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Der alte Mann betrat mein Büro und schloss die Tür. Er trug eine zerknitterte Leinenjacke und eine grüne Fliege. In seinen mit Leberflecken gesprenkelten Händen hielt er einen Panamahut, den die kalifornische Sonne mit den Jahren gegrillt zu haben schien. Auf einer Hälfte seines Gesichtes zeigten sich noch ziemlich viele weiße Bartstoppeln, daraus schloss ich, dass er sich nicht gründlich rasiert hatte.
Er sagte: »Es geht um mein Haus. Es atmet.« Es klang wie eine Entschuldigung.
Ich lächelte und erwiderte: »Nehmen Sie Platz.«
Er setzte sich auf die Kante des Bürostuhls und leckte sich über die Lippen. Sein altes Gesicht wirkte freundlich und neugierig; so jemanden wünscht man sich als netten Großvater. Er war einer von dieser Sorte älterer Herren, mit denen ich gerne an einem Herbstnachmittag auf dem Balkon gesessen hätte, um eine ruhige Partie Schach zu spielen.
»Sie müssen mir nicht glauben, falls Sie es nicht wollen, junger Mann. Aber ich habe schon einmal angerufen und dasselbe berichtet«, betonte er.
Ich überflog die Liste auf meinem Schreibtisch. »Stimmt. Sie haben vergangene Woche angerufen, richtig?«
»Und die Woche davor.«
»Und Sie sagten der Kollegin, Ihr Haus würde …«
Ich hielt inne und sah ihn an und er erwiderte den Blick. Er beendete den Satz nicht und ich nahm an, dass er hören wollte, dass ich es aussprach. Ich lächelte bürokratisch knapp.
Mit seiner freundlichen, spröden Stimme sagte er: »Ich bin aus der alten Wohnung meiner Schwester in dieses Haus gezogen. Ich habe einige Sachen verkauft und konnte daher bar bezahlen. Es war ziemlich günstig. In der Mission Street habe ich schon immer leben wollen. Aber nun, also …«
Er senkte den Blick und fummelte an seinem Hutrand.
Ich griff nach meinem Kugelschreiber. »Können Sie mir bitte Ihren Namen nennen.«
»Seymour Wallis. Ich bin ein pensionierter Ingenieur. Hauptsächlich Brückenbau.«
»Und Ihre Adresse?«
»1551 Pilarcitos.«
»Okay. Und Ihr Problem ist Lärm?«
Er schaute wieder auf. Seine Augen zeigten die Farbe blasser Kornblumen, nachdem sie zwischen den Seiten eines Buches getrocknet worden sind.
»Nicht Lärm«, sagte er sanft. »Atmen.«
Ich lehnte mich in dem schwarzen Kunstledersessel zurück und klopfte mit dem Kugelschreiber gegen meine Zähne. Ich war hier im Gesundheitsamt wirklich an absurde Beschwerden gewöhnt. Es gab eine Frau, die kam regelmäßig vorbei, und sie behauptete, dass Dutzende Krokodile, die von Kindern in den 60er-Jahren die Toilette hinabgespült worden waren, wieder zurück in die Kanäle unter ihrem Apartment in Howard and Fourth geschwommen seien und jetzt versuchen würden, durch das S-Rohr raufzuklettern, um sie zu fressen. Dann gab es da noch den jungen Schwachkopf, der glaubte, dass sein Wasserboiler gefährliche Strahlen abgebe.
Aber, absurd oder nicht, ich wurde dafür bezahlt, dass ich freundlich zu diesen Leuten war, ihnen geduldig zuhörte und sie beruhigte, dass San Francisco weder Schwärme von Krokodilen beherberge, noch dass hier irgendwo grüne Kryptonit-Klumpen versteckt sind.
»Ist es vielleicht möglich, dass Sie sich irren?«, fragte ich. »Es könnte doch Ihr eigenes Atmen sein, das Sie hören.«
Der alte Mann zuckte kurz die Achseln, als wollte er sagen, dass dies wohl möglich sei, jedoch ziemlich unwahrscheinlich.
