20 Ein Furcht Einflössendes Wunder

Doch jeder tötet, was er liebt,

Das hört nur allzumal!

Der tut’s mit einem giftigen Blick

Und der mit dem Schmeichelwort schmal.

Der Feigling tut es mit dem Kuss,

Der Tapfre mit dem Stahl.

Oscar Wilde, »Die Ballade vom Zuchthaus zu Reading«

Rote Runenmale galten den Schattenjägern als Zeichen der Trauer — doch die Farbe des Todes war Weiß.

Tessa hatte dies nicht gewusst und auch nichts im Codex darüber gelesen. Daher beobachtete sie mit einiger Verblüffung vom Fenster der Bibliothek aus, wie die fünf Schattenjäger des Instituts aus dem Gebäude traten und die Trauerkutsche bestiegen — allesamt in Weiß gekleidet wie eine Hochzeitsgesellschaft. Bei der Ausräucherung von de Quinceys Vampirnest hatten mehrere Mitglieder der Brigade ihr Leben verloren und das Begräbnis fand nun in ihrem Namen statt, aber gleichzeitig wurden auch Thomas und Agatha zu Grabe getragen. Charlotte hatte Tessa erklärt, dass Nephilim-Bestattungen im Allgemeinen den Schattenjägern vorbehalten waren, aber in besonderen Fällen eine Ausnahme gemacht werden konnte für diejenigen, die in Ausübung ihres Dienstes für den Rat gestorben waren.

Andere Institutsbewohner durften dagegen nicht an der Totenfeier teilnehmen. Sophie hatte gegenüber Tessa geäußert, dass dies auch besser sei, weil sie ohnehin nicht zusehen wollte, wie Thomas verbrannt und seine Asche in der Stadt der Stille verstreut wurde. »Ich möchte ihn lieber so in Erinnerung behalten, wie ich ihn zuletzt gesehen habe ... und Gleiches gilt für Agatha«, hatte sie gemurmelt.

Die Brigade hatte eine Wache zurückgelassen — mehrere Schattenjäger, die sich freiwillig gemeldet hatten und nun das Institut sicherten. Es würde eine ganze Weile dauern, bis die Nephilim das Gebäude jemals wieder unbewacht ließen, überlegte Tessa. Sie hatte sich die Zeit bis zur Rückkehr der anderen mit Lesen vertrieben — allerdings nicht mit einer Lektüre, die mit den Nephilim oder mit Dämonen und Schattenweltlern zu tun hatte. Stattdessen hatte sie sich mit einer Ausgabe von Eine Geschichte aus zwei Städten, die sie zwischen Charlottes Sammlung von Dickens’ Werken gefunden hatte, in eines der Erkerfenster der Bibliothek zurückgezogen. Doch Tessa musste sich immer wieder zwingen, nicht an Mortmain zu denken, nicht an Thomas und Agatha oder an die Dinge, die Mortmain ihr gegenüber im Sanktuarium geäußert hatte. Und vor allem durfte sie nicht über Nathaniel nachdenken oder daran, wo er jetzt stecken mochte — jeder Gedanke an ihren Bruder schnürte ihr die Kehle zu und trieb ihr die Tränen in die Augen. Aber das war längst nicht alles, was sie beschäftigte: Zwei Tage zuvor hatte sie vor einer Abordnung der Nephilim-Gemeinschaft in der Institutsbibliothek erscheinen müssen. Ein Mann, den die anderen Schattenjäger als »Inquisitor« bezeichneten, hatte sie verhört und immer wieder Fragen zu dem Zeitraum gestellt, den sie mit Mortmain im Sanktuarium verbracht hatte — wieder und wieder, auf der Suche nach kleinsten Veränderungen im Ablauf ihrer Geschichte, bis Tessa schließlich vollkommen erschöpft war. Der Inquisitor hatte alles über die Taschenuhr wissen wollen, die Mortmain ihr aufzudrängen versucht hatte, und mehrfach nachgehakt, ob Tessa vielleicht wüsste, wem der Chronometer einst gehört habe oder wofür die Initialen J.T.S. stünden. Nein, sie wusste es nicht, und da Mortmain die Uhr bei seinem Verschwinden mitgenommen hatte, würde sich daran wahrscheinlich auch nichts ändern, hatte Tessa irgendwann spitz bemerkt.

Der Inquisitor hatte auch Will verhört und ihn gefragt, was Mortmain vor seinem Verschwinden zu ihm gesagt habe. Will hatte die Vernehmung mit mürrischer Ungeduld ertragen und war schließlich mit einem Verweis wegen grober Unhöflichkeit und Gehorsamsverweigerung entlassen worden — was jedoch niemanden überraschte.

Der Inquisitor hatte sogar verlangt, dass Tessa ihre Kleidung ablegen sollte, damit man sie auf ein Lilithmal absuchen konnte, doch Charlotte hatte diesem Ansinnen rasch einen Riegel vorgeschoben. Als Tessa endlich hatte gehen dürfen, war sie Will in den Flur nachgeeilt, hatte ihn aber nicht mehr zu Gesicht bekommen. Seitdem waren zwei Tage vergangen und in dieser Zeit war sie ihm nur selten begegnet und hatte auch keine Gelegenheit gehabt, mehr als nur ein paar höfliche Worte in Gegenwart anderer mit ihm zu tauschen. Jedes Mal, wenn sie in seine Richtung gesehen hatte, hatte er sofort weggeschaut. Und wenn sie den Raum verlassen hatte, in der Hoffnung, er würde ihr folgen, war er einfach sitzen geblieben. Es war zum Verrücktwerden!

Natürlich fragte Tessa sich, ob sie vielleicht die Einzige sei, die glaubte, dass sich im Sanktuarium zwischen ihnen beiden etwas ganz Besonderes ereignet hatte. Sie war aus einer Ohnmacht erwacht, die schwärzer gewesen war als bei jeder anderen Verwandlung zuvor, und hatte sich in Wills Armen wiedergefunden. Aus seinen Augen hatte eine solch abgrundtiefe Verzweiflung gesprochen, wie sie es niemals für möglich gehalten hätte — und die Art und Weise, wie er ihren Namen gewispert und sie angesehen hatte, konnte doch nicht rein ihrer Fantasie entsprungen sein, oder?

