1 Das dunkle Haus

Jenseits dies’ Orts, voll Zorn und Tränen ragt auf der Alb der Schattenwelt.

William Ernest Henley, »Invictus«

Sechs Wochen später

»Die Schwestern wünschen, Sie in ihrem Zimmer zu sehen, Miss Gray.«

Tessa legte das Buch, in dem sie gelesen hatte, auf ihren Nachttisch und drehte sich zu Miranda um, die in der Tür der kleinen Kammer stand — so wie jeden Tag um diese Uhrzeit, wenn sie die Nachricht überbrachte, die sie jeden Tag überbrachte. In ein paar Sekunden würde Tessa sie bitten, im Flur auf sie zu warten, und dann würde Miranda den Raum verlassen. Zehn Minuten später würde sie jedoch zurückkehren und ihre Botschaft wiederholen. Und wenn Tessa nicht gehorsam mitkam, würde Miranda sie packen und hinter sich herziehen — da konnte Tessa sich noch so sehr mit Händen und Füßen dagegen wehren. Miranda würde sie die Treppe hinunterzerren und durch den Flur schleifen, bis zu dem stickig heißen, stinkenden Raum, wo die Dunklen Schwestern bereits auf sie warteten.

Genau so hatte es sich an jedem Tag der ersten Woche im »Dunklen Haus« abgespielt, wie Tessa das Gebäude, in dem sie gefangen gehalten wurde, inzwischen nannte. Bis sie irgendwann erkannt hatte, dass Schreien und Treten ihr nicht viel nützten und reine Kraftverschwendung waren — Kraft, die sie sich besser für andere Gelegenheiten aufsparen konnte.

»Einen Augenblick, Miranda«, sagte Tessa nun. Das Dienstmädchen machte einen ungelenken Knicks, ging aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Tessa stand auf und sah sich in dem kleinen Raum um, der seit den vergangenen sechs Wochen ihre Gefängniszelle darstellte. Die mit einer Blümchentapete versehene Kammer war winzig und äußerst spärlich möbliert: ein schlichter Holztisch mit einem weißen Spitzentischtuch, an dem sie all ihre Mahlzeiten einnahm; ein schmales Messingbett, in dem sie schlief; der abgenutzte Waschtisch mit der angestoßenen Porzellankanne, an dem sie sich wusch; die Fensterbank, die ihr als Bücherregal diente; und ein harter Stuhl, auf dem sie jeden Abend saß und die Briefe an ihren Bruder schrieb — Briefe, von denen sie wusste, dass sie sie nie würde abschicken können und die sie unter ihrer Matratze versteckte, wo die Dunklen Schwestern sie nicht finden würden. Diese Briefe dienten ihr als eine Art Tagebuch und Ausdruck ihrer Hoffnung, dass sie Nate eines Tages wiedersehen würde und sie ihm dann übergeben konnte.

Langsam ging sie zu dem Spiegel an der gegenüberliegenden Wand und glättete ihre Haare. Die Dunklen Schwestern — wie sie genannt zu werden wünschten — schätzten es nicht, wenn Tessa unordentlich wirkte. Darüber hinaus schienen sie sich aber nicht weiter für das Äußere des Mädchens zu interessieren ... ein Glück, denn der Anblick ihres Spiegelbilds ließ Tessa nun zusammenzucken. Graue, tiefliegende Augen starrten ihr aus dem blassen, ovalen Gesicht entgegen — ein erschöpftes, überschattetes Gesicht, ohne Farbe in den Wangen oder den Hauch einer Hoffnung in den Zügen.

Tessa trug das unvorteilhafte schwarze, gouvernantenhafte Kleid, das die Schwestern ihr nach der Ankunft in London gegeben hatten. Trotz der Versprechungen der beiden war Tessas Koffer nicht eingetroffen und dies war nun das einzige Kleidungsstück, das sie besaß. Rasch wandte Tessa den Kopf ab.

Ihr eigenes Spiegelbild hatte sie nicht immer zusammenzucken lassen. Zwar galt Nate mit seinem attraktiven Äußeren in der Familie als derjenige, der die Schönheit ihrer Mutter geerbt hatte, aber Tessa war mit ihren glatten braunen Haaren und den ruhigen grauen Augen auch recht zufrieden gewesen. Jane Eyre hatte braunes Haar gehabt und viele andere Romanheldinnen ebenfalls. Und es war auch gar nicht so schlimm, groß zu sein. Jedenfalls größer als die meisten Jungen ihres Alters ... das konnte man nicht abstreiten. Aber Tante Harriet hatte ihr stets eingeschärft, solange eine groß gewachsene Frau sich gerade hielt, würde sie immer hoheitsvoll wirken. Allerdings wirkte sie im Moment alles andere als hoheitsvoll, überlegte Tessa. Sie sah verhärmt und ungepflegt aus, wie eine verängstigte Vogelscheuche. Und sie fragte sich, ob Nate sie überhaupt erkennen würde, wenn er sie jetzt zu Gesicht bekäme.