»Vielleicht strömt ja ein Luftzug durch Ihren Kamin? Manchmal bläst die Luft durch einen alten Schornstein herab und findet ihren Weg durch Risse in den Ziegelsteinen der Feuerstelle.«
Er schüttelte den Kopf.
»Gut.« Ich fragte weiter. »Wenn es nicht Ihr eigenes Atmen ist und auch kein Luftzug im Kamin, können Sie mir dann verraten, was Sie als Ursache vermuten?«
Er hustete und nahm ein sauberes, aber verknülltes Taschentuch heraus, um sich den Mund abzutupfen.
»Ich glaube, dass es Atmen ist«, sagte er. »Ich glaube, dass irgendein Tier in der Wand gefangen ist.«
»Hören Sie Kratzen? Füßegetrampel? Irgend so etwas?«
Er schüttelte wieder den Kopf.
»Nur Atmen?«
Er nickte.
Ich wartete, um zu erfahren, ob er noch irgendetwas erwidern wollte, aber das war offensichtlich nicht der Fall. Ich stand auf und ging zum Fenster, von dem aus ich auf das Apartmenthaus nebenan sehen konnte. An warmen Tagen sah man manchmal Stewardessen, die dienstfrei hatten und sich in knappen Bikinis auf dem Dachgarten sonnten. Heute war dort aber nur ein älterer mexikanischer Gärtner mit dem Umtopfen von Geranien beschäftigt.
»Falls in Ihrer Wand wirklich ein Tier eingeschlossen ist, dann kann es ohne Wasser und Nahrung nicht sehr lange überleben. Falls es aber nicht eingeschlossen ist, dann könnten Sie hören, wie es herumläuft«, sagte ich.
Ingenieur Seymour Wallis starrte seinen Hut an. Er war gar kein Spinner, sondern ein ziemlich redlicher, praktischer Mann, wurde mir bewusst. Sich auf den Weg hierher zum Gesundheitsamt zu machen, um seine Geschichte über das körperlose Atmen zu erzählen, musste ihn echte Überwindung gekostet haben. Er wollte bestimmt nicht als verrückt angesehen werden. Aber wer will das schon?
Ruhig, aber bestimmt sagte er: »Es hört sich an wie das Atmen eines Tieres. Ich weiß, so etwas ist nur schwer zu glauben, aber seit drei Monaten höre ich es jetzt, fast die gesamte Zeit, seitdem ich dort wohne, und es ist absolut eindeutig.«
Ich wandte mich wieder um. »Kann man irgendetwas riechen? Irgendwelche störenden Rückstände? Ich meine, haben Sie Exkremente von Tieren oder so etwas in Ihren Schränken gefunden?«
»Es atmet, das ist alles. Wie ein Hund an einem heißen Tag. Es keucht und keucht, die ganze Nacht lang – und manchmal keucht es sogar am Tag.«
Ich ging zum Schreibtisch zurück und setzte mich wieder in meinen Sessel. Seymour Wallis sah mich aufmerksam an, als könne ich einfach eine Lösung aus der unteren linken Schublade hervorzaubern; aber ich war nur dazu befugt, Ratten, Kakerlaken, Termiten, Wespen, Läuse, Flöhe und Wanzen auszurotten. Für Atmen war ich nicht zuständig.
»Mr. Wallis«, fragte ich so freundlich wie möglich, »sind Sie sicher, dass Sie hier bei der richtigen Stelle sind?«
Er hustete. »Haben Sie einen anderen Vorschlag?«
Ich begann mich wirklich zu fragen, ob ein Psychiater hier nicht besser angebracht und er dabei sei, verrückt zu werden, aber es ist ziemlich schwer, dies einem netten alten Mann ins Gesicht zu sagen. Und angenommen, das Atmen war wirklich da?
»Wenn kein Schmutz vorhanden ist und sich keine sichtbaren Anzeichen für den Grund des Atmens finden lassen, dann weiß ich eigentlich nicht, warum Sie beunruhigt sind. Es ist vielleicht nur ein ungewöhnliches Phänomen, verursacht durch die Bauweise Ihres Hauses«, sagte ich.