Nein, Will lag etwas an ihr, so viel war sicher. Zugegeben, er hatte sich ihr gegenüber seit ihrer ersten Begegnung fast die ganze Zeit unhöflich benommen, aber andererseits war dies in Romanen gleichfalls an der Tagesordnung. Man musste sich doch nur einmal vor Augen führen, wie grob Darcy Elizabeth Bennet behandelt hatte, bevor er um ihre Hand anhielt — und im Grunde genommen sogar noch während seines Heiratsantrags. Und Heathcliff hatte sich Cathy gegenüber nie anders als unhöflich verhalten. Andererseits musste Tessa natürlich einräumen, dass in Dickens’ Eine Geschichte aus zwei Städten sowohl Sydney Carton als auch Charles Darnay immer sehr freundlich zu Lucie Manette gewesen waren. »Und doch gab ich der Schwäche nach und sie hat noch immer Macht über mich zu wünschen, dass Sie erfahren möchten, mit welcher plötzlichen Gewalt Sie den Aschenhaufen, der ich bin, in helle Lohe umgewandelt haben ...«

Das Beunruhigende an der ganzen Geschichte war die Tatsache, dass Will sie seit der Nacht im Sanktuarium kein einziges Mal mehr angesehen oder ihren Namen ausgesprochen hatte. Tessa glaubte, den Grund dafür zu kennen — die Art und Weise, wie Charlotte sie betrachtete und wie alle anderen in ihrer Gegenwart plötzlich verstummten, hatte sie darauf gebracht. Es war offensichtlich: Die Schattenjäger würden sie fortschicken.

Und warum sollten sie das auch nicht tun? Das Institut war für Nephilim bestimmt, nicht für Schattenwesen. In der kurzen Zeit, die sie nun schon im Institut weilte, hatte sie nichts als Tod und Zerstörung über die Nephilim gebracht — und Gott allein wusste, was noch geschehen würde, wenn sie blieb. Natürlich konnte sie sonst nirgends unterkommen und sich auch an niemand anderen wenden, aber warum sollten die Schattenjäger sich dafür interessieren? Gesetz war schließlich Gesetz und daran ließ sich nun mal nicht rütteln. Vielleicht würde sie am Ende ja doch noch mit Jessamine unter einem Dach landen, in irgendeinem Stadthaus in Belgravia. Es gab weiß Gott schlimmere Schicksale.

Das Rattern der Kutsche auf dem Kopfsteinpflaster im Innenhof riss Tessa aus ihren düsteren Gedankengängen: Die Schattenjäger waren aus der Stadt der Stille zurückgekehrt. Sophie eilte die Treppe hinunter, um sie an der Tür zu begrüßen, während Tessa durch das Fenster zusah, wie die fünf Nephilim der Reihe nach aus der Kutsche kletterten.

Henry legte einen Arm um Charlotte, die sich eng an ihn lehnte. Dann folgte Jessamine, mit einem hellen Blütenkranz in den blonden Haaren. Normalerweise hätte Tessa ihr Erscheinungsbild bewundert — wenn sie nicht insgeheim den Verdacht gehegt hätte, dass Jessamine Begräbnisse genoss, weil sie wusste, dass sie in Weiß ganz besonders hübsch wirkte. Als Nächster stieg Jem aus der Kutsche und schließlich Will. Die beiden sahen aus wie zwei Figuren aus einem seltsamen Schachspiel: Sowohl Jems silbernes Haar als auch Wills zerzauste schwarze Locken setzten sich deutlich von der hellen Kleidung ab. Weißer Ritter und schwarzer Ritter, dachte Tessa, während die beiden jungen Männer die Stufen hinaufstiegen und im Haus verschwanden.

Tessa hatte kaum ihr Buch auf die Sitzbank neben sich gelegt, als sich die Tür auch schon öffnete und Charlotte den Raum betrat — ganz darauf konzentriert, die langen Handschuhe abzustreifen. Ihr Hut war verschwunden und ihre braunen Haare umrahmten ihr kleines Gesicht in wild gekräuselten Locken.

»Ich habe mir schon gedacht, dass ich dich hier finden würde«, sagte sie, durchquerte den Raum und ließ sich gegenüber von Tessas Fensterbank in einen Sessel sinken. Müde warf sie die weißen Glacehandschuhe auf den kleinen Beistelltisch und seufzte.

»War es ...«, setzte Tessa an.

»Schrecklich? Ja. Ich hasse Begräbnisse, obwohl der Erzengel weiß, dass ich bereits an Dutzenden teilgenommen habe.« Charlotte schwieg einen Moment und biss sich auf die Lippe. »Jetzt klinge ich schon wie Jessamine. Vergiss einfach, was ich gesagt habe, Tessa. Verzicht und Tod sind Teil eines jeden Schattenjägerlebens und ich habe das seit jeher akzeptiert.«

»Ich weiß.« Eine seltsame Stille breitete sich aus und Tessa glaubte, ihr Herz dumpf und hohl schlagen zu hören, wie das Ticken einer Standuhr in einem großen, leeren Raum.

»Tessa ...«, begann Charlotte.

»Ich weiß, was du sagen willst, Charlotte, und es ist schon in Ordnung.«

Charlotte blinzelte verwirrt. »Du weißt ...? Und es ist in Ordnung?«

»Du möchtest, dass ich gehe«, erklärte Tessa. »Ich weiß, dass du vor dem Begräbnis eine Unterredung mit dem Rat hattest. Jem hat es mir erzählt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Nephilim es gutheißen würden, wenn du mir erlaubst zu bleiben. Nach all dem Schrecken und Kummer, den ich euch bereitet habe: Nate. Thomas und Agatha ...«

»Der Rat interessiert sich nicht für Thomas und Agatha.«

»Na, dann das Entwenden der Pyxis.«

»Das schon eher«, erwiderte Charlotte gedehnt.

»Tessa, ich glaube, du hast eine völlig falsche Vorstellung. Ich bin nicht gekommen, um dich zum Gehen aufzufordern. Ich möchte dich vielmehr bitten zu bleiben.«

»Zu bleiben?« Tessa hörte die Worte, doch sie ergaben für sie keine Bedeutung — Charlotte konnte sie unmöglich ernst gemeint haben. »Aber der Rat, die Schattenjäger ... Sie müssen doch schrecklich wütend sein ...«

»Oh ja, das sind sie auch«, bestätigte Charlotte.