Dieser Gedanke versetzte ihr einen Stich. Nate. Er war derjenige, für den sie das alles hier auf sich nahm, aber manchmal vermisste sie ihn so sehr, dass ihre Brust schmerzte, als hätte sie zerbrochenes Glas geschluckt. Ohne ihn war sie vollkommen allein auf der Welt. Es gab sonst niemanden, der für sie da war. Niemanden auf der ganzen Welt, den es kümmerte, ob sie noch lebte. Diese grauenvolle Vorstellung drohte sie manchmal zu überwältigen und in eine bodenlose Dunkelheit zu stoßen, aus der es kein Entrinnen gab. Wenn sich auf der ganzen Welt niemand für einen interessierte, existierte man dann überhaupt noch? Das Klicken des Türschlosses riss Tessa aus ihren Gedanken. Die Tür schwang auf und Miranda erschien auf der Schwelle.

»Es wird jetzt Zeit, dass Sie mitkommen«, sagte sie.

»Mrs Black und Mrs Dark warten bereits.«

Tessa musterte das Dienstmädchen widerwillig. Sie konnte einfach nicht abschätzen, wie alt Miranda war. Neunzehn? Fünfundzwanzig? Ihr glattes, rundes Gesicht hatte etwas Altersloses an sich und ihre Haare — übrigens von einer undefinierbaren Farbe — waren streng hinter die Ohren gekämmt. Genau wie der Kutscher der Dunklen Schwestern besaß auch Miranda hervorstehende Augen, sodass sie aussah, als wäre sie ständig überrascht. Die beiden mussten irgendwie verwandt sein, überlegte Tessa.

Als sie gemeinsam die Treppe hinunterstiegen —

Miranda mit ihrem hölzernen, schwerfälligen Gang zwei Schritte vor Tessa —, berührte Tessa rasch die Kette, an dem der Klockwerk-Engel hing. Die kurze Berührung war ihr inzwischen zur Gewohnheit geworden, eine Geste, die sie vor jedem erzwungenen Besuch bei den Dunklen Schwestern machte. Sie hielt den Engel fest umklammert, während sie nun Treppe für Treppe hinabstiegen und endlos lange Korridore passierten. Das Dunkle Haus besaß mehrere Etagen, aber außer dem Raum der Dunklen Schwestern, den Fluren und Treppenhäusern und ihrem eigenen Kämmerchen hatte Tessa noch keinen anderen Bereich zu Gesicht bekommen. Schließlich erreichten sie das dämmrige Kellergeschoss. Hier unten war die Luft muffig. Feuchtigkeit glitzerte an den klammen Wänden, was die Schwestern jedoch nicht zu stören schien. Ihr Büro lag in der Nähe der Treppe, geschützt hinter einer breiten Flügeltür, während ein schmaler Gang in die andere Richtung führte und sich in der Dunkelheit verlor. Tessa hatte keine Ahnung, was sich am Ende dieses Flurs befinden mochte, aber irgendetwas an der undurchdringlichen Finsternis der Schatten ließ sie nicht bedauern, dass sie es noch nicht herausgefunden hatte.

Die Tür zum Büro der Schwestern stand weit auf. Miranda stapfte, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, in den Raum, wohingegen Tessa ihr nur widerstrebend folgte. Sie hasste dieses Zimmer mehr als jeden anderen Ort auf der Welt.

Zunächst einmal war es darin immer heiß und feucht, wie in einem Sumpfgebiet, selbst wenn der Himmel vor Tessas Fenster grau und regnerisch wirkte. Die Wände schienen Schwitzwasser abzugeben und die Polsterung der Sessel und Sofas war klamm und stockfleckig. Außerdem roch es in diesem Raum seltsam, wie am Ufer des Hudson an einem heißen Tag: nach Wasser und Unrat und Schlick.

Wie üblich erwarteten die Schwestern sie bereits hinter ihrem riesigen, erhöhten Schreibtisch und wie üblich waren sie in bunt schillernde Farben gekleidet. Mrs Black hatte sich in ein leuchtend lachsrosa Kleid gezwängt, während Mrs Dark in einem pfauenblauen Gewand auf ihrem Platz thronte. Doch gegenüber den farbenprächtigen Satinstoffen wirkten ihre Gesichter wie graue, halb leere Ballons. Beide Frauen trugen wie immer Handschuhe — ganz gleich, wie stickig der Raum auch sein mochte.