Seymour Wallis hörte zu, mit einem Gesichtsausdruck, der bedeutete: Sie sind ein Bürokrat und müssen solch beruhigendes Zeug sagen, aber ich glaube kein Wort davon. Als ich verstummte, lehnte er sich in seinem Plastiksessel zurück und nickte eine Weile nachdenklich vor sich hin.
»Falls Sie sonst noch irgendetwas benötigen, falls Sie Ihre Schaben oder Ratten vernichtet haben wollen, dann kümmern wir uns darum.«
Er sah mich fest und unbeeindruckt an. »Ich will Ihnen die Wahrheit sagen«, meinte er rau. »Die Wahrheit ist, dass ich Angst habe. In diesem Atmen ist etwas, das mir eine Gänsehaut verursacht. Ich bin nur hierhergekommen, weil ich nicht wusste, wohin ich hätte sonst gehen können. Mein Arzt sagt, dass mein Gehör völlig in Ordnung ist. Mein Installateur sagt, dass die Leitungen im Haus alle okay sind, und mein Psychiater sagt, dass es keine drohenden Anzeichen einer Verkalkung gibt. Das ist ja alles sehr beruhigend, aber ich höre das Atmen immer noch und ich habe wirklich Angst.«
»Mr. Wallis«, erwiderte ich, »ich kann wirklich nichts tun. Atmen fällt nicht in meine Zuständigkeit.«
»Sie könnten zu mir kommen und es hören.«
»Das Atmen?«
»Nun, Sie müssen es nicht.«
Ich hob entschuldigend die Hände. »Mr. Wallis, es geht nicht darum, dass ich nicht will. Ich habe nur dringendere Dinge in diesem Amt zu tun. Wir haben einen verstopften Kanal in Folson und die Leute dort sind bestimmt mehr an ihrem eigenen Atmen als an dem irgendeines anderen interessiert. Es tut mir leid, Mr. Wallis, ich kann Ihnen nicht helfen.«
Er rieb sich müde die Stirn, stand auf und meinte niedergeschlagen: »In Ordnung, ich verstehe, was Vorrang hat.«
Ich ging um meinen Schreibtisch herum und öffnete ihm die Tür. Er setzte seinen alten Panamahut auf und blieb einen Augenblick stehen, als ob er nach Worten suchte, um noch etwas zu sagen.
»Wenn Sie sonst noch etwas hören, etwa, wie etwas läuft, oder wenn Sie Exkremente finden …«
Er nickte. »Ich weiß, dann rufe ich Sie an. Heutzutage ist das Problem einfach, dass jeder ein Spezialist ist. Sie können Kanäle reinigen, aber Sie können nicht so etwas Seltsamem zuhören wie einem Haus, das atmet.«
»Tut mir leid.«
Urplötzlich griff er nach meinem Handgelenk. Seine knochige alte Hand war überraschend stark und es fühlte sich an, als ob mich ein nackter Adler gepackt hätte.
»Warum hören Sie nicht auf, ständig zu sagen, dass es Ihnen leidtut, und tun stattdessen etwas Nützliches?«, fragte er. Er trat so dicht an mich heran, dass ich die roten Äderchen in seinen Augen erkennen konnte. »Wenn Sie hier fertig sind, warum kommen Sie anschließend nicht mal vorbei und hören fünf Minuten zu? Ich habe schottischen Whisky da, den mein Neffe aus Europa mitgebracht hat. Wir könnten einen Drink nehmen und dann könnten Sie zuhören.«
»Mr. Wallis …«
Er ließ mein Handgelenk los, seufzte und rückte seinen Hut zurecht. »Bitte verzeihen Sie mir«, sagte er ausdruckslos. »Ich glaube, dass mir meine Nerven einen kleinen Streich gespielt haben.«
»Schon gut«, sagte ich. »Hören Sie zu, sollte ich nach Feierabend noch Zeit finden, komme ich vorbei. Heute Abend muss ich noch zu einer Besprechung, aber danach versuche ich es.«
»Sehr schön«, sagte er, ohne mich anzusehen. Er wollte nicht die Kontrolle über seine Gefühle verlieren und strengte sich sehr an, sich zusammenzureißen.
