7 Das Klockwerk-Mädchen

Mit der Welt wie sie ist — so lautet mein Rat —,

Dich abzufinden musst du sinnen;

Nur mit den Karten, die einer hat,

Vermag er das Spiel zu gewinnen.

»Strophen des Omar Chijam«

Draußen war es bereits dunkel geworden und Sophies Laterne warf seltsame Schatten an die Wände, während sie Tessa Treppe für Treppe nach unten führte. Viele der dunklen Stufen wirkten in der Mitte leicht abgeflacht, dort, wo Generationen von Schattenjägerfüßen den Stein abgetreten hatten. In regelmäßigen Abständen ließen winzige Fenster in den groben Steinmauern einen Blick auf den Abendhimmel zu, bis die Fensterlaibungen schließlich zugemauert waren — offensichtlich befanden sie sich nun unterhalb des Erdgeschosses.

»Sophie«, setzte Tessa nach einer Weile an, da ihre Nerven aufgrund der Dunkelheit und Stille ein wenig angespannt waren, »könnte es sein, dass wir auf dem Weg zur Krypta sind?«

Sophie kicherte und das Licht ihrer Laterne zuckte über die Mauern. »Stimmt, dieser Teil der Kirche war früher die Krypta. Bis Mr Branwell sie zu einem Laboratorium umbauen ließ. Ganze Tage verbringt er hier unten und tüftelt an seinen Spielzeugen herum und experimentiert. Damit treibt er Mrs Branwell irgendwann noch in den Wahnsinn.«

»Woran arbeitet er denn?«, fragte Tessa und wäre beinahe eine der unebenen Stufen hinuntergestolpert; sie konnte sich gerade noch an der Mauer festhalten, was Sophie anscheinend jedoch entgangen war.

»Ach, an allen möglichen Dingen«, erklärte Sophie, deren Stimme nun seltsam von den Wänden widerhallte. »Er erfindet neue Waffen und Ausrüstung für die Schattenjäger. Mr Branwell liebt Klockwerke und Mechanikteile und derlei Gerätschaften. Mrs Branwell pflegt manchmal zu sagen, dass er sie bestimmt noch mehr lieben würde, wenn sie wie eine Uhr ticken würde«, fügte sie lachend hinzu.

»Es klingt so, als wärst du den beiden sehr zugetan ... Mr und Mrs Branwell, meine ich«, bemerkte Tessa. Sophie schwieg, aber ihr ohnehin stolz aufgerichteter Rücken schien noch eine Spur gerade zu werden.

»Jedenfalls mehr zugetan als Will«, fuhr Tessa fort, in der Hoffnung, die Laune des anderen Mädchens durch eine humorvolle Bemerkung etwas aufzulockern.

»Oh, er.« Sophies Abneigung gegen Will sprach deutlich aus ihrer Stimme. »Er ist ... nun ja, er ist ein ganz anderer Fall. Er erinnert mich an den Sohn meines letzten Dienstherren. Der war genauso stolz und aufgeblasen wie Mr Herondale. Und er bekam alles, was er haben wollte, vom Tag seiner Geburt an. Und wenn er einmal etwas nicht sofort kriegen konnte, dann ...« Unwillkürlich hob Sophie die Hand und berührte die Seite ihres Gesichts, auf der die dicke Narbe vom Mundwinkel bis zur Schläfe verlief.

»Dann was?«

Doch Sophie hatte sich wieder gefangen. »Dann wurde er ausfallend«, erwiderte sie kurz angebunden, wechselte die Laterne in die andere Hand und spähte hinunter in die Dunkelheit. »Da unten müssen Sie vorsichtig sein, Miss. Die Stufen am Fuß der Treppe können furchtbar feucht und rutschig werden.«

Tessa drückte sich näher an die Steinmauer, die sich unter ihrer bloßen Hand kalt anfühlte. »Denkst du, es liegt vielleicht daran, dass Will ein Schattenjäger ist?«, nahm sie den Faden wieder auf. »Ich meine, sie halten sich doch irgendwie für überlegen, oder nicht? Jessamine glaubt das auch ...«

»Aber Mr Carstairs denkt nicht so. Er ist überhaupt nicht wie die anderen. Und dasselbe gilt für Mr und Mrs Branwell.«

Bevor Tessa darauf reagieren konnte, hatten sie bereits den Fuß der Treppe erreicht und blieben vor einer schweren Eichentür mit einem vergitterten Fenster stehen, hinter dem Tessa nur Schatten erkennen konnte. Sophie griff nach dem massiven Eisenriegel und drückte ihn kräftig hinunter.

Sofort schwang die Tür auf und gab den Blick auf einen riesigen, hell erleuchteten Raum frei. Mit großen Augen trat Tessa ein — dies war eindeutig die Krypta der Kirche, die hier ursprünglich gestanden hatte. Massive Pfeiler trugen eine Gewölbedecke, deren Rippen sich in der Dunkelheit verloren, und der Boden war mit großen, verwitterten Steinplatten gepflastert, auf denen sich gemeißelte Worte erkennen ließen. Tessa vermutete, dass sie auf den Grabplatten — und den Gebeinen — derjenigen stand, die in der Krypta begraben lagen. Der fensterlose Raum wurde von einem hellen Schein erleuchtet, den Tessa inzwischen nur zu gut kannte: Elbenlichtsteine sandten ihre Strahlen aus hohen Messinghalterungen an den massiven Pfeilern.