»Aber auf Henry und mich. Wir haben uns von Mortmain täuschen lassen. Er hat uns benutzt und zu seinen Werkzeugen gemacht — und wir haben es ihm gestattet. Ich war so stolz auf mich, auf die kluge und geschickte Art, wie ich die Sache in die Hand genommen hatte. So stolz, dass es mir nie in den Sinn gekommen wäre, Mortmain könnte in Wahrheit die Fäden in der Hand halten. Und ich habe nicht eine Minute darüber nachgedacht, dass außer Mortmain und deinem Bruder niemand, aber auch wirklich niemand bestätigt hat, dass de Quincey der Magister war. Sämtliche ›Beweise‹ gründeten nur auf Indizien und dennoch habe ich mich überzeugen lassen.«

»Nun ja, die Hinweise waren schon sehr überzeugend«, versicherte Tessa Charlotte eilig. »Die Plakette in Mirandas Körper. Die Klockwerk-Kreaturen auf der Brücke.«

Charlotte schnaubte bitter. »Alles nur Figuren in einem Spiel, das Mortmain für uns inszeniert hat. Hast du gewusst, dass wir trotz größter Bemühungen keinen einzigen Hinweis darauf finden konnten, welche anderen Schattenwesen mit der Führung des Pandemonium Club befasst waren? Keines der irdischen Mitglieder hat auch nur die leiseste Ahnung. Und seit wir de Quinceys Clan vernichtet haben, misstrauen die Schattenweltler uns mehr denn je.«

»Aber es sind doch erst wenige Tage vergangen. Will hat sechs Wochen gebraucht, bis er die Dunklen Schwestern aufgestöbert hatte. Wenn ihr einfach weitersucht ...«

»So viel Zeit haben wir aber nicht. Wenn Nathaniel Jem gegenüber nicht gelogen hat und Mortmain tatsächlich beabsichtigt, die Dämonenenergie im Inneren der Pyxis zur Belebung seiner Klockwerk-Kreaturen zu verwenden, dann bleibt uns nur die Zeit, die er benötigt, um herauszufinden, wie man das Behältnis öffnet«, erklärte Charlotte und fügte dann achselzuckend hinzu: »Natürlich denkt der Rat, das sei unmöglich: Die Pyxis lässt sich nur mithilfe von Runen öffnen und Runen können nur von Schattenjägern gezeichnet werden. Aber andererseits hätte der Zugang zum Institut auch nur einem Schattenjäger möglich sein dürfen.«

»Mortmain ist sehr schlau.«

»Ja.« Charlotte hielt die Hände fest im Schoß verschränkt. »Hast du gewusst, dass Henry derjenige war, der Mortmain überhaupt von der Pyxis erzählt hat? Der ihm ihren Namen verraten hat und wozu sie dient?«

»Nein ...« Dieses Mal fielen Tessa beim besten Willen keine tröstenden Worte ein.

»Nein, das kannst du auch nicht. Niemand weiß davon. Nur ich und Henry. Er will, dass ich es dem Rat mitteile, aber das lehne ich ab. Die anderen behandeln ihn schon schlecht genug und ich ...« Charlottes Stimme zitterte, doch ihr kleines Gesicht wirkte entschlossen. »Der Rat ist dabei, einen Untersuchungsausschuss einzuberufen. Dabei wird meine — und Henrys — Leitung des Instituts auf den Prüfstand gestellt und anschließend darüber abgestimmt. Es ist durchaus möglich, dass wir das Institut verlieren.«

Tessa starrte sie entsetzt an. »Aber du führst das Institut doch großartig! So wie du alles und jeden organisierst und dich um alles kümmerst.«

Charlottes Augen glitzerten feucht. »Danke, Tessa. Aber Tatsache ist, dass Benedict Lightwood den Posten des Institutsleiters schon immer für sich selbst wollte ... oder für seinen Sohn. Die Lightwoods zeichnen sich durch großen Familienstolz aus und hassen es, von anderen Befehle entgegenzunehmen. Wenn nicht Konsul Wayland persönlich mich und meinen Ehemann zur Nachfolgerin meines Vaters ernannt hätte, dann säße jetzt Benedict auf diesem Stuhl, da bin ich mir sicher. Dabei habe ich mir nie etwas anderes gewünscht, als das Institut zu leiten, Tessa. Und ich will alles dafür tun, um diesen Posten zu behalten. Wenn du mir nur dabei helfen würdest ...«

»Ich? Aber was kann ich denn tun? Ich weiß doch überhaupt nichts über Schattenjägerpolitik.«

»Die Bündnisse, die wir mit Schattenweltlern schließen, zählen zu unseren wertvollsten Gütern, Tessa. Nur meine guten Verbindungen zu Hexenmeistern wie Magnus Bane und Vampiren wie Camille Belcourt sind der Grund dafür, warum ich noch Leiterin dieses Instituts bin. Und du ... du bist ein großer Gewinn für uns. Deine Fähigkeiten haben der Brigade schon einmal gute Dienste geleistet; die Unterstützung, die du uns zu bieten vermagst, könnte von unschätzbarem Wert sein. Und wenn bekannt würde, dass du auf meiner Seite stehst, würde mir das sehr helfen.«

Tessa zögerte. Vor ihrem inneren Auge sah sie Will, so wie er sie im Sanktuarium angeschaut hatte. Aber zu ihrer Überraschung war er nicht der Einzige, an den sie nun denken musste: Da waren auch noch Jem, mit seiner freundlichen Art und den sanften Händen, und Henry, der sie mit seiner exzentrischen Kleidung und den verrückten Erfindungen zum Lachen brachte, und sogar Jessamine, mit ihrer eigenartigen Wildheit und den gelegentlichen überraschenden Anflügen von Tapferkeit. »Aber das Gesetz ... was ist mit dem Gesetz?«, fragte sie mit dünner Stimme.

»Es gibt kein Gesetz, das untersagen würde, dich als unseren Gast weiter hierzubehalten«, erwiderte Charlotte. »Ich habe gründlich nachgeforscht und in unserem Archiv lässt sich nichts finden, das dich daran hindern würde zu bleiben ... falls du einverstanden bist. Also frage ich dich jetzt: Bist du einverstanden, Tessa? Wirst du bleiben?«

Tessa stürmte die Stufen zum Speicher hinauf. Zum ersten Mal seit einer halben Ewigkeit war ihr fast leicht ums Herz. Der Dachboden sah noch genau so aus, wie sie ihn in Erinnerung hatte, und durch die hohen schmalen Fenster fielen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne.

Bis zum Einbruch der Dämmerung würde es nicht mehr lange dauern. Auf dem Fußboden lag ein umgestoßener Metallkübel, dem Tessa geschickt auswich, während sie zu der schmalen Stiege eilte, die aufs Dach hinaufführte.