Dann sagte er: »Es könnte der Park sein, wissen Sie. Es könnte etwas mit dem Park zu tun haben.«
»Mit dem Park?«, fragte ich verblüfft.
Er runzelte die Stirn, als ob ich irgendetwas völlig Belangloses gesagt hätte. »Danke, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben, junger Mann.«
Dann ging er den langen polierten Flur entlang. Ich stand im Türrahmen und schaute ihm nach. Überraschend begann ich in der klimatisierten Luft zu frösteln.
Wie üblich wurde die abendliche Sitzung von Ben Pultik beherrscht, dem Leiter der Abteilung für Müll. Pultik war ein kleiner, breitschultriger Mann, der aussah wie ein schmaler Garderobenschrank, über den ein gemustertes Jackett gestülpt wurde. Er arbeitete schon seit einer Ewigkeit in der Müll-Abteilung und betrachtete sein Ressort als eine der wichtigsten Aufgaben der Menschheit, was es, wenn man so will, ja auch war – doch nicht in dem Sinne, wie er es sah.
Wir saßen um den Konferenztisch, rauchten viel zu viel und tranken wässrigen Kaffee aus Plastikbechern, während sich der Himmel draußen vor den Fenstern purpurn und mattgold färbte und die Türme und Dächer von San Francisco wie Sand glitzernd in der Pazifiknacht verschwanden.
Pultik beschwerte sich, dass die Besitzer ausländischer Restaurants die Küchenabfälle nicht fachgerecht in schwarzen Plastikmüllsäcken sammelten, und seine Mannschaft deshalb ihre Overalls ständig mit exotischen Essensresten beschmutzte.
»Einige meiner Männer haben einen jüdischen Glauben«, sagte er und zündete seinen Zigarettenstummel wieder an. »Und das Letzte, was die sich wünschen, ist, sich von oben bis unten mit Essen einzusauen, das nicht koscher zubereitet worden ist!«
Morton Meredith, der Chef der Abteilung, saß mit verkrampftem Lächeln in seinem Sessel am Kopf des Tisches und versteckte hinter seiner Hand ein Gähnen. Der einzige Grund, warum wir diese Sitzungen abhielten, war der, dass man im Rathaus darauf bestand; die Angestellten sollten sich untereinander Anregungen geben – doch der Gedanke, von Ben Pultik stimuliert zu werden, war wie die Idee, bei McDonald’s Muscheln à la farcies zu bestellen. Die stehen dort nämlich gar nicht auf der Karte.
Kurz vor neun Uhr, nach einem ermüdenden Bericht der Schädlingsbekämpfer, verließen wir das Gebäude und traten hinaus in die warme Abendluft. Dan Machin, jung und dürr wie eine Bohnenstange, der beim Forschungslabor des Gesundheitsamtes beschäftigt war, kam über den Platz auf mich zugelaufen und schlug mir auf den Rücken.
»Wie wär’s mit einem Drink? Bei diesen Sitzungen trocknet einem ja die Kehle aus.«
»Klar«, antwortete ich. »Ich habe Zeit genug zum Totschlagen.«
»Zeit und Fliegen.«
Warum ich Dan Machin mochte, weiß ich eigentlich nicht genau. Er war drei oder vier Jahre jünger als ich, seine Haare stoppelig-kurz geschnitten wie der Weizen in Kansas, und er trug eine große, altmodische Brille, die immerzu von seiner Stupsnase rutschen wollte. Seine Jacken – mit Lederaufnähern an den Ellbogen – waren immer zu groß, seine Schuhe ständig ausgelatscht; doch er hatte einen leisen Humor, der mir gefiel. Obwohl Dans Gesicht ziemlich blass war, weil er zu viele Stunden im Büro verbrachte, bewegte er sich gut beim Tennis.