In der Raummitte stand eine Reihe wuchtiger Holztische, deren Oberflächen mit allen erdenklichen mechanischen Teilen übersät waren — Getriebe und Zahnräder aus matt schimmerndem Messing und Eisen und lange Stücke Kupferdraht. Daneben standen mehrere Glaskolben, gefüllt mit unterschiedlich gefärbten Flüssigkeiten, aus denen weißer Rauch oder unangenehme Dämpfe aufstiegen. Ein metallischer, scharfer Geruch hing in der Luft, wie kurz vor dem Ausbruch eines Gewitters. Auf einem der Holztische stapelten sich Waffen, deren Klingen im Schein des Elbenlichts gefährlich glitzerten, und ein halb fertiger Anzug aus einem augenscheinlich robusten Material, bestückt mit dünnen Metallplatten, hing über einem Drahtgestell. Daneben stand ein großer steinerner Tisch, dessen Oberfläche fast vollständig unter einem unordentlichen Haufen dicker Wolldecken verdeckt war.

Hinter diesem Tisch entdeckte Tessa Henry und Charlotte. Henry zeigte seiner Frau gerade irgendetwas, das er in der Hand hielt — ein Kupferrad oder ein Getriebeteil —, und redete dabei leise auf sie ein. Über seiner Kleidung trug er ein weites Leinenhemd, eine Art Fischerkittel, der vor Dreck und Schmierflecken starrte, die von irgendeiner dunklen Flüssigkeit stammen mussten. Doch am meisten verwunderte Tessa die ruhige Gelassenheit, die Henry ausstrahlte. Von seiner üblichen Zaghaftigkeit war nichts zu erkennen — er klang selbstsicher und überzeugt, und als er Tessa erblickte, wirkten seine haselnussbraunen Augen klar und offen.

»Miss Gray! Dann hat Sophie Ihnen also den Weg hier herunter gezeigt? Sehr aufmerksam von ihr.«

»Äh, ja, sie ...«, setzte Tessa an und schaute kurz über ihre Schulter, doch Sophie war verschwunden — sie musste an der Tür geräuschlos kehrtgemacht und den Rückweg angetreten haben. Tessa kam sich dumm vor, dass ihr das nicht aufgefallen war. »Ja, Sophie hat mich hergeführt«, beendete sie ihren Satz.

»Sie sagte, Sie wünschten mich zu sprechen?«

»In der Tat«, bestätigte Henry. »Wir könnten Ihre Hilfe gebrauchen. Würden Sie bitte für einen Moment hier herüberkommen?«, fügte er hinzu und bedeutete ihr, sich zu ihm und Charlotte zu gesellen.

Als Tessa auf den Tisch zutrat, sah sie, dass Charlottes Gesicht weiß und angespannt wirkte und ein Schatten über ihren braunen Augen lag. Sie blickte Tessa an, biss sich auf die Lippe und schaute dann auf den Tisch, wo sich der Haufen Wolldecken ... bewegte.

Tessa blinzelte. Hatte sie sich das vielleicht nur eingebildet? Nein, da war definitiv eine Bewegung gewesen, ein kaum merkliches Zucken. Und jetzt erkannte sie auch, dass es sich nicht um einen Haufen Decken handelte, sondern um ein großes, weich fallendes Tuch, das irgendetwas bedeckte — etwas von der Größe und Form eines menschlichen Körpers. Abrupt blieb sie stehen. Dann nahm Henry eine Ecke des Tuchs und zog es mit Schwung weg, sodass der Blick auf das freigegeben wurde, was unter der Decke lag. Tessa spürte, wie ihr plötzlich schwindelig wurde. Sie musste sich an der Kante eines der umstehenden Tische festhalten. »Miranda«, stieß sie erschrocken hervor.

Das tote Mädchen lag auf dem Steintisch, die Arme weit ausgebreitet und die mattbraunen Haare lose über die Schultern verteilt. Ihre Augen, die Tessa so beunruhigt hatten, waren verschwunden. Stattdessen starrten ihr leere schwarze Höhlen aus dem weißen Gesicht entgegen. Mirandas abgetragenes Kleid war in der Mitte aufgeschnitten, sodass darunter ihre Brust zum Vorschein kam. Tessa zuckte zusammen, wandte den Blick ab — und schaute dann ungläubig wieder hin: Trotz der Tatsache, dass man den Brustkorb in der Mitte aufgeschlitzt und die Haut wie die Schale einer Orange nach außen geklappt hatte, war nirgends menschliches Gewebe oder Blut zu sehen. Unter dem grotesken Einschnitt schimmerte glänzendes ... Metall?

Langsam trat Tessa näher, bis sie gegenüber von Henry auf der anderen Tischseite stand. Dort, wo man eigentlich Blut, zerfetztes Gewebe und schreckliche Verstümmelungen hätte sehen müssen, waren nur zwei weiße, zurückgeklappte Hautlappen zu erkennen und darunter ein Korpus aus Metall. Kunstvoll zusammengesetzte Kupferplatten bildeten den Brustkorb und gingen in eine gelenkartige, biegsame Taille aus Kupfer und Messing über. Nur in der Mitte von Mirandas Brustkorb fehlte eine quadratische, etwa handgroße Kupferplatte und gab den Blick auf eine tiefe Aushöhlung frei.