»Du kannst gehen, Miranda«, sagte Mrs Black und setzte den schweren Messingglobus auf dem Schreibtisch mit einer trägen Bewegung ihres molligen, weiß behandschuhten Zeigefingers in Bewegung. Tessa hatte bereits mehrfach versucht, einen näheren Blick auf die Weltkugel zu werfen — irgendetwas an der Anordnung der Kontinente erschien ihr merkwürdig, vor allem der Bereich im Zentrum Europas —, doch die Schwestern hielten ihn sorgfältig von ihr fern. »Und schließ die Tür hinter dir.«

Mit ausdrucksloser Miene tat Miranda, wie ihr geheißen. Tessa bemühte sich, nicht zusammenzuzucken, als die Tür hinter dem Dienstmädchen ins Schloss fiel und damit auch den letzten Hauch einer Brise in diesem stickigen Raum ausschloss.

Mrs Dark neigte den Kopf zur Seite. »Komm her, Theresa.« Von den beiden Frauen war sie die freundlichere — sie versuchte eher, zu umschmeicheln und zu überreden, während ihre Schwester durch Schläge und böse gezischte Drohungen zu überzeugen gedachte. »Und nimm das hier«, fügte sie hinzu und hielt Tessa etwas entgegen.

Eine Schleife, wie Tessa sofort erkannte. Ein schäbiges Stück rosa Stoff, das vielleicht als Haarband eines jungen Mädchens gedient hatte.

Inzwischen war Tessa daran gewöhnt, dass die Dunklen Schwestern ihr irgendwelche Gegenstände reichten. Gegenstände, die einst anderen Leuten gehört hatten: Krawattennadeln und Taschenuhren, Trauerschmuck und Kinderspielzeug. Einmal ein Schnürsenkel, dann ein einzelner Ohrring, beide blutverschmiert.

»Nun nimm schon«, forderte Mrs Dark sie erneut auf, mit einem Hauch Ungeduld in der Stimme. »Und verwandle dich.«

Tessa nahm die Schleife. Sie lag leicht in ihrer Hand, leicht wie ein Schmetterlingsflügel, und die Dunklen Schwestern starrten sie ungeduldig an. Tessa erinnerte sich an einige Bücher, die sie gelesen hatte — Romane, in denen die Hauptfiguren vor Gericht standen, zitternd und betend, dass der Urteilsspruch der Richter im Old Bailey »nicht schuldig« lautete. Und wie oft hatte sie sich in diesem Raum selbst auf der Anklagebank gefühlt, ohne genau zu wissen, welches Verbrechen man ihr vorwarf.

Sie drehte die Schleife in der Hand und erinnerte sich an das erste Mal, als die Dunklen Schwestern ihr einen Gegenstand gereicht hatten: einen Damenhandschuh mit Perlmuttknöpfen am Handgelenk. Die beiden Frauen hatten sie angeschrien, sich endlich zu verwandein, sie geschlagen und geschüttelt, während Tessa mit wachsender Panik wieder und wieder beteuert hatte, sie wisse nicht, wovon die Schwestern redeten, und sie habe nicht die geringste Ahnung, was sie von ihr wollten.

Damals war sie nicht in Tränen ausgebrochen, obwohl ihr wirklich danach zumute gewesen war. Aber Tessa hasste es zu weinen, vor allem vor Leuten, denen sie nicht traute. Und von den wenigen Menschen auf der Welt, denen sie vertraute, war einer tot und der andere im Gefängnis. Die Dunklen Schwestern hatten ihr das erzählt. Sie hatten ihr versichert, dass sie Nate in ihrer Gewalt hätten und dass er sterben müsste, wenn Tessa nicht tat, was sie verlangten. Zum Beweis hatten sie ihr seinen Ring gezeigt, den Ring, der einst ihrem Vater gehört hatte und der nun blutverklebt war. Zwar hatten die Schwestern ihr nicht erlaubt, ihn in die Hand zu nehmen oder auch nur zu berühren, aber Tessa hatte den Ring trotzdem erkannt. Er gehörte zweifellos Nate.

Danach hatte sie alles getan, was die beiden Frauen von ihr verlangten. Sie hatte das bittere Gebräu geschluckt, das sie ihr gaben, die stundenlangen Übungen über sich ergehen lassen und sich gezwungen, so zu denken, wie es den Schwestern gefiel. Diese hatten ihr befohlen, sie solle sich selbst als einen Klumpen Ton betrachten, der auf der Töpferscheibe geformt und gestaltet wird; sie solle sich vorstellen, sie besäße eine strukturlose und wandelbare Gestalt. Dann hatten sie verlangt, Tessa solle sich tief in die ihr überreichten Gegenstände hineinversetzen, sie als Lebewesen betrachten und den Geist herauslocken, der in ihnen schlummerte.