Vielleicht erinnerte mich Dan Machin an die Zeit meiner wohlbehüteten Jugend in einem Vorort von Westchester, wo an allen Häusern Kutscherlampen leuchteten und alle Hausfrauen die Haare blond und mit glänzendem Spray fixiert trugen. Sie fuhren ihre Kinder in großen Buicks herum und im Herbst wurde durch den Geruch von brennendem Laub das Halloweenfest angekündigt. Seither hatte ich einiges wirklich Übles durchgemacht, unter anderem eine schmutzige Scheidung und eine leidenschaftliche, aber hoffnungslose Affäre. Jedenfalls war es nett zu wissen, dass ein solch heiles Amerika noch existierte.
Wir überquerten die Straße und gingen durch die enge Nebenstraße der Gold Street zu Dans Lieblingsbar, das Assay Office. Es bestand aus einem sehr hohen Raum mit einer altmodischen Terrasse; die Holzmöbel waren mit Messingbändern verziert und zeugten noch von einem längst vergangenen San Francisco. Wir fanden einen Platz an der Wand und Dan bestellte uns zwei Coors.
»Ich hatte eigentlich vor, heute Abend nach Pilarcitos zu fahren«, erzählte ich ihm und zündete mir eine Zigarette an.
»Aus Vergnügen oder beruflich?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Weder das eine noch das andere.«
»Das klingt geheimnisvoll.«
»Ist es auch. Heute kam ein alter Mann zu mir ins Büro und erzählte, dass er ein Haus besitzt, das atmet.«
»Atmet?«
»Genau das. Um genauer zu sein: Es hechle wie Lassie. Er wollte wissen, ob ich etwas dagegen tun kann.«
Das Bier kam und Dan trank einen großen Schluck, wobei ein weißer, schaumiger Schnurrbart zurückblieb, der ihm ganz gut stand.
»Es ist keine Fallströmung im Kamin«, erzählte ich ihm. »Es ist auch kein Tier, das in den Wänden gefangen ist. Es ist wirklich ein echter Fall unerklärlichen Atmens.«
Das sollte eigentlich ein Witz sein, aber Dan schien es ernst zu nehmen: »Sagte er sonst noch etwas? Hat er gesagt, wann es passiert? Zu welcher Tageszeit?«
Ich stellte mein Glas ab. »Er meinte, dass es immer da sei. Er lebt erst seit einigen Monaten in dem Haus, und seither ist es immer zu hören. Er hat wirklich Angst. Ich vermute, der alte Kauz glaubt, dass es eine Art Geist ist.«
»Tja, das könnte sein«, murmelte Dan.
»Oh, sicher – und Ben Pultik ist den Müll leid.«
»Nein, ich meine es ernst«, beteuerte Dan. »Mir sind schon solche Fälle zu Ohren gekommen, bei denen Leute Stimmen und so etwas gehört haben. Unter bestimmten Bedingungen können Geräusche, die irgendwann in einem alten Raum verursacht worden sind, nochmals vernommen werden. Ab und zu haben Leute berichtet, dass sie Unterhaltungen gehört hätten, die vor Jahrhunderten stattgefunden haben müssen.«
»Woher weißt du das alles?«
Dan zupfte sich an seiner kleinen Nase, als wolle er sie verlängern, und ich könnte schwören, dass er tatsächlich leicht errötete. »Um ehrlich zu sein«, erwiderte er verlegen, »bin ich schon immer sehr an Geistererscheinungen interessiert gewesen. Das zieht sich durch unsere Familie.«
»So ein hartgesottener Wissenschaftler wie du?«
»Na, hör mal, sie sind nicht alle so idiotisch, wie man immer meint, diese ganzen Geisterweltgeschichten. Es gibt da völlig verblüffende Fälle. So erzählte meine Tante immer, dass sich der Geist von Buffalo Bill jede Nacht auf ihre Bettkante gesetzt hat, um ihr Geschichten aus dem alten Westen zu erzählen.«
»Buffalo Bill?«
Dan legte sein Gesicht in selbstkritische Falten. »Das hat sie behauptet. Vielleicht hätte ich ihr das nicht glauben sollen.«
Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. In der Bar herrschte ein angenehmes Stimmengewirr. Gerade brachte man gebratene Hähnchen und Rippchen herein, was mich daran erinnerte, dass ich schon seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte.
