»Psychiatrische Grundkenntnisse sind für mich als Kriminologen immer von unschätzbarem Wert gewesen.«
JEAN TURCOT
1. Weihnachten in Arroyo
Es begann in West Virginia, an einer Straßenkreuzung, die eine halbe Meile außerhalb des kleinen Fleckens Arroyo lag. Eine Nebenstraße, die nach Arroyo führte, traf hier auf die Schnellstraße zwischen New Cumberland und Pughtown.
Ellery Queen sah sofort, daß die Geographie der Gegend von Bedeutung war. Beim ersten Hinsehen war ihm jedoch auch vieles aufgefallen, was nur Verwirrung bei ihm ausgelöst hatte; noch fehlte ihm der Abstand, der nötig war, um einen klaren Gedanken zu fassen.
Wie es nun kam, daß der Kosmopolit Ellery Queen um zwei Uhr nachmittags an einem kalten Tag Ende Dezember in der grauen Einöde des westvirginischen Panhandles neben einem verbeulten alten Duesenberg stand, bedarf der Erklärung. Mehrere Faktoren hatten zusammengewirkt, die Ellery in die Provinz verschlugen; unter anderem hatte Ellerys Vater, Inspector Queen, beschlossen, eine Art Arbeitsurlaub einzulegen. Der alte Herr war bis über beide Ohren in einer Polizeikonferenz engagiert; in Chicago herrschten die üblichen Zustände, und der Commissioner hatte ranghohe Kollegen aus verschiedenen Großstädten eingeladen, um mit ihnen zusammen ausgiebig über den Mangel an Recht und Ordnung in seinem Amtsbereich zu lamentieren.
Während der Inspector in seltener Hochform zwischen Hotel und Polizeihauptquartier hin-und hereilte, hörte Ellery, der ihn begleitet hatte, zum ersten Mal von jenem rätselhaften Verbrechen, das bei Arroyo verübt worden war -ein Verbrechen, das die United Press pikanterweise »T-Mord« getauft hatte. Die Zeitungsberichte stachelten Ellerys Neugier derart an -ein gewisser Andrew Van war am Morgen des ersten Weihnachtstages enthauptet und gekreuzigt worden -, daß er seinen Vater energisch aus den verrauchten Konferenzräumen von Chicago herauszerrte und mit seinem Duesenberg -einem gebrauchten Sportwagen, der ungeheure Geschwindigkeiten erreichte - in Richtung Osten preschte.
Der lnspector, der an sich ein pflichtbewußter Vater war, hatte, wie zu erwarten, seine gute Laune auf der Stelle eingebüßt. Die ganze Fahrt über -von Chicago über Toledo, Sandusky, Cleveland, Ravenna, Lisbon, eine Reihe von Städten in Illinois und Ohio, bis nach Chester, West Virginia -hatte der alte Herr ein bedrohliches Schweigen bewahrt, und nur Ellerys kluge Sprüche und das Dröhnen des Auspuffs unterbrachen die Stille.
Sie waren durch Arroyo, ein winziges Nest von etwa zweihundert Seelen, hindurch, bevor sie merkten, daß sie überhaupt dagewesen waren. Doch da ... die Kreuzung.
Der Wegweiser mit dem Querbalken an der Spitze hatte sich schon aus einiger Entfernung, bevor der Wagen schließlich anhielt, scharf vor dem Hintergrund abgezeichnet. Die Straße nach Arroyo endete hier und traf im rechten Winkel auf die Schnellstraße. Folglich stand der Wegweiser der Einmündung der Arroyo Road gegenüber; einer seiner Arme wies in nordöstliche Richtung nach Pughtown, der andere in südwestliche nach New Cumberland.
Der Inspector brummte: »Mach nur. Mach nur einen Idioten aus dir! Nichts als Flausen im Kopf! Mich hier heraus zu schleifen ... Das ist doch bloß wieder einer von diesen verrückten Morden ... Ich sehe nicht ein -«
Ellery zog den Zündschlüssel ab und verließ den Wagen mit eiligen Schritten. Jenseits der verlassenen Straße ragten die Berge von West Virginia in dramatischer Pose zum stahlgrauen Himmel auf. Der schmutzige Erdboden war hart und voller Risse. Es war bitterkalt, und ein scharfer Wind ließ Ellerys Mantelschöße flattern. Und genau vor ihm stand der Wegweiser, an dem Andrew Van, der exzentrische Schulmeister von Arroyo, gekreuzigt worden war.
Das ehemals weiß gestrichene Holz hatte einen schmutzigen Grauton angenommen und war mit getrocknetem Schlamm verschmiert. Der Wegweiser war fast zwei Meter hoch -der Querbalken befand sich auf einer Höhe mit Ellerys Kopf -und hatte lange, massive Arme. Als Ellery einige Meter davor stehenblieb, glich die Holzkonstruktion in der Tat einem gigantischem T. Jetzt verstand er, warum die Presseleute das Verbrechen »T-Mord« getauft hatten. Da waren der T-förmige Wegweiser, die T-förmige Kreuzung, an der er stand, und schließlich das skurrile T, das einhundert Meter vor der Kreuzung -sie waren daran vorbeigefahren -mit Blut an die Haustür des Ermordeten geschmiert worden war ...
Ellery entfuhr ein Seufzer, und er nahm seinen Hut ab. Dies war keine pietätvolle Geste; denn trotz des eisigen Windes war ihm der Schweiß ausgebrochen. Er wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn und fragte sich, welcher Wahnsinnige solch eine abscheuliche und scheinbar sinnlose Bluttat begangen haben mochte. Sogar die Leiche ... Er erinnerte sich lebhaft an einen Zeitungsartikel über den Fund der Leiche; von einem der führenden Chicagoer Reporter, dessen Spezialität Greuelmeldungen waren, stammte folgender Sonderbericht:
LEHRER GEKREUZIGT
Die traurigste Weihnachtsgeschichte des Jahres
In den frühen Morgenstunden machte die Polizei einen erschütternden Leichenfund: Andrew Van, ein 46jähriger Lehrer aus Arroyo, West Virginia, war an einem einsamen Wegweiser in der Nähe seiner Heimatstadt gekreuzigt worden; zuvor hatte man ihm den Kopf abgeschlagen.
Durch die Handflächen des Opfers waren vierzöllige Nägel getrieben und in die verwitterten Arme des Wegweisers geschlagen worden. Mit zwei weiteren Nägeln hatte man die Fußgelenke des Toten nahe beieinander am unteren Teil des Längspfostens durchbohrt. Die beiden Nägel unter den Achselhöhlen sollten die Leiche offenbar so abstützten, daß sie ein unverkennbares großes T bildete.
Der Wegweiser bildet ein T. Die Kreuzung bildet ein T. An die Haustür des Opfers in der Nähe der Kreuzung ist ebenfalls ein T geschmiert worden -mit seinem eigenen Blut. Und am Wegweiser hing noch heute morgen ein T aus Menschenfleisch -Ausgeburt des Wahnsinns!
Warum ausgerechnet zu Weihnachten? Warum hat der Mörder sein Opfer einhundert Meter weit zu diesem Wegweiser geschleift und die Leiche dort angenagelt? Was bedeuten die T’s?
Die örtliche Polizei ist ratlos. Van, der friedlich und abgeschieden gelebt hat, war ein Sonderling, hatte weder Freunde noch Feinde. Sein einziger Vertrauter war ein schlichter Mann namens Kling, der als Haushaltshilfe angestellt war. Kling ist verschollen, und es gehen Gerüchte um, der Bezirksstaatsanwalt von Hancock County, Crumit, nehme aufgrund geheimgehaltener Beweise an, Kling sei möglicherweise ebenfalls dem blutrünstigsten Menschenschlächter der neueren amerikanischen Kriminalgeschichte zum Opfer gefallen ...
Viele andere Berichte waren auf dasselbe hinausgelaufen und hatten unter anderem Einzelheiten des einfachen Landlebens enthalten, das der unglückselige Schulmeister in Arroyo geführt hatte; die mageren Informationshäppchen, die die Polizei über die letztbekannten Aktivitäten Vans und Klings anzubieten hatte, ebenso wie die aufgeblasenen Erklärungen des Bezirksstaatsanwalts.
Ellery nahm sein Pincenez ab, polierte die Gläser, setzte es wieder auf und ließ seinen geschulten Blick über die schauerliche Stätte gleiten.
An den äußeren Enden des Querbalkens befanden sich an den Stellen, wo die Polizei die Nägel herausgezogen hatte, ausgefranste Löcher im Holz. Jedes Loch war umgeben von einem unregelmäßigen rostbraunen Fleck, der an den Rändern verlief. Hier war das Blut aus Andrew Vans verstümmelten Händen getropft. An den Stellen, wo die Arme des Wegweisers abzweigten, befanden sich zwei weitere Löcher, die nicht braun gesäumt waren; die dort herausgerissenen Nägel hatten den Achselhöhlen Halt geboten. Verschmiertes, verkrustetes Blut maserte den gesamten Längspfosten; es war aus der klaffenden Wunde am Halsansatz getropft. Nah am Boden befanden sich zwei zusätzliche Löcher, die nur etwa zehn Zentimeter auseinander lagen. Auch sie säumte ein Kranz von braunem Blut, das von Vans angenagelten Fußgelenken stammte und von dort in den Erdboden gesickert war.
Ellery ging ruhig zum Wagen zurück, in dem der Inspector auf dem Beifahrersitz zusammengesunken - mit jener sowohl niedergeschlagenen als auch gereizten Miene wartete, die Ellery nur zu vertraut war. Der alte Herr hatte sich bis zum Hals in einen altmodischen Wollschal eingemummt, während die gerötete spitze Nase aus seinem Gesicht herausstach wie ein Warnsignal. »Weiter jetzt«, schnauzte er. »Ich friere mich noch zu Tode.«
»Kein bißchen neugierig?« fragte Ellery, während er auf den Fahrersitz glitt.