»Wenn ihn etwas aufgewühlt hat, findet man ihn in der Regel dort oben«, hatte Charlotte gesagt. »Und ich habe Will selten so aufgewühlt erlebt. Der Tod von Thomas und Agatha hat ihn offenbar stärker mitgenommen, als ich gedacht hätte.«

Die Stiege endete in einer quadratischen Klapptür mit seitlichem Scharnier. Tessa stieß sie mit Schwung auf und kletterte hinaus auf das Dach des Instituts. Langsam richtete sie sich auf und schaute sich um. Sie stand in der Mitte eines breiten Flachdachs, das von einem hüfthohen schmiedeeisernen Geländer eingefasst war. Die Gitterstäbe des Geländers endeten in scharfen Spitzen, die an die fleur-de-lis, die französische Wappenlilie, erinnerten. Will lehnte am hinteren Ende des Dachs am Geländer. Er drehte sich nicht um — nicht einmal, als die Klapptür hinter Tessa mit einem Knall zufiel. Zögernd ging sie einen Schritt auf ihn zu und streifte ihre zerkratzten Hände am weichen Gewebe ihres Kleids ab. »Will«, sagte sie leise. Doch er reagierte nicht. Hinter ihm ging die Sonne in einem purpurroten Feuerball unter und am anderen Themseufer stießen hohe Fabrikschornsteine dicke Rauchwolken aus, die sich wie dunkle Finger über den roten Himmel ausbreiteten. Will lehnte schwer gegen das Geländer, als beabsichtigte er, sich nach vorn auf die speerartigen Gitterspitzen zu stürzen und seinem Leben ein Ende zu bereiten. Er schien Tessa nicht zu hören, die sich ihm nun vorsichtig näherte und neben ihm am Geländer stehen blieb. Von hier aus fiel das Dach steil ab und bot einen schwindelerregenden Blick auf das Kopfsteinpflaster im Innenhof des Instituts.

»Will«, sagte Tessa erneut. »Was machst du hier?«

Doch Will schaute sie noch immer nicht an. Er starrte hinaus über die Dächer der Stadt — eine schwarze Silhouette vor dem rötlichen Himmel. In der schmutzigen Luft zeichnete sich verschwommen die Kuppel der St. Paul’s Cathedral ab und tief unter ihr strömte die Themse wie ein breites Band aus dunklem, kräftigem Tee, das hier und dort von den schwarzen Konturen der Flussbrücken eingefasst wurde. Am Ufersaum wimmelten ein paar kleine Gestalten — Gassenjungen, die den an Land gespülten Unrat durchkämmten, auf der Suche nach Verwertbarem.

»Ich entsinne mich jetzt wieder«, sagte Will unvermittelt, den Blick noch ins Weite gerichtet. »Ich weiß jetzt, woran ich mich letztens zu erinnern versucht habe. Es war eine Zeile aus einem Gedicht von Blake. ›Und ich erblicke London, ein menschliches, Furcht einflößendes Wunder Gottes.‹« Nachdenklich starrte er auf das Häusermeer hinab. »Milton vertrat die Ansicht, die Hölle wäre eine Stadt. Aber meines Erachtens lag er damit nur teilweise richtig: Vielleicht ist London ja bloß der Eingang zur Hölle und wir sind die verdammten Seelen, die sich weigern, das Tor zu durchschreiten — aus Angst, dass wir auf der anderen Seite etwas vorfinden werden, das noch viel schlimmer ist als die Schrecken, die wir bereits kennen.«

»Will, was hast du?«, fragte Tessa bestürzt. »Was ist los?«

Der junge Schattenjäger umklammerte das Geländer mit beiden Händen, bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Seine Haut war übersät mit Schnittwunden und Kratzern und seine Knöchel wirkten rau und aufgeplatzt. Auch sein Gesicht zeigte noch Kampfspuren: Dunkle Blutergüsse reihten sich vom Kiefer bis hinauf zu den Wangenknochen und seine Unterlippe war geplatzt und geschwollen. Aber er hatte nicht den geringsten Versuch unternommen, seine Wunden mit einer Iratze zu heilen — was Tessa überhaupt nicht verstehen konnte.

»Ich hätte es wissen müssen«, fuhr Will fort. »Ich hätte wissen müssen, dass es nur ein Trick war. Dass Mortmain gelogen hat, als er uns hier aufsuchte. Charlotte rühmt so oft meine taktischen Fähigkeiten, aber ein guter Taktiker hätte niemals blindlings vertraut. Ich war ein Narr.«

»Charlotte glaubt, dass das Ganze ihre Schuld ist. Henry denkt, es sei seine Schuld. Und ich bin davon überzeugt, dass es meine Schuld ist«, erwiderte Tessa ungeduldig. »Aber wir können uns nicht alle den Luxus erlauben, uns selbst die Schuld zu geben, oder?«

»Deine Schuld?« Will klang verwirrt. »Weil Mortmain von dir besessen ist? Das ist ja wohl kaum dein Verschulden ...«

»Weil ich Nathaniel hierher gebracht habe«, unterbrach Tessa ihn, wobei ihr die Worte die Brust zuzuschnüren schienen. »Weil ich euch gedrängt habe, ihm zu vertrauen.«

»Du hast ihn geliebt«, erklärte Will. »Er war dein Bruder.«

»Das ist er noch immer«, sagte Tessa. »Und ich liebe ihn noch immer. Aber jetzt weiß ich, wie er ist. Im Grunde habe ich das die ganze Zeit gewusst, es aber nicht wahrhaben wollen. Vermutlich belügen wir alle uns gelegentlich selbst.«

»Ja.« Will klang angespannt und distanziert. »Vermutlich.«

Tessa holte tief Luft und wechselte rasch das Thema: »Ich bin hier heraufgekommen, weil ich gute Neuigkeiten habe, Will. Soll ich dir nicht erzählen, worum es sich dabei handelt?«

»Erzähl es mir.« Seine Stimme wirkte tonlos.

»Charlotte sagt, dass ich hierbleiben kann«, verkündete Tessa. »Hier im Institut.«

Will schwieg.

»Sie sagt, dass kein Gesetz dagegen sprechen würde«, fuhr Tessa fort, nun ein wenig verwirrt. »Das heißt also, dass ich nicht fortzugehen brauche.«

»Charlotte hätte dich auf keinen Fall zum Gehen aufgefordert, Tessa. Sie kann es nicht einmal ertragen, eine Fliege in einem Spinnennetz zappeln zu sehen. Sie hätte dich niemals im Stich gelassen.« Wills Stimme klang leblos und ohne jedes Gefühl; er konstatierte lediglich eine Tatsache.

»Ich dachte ...«, Tessas Hochstimmung verflog.