»Tessa.« Charlottes Stimme klang leise, aber eindringlich. »Will und Jem haben dies hier gefunden ... diesen Korpus. Und zwar in dem Haus, in dem man Sie gefangen gehalten hat. Das Haus war vollkommen leer, bis auf diese Gestalt. Man hatte sie in einem Raum zurückgelassen, allein.«

Tessa, die noch immer mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen auf den Tisch starrte, nickte.

»Das ist Miranda. Das Dienstmädchen der Dunklen Schwestern.«

»Wissen Sie irgendetwas über sie? Wer sie sein könnte? Irgendetwas über ihre Vergangenheit?«

»Nein. Nein, ich dachte ... Ich meine, sie hat ohnehin kaum mit mir gesprochen ... und wenn, dann hat sie Dinge wiederholt, die die Schwestern kurz zuvor gesagt hatten.«

Henry schob einen Finger zwischen Mirandas Lippen und zog ihren Unterkiefer nach unten. »Sie besitzt zwar eine primitive Metallzunge, aber ihr Mund war weder zum Sprechen ausgelegt noch zum Verzehr von Nahrung. Sie hat keine Speiseröhre und vermutlich auch keinen Magen: Ihre Mundhöhle endet hinter den Zähnen in einer Metallplatte.« Er drehte den Kopf des Mädchens hin und her und inspizierte den Kiefer mit zusammengekniffenen Augen.

»Aber was genau ist sie denn nun? Eine Art Schattenwesen oder ein Dämon?«, fragte Tessa.

»Nein.« Henry gab Mirandas Kinn frei. »Genau genommen ist sie überhaupt kein Lebewesen, sondern ein Automat. Eine aus mechanischen Teilen zusammengesetzte Apparatur, die wie ein Mensch aussieht und sich auch so bewegt. Schon Leonardo da Vinci fertigte einen Entwurf für solch einen Maschinenmenschen an — eine mechanische Kreatur, die sitzen, die Arme bewegen und den Kopf drehen konnte. Da Vinci war der Erste, der die Ansicht vertrat, der menschliche Körper sei eigentlich nur eine komplexe Maschine und unser Inneres ähnele im Grunde Zahnrädern und Kolben und Nocken aus Muskulatur und anderem Gewebe. Also warum sollten diese nicht durch Kupfer und Eisen ersetzt werden können? Warum sollte man einen Menschen nicht konstruieren können? Aber das hier ... So etwas hätten sich Jaquet-Droz und Maillardet in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Ein wahrhaft biomechanischer Automat, der sich von selbst bewegt und steuert, eingehüllt in menschliches Gewebe.« Henrys Augen funkelten. »Ein wahres Wunderwerk.«

»Henry, dieses Gewebe, das du so bewunderst ...«

Charlottes Stimme klang angespannt. »Dieses Gewebe stammt irgendwoher.«

Henry fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn und das Feuer in seinen Augen erlosch. »Ja ... von den Leichnamen im Keller des Dunklen Hauses. Die Brüder der Stille haben sie untersucht. Den meisten dieser Leichen fehlen Organe — Herz, Leber und so weiter. Bei einigen sind auch Knochen und Knorpel und sogar die Haare verschwunden. Wir müssen wohl davon ausgehen, dass die Dunklen Schwestern die Leichname ausgeschlachtet haben, um mit den Körperteilen ihre mechanischen Kreaturen zu konstruieren. Kreaturen wie Miranda.«

»Und wie der Kutscher«, ergänzte Tessa. »Ich glaube, der war ebenfalls so ein Automat. Aber warum sollte jemand so etwas tun?«

»Das ist noch nicht alles«, warf Charlotte ein. »Die mechanischen Teile, die wir im Keller der Dunklen Schwestern gefunden haben, wurden von der Firma Mortmain & Company gefertigt. Die Firma, für die Ihr Bruder gearbeitet hat.«

»Mortmain!« Tessa riss sich vom Anblick des reglosen Mädchens auf dem Tisch los. »Sie haben ihn doch aufgesucht, richtig? Was hat er Ihnen über Nate erzählen können?«

Einen Sekundenbruchteil lang zögerte Charlotte und warf Henry einen Blick zu. Tessa kannte diesen Blick — es war die Sorte von Blick, die Menschen einander zuwarfen, wenn sie sich anschickten, gemeinsam die Unwahrheit zu sagen. Die Sorte von Blick, die sie selbst mit ihrem Bruder gewechselt hatte, wenn sie irgendetwas vor ihrer Tante Harriet hatten verbergen wollen.

»Sie verheimlichen mir etwas«, stellte Tessa nun kühl fest. »Wo ist mein Bruder? Was weiß Mortmain über seinen Verbleib?«

Charlotte seufzte. »Mortmain ist tief in okkulte Machenschaften verstrickt und Mitglied im Pandemonium Club, der offenbar von Schattenweltlern geführt wird.«

»Aber was hat das mit meinem Bruder zu tun?«

»Ihr Bruder hat von diesem Club erfahren und war davon völlig fasziniert — und zwar so sehr, dass er seine Stelle bei Mortmain gekündigt und einen Posten bei einem Vampir namens de Quincey angenommen hat. De Quincey ist ein sehr einflussreicher Schattenweltler und de facto das Oberhaupt des Pandemonium Clubs.« Charlotte klang bitter und angewidert. »Und anscheinend ist mit dieser Position ein Titel verbunden.«

Plötzlich verspürte Tessa erneut einen heftigen Schwindelanfall. Sie griff wieder nach der Tischkante.