»Nein!«
»Du bist mir einer!« Grinsend ließ Ellery den Motor an. Der Wagen machte einen Satz wie ein Windhund, ging auf zwei Rädern in die Kurve, holperte im Kreis herum und schoß schließlich in die Richtung, aus der er gekommen war - nach Arroyo.
Der Inspector krallte sich in Todesangst an seinem Sitz fest.
»Bizarre Vorstellung«, überbrüllte Ellery das Motorengedonner, »eine Kreuzigung zu Weihnachten!«
»Mm«, erwiderte der Inspector.
»Ich glaube fast«, brüllte Ellery weiter, »der Fall gefällt mir!«
»Fahr gefälligst, zum Donnerwetter!« schnauzte der alte Herr. Der Wagen begradigte seine Bahn. »Gar nichts gefällt dir!« setzte er mürrisch hinzu. »Du kommst schön mit mir nach New York zurück.«
Sie rasten ins Dorf hinein.
»Ich muß schon sagen«, brummte der Inspector, während Ellery den Duesenberg mit einem Ruck vor einem kleinen Holzgebäude zum Halten brachte. »Eine Schande ist das, wie schlampig die hier arbeiten! Den Wegweiser einfach am Tatort zu belassen!« Er schüttelte den Kopf. »Wo willste denn jetzt hin?« fragte er dann und legte seinen kleinen grauen Vogelkopf schief.
»Ich dachte, dich interessiert das Ganze nicht«, entgegnete Ellery und sprang auf den Bürgersteig. »Hallo!« rief er einem eingemummten Mann in blauen Jeans zu, der den Bürgersteig mit einem ausgefransten alten Besen fegte. »Sitzt hier die Polizei?« Der Mann starrte ihn mit offenem Mund an. »Überflüssige Frage! Das Schild hier ist ja kaum zu übersehen ... Los komm, du alter Heuchler.«
Das verschlafene Dorfzentrum bestand aus einer Handvoll zusammengedrängter Häuser. Das Holzgebäude, vor dem der Duesenberg gehalten hatte, erinnerte an die falschen Fassaden des Alten Westens. Nebenan lag eine Gemischtwarenhandlung mit einer altersschwachen Benzinpumpe davor und einer kleinen Garage. Das Holzhaus trug stolz die handgeschriebene Aufschrift:
RATHAUS
Den Herrn, den sie suchten, fanden sie über seinem Schreibtisch schlummernd im hinteren Trakt des Gebäudes. Das Schild an seiner Tür verriet, daß er als »Constable« anzureden war. Es handelte sich um einen feisten, rotgesichtigen Einheimischen mit gelblichen Hauern.
Der Inspector schnaubte verächtlich, und der Constable hob die schweren Lider. Er kratzte sich am Kopf und sagte mit rauher Baßstimme: »Wennse Matt Hollis suchen, der is‘ grad nich‘ da.«
Ellery schmunzelte. »Wir suchen Constable Luden von Arroyo.«
»Oh, das bin ich! Was wollnse denn von mir?«
»Constable«, entgegnete Ellery respektheischend, »darf ich vorstellen -Inspector Richard Queen, der Chef der New Yorker Mordkommission höchstpersönlich!«
»Wer?« Constable Luden starrte verständnislos. »New York?«
»So wahr ich hier stehe«, sagte Ellery, indem er seinem Vater auf den Fuß trat. »Nun, Constable, wir möchten -«
»Setzense sich«, unterbrach Constable Luden und trat einen Stuhl in die Richtung des Inspectors, der die Nase rumpfte und sich geziert hinsetzte.
»Die Van-Geschichte, nich‘ wahr? Mir neu, daß New York jetz‘ auch die Finger drin hat. Was wollnsen wissen?«
Ellery zog sein Zigarettenetui hervor und bot es dem Constable an, der aber nur grunzte und statt dessen ein Riesenstück von einem Tabakstrang abbiß. »Erzählen Sie uns alles, Constable.«
»Da gibts nix zu erzählen. War‘n schon so viele Leute da aus Chicago un‘ Pittsburgh, die rumgeschnüffelt ham. Hängt mir langsam zum Hals raus, verstehnse?«
Der Inspector grinste süffisant. »Kann man Ihnen kaum verübeln, Constable.«
Ellery griff in seinen Rock und holte die Brieftasche hervor, öffnete sie und betrachtete versonnen die grünen Scheine darin. Die schläfrigen Augen des Constable begannen auf einmal zu leuchten. »Na ja«, sagte er hastig, »so leid bin ich‘s nu‘ auch wieder nich‘. Ich kann‘s ja noch mal runterbeten.«
»Wer hat die Leiche gefunden?«
»Ol‘ Pete. Kennse bestimmt nich‘. Hat ‘ne Hütte in‘ Bergen.«
»Ja, das ist uns bekannt. War da nicht auch ein Farmer beteiligt?«
»Mike Orkins. Hat‘n paar Hektar an der Pughtown-Straße. Ich glaub‘, der war grad dabei, mit sei‘m Ford nach Arroyo rein zu fahren; wartense, jetz‘ hammer Montag -jawoll. Also war‘s Freitag morgen, zimmlich früh morgens am Weihnachtstag. Ol‘ Pete, ja, der wollt‘ auch nach Arroyo rein -kommt öfter mal von‘ Bergen runter. Orkins hat‘n mitgenommen. Ja, da kommse dann an die Kreuzung, wo Orkins nach Arroyo rein muß, un‘ da war‘s dann. Am Wegweiser. Hing da stocksteif wie‘n Kalb aus‘m Kühlhaus - die Leiche von Andrew Van.«
»Den Wegweiser haben wir gesehen«, sagte Ellery ermunternd.
»Sin‘ bestimmt minnestens hundert Gaffer aus der Stadt gekomm‘ letzte Woche«, schimpfte Constable Luden. »Hatte richtige Verkehrsprobleme hier. Na, also Orkins un‘ Ol‘ Pete, die war‘n ganz schön am Schlottern, wissense, un‘ sin‘ fast umgekippt.«
»Mm«, sagte der Inspector.
»Die Leiche haben sie natürlich nicht angerührt?« fragte Ellery.
Constable Luden schüttelte energisch den grauen Kopf. »Die bestimmt nich‘! Sin‘ nach Arroyo rein, als wär ihn‘ der Teufel hinterher, un‘ ham mich aus‘m Schlaf gerissen.«
»Um welche Uhrzeit war das?«
Der Constable lief rot an. »Um achte morgens, war aber auch spät geworden drüben bei Matt Hollis, na ja, un‘ da hab‘ ich dann wohl verschla-«
»Sie und Mr. Hollis sind dann, wie ich annehme, sofort zur Kreuzung gefahren?«
»Jawoll. Matt -unser Bürgermeister, wissense -, also Matt un‘ ich, wir ham vier Jungs geweckt un‘ sin‘ raus. War ‘ne zimmliche Sauerei -Van, mein‘ ich.« Der Constable schüttelte den Kopf. »Hab‘ so was mein Lebtag noch nich‘ gesehn. Dazu noch an Weihnachten. Gotteslästerung nenn‘ ich das! Aber dieser Van war ja auch nich‘ grad fromm!«
»Häh?« unterbrach der Inspector prompt. Seine pfeilförmige rote Nase ragte nun aus den Falten des Wollschals hervor. »Nicht gerade fromm? Wie meinen Sie das?«
»Na ja, ich weiß nich‘, ob man das so sagen kann. Geh‘ ja selber nich‘ grad regelmäßig zur Kirche. Nur -er is halt überhaupt nie hingegangen. Und Parson, was unser Pfarrer ist aber ich sag‘ dazu besser nix mehr.«
»Bemerkenswert«, sagte Ellery, indem er sich seinem Vater
zuwandte. »Wirklich bemerkenswert, Dad. Sieht nach der Tat eines religiösen Fanatikers aus.«
»Jawoll, sagense alle«, entgegnete Constable Luden. »Aber fragense mich nich‘. Bin schließlich nur‘n kleiner Dorfbulle, hab‘ die letzten drei Jahre nur einmal ‘n Penner eingebuchtet. Ich hab‘ überhaupt keinen blassen Schimmer, verstehnse? Aber eins sag‘ ich Ihnen, meine Herren, da is‘ mehr hinter als bloß Glaubenskram!«
»Ich nehme an«, erwiderte Ellery stirnrunzelnd, »daß keiner der Einwohner von Arroyo unter Verdacht steht.«
»So‘n Bekloppten ham wir hier nich‘, Mister. Ich sag‘ Ihnen, das muß einer gewesen sein, der Van noch von früher gekannt hat.«
»Sind in Arroyo in letzter Zeit Fremde aufgetaucht?«
»Nich‘, daß ich wüßte ... Matt un‘ ich un‘ die Jungs ham also die Leiche identifiziert -Größe, Körperbau, Kleider, Papiere un‘ so; un‘ dann ham wir‘n runtergenommen. Auf ‘m Rückweg sin‘ wir dann noch bei sei‘m Haus vorbei ...«
»Ja«, sagte Ellery voll gespannter Ungeduld, »und was haben Sie vorgefunden?«
»Da muß die Hölle los gewesen sein.« Constable Luden kaute wild auf dem Tabak herum. »Muß wohl ‘nen üblen Kampf gegeben ham -alle Stühle umgedreht, überall Blut, das riesige T aus Blut anner Haustür, weswegen se sich bei der Presse die Finger wundgeschrieben ham, ja un‘ der arme Kling verschwunden.«
»Ah«, sagte der Inspector, »der Hausangestellte. Einfach verschwunden, hm? Hat sich wohl verdünnisiert, was?«
»Tja, das weiß ich nich‘ so genau. Der Coroner hat mir die Sache ja aus der Hand genommen. Ich weiß nur, dasse den Kling jetz‘ suchen, und noch ‘nen andern, glaub‘ ich -« Er kniff langsam ein Auge zu. »Aber da drüber kann ich nich‘ reden«, fügte er eilig hinzu.