Es hatte Wochen gedauert, und als Tessa sich schließlich zum ersten Mal verwandelt hatte, war dieses Erlebnis so unerträglich schmerzhaft gewesen, dass sie sich übergeben musste und dann das Bewusstsein verloren hatte. Als sie wieder zu sich gekommen war, hatte sie auf einem der stockfleckigen Sofas im Büro der Schwestern gelegen, ein feuchtes Tuch auf der Stirn. Mrs Black hatte sich über sie gebeugt, mit essigsaurem Atem und leuchtenden Augen.

»Das hast du gut gemacht, Theresa«, hatte sie gesagt.

»Sehr gut.«

Als Tessa an jenem Abend in ihr Zimmer zurückgekehrt war, hatten dort Geschenke für sie gelegen — zwei neue Bücher auf ihrem Nachttischchen. Offenbar hatten die Dunklen Schwestern erkannt, dass Tessas größte Leidenschaft das Lesen war, und ihr eine Ausgabe von Dickens’ Große Erwartungen und Louisa May Alcotts Roman Betty und ihre Schwestern besorgt. Tessa hatte die beiden Bücher an sich gedrückt und sich in der Einsamkeit ihres kleinen Zimmers gestattet, in Tränen auszubrechen.

Danach war es ihr leichter gefallen ... das Verwandeln. Zwar verstand Tessa noch immer nicht, was in ihrem Inneren dabei vor sich ging, aber sie hatte sich die Schritte eingeprägt, die die Dunklen Schwestern sie gelehrt hatten — so wie sich ein Blinder die Anzahl der Schritte merkt, die er vom Bett zur Schlafzimmertür benötigt. Tessa wusste nicht, was sich um sie herum an diesem seltsamen dunklen Ort befand, den sie auf Geheiß der Schwestern aufsuchen musste, aber sie kannte den Weg, der durch ihn hindurchführte.

Diese Erinnerungen nahm sie nun zu Hilfe und schloss ihre Finger fest um das verschlissene rosa Haarband in ihrer Hand. Dann öffnete sie ihren Geist und ließ die Dunkelheit über sich hereinbrechen. Sie ließ sich durch die Verbindung führen, die sie mit der Schleife und dem darin innewohnenden Geist — das geisterhafte Echo der früheren Besitzerin des Gegenstands — untrennbar verknüpfte, ließ sich wie von einem leuchtend goldenen Faden durch die Schatten geleiten. Der Raum, in dem sie sich befand, die stickige Hitze, die schnaufende Atmung der Dunklen Schwestern, all dies versank um sie herum, während sie dem Faden folgte und das Licht immer heller leuchtete, bis es sie schließlich umhüllte wie eine wärmende Decke. Ihre Haut begann, zu prickeln und dann zu brennen, als würden Tausende winziger Nadeln hineinstechen. Diese Phase der Verwandlung war anfangs der schlimmste Teil gewesen — jener Teil, der Tessa davon überzeugte, dass sie jeden Moment sterben würde. Doch inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt und ertrug diese Phase mit stoischer Gelassenheit, während ihr ganzer Körper zu zittern begann. Der KlockwerkEngel an ihrem Hals schien schneller zu ticken, wie im Einklang mit dem Rhythmus ihres pochenden Herzens. Und der Druck unter ihrer Haut stieg immer mehr an, bis Tessa schließlich aufstöhnte und die geschlossenen Augen aufriss, wobei sich die aufgestaute Spannung schlagartig entlud.

Es war vollbracht.

Tessa blinzelte benommen. Der erste Moment nach der Verwandlung erinnerte sie immer an das Auftauchen aus einem Badezuber, mit winzigen Wasserperlen, die an den Wimpern hafteten. Langsam schaute sie an sich herab: Ihre neue Gestalt wirkte zart, fast schon zerbrechlich, und der Stoff ihres Kleides hing lose an ihr herab und warf Falten auf dem Boden. Tessas Blick fiel auf ihre Hände, die sie vor der Brust zusammengepresst hatte — bleiche, dünne Hände mit gesprungenen Fingerspitzen und abgekauten Nägeln, unbekannte, fremde Hände.

»Wie heißt du?«, fragte Mrs Black herrisch. Sie war aufgestanden und schaute aus blassen, brennenden, fast schon gierigen Augen auf Tessa herab.