»Der Magister?«

Charlotte schaute zu Henry, der mit beiden Händen im geöffneten Brustkorb der Kreatur steckte und langsam etwas hervorholte — ein menschliches Herz, rot und fleischig, aber hart und glänzend, als wäre es lackiert. Kupfer- und Silberdrähte wanden sich um die Oberfläche des Organs, das alle paar Sekunden einen matten Schlag tat. Seltsamerweise arbeitete es noch immer.

»Würden Sie es gern einmal halten?«, wandte Henry sich an Tessa. »Sie müssten allerdings sehr vorsichtig sein. Diese Kupferröhren, die sich durch den ganzen Körper der Kreatur winden, führen Öl und andere leicht entzündliche Flüssigkeiten. Ich muss sie erst noch genauer identifizieren.«

Tessa schüttelte den Kopf.

»Nun gut.« Henry wirkte enttäuscht. »Aber da ist noch etwas anderes, was ich Ihnen zeigen möchte. Wenn Sie einmal schauen wollen ...« Vorsichtig drehte er das Herz in seinen schlanken Fingern, bis auf der anderen Seite des Organs eine kleine Metallplatte sichtbar wurde. Eine Plakette mit einer Gravur: ein großes Q und darin ein kleines d.

»De Quinceys Zeichen«, konstatierte Charlotte, die inzwischen sehr blass um die Nase geworden war.

»Ich habe es schon ein paar Mal gesehen, auf seinem Briefkopf. De Quincey war immer ein Verbündeter des Rats ... das habe ich zumindest bisher angenommen. Er war dabei, als das Abkommen unterzeichnet wurde. Dieser Vampir ist sehr mächtig und kontrolliert sämtliche Nachtkinder im westlichen Teil Londons. Mortmain meinte, dass de Quincey Maschinenteile von ihm erworben habe, und diese Plakette scheint seine Aussage zu bestätigen. Es hat den Anschein, als wären Sie nicht die Einzige gewesen, die im Haus der Dunklen Schwestern für die Zwecke des Magisters vorbereitet wurde. Diese KlockwerkKreaturen hat man dort ebenfalls zusammengesetzt.«

»Wenn dieser Vampir der Magister ist«, sagte Tessa gedehnt, »dann ist er derjenige, der den Dunklen Schwestern den Auftrag erteilt hat, mich zu entführen. Und er ist auch derjenige, der Nate gezwungen hat, diesen Brief an mich zu verfassen. Also muss er wissen, wo sich mein Bruder befindet.«

Ein mattes Lächeln huschte über Charlottes Gesicht. »Sie sind wirklich zielbewusst, nicht wahr?«

»Glauben Sie ja nicht, dass ich nicht wissen will, was der Magister mit mir beabsichtigte«, entgegnete Tessa mit harter Stimme. »Warum er mich hat entführen und ausbilden lassen. Oder woher er von meiner ... meiner Fähigkeit überhaupt wusste. Und verlassen Sie sich darauf: Wenn ich könnte, würde ich Rache nehmen wollen. Aber mein Bruder hat Vorrang: Er ist alles, was ich noch habe. Ich muss ihn finden.«

»Wir werden ihn finden, Tessa«, versicherte Charlotte ernst. »Irgendwie passt all dies — die Dunklen Schwestern, Ihr Bruder, Ihre eigene Fähigkeit und de Quinceys Beteiligung an der ganzen Geschichte — wie ein großes Puzzle zusammen. Im Moment fehlen uns einfach nur ein paar entscheidende Teile.«

»Ich kann nur hoffen, dass wir sie bald finden«, sagte Henry düster und warf einen traurigen Blick auf den Körper auf dem Tisch. »Was könnte ein Vampir mit einem Haufen halb mechanischer Wesen wollen? Für mich ergibt das alles keinerlei Sinn.«

»Noch nicht«, sagte Charlotte und hob entschlossen das kleine Kinn. »Aber es wird nicht mehr lange dauern.«

Henry blieb in seinem Laboratorium zurück, obwohl Charlotte verkündet hatte, es wäre höchste Zeit, sich zum Abendessen in den Speisesaal zu begeben. Doch Henry erwiderte, er bräuchte nur noch fünf Minuten, und winkte sie geistesabwesend aus dem Raum. Resigniert schüttelte Charlotte den Kopf und hielt Tessa die Tür auf.

»Henrys Laboratorium — etwas Vergleichbares habe ich noch nie gesehen«, schnaufte Tessa, als sie etwa die Hälfte der Treppen zurückgelegt hatten. Sie war schon ziemlich außer Atem, wohingegen Charlotte die Stufen ruhig und beständig erklomm und so aussah, als würde sie niemals müde werden.

»Ja«, bestätigte Charlotte leicht niedergeschlagen.