»Gibt es schon eine Spur von Kling?«
»Nich‘, daß ich wüßte. Die suchen ihn jetz‘ im ganzen Staat. Die Leiche hamse zur Bezirksstadt Weirton gebracht. Das is‘ so achtzehn Kilometer von hier. Da hat der Coroner das Sagen. Hat auch Vans Haus versiegelt. Is jetz‘ Sache der State Police un‘ vom Bezirksstaatsanwalt von Hancock County.«
Ellery dachte angestrengt nach, und der Inspector regte sich ungeduldig auf seinem Stuhl. Constable Luden betrachtete fasziniert Ellerys Pincenez.
»Der Kopf wurde also abgehackt«, fuhr Ellery schließlich leise fort. »Wie seltsam. Mit einer Axt, nicht wahr?«
»Jawoll. Ham die Axt im Haus gefunden. War die von Kling. Keine Fingerabdrücke drauf.«
»Und der Kopf?«
Constable Luden schüttelte den Kopf. »Keine Spur davon. Muß der Mörder wohl als ‘ne Art Andenken mitgenommen ham. Ha!«
»Dad«, sagte Ellery, »wir sollten langsam aufbrechen. Ich danke Ihnen, Constable.« Er bot seine Hand, und der Constable ergriff sie zu einem weichen Händedruck. Er begann zu grinsen, als er das Stück Papier spürte, das man ihm in die Hand drückte, und war so begeistert, daß er seine Siesta vollkommen vergaß und seine Besucher nach draußen geleitete.
2. Neujahr in Weirton
Es war nicht die Vernunft, die Ellery gebot, sich weiter mit dem Fall des gekreuzigten Schulmeisters zu befassen. Er hätte längst in New York sein sollen. Als der Inspector erfuhr, daß er daheim dringend gebraucht wurde, mußte er seinen Urlaub abbrechen, um zur Centre Street zurückzukehren; und wohin der Inspector ging, dahin pflegte Ellery zu folgen. Aber da war etwas in dem gerüchteschwangeren Geflüster in den Straßen Weirtons, das Ellery zurückhielt. Der Inspector gab schließlich auf und bestieg, nachdem Ellery ihn nach Pittsburgh chauffiert hatte, den Zug nach New York.
»Was zum Kuckuck«, fragte der alte Mann, während Ellery ihn auf einen der Pullman-Sitze drückte, »willst du hier? Komm schon, raus mit der Sprache! Hast den Fall wohl schon gelöst, was?«
»Nun mal langsam, Inspector«, entgegnete Ellery beruhigend. »Denk an deinen Blutdruck! Ich bin einfach nur neugierig. So eine wahnsinnige Geschichte ist mir noch nie begegnet. Die Gerichtsverhandlung muß ich unbedingt noch abwarten. Ich bin ja so gespannt auf das Beweismaterial, auf das Luden angespielt hat.«
»Du wirst mit eingezogenem Schwanz nach New York zurückkommen«, prophezeite der Inspector düster.
»Oh, kein Zweifel«, grinste Ellery. »Aber in letzter Zeit ist mir irgendwie der Stoff für Romane ausgegangen; und dieser Mord trieft ja nur so vor schriftstellerischem Potential ...«
Sie ließen es dabei bewenden. Der Zug setzte sich in Bewegung und ließ einen Ellery auf dem Bahnsteig zurück, der sich nun frei, jedoch auch ein wenig unwohl fühlte. Er fuhr umgehend nach Weirton zurück.
Heute war Dienstag. Er hatte also bis Samstag nach Neujahr Zeit, dem Bezirksstaatsanwalt von Hancock County so viel an Informationen abzuschmeicheln, wie er nur konnte. Der Bezirksstaatsanwalt Crumit erwies sich als mürrischer alter Mann mit reichlich überzogener Selbsteinschätzung. Ellery gelang es zwar, sein Vorzimmer zu betreten; doch weiter kam er nicht, so sehr er auch darum bat und dabei seine Überredungskünste spielen ließ. Der Bezirksstaatsanwalt hat gerade keine Zeit. Der Bezirksstaatsanwalt ist beschäftigt. Versuchen Sie es morgen noch einmal. Der Bezirksstaatsanwalt hat für niemanden Zeit. Aus New York -Inspector Queens Sohn? Tut mir leid.
Zähneknirschend begab sich Ellery auf die Straßen Weirtons, unablässig bemüht, Gesprächsfetzen aufzuschnappen. Inmitten von Stechpalmenzweigen, glitzernden Christbäumen und sonstigem Weihnachtstand erging sich Weirton in einer Orgie nachempfundenen Grauens. Auf den Straßen waren erstaunlich wenige Frauen und gar keine Kinder zu sehen.
Männer trafen sich flüchtig und erörterten mit beinahe unbewegten Lippen, was nun zu tun war. Ellery schnappte auf, daß man den Täter offenbar zu lynchen gedachte; das ehrenwerte Vorhaben war nur leider zum Scheitern verurteilt, da es niemanden zu lynchen gab. Die State Police raste in die Stadt hinein und wieder hinaus. Gelegentlich, wenn sein Wagen gerade vorbeischoß, war die unnachgiebige Entschlossenheit im Gesicht des Bezirksstaatsanwalts Crumit zu erkennen.
Inmitten des Stimmengewirrs, das ihn umgab, wahrte Ellery seine innere Ruhe und seine unauffällige Art, Erkundigungen einzuziehen. Am Mittwoch unternahm er einen Versuch, Stapleton, den County Coroner, aufzusuchen. Stapleton war ein feister junger Mann, der unaufhörlich schwitzte; mit Worten allerdings war er sparsam. Ellery erfuhr nichts, was er nicht bereits gewußt hätte.
So verbrachte er die drei verbleibenden Tage damit, alle Informationen über das Mordopfer Andrew Van zusammenzutragen, die er ergattern konnte. Es war unfaßbar, wie wenig man über den Mann wußte. Wenige waren ihm jemals persönlich begegnet; er mußte ein sehr zurückgezogenes Leben geführt haben und äußerst selten nach Weirton gekommen sein. Zudem war er offenbar ein vorbildlicher Lehrer gewesen; seinen Schülern gegenüber freundlich, jedoch nicht zu nachsichtig; seine Unterrichtsstunden hatte er nach Auskunft des Stadtrats von Arroyo ordnungsgemäß abgehalten.
Darüber hinaus war er, obwohl kein Kirchgänger, zumindest dem Alkoholgenuß gegenüber abgeneigt gewesen, was sein Ansehen in der gottesfürchtigen, grundsoliden Gemeinde gefördert hatte.
Am Donnerstag entdeckte der Herausgeber der führenden Zeitung Weirtons seine literarische Ader. Am nächsten Tag war Neujahr; eine solche Gelegenheit konnte man sich nicht entgehen lassen. Die sechs Pfarrer, die für das Seelenheil der Gemeinde Weirton zuständig waren, hatten ihre Predigten auf die Titelseite setzen lassen. Andrew Van, so ließen sie wissen, sei kein gottesfürchtiger Mann gewesen. Und wer gottlos lebe, sterbe auch gottlos. Dennoch sei eine solche Gewalttat ...
Aber dabei hatte es der Herausgeber keineswegs bewenden lassen. Es gab zusätzlich ein Editorial in Fettdruck, das überreich gespickt war mit Anspielungen auf Ritter Blaubart, Landru, den Vampir von Düsseldorf, Jack the Ripper, den Lieblingshorror der Amerikaner, und vielen anderen monströsen Gestalten aus Dichtung und Wirklichkeit appetitliche Häppchen, die man den rechtschaffenen Leuten von Weirton für das Neujahrsdinner zum Dessert reichte.
Das Bezirksgericht, in dem der Coroner für Samstag morgen die Verhandlung anberaumt hatte, war schon lange vor Sitzungsbeginn brechend voll. Ellery war klug genug gewesen, als einer der ersten zu erscheinen und sich einen Sitzplatz in der ersten Reihe, direkt vor der Gerichtsschranke, zu sichern.
Als Coroner Stapleton kurz vor neun den Gerichtssaal betrat, nahm Ellery ihn beiseite, präsentierte ihm ein Telegramm, das der Polizeipräsident von New York City unterzeichnet hatte, und verschaffte sich dank dieses Sesam-öffne-dich Zugang zum Vorraum, in dem Andrew Van aufgebahrt war.
»Die Leiche ist allerdings in äußerst schlechtem Zustand«, keuchte der Coroner. »Aber wir hätten die Verhandlung ja schließlich nicht in der Weihnachtswoche eröffnen können ... ist jetzt immerhin acht Tage her. Unser Leichenbestatter am Ort hat ihn so lange aufbewahrt.«
Ellery biß die Zähne zusammen und zog das Leichentuch herunter. Von dem Anblick wurde ihm derart übel, daß er den Toten sofort wieder zudeckte. Es war die Leiche eines großen, kräftigen Mannes. Wo der Kopf hätte sein sollen, war nichts ... ein klaffendes Loch.
Auf einem Tisch daneben lag Herrenkleidung: ein schlichter dunkel-grauer Anzug, schwarze Schuhe, ein Oberhemd, Socken und Unterwäsche. Alles war steif von getrocknetem Blut. Die Gegenstände, die man in den Taschen gefunden hatte -ein Bleistift, ein Füllfederhalter, die Brieftasche, ein Schlüsselbund, eine zerknüllte Zigarettenschachtel, einige Münzen, eine billige Armbanduhr sowie ein alter Brief -erwiesen sich, soweit Ellery abschätzen konnte, als vollkommen uninteressant. Außer den Initialen A. V. auf einigen der Gegenstände und dem Brief von einer Buchhandlung in Pittsburgh -an Hernn Andrew Van adressiert - war für die Gerichtsverhandlung nichts von Belang.
