Die zwanziger und die dreißiger Jahre unseres Jahrhunderts waren die Zeit, in der sich die durch Sir Arthur Conan Doyle und seinen schon zu Lebzeiten unsterblichen Sherlock Holmes zum Kultgenre gewordene Detektivgeschichte zu einer Kunstform sui generis verwandelte: Sie wurde zum intelligenten und hochartifiziellen Spiel zwischen dem Autor und seinen Lesern. Nicht genug, daß es dem Autor gelingen mußte, seine Leser erst auf die Folter zu spannen, um sie dann mit einem verblüffenden Schlußcoup zu überraschen -er hatte dies auch nach ganz bestimmten Regeln zu tun, deren wichtigste die war, alle ›Clues‹, d. h. Hinweise, Indizien usw., die zur Lösung der Rätsel erforderlich waren, dem Leser zu präsentieren. Er mußte also einerseits ein Rätsel sauber und fair konstruieren und zugleich die dabei verwendeten Baumaterialien seinen Lesern sozusagen einzeln vorführen. Dies aber hatte wiederum so zu geschehen, daß das Geheimnis vom Leser in der Regel nicht vorschnell gelöst wurde andernfalls würde der komplexe und komplizierte Kommunikationsprozeß zwischen Autor und Leser, den die Lektüre jetzt darstellt, zusammenbrechen, wie schon Edgar Allan Poe am Beispiel von Dickens‘ »Barnaby Rudge« dargelegt hatte: Der Autor geht beim Schreiben davon aus, daß sein Leser immer noch vor einem Rätsel steht, während dieser es längst gelöst hat und sich über das geheimnisvolle Geraune des Autors wundert.
Zwei englische Damen waren es, die als erste in der Praxis diesem Kunstanspruch -im Sinne des ›Künstlichen‹, des Kunstvollen - Genüge taten: Agatha Christie und Dorothy L. Sayers. Der Amerikaner Willard Huntington Wright alias S. S. Van Dine faßte als erster dieses sich herausbildende »gentlemen‘s« -oder auch »dames‘« -»agreement« in feste Regeln, denen er auch seine eigenen erfolgreichen Romane strikt unterwarf (»Der Mordfall Bischof«, »Der Mordfall Greene«, »Der Mordfall Canary«, DuMont‘s Kriminal-Bibliothek Bände 1006, 1029, 1062), während etwa Sir Arthur Conan Doyle oder Edgar Wallace weiter den Mustern der alten Sensationsliteratur folgten.
In diesem Klima lobt eine amerikanische Zeitung 1928 einen hochdotierten Preis für den besten Detektivroman aus, und zwei gleichaltrige Vettern, Daniel Nathan (1905-1982) und Manford Lepofsky (1905-1971), die irgendwann vorher ihre Namen zu Frederic Dannay und Manfred B. Lee amerikanisiert haben, beschließen mitzumachen. Die Forderung, das Manuskript unter einem Pseudonym einzureichen, regt sie zu einer originellen und für das Genre innovativen Entstehungsfiktion für ihr Werk an. Hatte Sir Arthur Conan Doyle zum immerwährenden Leidwesen und Arger der wahren Holmes-Fans auf den Titelblättern seiner Werke die Fiktion, Dr. Watson erzähle die Heldentaten seines Freundes, gebrochen und sich selbst als Autor genannt, so hatte Willard Huntington Wright in seinen Romanen diesen ›Fehler‹ korrigiert: ›S. S. Van Dine‹ ist als Rechtsanwalt und Vermögensberater der ›Watson‹ seines Meisterdetektivs Philo Vance und erscheint als Autor der Chroniken über die Fälle seines Freundes auch auf dem Titelblatt. Dannay und Lee entwickeln nun eine Fiktion, die es ihnen erlaubt, auf eine zu dieser Zeit bereits etwas überlebte
›Watson‹-Gestalt zu verzichten, indem sie ihren Detektiv ›Ellery Queen‹ zugleich zum Schriftsteller machen. Wie bei ›S. S. Van Dine‹ und ›Philo Vance‹ handelt es sich aus Gründen der Diskretion und des Personenschutzes zwar um ein Pseudonym, aber unter diesem gestaltet der junge Intellektuelle selbst Fälle, die er an der Seite seines Vaters, des bekanntesten Inspectors der New Yorker Mordkommission, gelöst hat, zu Romanen aus (»Der mysteriöse Zylinder«, »Sherlock Holmes und Jack the Ripper«, »Der Sarg des Griechen«, DuMont‘s Kriminal-Bibliothek Bände 1008, 1017, 1040). Damit ist zugleich der Charakter des Detektivs vorgegeben, seine ›bookishness‹, wie der englische Ausdruck für sein um die eigene Intellektualität wissendes überlegenes Gehabe lautet.