Tessa brauchte nicht zu reagieren: Das Mädchen, dessen Haut sie trug, antwortete für sie und sprach durch sie, so wie Geister offenbar durch ein Medium kommunizierten. Aber Tessa gefiel dieser Vergleich nicht — die Verwandlung war so viel intimer und so viel furchteinflößender. »Emma«, erwiderte die Stimme aus ihrem Inneren nun. »Miss Emma Bayliss, Madam.«

»Und wer bist du, Emma Bayliss?«

Die Stimme antwortete und die Worte ergossen sich aus Tessas Mund und brachten lebendige Bilder mit sich: Emma war in Cheapside zur Welt gekommen, als eines von sechs Kindern. Ihr Vater war tot und ihre Mutter verkaufte im East End Pfefferminzwasser von einem Handkarren. Schon als kleines Kind hatte Emma gelernt, durch Näharbeiten ihren Teil zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Bis spätabends saß sie an dem niedrigen Küchentisch und nähte Säume im Schein einer Talgkerze. Und manchmal, wenn der Stummel vollständig herabgebrannt war und die Familie kein Geld zum Kauf einer neuen Kerze besaß, ging das Mädchen hinaus auf die Straße und hockte sich unter eine der städtischen Gaslaternen, um dort ihre Arbeit fortzusetzen ...

»War das der Grund, warum du dich in der Nacht deines Todes auf der Straße herumgetrieben hast, Emma Bayliss?«, fragte Mrs Dark. Sie lächelte matt und fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe, als könne sie die Antwort förmlich erahnen.

Plötzlich sah Tessa eine schmale dunkle Gasse vor sich, mit weißen Nebelschwaden, und eine silberne Nadel, die im schwachen Schein des gelblichen Gaslichts auf und ab wippte. Dann ertönten Schritte, gedämpft durch den dichten Smog. Hände griffen aus den Schatten nach ihr, packten sie an den Schultern, zerrten sie in die Dunkelheit. Sie schrie auf. Das Nähzeug rutschte ihr aus den Fingern und die rosa Schleife fiel aus ihren Haaren, während sie sich verzweifelt wehrte. Eine harsche Stimme schrie sie wütend an. Und dann blitzte die silberne Klinge eines Messers auf, schlitzte ihre Haut auf, ließ das Blut aufspritzen. Ein Schmerz so brennend wie Feuer und nie gekannte Furcht durchfuhren ihren Körper. In Todesangst schlug sie um sich und es gelang ihr, dem Mann, der sie festhielt, den Dolch aus der Hand zu treten. Mit dem Mut der Verzweiflung raffte sie die Waffe an sich und rannte fort, so schnell sie konnte, während das Blut immer schneller aus der klaffenden Wunde strömte und sie immer schwächer wurde. Mühsam schleppte sie sich in einen Durchgang, wo sie schließlich zusammenbrach. Plötzlich hörte sie ein heiseres Zischen hinter sich. Sie wusste instinktiv, dass irgendetwas ihr gefolgt war, und sie hoffte inständig, dass sie sterben würde, bevor es sie eingeholt hatte ... Die Verwandlung zerbrach wie springendes Glas. Mit einem Aufschrei stürzte Tessa auf die Knie und die zerrissene kleine Schleife glitt ihr aus der Hand. Sie befand sich wieder in ihrem eigenen Körper —

Emma war verschwunden, wie eine abgelegte Haut. Tessa war wieder sie selbst.

Aus weiter Ferne drang Mrs Blacks Stimme zu ihr:

»Theresa? Wo ist Emma?«

»Sie ist tot«, wisperte Tessa. »Sie ist in einer Gasse gestorben ... verblutet.«

»Gut«, schnaufte Mrs Dark zufrieden. »Gut gemacht, Theresa. Das war sehr gut.«

Tessa schwieg. Die Vorderseite ihres Kleids war mit Blut bespritzt, aber sie spürte keinen Schmerz: Sie wusste, dass es sich dabei nicht um ihr eigenes Blut handelte. Schließlich geschah dies nicht zum ersten Mal ... Taumelnd schloss sie die Augen und zwang sich, nicht das Bewusstsein zu verlieren.

»Wir hätten sie viel eher dazu auffordern sollen«, sagte Mrs Black. »Das Schicksal dieses Mädchens, dieser Emma, hat mich die ganze Zeit beschäftigt.«

»Ich war mir nicht sicher, ob sie schon dazu in der Lage war«, erwiderte Mrs Dark kurz angebunden.