Stapleton wandte sich zur Seite, um einen großen, verbissen dreinschauenden Mann vorzustellen, der Ellery argwöhnisch beäugte. »Mr. Queen - Staatsanwalt Crumit.«
»Wer bitte?« entgegnete Crumit scharf.
Ellery schmunzelte, nickte und kehrte zum Gerichtssaal zurück.
Fünf Minuten später war Stapletons Hammer zu hören, und in dem überfüllten Sahl erstarb das Gemurmel. Die Präliminarien brachte man schnell hinter sich und rief als erstes Michael Orkins in den Zeugenstand.
Orkins, ein knorriger, buckliger alter Farmer, in dessen Gesicht sich die Sonne eingebrannt hatte, trampelte von Blicken und Geflüster gefolgt den Gang entlang, setzte sich und faltete nervös seine großen Hände.
»Mr. Orkins«, schnaufte der Coroner, »bitte schildern Sie uns, wie Sie die Leiche von Andrew Van gefunden haben!«
Der Farmer fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ja, Sir. Ich war also Freitag morgen mit meim Ford auf‘m Weg nach Arroyo. Kurz vor der Kreuzung seh‘ ich Ol‘ Pete, der wohl mal wieder von sei‘m Berg runter war un‘ auf ein‘ wartete, der ihn nach Arroyo mitnahm. Ja, un‘ da komm‘ wir dann an die Kreuzung un‘ -un‘ da sehn wir‘n dann am Wegweiser hängen. Mit Nägeln in Händen un‘ Füßen.« Orkins versagte die Stimme. »Sin‘ dann in ei‘m Affenzahn in die Stadt.«
Jemand im Saal kicherte. Der Coroner gebot mit seinem Hammer Ruhe. »Haben Sie den Leichnam berührt?«
»Nein, Sir! Wir sin‘ ja nich‘ mal aus‘m Wagen raus!«
»Ich danke Ihnen, Mr. Orkins.«
Der Farmer atmete erleichtert auf und schlurfte langsam den Gang hoch, während er seine Stirn mit einem großen roten Taschentuch betupfte.
»Äh - Old Pete?«
Auf den hinteren Bänken des Gerichtssaals erhob sich eine Gestalt, die augenblicklich für Aufruhr sorgte. Es handelte sich um einen Mann mit grauem Rauschebart und buschigen Augenbrauen. In seinem zerlumpten und schmutzigen Flickenkostüm latschte er den Gang hinunter, zögerte, schüttelte verächtlich den Kopf und nahm im Zeugenstand Platz.
Der Coroner schien ungeduldig. »Wie lautet Ihr voller Name?«
»Häh?« Der alte Mann sah sich mit leeren, doch skeptischen Augen um.
»Ihr Name! Pete - und wie weiter?«
Old Pete schüttelte den Kopf. »Hab‘ keinen«, erklärte er. »Ich heiß‘ einfach Old Pete. Bin schon lange tot. Schon zwanzig Jahre bin ich jetz‘ tot.«
Das Publikum erstarrte, und Stapleton schaute sich verwirrt um. Ein kleiner Mann mittleren Alters, der direkt neben dem Podium gesessen hatte und dem Wortwechsel aufmerksam gefolgt war, stand unvermutet auf. »Is‘ schon in Ordnung, Mr. Coroner.«
»Ich höre, Mr. Hollis?«
»Ist in Ordnung«, wiederholte er mit erhobener Stimme. »Old Pete is‘n bißchen verwirrt, verstehnse. Wir kennen ihn gar nich‘ anders, seit er vor ‘n paar Jahren hier aufgetaucht is‘. Hat wohl ‘ne Hütte da oben in den Bergen und kommt alle zwei Monate oder so nach Arroyo rein. Jagt wahrscheinlich. Über den hat man sich in Arroyo schon so manches erzählt, is ‘ne Art Original, sozusagen, Mr. Coroner.«
»Verstehe. Danke, Mr. Hollis.«
Der Coroner tupfte sich den Schweiß vom feisten Gesicht, während sich der Bürgermeister von Arroyo unter zustimmendem Geraune wieder setzte. Old Pete begann zu strahlen und winkte Matt Hollis mit einer schmutzigen Hand zu. In schroffem Ton setzte der Coroner die Befragung fort. Die Antworten des Zeugen waren vage, reichten jedoch aus, um Orkins Geschichte formal zu bestätigen. Als man den Einsiedler schließlich entließ, schlurfte er blinzelnd zu seinem Platz zurück.
Als nächste trugen Mayor Hollis und Constable Luden ihre Geschichten vor -wie sie von Orkins und Old Pete aus dem Schlaf gerissen worden und zur Kreuzung gefahren seien, die Leiche identifiziert, die Nägel herausgerissen und den Körper abtransportiert hätten, wie sie bei Vans Haus haltgemacht, das Schlachtfeld im Innern und das blutige T an der Haustür gesehen hätten ...
Dann rief man einen wohlbeleibten alten Deutschen mit roten Wangen auf. »Luther Bernheim.«
Dieser lächelte, ließ dabei seine Goldzähne blitzen und nahm mit schwabbelndem Bauch auf dem Stuhl Platz.
»Sie sind der Inhaber der Gemischtwarenhandlung von Arroyo?«
»Ja, Sir.«
»Haben Sie Andrew Van gekannt?«
»Ja, Sir. Er war bei mir Stammkunde.«
»Seit wann waren Sie mit ihm bekannt?«
»Ach! Seit vielen Jahren! Er war ein guter Kunde, hat immer in bar bezahlt!«
»Hat er seine Einkäufe selbst erledigt?«
»Manchmal ja. Meist hat er jedoch diesen Kling geschickt, seinen Gehilfen. Seine Rechnungen hat er jedoch immer persönlich beglichen.“
»War er ein freundlicher Mensch?«
Bernheim verzog das Gesicht. »Nun, äh ja und nein.«
»Sie meinen, er war freundlich, hat aber persönlichen Umgang vermieden?«
»Ja, ja.«
»Würden Sie sagen, daß Van ein sonderbarer Mann war?«
»Häh? O ja, allerdings. Hat zum Beispiel immer Kaviar bestellt!«
»Kaviar?«
»Ja. Ich habe ihn eigens für Van bestellt. War der einzige Kunde, der Kaviar haben wollte - alle Sorten, zum Beispiel roten Beluga, aber meistens den schwarzen, den edelsten!«
»Mr. Bernheim, Mayor Hollis und Constable Luden, wenn Sie bitte so freundlich wären, mit mir nach nebenan zu kommen, um den Toten ordnungsgemäß zu identifizieren!«
Der Coroner verließ, von den drei Bürgern von Arroyo gefolgt, den Raum. In der Zwischenzeit erfüllte Stimmengewirr den Saal. Als die Männer zurückkamen, war die gesunde Gesichtsfarbe des armen Ladenbesitzers in einen bedenklichen Grauton übergegangen. Seine Augen verrieten nacktes Entsetzen.
Ellery stöhnte. Ein kleiner Schullehrer, der Kaviar bestellt! Vielleicht war Constable Luden ja intelligenter, als es den Anschein hatte; auf jeden Fall war Vans Vergangenheit illustrer gewesen, als sein Beruf und seine Umgebung vermuten ließen.
Man sah die hochgewachsene, hagere Gestalt des Bezirksstaatsanwalts Crumit den Gang entlang zum Zeugenstand schreiten. Eine Woge der Erregung schwappte durch das Publikum. Alles Vorangegangene war belanglos gewesen -jetzt kamen die großen Enthüllungen!
»Herr Staatsanwalt«, begann Coroner Stapleton und lehnte sich gewichtig nach vorn, »Sie haben bezüglich der Herkunft des Verstorbenen Nachforschungen angestellt?«
»Ja!«
Ellery rutschte tiefer in seinen Sitz; obwohl ihn heftige Abneigung gegen den Staatsanwalt erfaßte, lag etwas in seinem eisigen Blick, das Spannung erzeugte.
»Bitte lassen Sie uns die Ergebnisse hören!«
Der Staatsanwalt von Hancock County ergriff die Lehne des Zeugenstuhls. »Vor neun Jahren, als Andrew Van sich um eine Anstellung als Lehrer bewarb, ist er zum ersten Mal in Arroyo aufgetaucht. Seine Zeugnisse und Referenzen waren in Ordnung, und man gab ihm die Stelle. Er mietete das Haus an der Arroyo Road, zog zusammen mit seinem Hausangestellten Kling, den er mitgebracht hatte, dort ein und wechselte seinen Wohnsitz bis zu seinem Tode nicht mehr. Seinen Lehrberuf hat er zur Zufriedenheit aller ausgefüllt. Auch sein öffentliches Betragen in Arroyo war über jeden Vorwurf erhaben.« Crumit legte eine Kunstpause ein. »Meine Ermittlungsbeamten haben versucht, Vans Vergangenheit zu erhellen. Die Ermittlungen haben ergeben, daß er an einer öffentlichen Schule in Pittsburgh unterrichtet hat, bevor er nach Arroyo kam.«
»Und davor?«
»Keine Spur. Allerdings wissen wir, daß er in die Vereinigten Staaten eingebürgert wurde; seinem Antrag ist vor 13 Jahren stattgegeben worden. Die Unterlagen in Pittsburgh geben als Herkunftsland Armenien an, wo er anno 1885 geboren wurde.«
Armenien! dachte Ellery. Liegt nicht weit von Galiläa entfernt ...
Seltsame Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Ungeduldig tat er sie schließlich ab.