Der Roman gewann tatsächlich den ausgelobten Preis, wurde jedoch wegen eines konkursbedingten Besitzerwechsels nicht in der Zeitschrift veröffentlicht und erschien stattdessen 1929 als Buch und eröffnete eine der erfolgreichsten Detektivserien aller Zeiten -so erfolgreich, daß selbst die von Anfang an hinter ›Ellery Queen‹ stehenden zwei Autoren nicht ausreichten, um die weltweite Nachfrage zu befriedigen, sondern vor allem im Spätwerk anonyme Lohnschreiber beschäftigt wurden, was erst postum enthüllt wurde. Der Grundeinfall hatte sich als äußerst tragfähig erwiesen, lediglich die in den frühen Bänden entwickelte Schreibfiktion mußte wegen des großen Erfolgs bald aufgegeben werden: In ihnen ist Inspector Queen im Ruhestand, Ellery verheiratet, sie leben in Italien, wo Ellery länger zurückliegende Fälle episch ausarbeitet. Da dies nicht über Jahrzehnte hinweg glaubwürdig durchgehalten werden kann, wird Inspector Queen eines Tages unauffällig reaktiviert, Ellery entheiratet, und beide leben plötzlich wieder mit Diener Djuna in New York. Das eigentliche Markenzeichen der frühen Bände ist einerseits äußerlich die Verbindung eines Hauptworts mit einem geographischen Begriff im Titel, im Innern aber die »Herausforderung an den Leser«: Ellery unterbricht seine Erzählung, um dem Leser mitzuteilen, er habe soeben allein aufgrund der bislang mitgeteilten Daten und Fakten die Lösung des Falls gefunden -Urbild aller bis heute lebendigen ›Krimis zum Mitraten‹.
Wenn »Das Licht Gottes« (in: »Mord als schöne Kunst betrachtet«, DuMont‘ s Kriminal-Bibliothek Band 1060) mit Recht als Ellery Queens »allerbemerkenswertestes Abenteuer« bezeichnet wird, geht es doch immerhin um das spurlose Verschwinden eines großen und soliden Hauses über Nacht, so wird »Das ägyptische Kreuz« (»The Egyptian Cross Mystery«, 1932) mit ebensolchem Recht als »eines der zugleich widerwärtigsten und raffiniertesten Verbrechen der amerikanischen Kriminalgeschichte« angekündigt. Wenn schon Aristoteles in seiner »Poetik« konstatiert, die künstlerische Abbildung von etwas Widerwärtigem sei eigentümlicherweise erfreulich, so gilt das seit den Serienmorden in Hoffmanns »Fräulein von Scuderi« und der grausigen Verstümmelung zweier Frauen in Poes »Doppelmord in der Rue Morgue« erst recht für die Kunst des Detektivromans. Wenn John Dickson Carrs Dr. Gideon Fell verkündet, er liebe es, wenn die ihm begegnenden Morde zahlreich und äußerst blutrünstig seien (»Der verschlossene Raum«, DuMont‘s Kriminal-Bibliothek Band 1042), mag er vielleicht an »Das ägyptische Kreuz« gedacht haben: Vier Morde geschehen im Laufe der sich überschlagenden Handlung, und jedes Mal ist dem Opfer der Kopf abgeschlagen worden, bevor es an einem Wegweiser, einem Totempfahl, einer Schiffsantenne oder einer Hüttenwand gekreuzigt wurde. Kein Wunder, daß die Presse schon früh Parallelen zu Mördern wie Blaubart, Landru, Peter Kürten, dem Werwolf von Düsseldorf, oder gar zu Jack the Ripper zieht.
Die Serie beginnt mit der Ermordung eines Dorfschulmeisters in West Virginia, ausgerechnet in der Weihnachtsnacht. Vom Opfer weiß man nicht mehr, als daß es über ordnungsgemäße Zeugnisse verfügt und irgendwann als Einwanderer die amerikanische Staatsbürgerschaft erworben hat. Ellery fahrt von Chicago aus, wo er sich zufällig aufhält, zum Tatort, weil ihn die Bizarrerie des Verbrechens anzieht, wie einst schon Poes Auguste Dupin zum Erstaunen und Befremden seines Freundes verkündete, die Untersuchung eines grausigen Doppelmords könne sich als amüsant erweisen. Während sein Vater, den als Profi aus New York Morde in West Virginia nicht interessieren, sogleich wieder verschwindet, um erst beim Showdown als stolzer Vater überraschend aufzutauchen, bleibt Ellery bis zur Eröffnung des Verfahrens durch den Coroner dort. Es ergibt sich nur eine Spur -zum Manager einer skurrilen, um einen Halbverrückten gescharten, ägyptische Elemente aufgreifenden Sekte, der in der Mordnacht am Tatort war und seitdem verschwunden ist. Auch Ellery fällt nichts weiter auf oder ein -oder sollte es einen Zusammenhang zwischen dem ägyptischen Kult und der Tatsache geben, daß das Opfer durch die Enthauptung zu einem makabren ›T‹ verstümmelt wurde -auch Tau-Kreuz oder ›ägyptisches Kreuz‹ genannt?