»Meinst du, ich sollte mir das mal ansehen?«, fragte ich Dan, während mir ein Mädchen in einem T-Shirt auffiel, über deren Busen ›Oldsmobile Rocket‹ gedruckt stand.
»Na ja, sagen wir mal: Ich würde gehen. Hmm, vielleicht sollten wir zusammen hingehen. Ich würde gern ein Haus hören, das atmet.«
»Du würdest also gehen? Okay, wenn du das Taxigeld mit mir teilst, dann fahren wir hin. Aber glaube nicht, dass ich für den Burschen garantieren kann. Er ist sehr alt und vielleicht leidet er nur an Halluzinationen.«
»Eine Halluzination ist eine Täuschung.«
»Allmählich fange ich an zu glauben, dass das Mädchen dort in dem T-Shirt eine Sinnestäuschung ist.«
Dan drehte sich um und sein Blick traf den des Mädchens. Er lief dunkelrot an.
»Mensch, so was tust du ständig«, beklagte er sich irritiert. »Die müssen doch glauben, dass ich der reinste Sex-Maniac bin.«
Wir tranken unser Bier aus und nahmen ein Taxi zur Pilarcitos Street hinauf. Es war eine dieser kurzen, verschlungenen Straßen, in denen man sein Auto parkt, wenn man ein japanisches Restaurant auf der Hauptstraße besuchen will, und das man dann nachher, weil man zu viel Tempura und Sake intus hat, nie mehr wiederfindet. Die Häuser waren alt und still, mit Türmchen, Giebeln und schattigen Eingängen, und in Anbetracht, dass die Mission Street nur einige Hundert Meter entfernt verlief, schienen sie seltsam vor sich hin zu brüten und nicht mit der Gegenwart verbunden.
Dan und ich standen im warmen Abendwind vor der Nummer 1551 und sahen zu dem gotischen Turm und dem mit Holz verkleideten Balkon auf, an denen die graue Farbe absprang wie Schuppen von einem toten Fisch.
»Du glaubst also nicht, dass ein solches Haus atmen kann?«, fragte er mich und rümpfte die Nase.
»Ich glaube nicht, dass irgendein Haus atmen kann. Aber es riecht, als ob die Rohrleitungen mal überprüft werden müssen.«
»Um Gottes willen«, klagte Dan. »Keine Fachgespräche mehr nach Dienstschluss. Glaubst du, dass ich zu Cocktailpartys gehe und dabei die Haare meiner Gastgeber nach Läusen absuche?«
»Bei dir würde mich das nicht wundern.«
Ein rostiges schmiedeeisernes Tor und fünf Stufen führten zum überdachten Vorbau. Ich drückte das Tor auf, das aufstöhnte wie ein sterbender Hund. Dann gingen wir die Stufen hinauf und suchten im Dunkeln nach einer Klingel. Alle Fenster der unteren Etage, die zur Straße zeigten, waren dunkel und geschlossen, sodass uns Pfeifen oder Rufen aussichtslos schienen. Unten am Hügel raste ein Polizeiwagen mit heulender Sirene vorbei und ein Mädchen, das mit zwei jungen Männern die Straße entlangstolzierte, kicherte laut. All dies geschah innerhalb unserer Sicht-und Hörweite und doch herrschte hier am Eingang zu Nummer 1551 nichts als dunkles Schweigen und ein Gefühl, als wirbelten vergessene Jahre an uns vorüber, die aus dem Briefkasten und unter der verzierten Vordertür herausrannen wie der Sand aus Säcken.