»Ich dachte, du würdest dich wenigstens ein bisschen freuen. Ich dachte, wir würden Freunde werden.« Sie sah, wie sich sein Adamsapfel bewegte, als er ruckartig schluckte ... sah, wie seine Hände das Geländer noch fester umklammerten. »Als Freund ...«, fuhr sie gedehnt und mit gesenkter Stimme fort, »als Freund habe ich dich zu schätzen gelernt, Will. Als Freund bist du mir ans Herz gewachsen.« Vorsichtig streckte Tessa die Hand aus, um seine Finger zu berühren, zog sie aber hastig zurück, als sie seine angespannte Haltung sah und die weiß hervortretenden Knöchel seiner Hände. Die roten Trauermale stachen scharlachrot von der weißen Haut ab, als wären sie mit einem Messer eingeritzt worden. »Ich dachte, vielleicht ...«, stammelte sie.

Endlich sah Will sie direkt an. Der Ausdruck auf seinem Gesicht bestürzte Tessa zutiefst und die Schatten unter seinen Augen waren so dunkel, dass diese förmlich hohl wirkten.

Schweigend stand sie da und schaute ihn eindringlich an ... versuchte, ihm die Worte zu entlocken, die der Held in einem Roman jetzt gesagt hätte: Tessa, meine Gefühle für dich sind über die einer bloßen Freundschaft weit hinausgewachsen. Sie sind so viel stärker und kostbarer ...

»Komm her«, sagte Will stattdessen. Weder in seiner Stimme noch in seiner Haltung lag irgendetwas Einladendes. Tessa unterdrückte ihren ersten Impuls zurückzuweichen und bewegte sich vorsichtig vorwärts, bis sie so dicht vor ihm stand, dass er sie berühren konnte. Er streckte beide Hände aus und strich ihr die Locken aus dem Gesicht. »Tess.«

Tessa schaute zu ihm hoch. Seine Augen besaßen dieselbe Farbe wie der rauchverhangene Himmel und selbst sein zerschundenes Gesicht war wunderschön. Sie sehnte sich danach, ihn zu berühren, sehnte sich auf eine erwachende, instinktive Weise danach, die sie weder erklären noch kontrollieren konnte. Als er sich zu ihr hinabbeugte, um sie zu küssen, konnte sie sich gerade lange genug zurückhalten, bis seine Lippen ihre berührten. Sein Mund streifte ihren und sie schmeckte das Salz darauf, den scharfen Geschmack verletzter, empfindlicher Haut an der Stelle, an der seine Lippe aufgeplatzt war. Will nahm sie bei den Schultern und zog sie fester an sich; seine Finger gruben sich tief in den Stoff ihres Kleides. Und Tessa spürte wieder jenen Strudel der Gefühle, den sie bereits auf dem Speicher empfunden hatte, nur stärker dieses Mal — jene mächtige Woge, die sie zu überspülen drohte, die sie zu zerquetschen, zu zermalmen und zerreiben drohte, bis sie ganz weich war ... so wie das Meer eine Muschel zu Sand zermahlt.

Sie streckte die Hände aus, um seine Schultern zu berühren; doch er zog sich zurück und schaute auf sie hinab. Seine Atmung ging stoßweise, seine Augen leuchteten und seine Lippen wirkten rot und geschwollen — eine Folge seiner Verletzungen wie auch des Kusses.

»Vielleicht sollten wir dann jetzt darüber sprechen, welches Arrangement wir zu treffen gedenken«, sagte er.

Tessa, die noch immer das Gefühl hatte, jeden Moment zu ertrinken, wisperte: »Arrangement?«

»Wenn du hier im Institut bleibst, würde sich ein diskretes Vorgehen empfehlen«, erklärte Will. »Vielleicht wäre es am besten, wenn wir dein Zimmer nutzen. Jem neigt dazu, in meinem Zimmer ein und aus zu gehen, wie es ihm gefällt. Und er könnte sich wundern, wenn er die Tür eines Nachts verschlossen vorfinden würde. Deine Räumlichkeiten hingegen ...«

»Mein Zimmer nutzen?«, wiederholte Tessa.

»Wozu nutzen?« Will verzog den Mund zu einem Lächeln.

Tessa, die gerade noch die wundervoll geschwungenen Konturen seiner Lippen bewundert hatte, benötigte einen Moment, bis sie mit einem Gefühl seltsam distanzierter Überraschung erkannte, dass seinem Lächeln jegliche Wärme fehlte.

»Jetzt tu doch nicht so, als wüsstest du nicht, was ich meine ... So naiv kannst du nun wirklich nicht sein, Tessa. Nicht bei solch einem Bruder.«

»Will.« Tessa spürte, wie das warme Gefühl in ihrem Körper abebbte, so wie sich das Meer vom Ufer zurückzieht. Trotz der schwülen Sommerbrise wurde ihr kalt ums Herz. »Ich bin nicht wie mein Bruder.«

»Ich bedeute dir etwas und du weißt, dass ich dich bewundere ... so wie alle Frauen es wissen, wenn ein Mann sie bewundert«, erwiderte Will kühl und selbstsicher. »Und nun kommst du daher und erzählst mir, dass du hier im Institut bleiben wirst, für mich erreichbar sein wirst, so lange wie ich nur will ... Ich biete dir lediglich etwas an, von dem ich dachte, dass du es dir wünschst.«

»Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Und du kannst nicht ernsthaft geglaubt haben, dass ich etwas anderes gemeint hätte«, erwiderte Will. »Für Schattenjäger, die mit Hexenwesen herumtändeln, gibt es keine Zukunft. Man kann sie einstellen und sich sogar mit ihnen anfreunden, aber nicht ...«

»Heiraten?«, ergänzte Tessa. Inzwischen sah sie vor ihrem inneren Auge ein deutliches Bild: Das Meer hatte sich vollständig von der Küste zurückgezogen und sie konnte die kleinen Lebewesen erkennen, die nun zappelnd und zuckend auf dem nackten Sandboden lagen und qualvoll erstickten.

»Wie erfrischend unverblümt«, spöttelte Will. Am liebsten hätte Tessa ihm das Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. »Was hast du denn erwartet, Tessa?«

»Ich habe nicht erwartet, dass du mich derart beleidigen würdest.« Tessa spürte, wie ihre Stimme zu brechen drohte, doch irgendwie gelang es ihr, sie fest klingen zu lassen.