»Du erinnerst dich ja wohl noch an den Vorfall mit dieser Mrs Adams, oder?«

Tessa wusste sofort, wovon die beiden Schwestern sprachen. Wochen zuvor hatte sie sich in eine Frau verwandelt, die an einem Schuss mitten ins Herz gestorben war. Das Blut hatte sich in Strömen über ihr Kleid ergossen und Tessa hatte sich umgehend zurückverwandelt und hysterisch geschrien und geschluchzt, bis die Schwestern ihr begreiflich gemacht hatten, dass sie unverletzt war.

»Aber seitdem hat sie hervorragende Fortschritte gemacht, meinst du nicht, Schwesterherz?«, erwiderte Mrs Black. »Wenn man bedenkt, in welchem Zustand sie zu uns gekommen ist. Sie wusste ja nicht einmal,

was sie war.«

»In der Tat: Sie war vollkommen ungeformter Ton«, pflichtete Mrs Dark ihr bei. »Wir haben hier wahrhaftig ein Wunder vollbracht. Ich wüsste nicht, warum der Magister nicht äußerst zufrieden mit uns sein sollte.«

Mrs Black schnappte nach Luft. »Soll das heißen ... Glaubst du wirklich, es ist so weit?«

»Oh, ja, unbedingt, liebes Schwesterherz. Sie ist so weit. Für unsere kleine Theresa wird es Zeit, ihren Herrn und Meister kennenzulernen.« Eine selbstgefällige Freude schwang in Mrs Darks Stimme mit, ein unangenehmer Klang, der Tessa aus ihrer Benommenheit riss. Von wem redeten die beiden? Wer war dieser Magister? Zwischen halb geschlossenen Lidern sah sie, wie Mrs Dark an dem seidenen Klingelzug riss, der Miranda herbeirufen würde, damit diese Tessa auf ihr Zimmer zurückbrachte. Offenbar war der Unterricht für heute beendet.

»Möglicherweise morgen«, murmelte Mrs Black,

»oder vielleicht sogar heute Abend. Wenn wir den Magister wissen lassen, dass sie bereit ist, kann ich mir nicht vorstellen, dass er nicht unverzüglich hierher eilt.«

Mrs Dark trat kichernd hinter dem Schreibtisch hervor. »Ich verstehe ja, dass du es kaum erwarten kannst, für all unsere Mühen entlohnt zu werden, liebe Schwester. Aber Theresa sollte nicht nur bereit sein. Sie sollte auch ... präsentabel sein. Meinst du nicht auch?«

Mrs Black, die ihrer Schwester gefolgt war, murmelte eine Antwort, die jedoch unterbrochen wurde, als die Tür aufging und Miranda in den Raum marschierte, mit demselben stumpfsinnigen Gesichtsausdruck wie immer. Tessas Anblick, die blutüberströmt auf dem Boden kauerte, schien sie nicht im Geringsten zu überraschen. Andererseits hatte sie in diesem Raum wahrscheinlich schon viel schlimmere Dinge gesehen, dachte Tessa.

»Bring das Mädchen zurück auf sein Zimmer, Miranda.« Der begierige Unterton in Mrs Blacks Stimme war verschwunden und der üblichen Schroffheit gewichen. »Hol die Sachen ... du weißt schon ... die, die wir dir gezeigt haben ... und sorge dafür, dass sie entsprechend gekleidet und frisiert ist.«

»Die Sachen ... die Sie mir gezeigt haben?«, fragte Miranda verständnislos.

Mrs Dark und Mrs Black tauschten einen angewiderten Blick und stellten sich so vor Miranda, dass sie Tessas Sicht versperrten. Dann hörte Tessa, wie sie dem Mädchen etwas zuzischten, und schnappte dabei ein paar Worte auf: »Roben« und »Kleiderkammer« und »Sorge mit allen Mitteln dafür, dass sie hübsch aussieht«. Und schließlich hörte Tessa den ziemlich bissigen Kommentar: »Ich bin mir nicht sicher, ob Miranda schlau genug ist, um solcherart vagen Anordnungen Folge zu leisten, Schwesterherz.«

»Sorge dafür, dass sie hübsch aussieht.« Aber wieso interessierten sich die Schwestern plötzlich dafür, dass sie hübsch aussah — wenn sie sie doch zwingen konnten, jede gewünschte Gestalt anzunehmen? Was spielte es für eine Rolle, wie sie tatsächlich aussah? Und warum sollte das diesen Magister kümmern? Allerdings ließ das Verhalten der Schwestern darauf schließen, dass er ihres Erachtens Wert auf ein attraktives Äußeres legte.