»Sie haben auch Klings Vergangenheit ermittelt, Herr Staatsanwalt?«
»Ja. Kling war ein Findelkind, das vom Waisenhaus St. Vincent in Pittsburgh in seine Obhut genommen worden war. Als er die Volljährigkeit erreicht hatte, wurde er dort als Mädchen für alles angestellt und hat so den Großteil seines Lebens verbracht. Als Andrew Van seine Stelle in Pittsburgh aufgab, um nach Arroyo zu gehen, besichtigte er das Waisenhaus und äußerte seine Absicht, jemanden bei sich anzustellen. Kling hat seinen Vorstellungen offenbar entsprochen; Van sah ihn sich sehr genau an, zeigte sich zufrieden und nahm ihn mit nach Arroyo, wo er bis zu Vans Tod auch geblieben ist.«
Ellery fragte sich, welche Beweggründe ein Mann wohl haben mußte, um seine gesicherte Existenz in einer Großstadt wie Pittsburgh zugunsten einer Provinzstelle aufzugeben. Vorstrafen? Flucht vor der Polizei? Unwahrscheinlich; Großstädte gewährten Anonymität, nicht Provinznester, wo jeder jeden kannte. Nein, der Grund lag tiefer und war in rätselhaftes Dunkel gehüllt, da war Ellery sich vollkommen sicher. Vielleicht hatte er seine Motive unwiederbringlich mit ins Grab genommen. Manche Menschen suchten nach einem verpfuschten Leben nur noch Einsamkeit. Warum sollte dies nicht auch für Andrew Van, den kaviarsüchtigen Schulmeister von Arroyo, gegolten haben?
»Was für ein Mann war Kling?« fragte Stapleton.
Der Staatsanwalt wirkte gelangweilt. »Die Leute vom Waisenhaus beschrieben ihn als ausgesprochen schlichten Menschen; mir schien, daß sie ihn für einen Kretin hielten. Ein harmloser Bursche.«
»Hat es jemals Anzeichen dafür gegeben, daß er gemeingefährlich werden könnte, Mr. Crumit?«
»Nein. Im Waisenhaus hat man ihn als gutmütig, ja phlegmatisch in Erinnerung. Zu den Waisenkindern ist er stets freundlich gewesen. Ansonsten sehr bescheiden und seinen Wohltätern gegenüber ausgesprochen respektvoll.«
Der Staatsanwalt befeuchtete seine Lippen und wirkte einen Moment lang, als warte er jetzt endlich mit den herbeigefieberten Enthüllungen auf; doch Coroner Stapleton entließ ihn eilig aus dem Zeugenstand und rief erneut den Gemischtwarenhändler von Arroyo auf.
»Sie haben Kling gekannt, Mr. Bernheim?«
»Ja, Sir.«
»Was für ein Mann war er?«
»Ruhig. Gutmütig. Dumm wie Bohnenstroh.«
Jemand im Saal lachte, was Stapleton zu ärgern schien. Er lehnte sich vor. »Trifft es zu, Mr. Bernheim, daß Kling in Arroyo für seine Bärenkräfte bekannt war?«
Ellery schmunzelte. Der Coroner war ein Einfaltspinsel.
Bernheim lachte. »Ach, ja. War sehr kräftig, dieser Kling. Ein Faß voll Zucker zu heben war für den ‘ne Kleinigkeit! Aber er konnte keiner Fliege was zuleide tun, Mr. Coroner. Ich erinnere mich -«
»Danke, das reicht«, fiel ihm der Coroner gereizt ins Wort. »Mayor Hollis, bitte treten Sie noch einmal in den Zeugenstand.«
Der kleine Matt Hollis begann zu strahlen. Für Ellerys Geschmack war er etwas zu schmierig.
»Sie sind der Vorsitzende des Stadtrats, Mayor Hollis?«
»Jawoll!«
»Teilen Sie den Geschworenen mit, was Sie über Mr. Van wissen.«
»Hatten nie Probleme mit dem. Hat sich aber auch aus allem rausgehalten. War mehr so‘n Bücherwurm. Hockte in seiner Freizeit immer in dem netten Häuschen, das ich ihm vermietet hab‘, so ganz für sich. Manche dachten, der is‘ eingebildet; ‘n paar andere dachten, das is‘n Ausländer, aber ich hab‘ mir aus dem Gerede nie was gemacht.« Der Mayor wurde salbungsvoll. »Wollt‘ einfach seine Ruhe, das is‘ alles. Hatte nix mit den Nachbarn im Sinn? War doch sein Bier! Und wenner mit mir und Luden nich‘ angeln gehn wollte, dann eben nich‘. Ging uns doch nix an.« Hollis lächelte und nickte. »Und er sprach ‘n perfektes Englisch, wie Sie oder ich, Mr. Coroner.«
»Hat er Ihres Wissens jemals Besuch bekommen?«
»Nee. Aber genau weiß ich das natürlich nich‘. War schon ‘n komischer Kauz«, fuhr der Mayor nachdenklich fort. »Ein paar Mal, als ich grad dienstlich nach Pittsburgh mußte, hatter mich gebeten, ihm Bücher mitzubringen -so komische Bücher, so‘n hochgestochenen Kram. Philosophie, Geschichte und über die Sterne un‘ so Zeug.«
»Ja, ja, gewiß, alles sehr interessant, Mr. Hollis. Nun, Sie sind doch auch der Bankier von Arroyo, nicht wahr?«
»Ja, das bin ich.« Mayor Hollis errötete und sah betont bescheiden auf seine kurzen Füße herab. Ellery schloß aus dem Gesichtsausdruck des Mayors, daß er in Arroyo wohl so gut wie alles war.
»Hatte Andrew Van bei Ihrer Bank ein Konto?«
»Hatte er nich‘. Hat sein Gehalt regelmäßig in bar abgeholt, aber ich glaub nich‘, daß er‘s in ‘ner anderen Bank deponiert hat. Das weiß ich, weil ich ihn zweimal danach gefragt hab‘ sozusagen im Interesse meiner Bank, Sie verstehn -, aber er hat nur geantwortet, dasser sein Geld zu Hause aufbewahrt.« Hollis zuckte mit den Schultern. »Traute den Banken nicht, sagt er. Na ja, jeder, wie er will. Ich hätte ihm da auch nich‘ reinreden wollen -«
»War dieser Umstand in Arroyo allgemein bekannt?«
Hollis zögerte. »Ähm - kann schon sein, hab‘ ich vielleicht ‘n paar Leuten was von erzählt. Außerdem glaub‘ ich, daß sowieso jeder hier von seiner Marotte wußte.«
Der Mayor wurde aus dem Zeugenstand entlassen und Constable Luden erneut aufgerufen.
Der Constable kam mit steifer Haltung den Gang hoch, wie jemand, der seine eigenen Ansichten darüber hat, wie solche Untersuchungen durchzuführen waren.
»Sie, Constable, haben am Freitag, dem ersten Weihnachtstag, Andrew Vans Haus durchsucht?«
»Jawoll!“
»Haben Sie dort Bargeld vorgefunden?«
»Nee.«
Die versammelte Menge schien nach Luft zu schnappen. Ein Raubüberfall! Ellery runzelte die Stirn. Darauf konnte er sich nun überhaupt keinen Reim machen. Erst war ein Verbrechen begangen worden, das religiösem Wahn entsprungen zu sein schien, und nun kam ein simpler Diebstahl hinzu. Das paßte nicht zusammen. Er lehnte sich erneut vor ...
Ein Mann trug etwas zum Podium. Es handelte sich um ein billiges, verbeultes Blechkästchen von grüner Farbe, dessen Schloß verbogen war und funktionslos herabhing. Der Coroner nahm es dem Gerichtsdiener ab, öffnete es und hielt es verkehrt herum hoch. Es war leer.
»Constable, erkennen Sie dieses grüne Blechkästchen wieder?«
Luden schniefte. »Na klar«, antwortete er mit seiner rauhen Baßstimme. »Genauso hab‘ ich‘s in Vans Haus gefunden. Is‘ ganz klar seine Geldkassette.«
Der Coroner hielt es den Geschworenen hin, allesamt einfache Landleute, die nun den Hals danach reckten. »Die Geschworenen möchten bitte dieses Beweisstück zur Kenntnis nehmen ... Sie können jetzt gehen, Constable. Ich rufe den Postmeister von Arroyo in den Stand!«
Ein verhutzelter alter Mann sprang in den Zeugenstand.
»Hat Andrew Van viel Post bekommen?«
»Näh«, entgegnete der Postmeister. »Manchmal hatter Reklame für Bücher geschickt bekomm‘, aber sons‘ war fast nie was für ihn dabei.«
»Hat er in der Woche vor seinem Tod Briefe oder Päckchen bekommen?«
»Näh!«
»Hat er selbst häufiger Briefe verschickt?«
»Näh, auch kaum. Nur ab und zu mal. Die letzten drei, vier Monate jedenfalls nich‘ mehr.«
Der Gerichtsmediziner, Dr. Strang, wurde aufgerufen. Als sein Name fiel, erhob sich unter den Zuschauern wildes Geflüster. Er wirkte unansehnlich und schlurfte mit unfreundlichem Gesichtsausdruck so gemächlich den Gang entlang, als hätte er alle Zeit der Welt.
Als er sich gesetzt hatte, fragte der Coroner: »Dr. Strang, wann haben Sie die Leiche zum ersten Mal untersucht?«
»Zwei Stunden nach ihrer Entdeckung.«
»Können Sie den Geschworenen mitteilen, wann ungefähr der Tod eingetreten ist?«
»Ja. Der Mann muß zwischen sechs und acht Stunden tot gewesen sein, als er an der Kreuzung gefunden wurde.«
»Das würde also bedeuten, daß der Mord Heiligabend um Mitternacht herum verübt wurde?«
»Das ist anzunehmen.«
»Gibt es Einzelheiten, den Zustand der Leiche betreffend, die für die Verhandlung von Belang sein könnten?«
Ellery schmunzelte. Coroner Stapleton war offenbar zu seiner Hochform aufgelaufen. Seine Sprache war nun von hochoffizieller Erhabenheit, und das Publikum schien, den aufgerissenen Mündern nach zu urteilen, gebührend beeindruckt zu sein.