»Die unerwünschten Folgen einer Tändelei können nicht der Grund für deine Bedenken sein«, sinnierte Will. »Schließlich sind Hexenwesen nicht in der Lage, Kinder zu bekommen ...«

»Was?«, brachte Tessa entsetzt hervor und wich zurück, als hätte er ihr einen Stoß versetzt. Der Boden unter ihren Füßen schien plötzlich zu schwanken. Will musterte sie. Mittlerweile war die Sonne fast vollständig hinter dem Horizont verschwunden. In der einbrechenden Dämmerung traten seine Wangenknochen deutlich hervor und die Falten an seinen Mundwinkeln waren so tief in seine Haut gegraben, als würde ihn ein körperlicher Schmerz zerreißen. Doch als er Tessas Frage endlich beantwortete, klang seine Stimme gleichmütig: »Hast du das denn nicht gewusst? Ich dachte, irgendjemand hätte es dir erzählt.«

»Nein«, sagte Tessa leise. »Davon hat mir niemand etwas erzählt.« Sein Blick streifte ruhig über ihr Gesicht. »Falls du also an meinem Angebot nicht interessiert bist ...«

»Hör auf!«, unterbrach Tessa ihn. Dieser Moment fühlte sich an wie die Kante einer Glasscherbe, dachte sie — klar und scharf und schmerzhaft. »Jem sagt, du würdest lügen, um dich in einem besonders üblen Licht dastehen zu lassen. Und vielleicht stimmt das ja auch oder er möchte das einfach nur von dir glauben. Aber es gibt keinen Grund und keine Entschuldigung für eine derartige Grausamkeit.«

Einen Augenblick lang wirkte Will aufrichtig betroffen, als hätte sie ihn ernsthaft erschreckt. Doch im nächsten Moment war der Ausdruck wieder verschwunden, wie die flüchtige Kontur einer Wolke am Himmel. »Dann bleibt mir wohl nichts mehr zu sagen übrig, oder?«, meinte er.

Ohne ihn auch noch eines Wortes zu würdigen, machte Tessa auf dem Absatz kehrt und marschierte zur Stiege, die hinunter zum Dachboden führte. Und da sie sich nicht mehr nach ihm umschaute, entging ihr, wie er ihr hinterherblickte — eine reglose schwarze Gestalt vor der verlöschenden Glut des rötlichen Abendhimmels.

»Liliths Kinder, auch als Hexenwesen bezeichnet, sind genau wie Maultiere und ähnliche Mischlinge unfruchtbar. Sie können keine Nachkommen hervorbringen. Eventuelle Ausnahmen von dieser Regel wurden bisher nicht verzeichnet ...«

Tessa schaute vom Codex auf und starrte aus dem Fenster des Musikzimmers, obwohl es draußen bereits zu dunkel war, um noch irgendetwas erkennen zu können. Sie hatte sich in diesen Raum geflüchtet, weil sie nicht in ihr eigenes Zimmer zurückkehren wollte, wo Sophie oder — schlimmer noch — Charlotte sie schließlich niedergeschlagen vorfinden würden. Die dünne Staubschicht auf den Möbeln des Musikraums schenkten ihr die beruhigende Gewissheit, dass man sie hier nicht so schnell suchen würde.

Sie fragte sich, wie ihr eine solch wichtige Tatsache über Hexenwesen bisher hatte entgehen können. Zugegeben, diese Informationen hatten nicht im Abschnitt über Hexenwesen gestanden, sondern im hinteren Anhang zum Thema Schattenwelt-Mischlinge wie Halb-Elben und Halb-Werwölfe. Aber offenbar gab es keine Halb-Hexen oder Halb-Hexenmeister. Hexenwesen konnten keine Kinder bekommen. Dann hatte Will also nicht gelogen, um sie zu verletzen — er hatte die Wahrheit gesagt. Was in gewisser Hinsicht noch viel schlimmer war. Er musste gewusst haben, dass seine Worte ihr nicht nur einen leichten Schock versetzen würden, der sich mühelos beseitigen ließ, sondern sie bis ins Mark treffen würden.

Aber vielleicht hatte er ja recht. Was hatte sie sich denn auch sonst vorgestellt? Will war Will und sie hätte kein anderes Verhalten von ihm erwarten dürfen. Sophie hatte sie gewarnt, aber sie hatte nicht auf sie gehört. Und Tessa wusste nur zu gut, was Tante Harriet über Mädchen gesagt hätte, die nicht hören wollten und einen gut gemeinten Ratschlag in den Wind schlugen.

Ein schwaches Rascheln riss sie aus ihren düsteren Gedanken. Tessa drehte sich um, konnte zunächst aber nichts erkennen. Das einzige Licht im Raum stammte von einem Elbenlicht in einem Kerzenhalter, der neben ihr auf einem Beistelltisch stand. Der flackernde Lichtschein zeichnete tanzende Schatten auf die wuchtigen Umrisse des Klaviers und die mit schweren Tüchern abgedeckten Harfen. Während Tessa in die Dunkelheit starrte, lösten sich zwei helle Lichtpunkte vom Boden, die in einem seltsamen Grüngelb schimmerten. Sie bewegten sich auf sie zu, beide in der derselben Geschwindigkeit, wie Zwillings-Irrlichter. Tessa starrte wie gebannt darauf, atmete dann aber erleichtert auf. Natürlich. Sie beugte sich zum Boden hinab und rief lockend: »Komm, Kätzchen. Komm zu mir!«

Doch das Miauen der Katze ging im Quietschen der Tür unter, die in diesem Moment aufschwang. Grelles Licht strömte in den Raum und einen Augenblick lang war nur eine schemenhafte Gestalt im Türrahmen auszumachen. »Tessa? Tessa, bist du das?«

Tessa erkannte die Stimme sofort — die Worte ähnelten so sehr jenen ersten Worten, die er ihr gegenüber geäußert hatte, in jener Nacht, als sie wie in Trance sein Zimmer betreten hatte: Will? Will, bist du das?

»Jem«, seufzte sie resigniert. »Ja, ich bin’s. Deine Katze ist hier hereinspaziert.«

»Ich kann nicht behaupten, dass mich das überraschen würde.« Jem klang amüsiert.

Tessa konnte ihn nun deutlich erkennen, da helles Elbenlicht aus dem Korridor in das Musikzimmer fiel. Sogar die Katze war jetzt klar zu sehen: Das Tier saß auf dem Boden und putzte sich mit einer Pfote das Gesicht. Irgendwie schien es verärgert, so wie alle Perserkatzen immer leicht missgestimmt wirkten.

»Ich glaube, er ist ein kleiner Herumtreiber. Es scheint fast, als bestünde er darauf, allen im Haus vorgestellt zu werden ...«, erklärte Jem, verstummte dann aber, als er Tessas Gesicht sah. »Was ist passiert?«, fragte er besorgt.

Tessa war derart überrumpelt, dass sie nur stottern konnte: »W-wieso fragst du mich das?«

»Ich kann es an deinem Gesicht ablesen. Irgendetwas ist vorgefallen.« Jem setzte sich ihr gegenüber auf den Klavierhocker. »Charlotte hat mir die gute Neuigkeit mitgeteilt«, sagte er, während der Kater sich erhob und durch den Raum zu Jem schlenderte. »Oder zumindest dachte ich, es sei eine gute Neuigkeit. Freust du dich denn nicht?«

»Natürlich freue ich mich.«

»Hm.« Jem wirkte nicht besonders überzeugt. Er beugte sich vor und hielt dem Kater die Hand entgegen, der sofort näher kam und seinen Kopf an Jems Fingern rieb. »So ist es brav, Church«, lobte er das Tier.

