuhaben, und bedeutete das Wissen, dass sie gehen würde, solch eine Erleichterung? Langsam richtete sie sich auf; ihr Kleid hing kalt und feucht und schwer an ihr herab und ihre Schuhe rutschten fast auf den nassen Dielen aus. Will rührte sich nicht. Er kniete weiterhin auf dem Boden, den Blick starr nach unten gerichtet. Mit hoch erhobenem Kopf durchquerte Tessa den Speicher und stieg die Treppe hinab, ohne sich noch einmal umzusehen.
Kurze Zeit später lag sie auf ihrem Bett, während das fahle Licht des Londoner Sonnenaufgangs in ihr dunkles Zimmer fiel. Sie war zu erschöpft, um Camilles Kleidung abzulegen, sogar zu erschöpft, um Schlaf zu finden. In den vergangenen Stunden hatte sie vieles zum ersten Mal in ihrem Leben getan: Zum ersten Mal hatte sie ihre Fähigkeit gezielt und nach eigenem Ermessen eingesetzt — und das hatte sich sehr gut angefühlt, überlegte sie. Dann hatte sie zum ersten Mal eine Pistole abgefeuert. Und schließlich hatte sie etwas erlebt, von dem sie zuvor jahrelang geträumt hatte: ihren ersten Kuss.
Tessa drehte sich auf die Seite und vergrub das Gesicht in den Kissen. So viele Jahre hatte sie sich gefragt, wie ihr erster Kuss wohl sein mochte — ob derjenige, der ihn ihr gab, gut aussehen würde, ob er sie lieben, ob er sie gut behandeln würde. Aber niemals hätte sie sich vorgestellt, dass dieser Kuss so kurz und verzweifelt und wild ausfiele. Oder dass er nach Weihwasser schmecken würde — nach Weihwasser und Blut.