»Wenn ich es ihm gestatten würde, wäre Henry am liebsten Tag und Nacht dort.«

Wenn ich es ihm gestatten würde. Diese Worte überraschten Tessa: War nicht der Ehemann derjenige, der beschloss, was erlaubt war und was nicht und wie sein Haus geführt werden sollte? Die Pflicht der Ehefrau bestand schlichtweg darin, dafür zu sorgen, dass die Wünsche des Mannes umgesetzt wurden. Sie hatte ihm einen ruhigen, friedvollen Rückzugsort vor dem Chaos der Welt zu schaffen, ein Refugium, in dem er sich entspannen konnte. Aber das Institut war alles andere als solch ein Ort, eher eine Mischung aus Internat, Heim und Kommandozentrale. Und wer auch immer hier das Kommando führte, eines stand fest:

Henry war es jedenfalls nicht.

Plötzlich blieb Charlotte ruckartig stehen und rief überrascht aus: »Jessamine! Was um Himmels willen ist passiert?«

Tessa schaute auf. Am oberen Ende der Treppe stand Jessamine, eingerahmt von der offenen Tür. Sie trug noch immer ihr Tageskleid; allerdings waren ihre Haare zu kunstvollen Locken gedreht worden, zweifellos das Werk der nimmermüden Sophie. Ihr hübsches Gesicht war zu einem finsteren Ausdruck verzogen.

»Es geht um Will«, verkündete sie düster. »Er legt im Speiseraum ein absolut lächerliches Verhalten an den Tag.«

Charlotte wirkte verwirrt. »Und wie unterscheidet sich das von dem absolut lächerlichen Verhalten, das er in der Bibliothek oder in der Waffenkammer oder einem der anderen Räume an den Tag legt?«

»Der Unterschied besteht darin, dass wir im Speisezimmer essen müssen«, erwiderte Jessamine in einem Ton, als läge diese Tatsache doch nun wirklich auf der Hand. Dann wirbelte sie herum und stolzierte durch den Korridor davon — wobei sie in regelmäßigen Abständen einen Blick über die Schulter warf, um sicherzugehen, dass Tessa und Charlotte ihr auch ja folgten. Tessa musste lächeln. »Es ist fast so, als wären die beiden Ihre Kinder, stimmt’s?«, wandte sie sich leise an Charlotte.

Charlotte seufzte. »Ja«, bestätigte sie. »Allerdings bis auf den Teil, der von ihnen verlangen würde, mich zu lieben, vermute ich einmal.« Darauf fiel Tessa beim besten Willen keine Antwort ein.

Da Charlotte darauf bestand, dass sie noch schnell etwas im Salon zu erledigen habe, machte Tessa sich allein auf den Weg zum Speisezimmer. Als sie dort eintraf, ziemlich stolz auf sich selbst, weil sie sich diesmal nicht verirrt hatte, erblickte sie als Erstes Will, der über eines der Sideboards turnte und an der Decke herumfummelte. Jem saß am Tisch und betrachtete Will mit einem skeptischen Ausdruck. »Es würde dir ganz recht geschehen, wenn du ihn zerbrichst«, bemerkte er und neigte leicht den Kopf, als er Tessa sah.

»Guten Abend, Miss Gray«, rief er, folgte dann ihrem erstaunten Blick und grinste. »Der Gaslüster hing schief und Will ist entschlossen, ihn wieder gerade auszurichten.«

Tessa vermochte nicht zu erkennen, was an dem wuchtigen Beleuchtungskörper nicht in Ordnung sein sollte, doch ehe sie etwas sagen konnte, rauschte Jessamine in den Raum und warf Will einen vernichtenden Blick zu. »Also wirklich! Kannst du denn nicht Thomas damit beauftragen? Ein Gentleman sollte nicht ...«

»Ist das da Blut an deinem Ärmel, Jessie?«, unterbrach Will sie, als er zu ihr hinunterschaute. Jessamines Miene wurde eisig. Ohne ein weiteres Wort machte sie auf dem Absatz kehrt und stolzierte zum anderen Ende des Tischs. Dort ließ sie sich auf einen Stuhl fallen und starrte stur geradeaus.

»Ist irgendetwas vorgefallen, als Sie und Jessamine in der Stadt waren?«, fragte Jem aufrichtig besorgt und wandte Tessa den Kopf zu. Dabei fiel Tessa auf, dass an seinem Kehlkopf kurz etwas Grünes aufblitzte.

Jessamine warf Tessa einen beschwörenden Blick zu; Panik stand in ihren Augen.

»Nein«, setzte Tessa an. »Es war nichts ...«

»Ich hab es geschafft!«, platzte Henry in dem Moment in den Raum und wedelte triumphierend mit einem Objekt herum, das er in der Hand hielt. Der Gegenstand sah aus wie ein kurzes Kupferrohr mit einem schwarzen Knopf an der Seite. »Jede Wette, dass ihr mir das nicht zugetraut hättet!«

Will unterbrach seine Bemühungen mit dem Gaslüster und starrte auf Henry herab. »Keiner von uns hat auch nur die leiseste Ahnung, wovon du redest, Henry. Aber das weißt du ja sicher, oder?«

»Es ist mir endlich gelungen, meinen Phosphorisator in Betrieb zu setzen!« Stolz schwenkte Henry den Gegenstand hin und her. »Er funktioniert nach dem Prinzip des Elbensteins, sendet aber ein fünf Mal stärkeres Licht aus. Man muss einfach nur auf den Knopfdrücken und erzeugt damit sofort einen unvorstellbar starken Lichtblitz.«

Einen Moment lang herrschte Stille im Raum.