»Church? Ist das der Name deiner Katze?«, fragte Tessa amüsiert — trotz ihres Kummers. »Du meine Güte, war diese Mieze nicht eine von Mrs Darks Gefährten oder so etwas Ähnliches? Vielleicht ist Church nicht gerade ein passender Name für sie!«

»Für ihn. Die Mieze ist ein er«, berichtigte Jem sie in gespielter Empörung. »Außerdem war der Kater kein Gefährte, sondern eine arme Kreatur, die Mrs Dark im Rahmen ihres Totenbeschwörungszaubers zu opfern gedachte. Charlotte redet ständig davon, dass wir ihn behalten sollten, weil es angeblich Glück bringt, eine Katze in der Kirche zu haben. Also haben wir ihn einfach den ›Kirchenkater‹ genannt ... und daraus wurde dann schließlich Church«, erklärte Jem achselzuckend. »Und wenn dieser Name dazu beiträgt, dass er nicht in Schwierigkeiten gerät, umso besser.«

»Irgendwie habe ich den Eindruck, dass er mich auf eine überhebliche Weise mustert.«

»Gut möglich. Katzen betrachten sich generell als allen anderen überlegen.« Jem kraulte Church hinter den Ohren. »Was liest du denn da?«

Tessa zeigte ihm den Codex. »Will hat ihn mir gegeben ...«

Jem streckte die Hände aus und zog den Wälzer so rasch auf seinen Schoß, dass Tessa keine Zeit blieb, ihren Finger wegzunehmen. Das Buch war noch genau auf der Seite aufgeschlagen, die sie gelesen hatte. Jem warf einen Blick auf den Textabschnitt und sah dann Tessa wieder an, wobei sich sein Gesichtsausdruck veränderte. »Hast du das wirklich nicht gewusst?«, fragte er teilnahmsvoll.

Tessa schüttelte den Kopf. »Es geht gar nicht darum, dass ich davon geträumt hätte, eines Tages Kinder zu bekommen«, erklärte sie. »So weit voraus habe ich nie gedacht. Aber dieser Umstand erscheint mir als eine weitere Eigenschaft, die mich von der Menschheit trennt. Etwas, das mich zu einer Monstrosität macht ... anders als alle anderen.«

Jem schwieg eine Weile und streichelte nachdenklich das graue Fell seines Katers. »Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, anders als alle anderen zu sein«, sagte er schließlich und beugte sich vor. »Tessa, du weißt doch, dass du trotz der Tatsache, dass du eine Hexe zu sein scheinst, über Fähigkeiten verfügst, die wir noch nie zuvor gesehen haben. Und du trägst kein Lilithmal. Bei so vielen Unklarheiten zu deiner Person darfst du nicht zulassen, dass diese eine Information dich zur Verzweiflung treibt.«

»Ich bin ja gar nicht verzweifelt«, erwiderte Tessa.

»Es ist nur so: Ich habe während der vergangenen Nächte lange wach gelegen. Und viel nachgedacht. Über meine Eltern. Ich kann mich zwar kaum noch an sie erinnern, aber dennoch beschäftigen mich immer wieder dieselben Fragen: Mortmain hat gesagt, meine Mutter habe nicht gewusst, dass mein Vater ein Dämon war. Aber hat er dabei vielleicht gelogen? Er meinte, sie habe nicht einmal gewusst, was sie selbst war. Aber was hat das zu bedeuten? Hat sie denn gewusst, was ich bin ... dass ich kein Mensch bin? Ist das der Grund, warum meine Eltern London so überstürzt verlassen haben, bei Nacht und Nebel ... und ohne einer Menschenseele davon zu erzählen? Wenn ich das Ergebnis eines ... eines schrecklichen Unrechts bin, das meiner Mutter ohne ihr Wissen angetan wurde, wie kann sie mich dann jemals geliebt haben?«

»Deine Eltern haben dich vor Mortmain versteckt«, hielt Jem ihr entgegen. »Offensichtlich haben sie gewusst, dass er dich in seine Finger bekommen wollte. Die ganzen Jahre, in denen er nach dir gesucht hat, haben sie dich aus seiner Reichweite gehalten — zuerst deine Eltern und später deine Tante. Das ist nicht die Vorgehensweise einer lieblosen Familie.« Seine Augen musterten Tessa eindringlich. »Tessa, ich möchte dir zwar keine Versprechungen machen, die ich nicht halten kann, aber wenn du wirklich die Wahrheit über deine Vergangenheit erfahren willst, können wir Nachforschungen anstellen und sehen, was wir herausfinden. Nach allem, was du für uns getan hast, schulden wir dir wenigstens diesen Gefallen. Falls es irgendwelche Geheimnisse darüber gibt, wie du zu deinen Fähigkeiten gekommen bist, dann werden wir sie aufdecken — falls es das ist, was du möchtest.«

»Ja. Das möchte ich.«

»Allerdings könnte es sein, dass dir das, was wir herausfinden, nicht gefällt«, gab Jem noch zu bedenken.

»Es ist immer besser, die Wahrheit zu kennen«, erwiderte Tessa fest, selbst erstaunt über die Überzeugung in ihrer Stimme. »Ich kenne jetzt die Wahrheit über Nate, und so schmerzhaft sie auch sein mag, sie ist immer noch besser, als belogen zu werden. Und sie ist besser, als jemanden weiterhin zu lieben, der meine Zuneigung nicht erwidern kann ... besser, als all diese Liebe zu verschwenden«, fügte sie mit zitternder Stimme hinzu.