Mrs Black rauschte aus dem Zimmer, ihre Schwester wie üblich im Kielsog. An der Tür hielt Mrs Dark plötzlich inne und drehte sich noch einmal zu Tessa um. »Denke daran, Theresa, dass dieser Tag, dieser Abend, das Ziel all unserer Anstrengungen ist.« Dann raffte sie mit ihren knochigen Fingern ihre Röcke und fügte hinzu: »Und wehe dir, du enttäuschst uns!« Eine Sekunde später fiel die Tür hinter ihr mit einem Knall ins Schloss.

Tessa zuckte zusammen, wogegen Miranda wie üblich vollkommen unbeeindruckt wirkte. Während der ganzen Wochen im Dunklen Haus war es Tessa nicht ein einziges Mal gelungen, das andere Mädchen zu erschrecken oder zu einer überraschten, unbedachten Reaktion zu verleiten.

»Kommen Sie«, sagte Miranda nun. »Wir müssen nach oben gehen.«

Langsam richtete Tessa sich auf. Ihre Gedanken überschlugen sich förmlich. Ihr Dasein im Dunklen Haus war zwar schrecklich gewesen, aber sie hatte sich fast daran gewöhnt, wie sie nun schlagartig erkannte. Denn sie hatte jeden Tag gewusst, was sie erwartete. Und natürlich war ihr bewusst gewesen, dass die Dunklen Schwestern sie für irgendetwas vorbereiteten, aber sie hatte keine Ahnung gehabt, was dieses »Etwas« sein mochte. Irgendwie hatte sie geglaubt, dass die beiden sie nicht töten würden — was vielleicht sehr naiv gewesen war. Andererseits: Warum sollten die Schwestern sich all die Mühe mit ihrer Ausbildung geben, wenn sie ohnehin dem Tode geweiht war?

Doch irgendetwas in Mrs Darks selbstgefälligem Ton ließ Tessa nachdenklich werden. Irgendetwas hatte sich verändert. Die Schwestern hatten erreicht, was sie mit ihr hatten erreichen wollen. Nun würden sie »entlohnt« werden. Aber wer war derjenige, der sie entlohnen würde?

»Kommen Sie«, wiederholte Miranda. »Wir müssen Sie für den Magister bereit machen.«

»Miranda ...«, setzte Tessa mit sanfter Stimme an, so als spräche sie mit einer nervösen Katze. Zwar hatte Miranda noch keine einzige von Tessas Fragen beantwortet, aber das bedeutete ja nicht, dass man es nicht noch einmal versuchen konnte. »Miranda ... wer ist der Magister?«

Stille machte sich breit, eine lange Stille, während der Miranda mit ausdruckslosem Gesicht vor sich hin starrte. Doch dann erwiderte das Mädchen zu Tessas Überraschung: »Der Magister ist ein sehr bedeutender Mann. Es wird eine große Ehre für Sie sein, wenn Sie mit ihm vermählt werden.«

»Vermählt?«, stieß Tessa hervor. Der Schock war so groß, dass sie den Raum plötzlich glasklar sehen konnte: Miranda, den blutbespritzten Teppich auf dem Boden, den schweren Messingglobus auf dem Schreibtisch, noch immer in der leicht geneigten Position, in der Mrs Black ihn zurückgelassen hatte. »Ich? Heiraten? Aber ... wer ist er denn überhaupt?«

»Er ist ein sehr bedeutender Mann«, wiederholte Miranda. »Es wird eine große Ehre sein.« Sie ging auf Tessa zu. »Sie müssen jetzt mitkommen.«

»Nein.« Tessa wich vor dem anderen Mädchen zurück, bis sie mit dem unteren Rücken schmerzhaft gegen die Schreibtischkante stieß. Verzweifelt sah sie sich um. Sie könnte zwar zu fliehen versuchen, aber sie würde niemals an Miranda vorbeikommen, die die Tür blockierte. Und der Raum besaß weder Fenster noch Türen zu benachbarten Zimmern. Wenn sie sich hinter dem Schreibtisch verschanzte, würde Miranda sie einfach hervorzerren und auf ihr Zimmer schleifen.

»Miranda, bitte.«

»Sie müssen jetzt mitkommen«, wiederholte Miranda lediglich und marschierte unaufhaltsam auf Tessa zu.

Tessa konnte in den schwarzen Pupillen des Dienstmädchens bereits ihr eigenes Spiegelbild erkennen, konnte den leicht bitteren, fast verbrannten Geruch wahrnehmen, der in Mirandas Kleidern hing.

»Sie müssen ...«

Mit einer Kraft, die sie sich selbst nie zugetraut hätte, riss Tessa den Messingglobus vom Schreibtisch, hob ihn hoch und schlug ihn Miranda mit voller Wucht über den Schädel.