Dr. Strang schlug die Beine übereinander und antwortete gelangweilt: »Außer der Wunde am Hals, wo der Kopf abgetrennt wurde, und den Durchbohrungen an Händen und Füßen gab es keinerlei Anzeichen von Gewalt.«
Der Coroner erhob sich bis zur Hälfte; sein Bauch sackte schwer und plump auf den Pultrand. »Dr. Strang«, fragte er heiser, »welchen Schluß ziehen Sie daraus?«
»Daß das Opfer eine Schädelfraktur oder einen Kopfschuß erlitten hat. Andere Anzeichen von Gewalteinwirkung gibt es nicht.«
Ellery nickte; der traurig dreinblickende Landarzt war ein kluger Kopf.
»Ich nehme weiter an«, fuhr der Mediziner fort, »daß das Opfer bereits tot war, als man den Hals abtrennte. Die Beschaffenheit der Wunde am Halsansatz läßt darauf schließen, daß zu diesem Zweck ein scharfer Gegenstand gedient hat.«
Der Coroner ergriff einen Gegenstand auf seinem Pult und hob ihn hoch. Es handelte sich um eine bedrohlich wirkende langschäftige Axt, deren Schneide an den Stellen aufblitzte, die nicht blutverschmiert waren. »Dr. Strang, würden Sie es für möglich halten, daß mit dieser Waffe der Kopf des Opfers vom Körper getrennt wurde?«
»Ja.«
Der Coroner wandte sich nun den Geschworenen zu. »Dieses Beweisstück ist in der nach hinten gelegenen Küche von Andrew Vans Haus gefunden worden. Die Axt lag auf dem Boden; an derselben Stelle, an der auch der Mord verübt worden ist. Ich bitte um besondere Aufmerksamkeit angesichts der Tatsache, daß sich keine Fingerabdrücke auf der Mordwaffe befinden. Der Mörder hat also entweder Handschuhe getragen oder die Waffe nach der Tat sorgsam abgewischt. Es steht fest, daß die Axt Eigentum des Ermordeten war. Sie diente dem vermißten Kling zum Holzhacken und wurde zu diesem Zweck in der Küche aufbewahrt ... Das reicht, Dr. Strang. Colonel Pickett, bitte treten Sie in den Zeugenstand!«
Der Chef der West Virginia State Police -ein hochgewachsener Mann mit soldatischem Schneid -kam der Aufforderung nach.
»Colonel Pickett, was haben Sie zu berichten?«
»Arroyo und Umgebung abgesucht«, erwiderte der Colonel in militärischem Stakkato, »aber vom Kopf des Ermordeten keine Spur. Auch der vermißte Kling scheint spurlos verschwunden. Zumindest jedoch haben wir seine Personenbeschreibung an die angrenzenden Staaten gesandt. Es wird nach ihm gefahndet.«
»Soweit mir bekannt ist, Colonel, hat man Sie mit der Aufgabe betraut, den letztbekannten Bewegungen sowohl des Ermordeten als auch des Vermißten nachzuspüren. Bitte lassen Sie uns die Ergebnisse hören!«
»Andrew Van ist zuletzt um vier Uhr nachmittags am vierundzwanzigsten Dezember, einem Donnerstag, lebend gesehen worden. Er hat Rebecca Traub, wohnhaft in Arroyo, aufgesucht, um ihr mitzuteilen, daß die Schulleistungen ihres Sohnes William in besorgniserregendem Maße nachließen. Nachdem er das Haus verlassen hatte, ist er, soweit wir wissen, von niemandem mehr lebend gesehen worden.«
»Und Kling?«
»Kling ist zuletzt von Timothy Traynor gesehen worden, einem Farmer, der zwischen Pughtown und Arroyo Land besitzt. Er kaufte einen Sack Kartoffeln, bezahlte in bar und trug ihn über seiner Schulter davon.«
»Ist der Kartoffelsack auf Vans Grundstück gefunden worden? Das, Colonel, könnte insofern bedeutsam sein, als sich so feststellen ließe, ob Kling das Haus je erreicht hat.«
»Ja, und zwar ungeöffnet. Traynor ist sich sicher, daß es sich um denselben Kartoffelsack handelt, den er Kling an jenem Nachmittag verkauft hat.«
»Haben Sie darüber hinaus noch etwas zu berichten?«
Colonel Pickett ließ seinen Blick über das Publikum schweifen, bevor er antwortete. »Allerdings!«
Im Gerichtssaal herrschte Totenstille. Ellery überkam ein mattes Lächeln. Der Augenblick der großen Enthüllungen war also endlich gekommen.
Colonel Pickett lehnte sich vor, um dem Coroner etwas zuzuflüstern. Stapleton blinzelte mit den Augen, schmunzelte, wischte sich über die feisten Wangen und nickte. Die Spannung stieg, und die Zuschauer rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her. Gelassen gab Pickett jemandem im hinteren Teil des Saals Zeichen.
Daraufhin erschien ein hochgewachsener Polizist in Uniform, der eine seltsame Gestalt am Arm mit sich zerrte. Es handelte sich um einen kleinen alten Mann mit zerzaustem braunem Haar und einem zottigen Bart gleicher Farbe. Seine kleinen funkelnden Augen waren die eines Fanatikers. Seine Haut, schmutzig bronzefarben, wirkte derart sonnen-und wettergegerbt, als hätte er sein ganzes Leben im Freien verbracht. Ellery kniff die Augen zusammen, als er die Kleidung des Mannes studierte: Der Mann trug schlammverschmierte Khaki-Shorts und einen alten grauen Rollkragenpullover. Seine nackten, von grau schimmernden Venen durchzogenen Füße steckten in eigentümlichen Sandalen. In einer seiner Hände trug er einen bemerkenswerten Gegenstand - eine Art Zepter, dessen Spitze die handwerklich unbeholfene, offenbar handgeschnitzte Darstellung einer Schlange zierte.
Sein Erscheinen rief auf der Stelle einen Tumult und lautes Gelächter hervor. Der Coroner hämmerte wie ein Wahnsinniger um Ruhe.
Dem Polizisten und seinem skurrilen Schützling folgte ein junger Mann mit blassem Gesicht und ölverschmiertem Overall. Offenbar war er den meisten Zuschauern wohlbekannt, denn es reckten sich ihm im Vorbeigehen verstohlen Hände entgegen, die ihn ermutigend zu tätscheln versuchten, während andere Zuhörer im Saal offen auf seine gekrümmte Gestalt zeigten. Die drei passierten die Öffnung im Gitter vor dem Zeugenstand und setzten sich. Der bärtige Alte befand sich offenbar in den Klauen entsetzlicher Ängste; seine Augen flackerten wild, und das sonderbare Zepter zuckte in seiner Hand.
»Ich rufe Caspar Croker in den Zeugenstand.«
Der blasse junge Mann im ölverschmierten Overall schluckte, erhob sich und trat vor.
»Sie betreiben eine Tankstelle mit Werkstatt an der Main Street in Weirton?« fragte der Coroner.
»Ja, klar, aber Sie kennen mich doch, Mr. -«
»Bitte beantworten Sie die Frage«, unterbrach Stapleton barsch. »Berichten Sie den Geschworenen, was sich um dreiundzwanzig Uhr an Heiligabend ereignet hat.«
Croker holte tief Luft, sah sich um, als erhoffte er sich von der Menge einen letzten Zuspruch, und antwortete: »Ich hab‘ meinen Laden Heiligabend dichtgemacht -wollte halt feiern. Ich wohn‘ in einem Haus direkt hinter meiner Tankstelle. Um elfe nachts, während ich mit meiner Frau im Wohnzimmer sitze, hör‘ ich auf einmal einen gräßlichen Krach, so ‘ne Art Hämmern. Hörte sich so an, als käm‘s von meiner Tankstelle her, also bin ich raus. Stockfinster war‘s dazu.« Er schluckte erneut und fuhr hastig fort. »Nun, da war ‘n Mann draußen, der gegen die Tür hämmerte. Als er mich sah -«
»Einen Augenblick, Mr. Croker. Wie war der Mann gekleidet?«
Der Garagenbesitzer zuckte die Achseln. »War so dunkel, daß ich nichts erkennen konnte. Hatte ja auch kein Grund ‘n mir näher anzugucken.«
»Haben Sie dem Mann direkt ins Gesicht gesehen?«
»Ja, Sir. Er stand ja direkt unter meiner Nachtleuchte. Der hatte sich völlig eingemummt -war ja auch ‘ne Schweinekälte draußen -aber ich hatt‘ schon den Eindruck, daß er nich‘ erkannt werden will. Nun ja, also er war glattrasiert und mehr ‘n dunkler Typ, sah mir nach ‘m Ausländer aus, obwohl er fließend Englisch sprach.«
»Auf welches Alter würden Sie ihn schätzen?«
»Mitte Dreißig, schätzungsweise. Vielleicht auch jünger oder älter. Schwer zu sagen.«
»Was wollte er von Ihnen?«
»Er wollte nach Arroyo gefahren werden.«
Im Gerichtssaal war es so still geworden, daß Ellery das asthmatische Schnaufen des beleibten Mannes in der Reihe hinter ihm deutlich hören konnte. Die Zuschauer waren vor Anspannung auf die vordere Kante ihrer Sitze gerutscht.
»Was geschah dann?« fragte der Coroner.