»Dann ist das also ein sehr, sehr heller Elbenlichtstein«, konstatierte Will schließlich.

»Genau!«, bestätigte Henry.

»Und inwiefern ist das nützlich?«, hakte Jem nach.

»Schließlich dient Elbenlicht zur Beleuchtung. Es ist ja nicht so, als ob davon eine Gefahr ausginge ...«

»Wartet, bis ihr es gesehen habt!«, erwiderte Henry und hielt das Objekt in die Höhe. »Seht genau her.«

Will wollte noch protestieren, doch es war schon zu spät: Henry hatte bereits auf den Knopf gedrückt. Im nächsten Moment zuckte ein greller Lichtblitz durch den Raum, gefolgt von einem lauten Zischen — und einen Sekundenbruchteil später versank alles in tiefster Finsternis. Tessa quietschte überrascht auf und Jem lachte leise.

»Bin ich blind?«, schwebte Wills leicht gereizte Stimme durch die Dunkelheit. »Ich werde alles andere als erfreut sein, falls du mich geblendet haben solltest, Henry.«

»Nein, nein.« Henry klang besorgt. »Nein, der Phosphorisator hat offenbar ... nun, allem Anschein nach hat er sämtliche Lichter ausgeschaltet.«

»Und sollte er das nicht?«, fragte Jem sanft wie immer.

»Äh ... nein«, murmelte Henry.

Will murrte irgendetwas vor sich hin, und obwohl Tessa ihn nicht genau verstehen konnte, glaubte sie, die Worte »Henry« und »Schafskopf« aufzuschnappen. Einen Augenblick später ertönte ein ohrenbetäubendes Krachen.

»Will!«, stieß jemand beunruhigt aus. Strahlend helles Licht durchflutete den Raum und ließ Tessa blinzeln. Charlotte stand in der Tür, einen Elbenstein in der hoch erhobenen Hand ... und vor ihren Füßen lag Will, umgeben von zerbrochenem Porzellan, das sich kurz zuvor noch auf dem Sideboard gestapelt hatte. »Was um Himmels willen ...«

»Ich wollte den Gaslüster reparieren«, erwiderte Will verärgert, setzte sich auf und schnippte ein paar Scherbenreste von seinem Hemd.

»Das hätte Thomas doch erledigen können. Und jetzt sieh dir an, was du gemacht hast! Die Hälfte der Teller ist zerschlagen.«

»Meinen verbindlichsten Dank an deinen schwachköpfigen Gatten.« Will schaute an sich herab. »Ich glaube, ich habe mir etwas gebrochen. Der Schmerz ist ziemlich überwältigend.«

»Auf mich wirkst du ziemlich unverletzt«, konterte Charlotte ungerührt. »Jetzt steh endlich auf. Das bedeutet dann wohl, dass wir heute Abend bei Elbenlicht speisen werden.«

Jessamine, die am anderen Ende des Tischs saß, schnaubte — das erste Geräusch, das sie von sich gab, seit Will sie nach dem Blut auf ihrem Ärmel gefragt hatte. »Ich hasse Elbenlicht. Es macht immer so einen grünlichen Teint.«

Trotz Jessamines grünlicher Blässe kam Tessa zu dem Schluss, dass ihr das Licht der Elbensteine recht gut gefiel: Sie erzeugten einen diffusen weißlichen Schimmer, der selbst die Erbsen und Zwiebeln auf ihrem Teller romantisch und geheimnisvoll wirken ließ. Während Tessa mit einem schweren Silbermesser etwas Butter auf ihr Brötchen strich, musste sie unwillkürlich an die kleine Wohnung in Manhattan denken — dort hatten ihre Tante, ihr Bruder und sie ihr kärgliches Abendbrot im Schein weniger Kerzenstummel an einem schlichten Holztisch eingenommen. Tante Harriet war stets auf peinliche Sauberkeit bedacht gewesen, von den weißen Spitzengardinen an den Wohnzimmerfenstern bis hin zum glänzend polierten Kupferkessel auf dem Herd. Je weniger man besaß, desto sorgsamer musste man mit dem umgehen, das man besaß, pflegte sie immer zu sagen. Und Tessa fragte sich langsam, ob die Schattenjäger wohl ebenso sorgsam mit den vielen Dingen umgingen, die sie besaßen.

Als Charlotte und Henry erzählten, was sie von Mortmain erfahren hatten, hörten Jem und Will aufmerksam zu, während Jessamine gelangweilt aus dem Fenster schaute. Jem schien sich besonders für die Ausstattung von Mortmains Haus zu interessieren, mit den Kunstobjekten aus aller Welt.