»Ich glaube, dass er dich geliebt hat und dich auch jetzt noch liebt, auf seine ganz eigene Weise«, erklärte Jem, »aber du solltest dich damit nicht belasten. Zu lieben ist genauso wertvoll wie geliebt zu werden. Liebe kann man gar nicht verschwenden.«

»Aber es ist so schwer.« Tessa wusste, dass sie in Selbstmitleid badete, aber sie konnte dieses Gefühl einfach nicht abschütteln. »Es ist schwer, so allein zu sein.«

Jem beugte sich vor und sah sie eindringlich an. Die roten Trauermale zeichneten sich wie züngelnde Flammen auf seiner blassen Haut ab und erinnerten Tessa an das Muster, das die Roben der Stillen Brüder säumte. »Nicht nur deine Eltern sind tot, auch meine leben nicht mehr. Und dasselbe gilt für Jessies Eltern und sogar Henrys und Charlottes. Und vielleicht auch für Wills. Ich glaube nicht, dass es hier im Institut irgendjemanden gibt, der eine Familie hat. Denn sonst wären wir nicht hier.«

Tessa öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. »Ich weiß«, räumte sie ein. »Tut mir leid. Das war schrecklich egoistisch von mir ...«

Beruhigend hielt Jem eine Hand hoch. »Ich will dir gar keine Vorwürfe machen«, sagte er. »Vielleicht bist du ja hier, weil du sonst allein wärst, aber das Gleiche gilt für mich. Und für Will. Und Jessamine. Und in gewisser Hinsicht sogar für Charlotte und Henry. Wo sonst könnte Henry sein Laboratorium betreiben? Wo sonst hätte Charlotte die Möglichkeit, ihren messerscharfen Verstand auf eine Weise zu nutzen wie hier? Und obwohl Jessamine vorgibt, das Institut zu hassen, und Will niemals eingestehen würde, dass er irgendetwas oder irgendjemanden braucht, haben beide sich hier ein neues Zuhause geschaffen. Im Grunde sind wir nicht hier, weil wir sonst nirgendwohin könnten — wir müssen nirgendwo anders hin, weil wir das Institut haben. Und diejenigen, die hier leben, sind unsere Familie.«

»Aber nicht meine Familie.«

»Das könnte aber deine Familie werden«, erklärte Jem. »Als ich hierher kam, war ich gerade einmal zwölf Jahre alt. Und das Institut fühlte sich für mich definitiv nicht wie ein Zuhause an. Ich sah an London nur, dass es nicht wie Shanghai war, und hatte fürchterliches Heimweh. Also ist Will zu einem Geschäft in East End gelaufen und hat mir das hier gekauft.« Jem zog die Kette hervor, die um seinen Hals hing, und Tessa konnte nun erkennen, dass es sich bei dem grün aufblitzenden Gegenstand, den sie bereits zuvor bemerkt hatte, um einen grünen Jadeanhänger in Form einer geschlossenen Hand handelte. »Ich denke, Will gefiel der Anhänger, weil er ihn an eine Faust erinnerte. Aber da er aus Jade besteht und Will wusste, dass Jade aus China stammt, hat er ihn gekauft und mir geschenkt. Und ich habe ihn an eine Kette gehängt, die ich seitdem trage.«

Die Erwähnung von Wills Namen versetzte Tessa einen Stich ins Herz. »Vermutlich ist es gut zu wissen, dass er manchmal doch nett sein kann«, murmelte sie. Jem musterte sie mit seinen wachsamen silbernen Augen. »Als ich vorhin hereinkam ... dieser Ausdruck auf deinem Gesicht ... das war nicht nur wegen jener Textstelle im Codex, oder? Dieser Ausdruck hing auch mit Will zusammen. Was hat er zu dir gesagt?«

Tessa zögerte einen Moment. »Er hat es sehr deutlich gemacht, dass er mich nicht hierhaben möchte«, erklärte sie schließlich. »Und dass meine Anwesenheit im Institut keine solch glückliche Fügung ist, wie ich gedacht habe. Jedenfalls nicht seiner Meinung nach.«

»Und das, nachdem ich dir gerade erzählt habe, warum du ihn als Teil deiner Familie betrachten solltest«, bemerkte Jem ein wenig reumütig. »Kein Wunder, dass du ein Gesicht gezogen hast, als hätte ich dir gerade eine schlimme Nachricht überbracht.«

»Tut mir leid«, wisperte Tessa.

»Nein, das muss es nicht. Will ist derjenige, dem es leidtun sollte.«

Jems Augen verdüsterten sich. »Wir werden ihn auf die Straße werfen«, verkündete er theatralisch. »Ich verspreche dir, morgen früh wird er verschwunden sein.«

Tessa zuckte erschrocken zusammen und setzte sich kerzengerade auf. »Oh, nein, das kann nicht dein Ernst sein ...«

Jem grinste. »Natürlich nicht. Aber du musst zugeben, einen Moment lang hast du dich besser gefühlt, stimmt’s?«

»Es war wie ein wunderschöner Traum«, erwiderte Tessa ernst, musste aber zu ihrer eigenen Überraschung dabei lächeln.

»Will ist ... schwierig«, erklärte Jem. »Aber die eigene Familie ist immer schwierig. Wenn ich nicht davon überzeugt wäre, dass das Institut der beste Ort für dich ist, Tessa, dann würde ich das auch nicht sagen. Und man kann sich auch seine eigene Familie schaffen. Ich weiß, dass du dich nicht menschlich fühlst; dass du das Gefühl hast, als wärst du anders als alle anderen und vom Leben und der Liebe weit entfernt, aber ...« Seine Stimme krächzte ein wenig und er räusperte sich; es war das erste Mal, dass Tessa Jem leicht verunsichert erlebte. »Aber ich verspreche dir:

Dem richtigen Mann wird das gleichgültig sein.«

Ehe Tessa etwas darauf erwidern konnte, ertönte ein lautes Ticken an der Fensterscheibe. Verwundert schaute Tessa zu Jem, der ratlos die Achseln zuckte — auch er hatte das Ticken gehört. Tessa erhob sich, durchquerte den Raum und entdeckte, dass sich auf der anderen Seite des Fensters tatsächlich etwas bewegte — eine dunkle geflügelte Gestalt, wie ein kleiner Vogel, der ins Haus zu gelangen versuchte. Tessa rüttelte an den Schiebegriffen des Fensters, um es zu öffnen, aber es schien zu klemmen.

Sie drehte sich um, doch Jem stand bereits an ihrer Seite und hievte die Scheibe nach oben. Als die dunkle Gestalt durch das geöffnete Fenster flatterte, steuerte sie direkt auf Tessa zu, die die Hände hob und die Gestalt im Flug einfing. Sie konnte spüren, wie die scharfkantigen Metallschwingen gegen ihre Handflächen streiften und sich anschließend schlossen. Und dann schloss die Gestalt die Augen und versank wieder in tiefe Ruhe, die Hände über dem langen Schwert verschränkt. Es schien, als wartete sie darauf, erneut zum Leben erweckt zu werden. Tick-tick pochte das Klockwerk-Herz in Tessas Händen.

Jem wandte sich vom geöffneten Fenster ab. Eine kräftige Brise wehte herein und zerzauste ihm die Haare, die im gelben Elbenlichtschein wie Weißgold leuchteten. »Was ist das?«, fragte er verwundert.

Tessa lächelte. »Mein Engel.«

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