Der massive Fuß traf mit einem übelkeiterregenden Klang gegen die Stirn des Mädchens. Miranda taumelte rückwärts — und richtete sich dann auf. Tessa schrie erschrocken auf, ließ den Globus fallen und starrte entsetzt auf das Mädchen: Die gesamte linke Gesichtshälfte war zerschlagen wie eine eingedrückte Maske aus Pappmaschee. Der linke Wangenknochen war zertrümmert, die Lippe gegen die Zähne gequetscht. Aber es floss kein Blut, nicht ein einziger Tropfen.

»Sie müssen jetzt mitkommen«, sagte Miranda, im selben ausdruckslosen Ton wie immer.

Tessa starrte sie mit offenem Mund an.

»Sie müssen mitko... Sie m-müssen ... Sie ... Sie ... Sssssssss ...« Mirandas Stimme bebte und brach. Und dann gab sie nur noch unverständliches Gebrabbel von sich. Langsam bewegte sie sich auf Tessa zu, wandte sich dann aber ruckartig zur Seite, zuckend und taumelnd. Tessa löste sich vom Schreibtisch und wich tiefer in den Raum zurück, während das verletzte Mädchen sich nun um die eigene Achse drehte, schneller und schneller. Miranda torkelte durch das Büro der Schwestern wie eine Betrunkene, stieß schrille Schreie aus und prallte schließlich so heftig gegen die gegenüberliegende Wand, dass sie das Bewusstsein verlor. Krachend ging sie zu Boden und lag dann vollkommen reglos da.

Tessa stürzte zur Tür hinaus in den Flur und schaute sich nur noch einmal kurz um. Es hatte den Anschein, als ob schwarzer Qualm aus Mirandas Körpermitte aufstieg, aber Tessa nahm sich nicht die Zeit, genauer hinzusehen. Fluchtartig stürmte sie durch den Korridor und ließ die Tür hinter sich sperrangelweit offen stehen.

Als sie die Treppe erreichte und hinaufrannte, wäre sie fast über ihre Röcke gestolpert und schlug mit dem Knie gegen eine der harten Stufen. Der Schmerz ließ sie aufstöhnen, doch sie rappelte sich auf und stürmte weiter nach oben bis zum ersten Treppenabsatz, wo sie sich zum Korridor wandte. Der Gang lag lang und gewunden vor ihr und verlor sich irgendwo in den Schatten. Während Tessa weiterrannte, erkannte sie, dass der Korridor von zahlreichen Türen flankiert wurde. Sie hielt kurz inne und rüttelte an einer der Türen, doch diese war fest verschlossen. Und auch die nächste Tür und die darauf folgenden ließen sich nicht öffnen.

Am Ende des Korridors befand sich eine weitere Treppe. Tessa rannte die Stufen hinunter und fand sich schließlich in der Eingangshalle wieder. Dieser Bereich sah aus, als wäre er einst imposant und prächtig gewesen: Der Boden bestand aus großen, nun allerdings geborstenen und fleckigen Marmorplatten und vor den hohen Fenstern auf beiden Seiten hingen schwere Vorhänge. Ein schmaler Lichtstrahl drang durch den Stoff und fiel auf eine gewaltige Haustür. Tessas Herz machte einen Satz. Sie stürzte auf die Tür zu, drehte den Knauf und stieß die Flügeltüren auf. Dahinter kam eine enge kopfsteingepflasterte Gasse zum Vorschein, mit schmalen Reihenhäusern auf beiden Seiten. Der Geruch der Stadt traf Tessa wie ein Schlag — es war so lange her, dass sie Gelegenheit gehabt hatte, frische Luft zu atmen. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und hüllte den Himmel in ein dunkelblaues Zwielicht, durch das Nebelschwaden zogen. In der Ferne konnte Tessa Stimmen hören, das Kreischen spielender Kinder, das Klappern von Pferdehufen. Aber die Straße vor ihr war menschenleer — bis auf einen Mann, der wenige Schritte entfernt an einer Gaslaterne lehnte und im Lichtschein eine Zeitung las.

Tessa stürmte die Stufen hinunter auf den Fremden zu und packte ihn am Ärmel. »Bitte, Sir, bitte helfen Sie mir ...«

Der Fremde drehte sich um und schaute auf sie herab.

Tessa unterdrückte einen Schrei. Das Gesicht des Mannes war weiß und wächsern, wie an jenem Tag, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, am Kai in Southampton. Seine hervorstehenden Augen erinnerten Tessa an Miranda und seine Zähne schimmerten metallisch, als ein breites Grinsen über sein Gesicht zog.

Es war der Kutscher der Dunklen Schwestern.

Tessa wirbelte herum, um zu fliehen, doch es war bereits zu spät.

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