»Hab ich’s euch nicht gesagt?«, bemerkte er triumphierend. »Ein Taipan. Diese Geschäftsleute halten sich für äußerst wichtige Männer. Männer, die über dem Gesetz stehen.«

»Ja«, pflichtete Charlotte ihm bei. »Mortmain strahlte so etwas aus — als sei er es gewohnt, dass man ihm zuhört. Männer wie er sind oft leichte Beute für diejenigen, die sie in die Verborgene Welt hineinziehen wollen. Diese Männer sind daran gewöhnt, Macht zu besitzen, und erwarten, mühelos und ohne großes Risiko für sie selbst noch mehr Macht zu erwerben. Aber sie haben nicht die geringste Ahnung, wie hoch der Preis ist, den man für Macht in der Schattenwelt bezahlt.« Stirnrunzelnd drehte sie sich zu Will und Jessamine um, die sich in aufgebrachtem Ton über irgendetwas zu streiten schienen: »Was ist mit euch beiden los?«

Tessa ergriff die Gelegenheit, sich Jem zuzuwenden, der rechts von ihr saß. »Shanghai ... das klingt sehr faszinierend«, sagte sie leise. »Ich wünschte, ich könnte diese Stadt einmal besuchen. Ich wollte schon immer gern ferne Länder bereisen.«

Als Jem sie anlächelte, sah sie das grüne Objekt an seinem Hals erneut aufblitzen — es handelte sich um einen Anhänger aus einem mattgrünen Stein. »Und nun haben Sie eine weite Reise in ein fernes Land unternommen. Schließlich sind Sie jetzt hier in London, oder nicht?«

»Bisher habe ich immer nur in meinen Büchern die Welt bereist. Ich weiß, das klingt albern, aber ...«

In dem Moment schlug Jessamine mit ihrer Gabel auf den Tisch. »Charlotte«, unterbrach sie in schrillem Ton, »sorge gefälligst dafür, dass Will mich in Ruhe lässt.«

Will lehnte sich lässig gegen die Stuhllehne, aber seine blauen Augen funkelten. »Wenn sie mir verraten würde, woher das Blut auf ihrer Kleidung stammt, würde ich sie ja nicht länger belästigen. Also lass mich raten, Jessie: Du bist im Park einer bedauernswerten Dame begegnet, die unglücklicherweise ein Kleid trug, dessen Farbe sich mit dem Ton deiner Robe nicht vertrug. Und deshalb hast du ihr mit deinem ingeniösen kleinen Sonnenschirm die Kehle aufgeschlitzt, nicht wahr?«

Jessamine funkelte ihn an. »Du bist einfach lächerlich«, stieß sie wütend hervor.

»Das muss ich in diesem Fall leider bestätigen«, wandte Charlotte sich an Will.

»Ich meine, ich trage ein blaues Kleid«, fuhr Jessamine fort. »Und Blau verträgt sich mit allem — was du eigentlich wissen solltest. Schließlich bist du bei deiner eigenen Kleidung die Eitelkeit in Person.«

»Blau verträgt sich keineswegs mit allem«, beschied Will ihr. »Zu Rot passt es beispielsweise überhaupt nicht.«

»Ich besitze eine rot-blau gestreifte Weste«, warf Henry ein und griff nach der Schüssel mit Erbsen.

»Also, wenn das nicht ausreicht als Beweis dafür, dass man diese beiden Farben niemals miteinander kombinieren sollte, dann weiß ich es wirklich nicht.«

»Will, sprich nicht in diesem Ton mit Henry«, wies Charlotte ihn scharf zurecht. »Und Henry ...«

Ihr Mann hob den Kopf. »Ja?«

Charlotte seufzte. »Das ist Jessamines Teller, auf den du gerade die Erbsen schaufelst ... nicht deiner. Pass doch bitte auf, mein Lieber.«

Als Henry überrascht auf seinen Teller schaute, öffnete sich hinter ihm die Tür und Sophie betrat das Speisezimmer. Mit gesenktem Blick ging sie zu Charlotte, beugte sich zu ihr hinab und raunte ihr leise etwas zu. Ihre dunklen Haare glänzten im Schein des Elbenlichts und die Narbe in ihrem Gesicht schimmerte silbern.

Ein Ausdruck der Erleichterung huschte über Charlottes Gesicht. Im nächsten Moment erhob sie sich und eilte aus dem Zimmer, wobei sie nur Henry im Vorbeigehen kurz aufmunternd an der Schulter berührte.

Jessamine riss die braunen Augen auf. »Wo geht sie hin?«

Will schaute zu Sophie; sein Blick wanderte auf eine Art und Weise über ihr Gesicht, von der Tessa instinktiv wusste, dass es sich wie das Streicheln von Fingerspitzen auf nackter Haut anfühlen musste. »In der Tat. Sophie, meine Liebe, wohin ist Charlotte gegangen?«

Sophie schoss ihm einen giftigen Blick zu. »Wenn Mrs Branwell gewollt hätte, dass Sie davon erführen, dann hätte sie es Ihnen sicherlich mitgeteilt«, schnappte sie, machte auf dem Absatz kehrt und folgte ihrer Dienstherrin aus dem Raum.

Henry, der inzwischen die Erbsenschüssel abgestellt hatte, versuchte, eine freundliche Miene aufzusetzen. »Nun, denn ... wo waren wir stehen geblieben?«, fragte er heiter.

»Nirgendwo«, erwiderte Will. »Wir wollen wissen, wohin Charlotte sich begeben hat. Ist irgendetwas vorgefallen?«

»Nein«, sagte Henry. »Ich meine, zumindest glaube ich es nicht ...« Als er in die Runde schaute, sah er, dass vier Augenpaare ihn fixierten. »Charlotte erzählt mir nicht immer, was sie tut. Das wisst ihr doch«, seufzte er und brachte ein leicht schmerzliches Lächeln zustande. »Kann es ihr kaum verübeln. Auf mich ist in puncto vernunftorientiertes Handeln nicht viel Verlass.«

Tessa wünschte, sie könnte Henry etwas Tröstliches sagen. Irgendetwas an seiner Art erinnerte sie an Nate, als er jünger gewesen war — jünger, unbeholfen, verlegen und leicht gekränkt. Instinktiv griff sie nach dem Engel an ihrer Kehle und suchte Trost in seinem beständigen Ticken.