Der Fall wird erst über ein halbes Jahr später wieder virulent, als Ellerys ehemaliger Lehrer in Alter Geschichte, der die spektakulären Leistungen seines arroganten Eleven in der Presse verfolgt, ihn auf eine mögliche Folgetat hinweist -eine Enthauptung und anschließende Kreuzigung auf Long Island. Da diese Gegend nicht in die Jurisdiktion seines Vaters fällt, ermittelt Ellery als Privatdetektiv, wenn ihm auch der Ruf seines Vaters bei der lokalen Polizei und Staatsanwaltschaft einen semioffiziellen Status verleiht.
Bei den nun einsetzenden Untersuchungen im häuslichen Umfeld des Ermordeten ergeben sich die genretypischen Sekundärgeheimnisse, die im Roman selbst als »Wirrwarr von Motiven, verheimlichten Tatsachen und dreisten Lügen« bezeichnet werden. Die einzige erfolgversprechende Spur weist auf West Virgina zurück: Auf der Insel, die dem Anwesen des zweiten Mordopfers gegenüberliegt, betet die Sekte des ägyptoiden Halbirren die Sonne an. Daß seine Jünger und Jüngerinnen dies nackt tun, sorgt in den späten zwanziger Jahren für beträchtliches Aufsehen, wenn man bedenkt, daß es in den USA bis heute keinen offiziellen Nacktbadestrand gibt. Für den Sommer gemietet hat dies anrüchige Paradies ausgerechnet der untergetauchte Geschäftsführer, der schon wegen des ersten Mordes gesucht wird.
Ein Clue weist weit über seine faktische Bedeutung hinaus das Opfer muß mit seinem Mörder Dame gespielt haben. Dieser Zug erschließt sich in seiner Symbolik für den ganzen Fall erst durch das, was man heute Intertextualität nennt -die Anspielung auf ein Vorbild, wie sie für den Detektivroman als Variationsgattung immer schon kennzeichnend war. In der Einleitung zu »Der Doppelmord in der Rue Morgue« führt Poe aus, das Spiel für den analytischen Verstand sei das Damespiel, nicht das durch den Figurenreichtum komplexere Schachspiel. Beim Damespiel gewinne der, der die Züge des Gegners vorauskalkulieren könne -und schon bald gewinnt Ellery das Gefühl, der scheinbar wahnsinnige Täter habe nicht nur seine Taten sorgfältig geplant, sondern verstehe es auch, den jeweiligen »Erkenntnisstand« der Ermittler von langer Hand zu manipulieren, so daß sie genau das finden, von dem er wünscht, daß es zu diesem Zeitpunkt gefunden wird. Obwohl Ellery dies durchschaut, vermag er sich nicht von dem Brett zu lösen, auf dem ihm der unsichtbare Gegner sein Spiel aufzwingt. Noch nach dem vorletzten Zug des Kontrahenten erfolgt Ellerys letzter Zug so, wie der Mörder es erwartet hat - erst beim letzten begeht er selbst den Fehler, der endlich Ellery das Spiel gewinnen läßt - an dieser Stelle rückt er die Herausforderung an den Leser ein.
Der gleichermaßen schaurig blutrünstige wie kalt kalkulierte Krimi hat eines der spannendsten Finale des gesamten Genres der Showdown bildet eine vierfach gestaffelte Verfolgungsjagd mit allen damals gängigen Verkehrsmitteln. Angeführt wird sie vom sich sicher glaubenden vierfachen Mörder, dem Queens alter Lehrer, Professor Yardley, folgt, der zwar die Identität des Täters nicht erraten hat, wohl aber vor seinem Schüler dessen Spur aufnehmen konnte. Ihm folgt Ellery, den einzuholen sich wiederum der Detective und der Staatsanwalt von Long Island bemühen. Im Loop, der von der Hochbahn umschlossenen Innenstadt von Chicago, ist die Jagd endlich zuende, und alle sind, mit einem adäquaten Aufgebot örtlicher Polizei, vor der Hoteltür des Mörders versammelt. Welches Gesicht aber im Türspalt erscheinen wird, wenn der Page vom angeblichen Zimmerservice klopft, weiß außer Ellery niemand -und der wird es nicht verraten und seinen Triumph über die Ermittlungsbehörden -und die Leser -stattdessen recht arrogant auskosten.
Dem Leser gilt das letzte Wort -wer wird die Kosten der gigantischen Verfolgungsjagd mit Leihwagen und mehreren Charterflugzeugen durch vier Bundesstaaten tragen? Nichts einfacher als das -Ellery wird aus dem Abenteuer ein Buch machen, es eingedenk seiner zuweilen blühenden Phantasie »Das ägyptische Kreuz« nennen »und die Leser zur Kasse bitten«. In einem vom Spiel zwischen Mörder und Detektiv dominierten klassischen Detektivroman wird zugleich das Spiel zwischen Autor und Leser erstmals andeutungsweise preisgegeben -ein Zug, der dann in Carrs »Der verschlossene Raum« und bei seinen Schülern Michael Innes und Edmund Crispin fast zum Gattungsmerkmal wird.
Volker Neuhaus