»Nun ja«, erwiderte Croker mit mehr Nachdruck. »Das Ganze gefiel mir gar nich‘. War ja schließlich Heiligabend, und ich mußte meine Frau allein lassen un‘ all das. Aber dann hat er seine Brieftasche rausgeholt und mir zehn Dollar geboten, wenn ich ihn rüberfahre. Wissense, für‘n armen Mann wie mich is‘ das ‘ne Menge Geld, und da hab‘ ich eben gesagt, also gut, mach‘ ich.«
»Sie haben ihn also gefahren?«
»Ja, Sir, hab‘ ich. Bin also zurück, um meinen Mantel überzuwerfen, hab‘ meiner Frau gesagt, daß ich in ‘ner halben Stunde oder so zurück bin, hab‘ die alte Karre rausgeholt, er is‘ reingeklettert, un‘ dann sind wir los. Ich hab‘ ihn gefragt, wo er denn in Arroyo genau hin will, und er hat mich gefragt, ob‘s da nich‘ ‘ne Kreuzung gibt, wo die Straße nach Arroyo auf die von New Cumberland nach Pughtown trifft. Ja, sag‘ ich, die gibt‘s. Sagt er dann: Genau da will ich hin. Dann hab‘ ich ihn also dahin gefahren, er is‘ ausgestiegen, hat mir den Zehner gegeben, und ich bin auf der Stelle umgedreht un‘ nach Hause. War mir eh nich‘ geheuer, das Ganze.«
»Haben Sie gesehen, was er tat, nachdem Sie ihn dort abgesetzt hatten?«
Croker nickte eifrig. »Klar hab‘ ich ihn über die Schulter weg im Auge behalten. Wär fast im Graben gelandet. Er is‘ zu Fuß die Straße nach Arroyo runter. Ich hab‘ gesehn, dasser schwer gehinkt hat, Sir.«
Der bärtige Alte neben dem Polizeibeamten stöhnte laut auf, und seine Augen rollten wild umher, als ob er nach einer Fluchtmöglichkeit suchte.
»Auf welchem Bein, Mr. Croker?«
»Na, auf dem linken. Ist jedenfalls auf dem rechten aufgetreten.«
»Und dann haben Sie ihn nie wiedergesehen?«
»Nein, Sir. Hatt‘ ihn auch vorher noch nie gesehen.«
»Danke, das reicht.«
Erleichtert verließ Croker den Zeugenstand und eilte den Gang hinauf, um hinter der Tür zu verschwinden.
»Nun«, sagte Coroner Stapleton, während er den kleinen Alten anstarrte, der mit fieberndem Blick auf seinem Sitz kauerte. »Sie da, treten Sie in den Stand!«
Der Polizist erhob sich und zerrte den alten Zottelbart auf die Füße. Der gnomenhafte Mann leistete keinerlei Widerstand, doch in seinen irren Augen spiegelte sich Angst. Der Polizist plazierte den Mann mit einer ruppigen Bewegung auf dem Zeugenstuhl und zog sich dann auf seinen eigenen Platz zurück.
»Wie heißen Sie?« fragte Coroner Stapleton.
Eine Woge von Gelächter schwappte durch das Publikum, als seine sonderbare Erscheinung in so exponierter Stellung voll zur Geltung kam. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis im Saal wieder Ruhe eingekehrt war. Unterdessen schaukelte der Zeuge auf seinem Stuhl herum und murmelte vor sich hin. Ellery drängte sich der beklemmende Eindruck auf, daß der Mann bete; er schien die Schlange anzubeten, die sein Zepter krönte.
Stapleton wiederholte nervös seine Frage. Der Zeuge hielt sein Zepter nun mit ausgestrecktem Arm und warf seine knochigen Schultern zurück. Es schien, als zöge er Würde und Kraft aus dieser Pose. Dann sah er Coroner Stapleton direkt in die Augen und erwiderte mit schriller, doch klarer Stimme: »Ich bin, den man Haracht nennt, der Gott der Mittagssonne. Ra-Haracht, der Falke!«
Es folgte Schweigen. Coroner Stapleton schreckte zurück, als hätte der Zeuge in unverständlichem Kauderwelsch Drohungen gegen ihn ausgestoßen. Die Zuschauer starrten fassungslos nach vorn, um schließlich in hysterisches Gelächter auszubrechen, das unbestimmter Angst entsprang. Der alte Mann wirkte zutiefst unheimlich; er strahlte eine Ernsthaftigkeit aus, die zu verbissen war, um vorgetäuscht zu sein.
»Wer?« fragte der Coroner verunsichert.
Der Mann, der sich Haracht nannte, verschränkte die Arme, das Zepter fest im Griff, vor seiner eingefallenen Brust und machte keinerlei Anstalten zu antworten.
Stapleton wischte sich über die Wangen und schien nicht so recht zu wissen, wie er nun fortfahren sollte. »Äh - welchem Beruf gehen Sie nach, Mr. - Mr. Haracht?«
Ellery glitt tiefer in seinen Sitz und schämte sich für den Coroner. Langsam wurde es peinlich.
Haracht entgegnete mit unbewegten Lippen: »Ich bin der Heiland der Schwachen. Ich mache Kranke wieder gesund. Ich bin, der Manzet steuert, die Barke des Sonnenaufgangs. Ich bin, der Mesenktet steuert, die Barke des Sonnenuntergangs. Manche nennen mich Horus, der Gott der Horizonte. Ich bin der Sohn von Nut, der Göttin des Himmels, Frau des Qeb, Mutter von Isis und Osiris. Ich bin der höchste Gott von Memphis, eins mit Etom -«
»Halt!« brüllte der Coroner. »Colonel Pickett, was soll dieser Unsinn? Hatten Sie mir nicht versichert, dieser Verrückte hier hätte etwas Entscheidendes zur Verhandlung beizutragen? Ich «
Der Chef der State Police stand hastig auf. Der Mann, der sich Haracht nannte, wartete ruhig; den ersten Schrecken schien er überwunden zu haben, als ahne er irgendwo im Hinterkopf, daß er das Geschehen in der Hand hatte.
»Ich bitte um Entschuldigung, Mr. Coroner«, entgegnete der Colonel eilig. »Ich hätte Sie vorwarnen sollen. Dieser Mann ist nicht ganz richtig im Kopf. Vielleicht ist es besser, wenn ich Sie und die Geschworenen darüber informiere, wovon er lebt. Das würde Ihnen gezieltere Fragen ermöglichen. Er zieht als eine Art Wunderheiler durch die Lande, vollgepinselt mit Sonnen und Sternen und Monden und seltsamen Zeichnungen von ägyptischen Pharaonen. Er hält sich für die Sonne oder so, ist aber absolut harmlos. Zieht -wie die Zigeuner -mit einem alten Gaul und Wohnwagen von Stadt zu Stadt. In Illinois, Indiana, Ohio und West Virginia war er schon. Predigt und verkauft eine Art Wundermittel, das Haar -«
»Es ist das Elixier der Jugend«, warf Haracht gewichtig ein. »Pures Sonnenlicht in Flaschen gefüllt. Ich bin der Erwählte, und ich verkündige das Sonnenevangelium. Ich bin Mentu und Atmu und ...«
»Es handelt sich um gewöhnliches Dorschleberöl, soweit ich informiert bin«, erklärte Colonel Pickett grinsend. »Keiner weiß, wie er wirklich heißt. Er hat seinen Namen vermutlich selbst vergessen.«
»Ich danke Ihnen, Colonel«, entgegnete der Coroner um Würde bemüht
Ellery fieberte vor Spannung -er hatte soeben eine Entdeckung gemacht. Das armselige Zepter in der Hand des Geisteskranken hatte er als Uräus erkannt, das Schlangenzepter des höchsten Gottes der alten Ägypter und ihrer Könige. Zunächst hatte er es der Schlange wegen für einen behelfsmäßigen Heroldsstab gehalten; aber der Stab Merkurs war immer mit Flügeln versehen. Dieser hier jedoch, er verengte angestrengt die Lider, war mit einer primitiven Sonnenscheibe ausgestattet, die sich über der Schlange oder den Schlangen erhob ... das Ägypten der Pharaonen! Einige der Namen, die der kleinwüchsige Eiferer hatte fallen lassen, waren ihm vertraut: Horus, Nut, Isis, Osiris. Auch die anderen Bezeichnungen klangen, aller Absurdität zum Trotz, ebenfalls ägyptisch ... Ellery richtete sich hoch auf.
»Äh - Haracht, oder wie immer Sie sich nennen«, fuhr der Coroner fort, »haben Sie die Aussage von Casper Croker vernommen, die einen glattrasierten dunkelhaarigen Mann, der hinkte, betraf?«
Der Blick des bärtigen Zeugen wurde auf einmal klarer; gleichzeitig schien jedoch auch die Angst wieder von ihm Besitz zu ergreifen. »Der -der hinkende Mann«, stammelte er. »Ja.«
»Kennen Sie jemanden, auf den diese Beschreibung paßt?«
Ein weiteres Zögern. »Ja.«
»Na also, Haracht«, stöhnte der Coroner, »warum denn nicht gleich.« Seine Stimme klang nun heiter und freundlich. »Wer ist dieser Mann, und woher kennen Sie ihn?«
»Er ist mein Priester.«
»Priester!« Aus der Menge kam ein leises Murmeln. Ellery hörte den beleibten Herrn in der Reihe hinter sich fluchen: »Verdammte Gotteslästerung, Herrgott noch mal!«
»Sie meinen, er - assistiert Ihnen?«
»Er ist mein Jünger. Mein Priester. Der Hohepriester des Horus.«
»Ja, ja, gewiß«, entgegnete Stapleton ungeduldig. »Wie heißt er?«
»Velja Krosac.«
»Hm«, erwiderte der Coroner stirnrunzelnd. »Schon wieder ein fremdländischer Name, so, so. Ein armenischer?«
»Es gibt nur ein wahres Volk - die Ägypter«, entgegnete Haracht ungerührt.