In dem Moment sah Henry zu ihr hinüber. »Diese Klockwerk-Figur, die Sie da an Ihrer Kette tragen ... dürfte ich einmal einen Blick darauf werfen?«

Tessa zögerte erst und nickte dann — schließlich war es Henry, der sie darum bat. Sie öffnete den Verschluss, nahm die Kette ab und reichte sie ihm.

»Das ist ein wirklich sehr interessantes Objekt«, murmelte Henry und drehte den Klockwerk-Engel in seinen Händen. »Woher haben Sie es?«

»Der Engel gehörte meiner Mutter.«

»Sieht aus wie eine Art Talisman.« Henry schaute auf. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich ihn mir in meinem Labor einmal genauer ansehe?«

»Äh ...« Tessa konnte ihre Sorge nicht verhehlen.

»Wenn Sie sehr, sehr vorsichtig damit umgehen. Der Engel ist das Einzige, was ich noch von meiner Mutter habe. Und wenn er beschädigt würde ...«

»Henry wird ihn nicht zerbrechen oder verbiegen«, versicherte Jem ihr. »In diesen Dingen ist er wirklich sehr umsichtig.«

»Das stimmt«, bestätigte Henry, so bescheiden und sachlich, dass an dieser Aussage nichts Selbstgefälliges zu erkennen war. »Ich werde Ihnen den Engel in erstklassigem Zustand zurückgeben.«

»Also, ich . .« Tessa zögerte noch immer.

»Ich weiß wirklich nicht, was der ganze Aufstand soll«, mischte Jessamine sich nun ein, die während des gesamten Gesprächs mit gelangweilter Miene dagesessen hatte. »Es ist ja nicht so, als ob dieses Ding Diamanten enthalten würde.«

»Manchen Menschen sind Erinnerungsstücke wichtiger als Diamanten, Jessamine«, sagte eine Stimme. Charlotte stand in der Tür und zog ein beunruhigtes Gesicht. »Da ist jemand, der Sie gern sprechen möchte, Tessa.«

»Mich?«, fragte Tessa und vergaß den KlockwerkEngel einen Moment.

»Und, wer ist es?«, hakte Will nach. »Musst du uns denn immer auf die Folter spannen?«

Charlotte seufzte. »Es ist Lady Belcourt. Sie wartet unten. Im Sanktuarium.«

»Jetzt? Um diese Uhrzeit?«, fragte Will stirnrunzelnd. »Ist irgendetwas vorgefallen?«

»Ich habe ihr eine Nachricht zukommen lassen«, erklärte Charlotte. »Wegen de Quincey. Kurz vor dem Abendessen. Ich hatte gehofft, dass sie möglicherweise irgendwelche Informationen für uns haben könnte, und das hat sie tatsächlich. Aber sie besteht darauf, zuerst mit Tessa zu sprechen. Trotz unserer Vorkehrungen scheinen Gerüchte über Tessa in die Schattenwelt gesickert zu sein und Lady Belcourt ist ... interessiert.«

Mit einem lauten Klirren legte Tessa ihre Gabel auf ihren Teller. »Woran interessiert?« Als sie in die Runde am Tisch schaute, erkannte sie, dass nun vier Augenpaare auf sie geheftet waren. »Wer ist Lady Belcourt?«, fragte sie. Als sie keine Antwort erhielt, wandte sie sich an Jem: »Ist sie eine Schattenjägerin?«

»Sie ist eine Vampirin«, erläuterte Jem. »Eine Vampir-Informantin, um genau zu sein. Sie versorgt Charlotte mit Informationen und hält uns auf dem Laufenden darüber, was in der Gemeinschaft der Nachtkinder gerade vorgeht.«

»Sie brauchen nicht mit ihr zu sprechen, wenn Sie es nicht möchten, Tessa«, fügte Charlotte hinzu. »Ich kann sie auch wieder fortschicken.«

»Nein.« Tessa schob ihren Teller zurück. »Wenn sie so gut über de Quincey informiert ist, dann weiß sie vielleicht auch etwas über Nate. Das Risiko, sie möglicherweise mit wichtigen Informationen fortzuschicken, kann ich einfach nicht eingehen. Ich werde mit ihr reden.«

»Möchtest du denn nicht wissen, was sie überhaupt von dir will?«, fragte Will verwundert.

Tessa warf ihm einen bedächtigen Blick zu. Das Elbenlicht ließ seine Haut heller schimmern und seine blauen Augen noch intensiver leuchten. Sie besaßen die Farbe des Nordatlantiks, dort, wo das Eis in Schollen auf den blaugrauen Fluten trieb wie Schneeflocken auf einer dunklen Fensterscheibe. »Abgesehen von den Dunklen Schwestern habe ich noch keinen anderen Schattenweltler kennengelernt«, sagte sie schließlich. »Und ich denke, das würde ich gern nachholen.«

»Tessa ...«, setzte Jem an, doch sie hatte sich bereits erhoben und eilte Charlotte nach, ohne sich noch einmal umzudrehen.

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