»Ja, ja«, fuhr Stapleton wütend fort. »Wie wird der Name geschrieben?«
Colonel Pickett antwortete: »Das haben wir alles bei den Akten. Er schreibt sich V-e-l-j-a K-r-o-s-a-c. Wir haben in der Wohnwagenküche des Mannes Beweismaterial mit schriftlicher Erwähnung des Namens sichergestellt.«
»Wo ist dieser Vel- Velja Krosac?« fragte der Coroner.
Haracht zuckte die Schultern. »Er ist fortgegangen.«
Ellery entging nicht, daß in seinem sturen Blick erneut die Angst aufflackerte.
»Wann war das?«
Wieder Schulterzucken.
Colonel Pickett kam erneut zu Hilfe. »Es ist vielleicht günstiger, Mr. Stapleton, wenn ich selbst Bericht erstatte, um den Fortgang der Verhandlung zu beschleunigen. Krosac hat, soweit wir wissen, seine Identität stets getarnt. Seit etwa zwei Jahren ist er mit diesem Mann herumgezogen. Seltsamer Knabe, fungierte als eine Art Manager und machte Werbung für den Verein. Den religiösen Mumpitz überließ er diesem Haracht hier, der ihn irgendwo im Westen aufgegabelt haben muß. An Heiligabend waren sie das letzte Mal zusammen. Sie kampierten in der Nähe von Hollidays Cove« -das lag ein paar Kilometer von Weirton; Ellery entsann sich gewisser Wegweiser. »Krosac ist dann um zehn Uhr herum verschwunden; und dieser Sowieso hier behauptet steif und fest, ihn seither nicht mehr gesehen zu haben. Zeitlich kommt das etwa hin.«
»Und von Krosac fehlt jede Spur?«
Der Colonel wirkte auf einmal gereizt. »Bislang ja«, gab er schroff zurück. »Wie vom Erdboden verschluckt. Aber wir werden ihn finden. Fliehen kann er nicht. Die Personenbeschreibungen von Krosac und Kling sind raus.«
»Haracht«, begann der Coroner, »sind Sie jemals in Arroyo gewesen?«
»Arroyo? Nein.«
»So weit nördlich sind sie in West Virginia nie gewesen«, fügte der Colonel erklärend hinzu.
»Was wissen Sie über Krosac?«
»Er hat den wahren Glauben gefunden«, antwortete Haracht bedächtig. »Er kniet in frommer Andacht vor dem Altar. Er hat teil an kuphi und lauscht den heiligen Schriften mit erleuchtetem Geist. Er ist der Stolz und die Herrlichkeit -«
»Schon gut«, unterbrach der Coroner voll Überdruß und wandte sich dem Polizisten zu. »Führen Sie ihn hinaus.«
Der Polizist grinste, erhob sich, packte den knochigen Zwerg am Arm und zerrte ihn aus dem Zeugenstand. Als die beiden in der Menge verschwunden waren, hörte man den Coroner erleichtert aufatmen.
Ellery tat es ihm nach. Sein Vater hatte recht behalten. Es hatte den Anschein, als ob er hier nichts mehr verloren hätte und besser nach New York zurückkehren sollte -wenn auch nicht gerade mit eingezogenem Schwanz, so doch zumindest mit Armsündermiene. Der ganze Vorgang war so verrückt, die ganze Affäre so unbegreiflich, so bar jeder Logik, daß sie ins Farcenhafte abglitt. Und doch -es gab ihn ja, diesen grausam verstümmelten Toten, der an einem Wegweiser gekreuzigt ...
Gekreuzigt! Er fuhr zusammen und atmete laut. Kreuzigung Altes Ägypten. Wo nur war er auf diese merkwürdige Sache gestoßen?
Die Verhandlung lief nun schneller ab. Colonel Pickett präsentierte eine Reihe von Gegenständen, die in Harachts Wohnwagen gefunden und von diesem als Eigentum Krosacs ausgewiesen worden waren. Sie waren für die Verhandlung ohne Wert; taugten weder als direkte Beweisstücke noch als Schlüssel zur Herkunft oder Identität des Mannes. Es hatte sich kein Foto des Gesuchten gefunden, wie der Coroner betonte, was die Ergreifung des Mannes nicht gerade einfacher machte. Es kam erschwerend hinzu, daß auch keine Proben seiner Handschrift vorlagen.
Weitere Zeugen wurden in den Zeugenstand gerufen und Nebensächlichkeiten festgehalten. Niemand jedoch hatte Andrew Vans Haus an Heiligabend beobachtet oder Krosac gesehen, nachdem Croker ihn an der Kreuzung abgesetzt hatte. Vans Haus war das einzige Gebäude, das in der Nähe der Kreuzung lag, und niemand war in jener Nacht daran vorbeigekommen ... Die Nägel, die in Vans Körper getrieben worden waren, stammten aus seiner eigenen Werkzeugkiste, die er normalerweise im Küchenschrank aufbewahrt hatte. Wie sich herausstellte, hatte Kling sie vor längerer Zeit in Bernheims Laden gekauft; die meisten hatten dazu gedient, einen Holzschuppen zusammenzunageln.
Ellery kam aus langer Gedankenverlorenheit wieder zu sich, als Coroner Stapleton sich erhob. »Meine Damen und Herren Geschworenen«, sagte er, »Sie waren Zeugen dieser Verha-«
Ellery sprang auf. Stapleton unterbrach seine Rede und drehte sich verärgert zu Ellery herum. »Ja, Mr. Queen? Sie wagen es, hier einfach -«
»Bitte warten Sie noch einen Augenblick, Mr. Stapleton«, sagte Ellery eilig, »bevor Sie sich an die Geschworenen wenden. Ich habe etwas entdeckt, was meiner Überzeugung nach für die Verhandlung wichtig ist.«
»Was?« brüllte Staatsanwalt Crumit, indem er von seinem Sitz hochfuhr. »Etwas Neues entdeckt?«
»Nichts Neues, Herr Staatsanwalt«, gab Ellery zurück. »Ganz im Gegenteil: Etwas sehr Altes. Älter noch als das Christentum.«
»Also hören Sie mal«, erwiderte Coroner Stapleton -die Zuschauer reckten die Hälse und flüsterten, und die Geschworenen hatten sich von ihren Plätzen erhoben, um den unerwarteten Zeugen zu bestaunen -»was soll der Unsinn, Mr. Queen? Was soll denn bitte das Christentum mit dem Fall zu tun haben?«
»Nichts, hoffe ich.« Ellery rückte das Pincenez auf seiner Nase gerade. »Das augenfälligste Merkmal dieses abscheulichen Verbrechens, wenn ich es einmal so formulieren darf«, sagte er streng, »ist in der gesamten Verhandlung nicht einmal zur Sprache gekommen! Ich beziehe mich auf die Tatsache, daß der Mörder, wer auch immer er sein mag, den Tatort voller Absicht mit dem Buchstaben oder Symbol T übersät hat. Die T-Form der Kreuzung. Die T-Form des Wegweisers. Die T-Form der Leiche. Das T, das mit dem Blut des Opfers an dessen Haustür geschmiert wurde. All diese Auffälligkeiten haben bei der Presse große Beachtung gefunden -zu Recht!«
»Ja, ja«, unterbrach Staatsanwalt Crumit mit höhnischem Unterton. »Das alles ist uns bekannt. Worin also besteht Ihre bedeutsame Entdeckung?«
Ellery starrte Crumit nieder, bis er rot anlief und sich setzte.
»Es besteht kein zwingender Zusammenhang - wie ich leider gestehen muß. Aber haben Sie jemals die Möglichkeit in Erwägung gezogen, daß das Symbol T sich nicht notwendig auf das Alphabet beziehen muß?«
»Worauf wollen Sie hinaus?« fragte Coroner Stapleton verunsichert.
»Ich nehme an, daß dem T-Symbol religiöse Bedeutung zukommt.«
»Religiöse Bedeutung?« wiederholte Stapleton.
Ein korpulenter Herr mit Priesterkragen erhob sich aus der Menge. »Wenn ich die Ausführungen dieses kundigen Herrn hier einmal unterbrechen darf«, sagte er bissig. »Ich bin Pastor und kenne die Heilige Schrift; von einer religiösen Bedeutung des T-Symbols ist mir nichts bekannt!«
Jemand aus der Menge brüllte: »Dem hamses aber gegeben, Herr Pfarrer!« Der Pastor errötete und setzte sich.
Ellery schmunzelte. »Der gelehrte Gottesmann möge bitte zur Kenntnis nehmen, daß die religiöse Bedeutung in folgendem besteht: Eines der vielen Kreuzsymbole mit religiöser Bedeutung ist T-förmig. Es nennt sich Tau-Kreuz oder crux commissa.«
Der Pastor erhob sich erneut von seinem Platz. »Schon«, konzedierte er, »das stimmt. Aber, mein Herr, es ist ursprünglich kein christliches Kreuz, sondern ein heidnisches Symbol gewesen!«
Ellery lachte leise. »Ganz recht, Herr Pfarrer. Aber war nicht auch das lateinische Kreuz jahrhundertelang bei vorchristlichen Völkern in Gebrauch? Das Tau-Kreuz ist wiederum noch etliche Jahrhunderte älter als das uns allen vertraute lateinische Kreuz. Es soll ursprünglich eine Art Phallussymbol gewesen sein ... Entscheidend aber ist folgendes.«
Alle hielten den Atem an, als er seine Rede unterbrach, um tief Luft zu holen. Dann wandte er sich wieder dem Coroner zu und sagte betont: »Für das Tau-oder T-Kreuz gibt es noch eine andere Bezeichnung - man nennt es auch das ägyptische Kreuz!«