»Hier ist ein Klopfer«, sagte Dan. »Vielleicht sollte ich ein paarmal klopfen.«
Ich schielte in die Finsternis. »Solange du dabei nicht ›Nimmermehr‹ zitierst.«
»Jesus«, sagte Dan. »Sogar der Türklopfer ist gruselig.«
Ich trat etwas näher heran und schaute ihn an. Es war ein gewaltiger, antiker Klopfer, der vom Alter und Wetter ganz schwarz geworden war. Er hatte die Form einer seltsamen, knurrenden Kreatur, etwas zwischen Wolf und Dämon – nicht gerade einladend, fand ich. Jemand, der so etwas freiwillig an seine Vordertür hing, musste etwas seltsam sein, es sei denn, er hatte an Albträumen Spaß. Unten auf dem Türklopfer stand ein einzelnes Wort eingraviert: Rückkehr.
Weil Dan noch zögerte, benutzte ich den Klopfer drei-oder viermal. Der Klang hallte leise drinnen im Haus wider und wir warteten geduldig vor der Tür, dass Seymour Wallis reagierte.
»Was, glaubst du, ist das? Das Ding da auf dem Klopfer?«, fragte Dan.
»Keine Ahnung. So eine Art Wasserspeier, vermute ich.«
»Für mich sieht es mehr nach einem verfluchten Werwolf aus.«
Ich griff in meine Jackentasche und holte eine Zigarette heraus. »Du hast zu viele alte Horrorfilme gesehen.«
Gerade wollte ich noch einmal klopfen, als ich drinnen schlurfende Schritte sich nähern hörte. Mehrere Riegel wurden oben und unten von der Tür fortgeschoben und dann öffnete sie sich knarrend einen Spalt, bis sie von einer Sicherheitskette gestoppt wurde. Ich sah Seymour Wallis’ blasses Gesicht vorsichtig durch den Spalt spähen, als ob er Verbrecher erwartete – oder die Zeugen Jehovas.
»Mr. Wallis?«, fragte ich. »Wir kommen, um das Atmen zu hören.«
»Oh, Sie sind es.« Offensichtlich war er erleichtert. »Bitte warten Sie einen kleinen Augenblick, ich mache sofort auf.«
Er schob die Kette fort und die Tür knarrte noch ein Stück weiter auf. Seymour Wallis trug einen kastanienbraunen Bademantel und Pantoffeln, aus denen seine dünnen, nackten, behaarten Beine ragten.
»Ich hoffe, dass wir Sie nicht gerade von der Abendtoilette abhalten«, sagte Dan.
»Nein, nein. Kommen Sie herein. Ich habe mich nur gerade fertig gemacht, um ein Bad zu nehmen.«
»Ihr Klopfer gefällt mir«, sagte ich, »obwohl er etwas unheimlich ist, nicht wahr?«
Seymour Wallis widmete mir ein kurzes Lächeln. »Vermutlich – aber er hing bereits an der Tür, als ich einzog. Ich weiß nicht, was er darstellen soll. Meine Schwester glaubt, es könnte der Teufel sein, aber ich bin da nicht so sicher. Und weshalb ›Rückkehr‹ darunter steht, werde ich wohl niemals erfahren.«
Wir standen in einer hohen, muffigen Diele, ausgelegt mit schäbigem braunem Teppichboden. Überall an den Wänden hingen gelblich verblasste Drucke, Zeichnungen und gerahmte Briefe. Einige der Rahmen waren leer und manche zerbrochen, aber die meisten enthielten erdfarbene Ansichten vom Mount Taylor und Cabezon Peak, andere stockfleckige Landkarten und unleserliche, handgeschriebene Zeugnisse.
Das Geländer der Wendeltreppe neben uns war aus dunklem Mahagoni gedrechselt und obendrauf sahen wir eine Bronzefigur – ein Bär, der aufgerichtet stand und anstelle der Schnauze mit einem Frauengesicht versehen worden war. Die Stufen, massiv, aber schmal, wuchsen hinauf in die Dunkelheit der ersten Etage wie eine Rolltreppe in die schwarze Stille der Nacht.
»Wir gehen besser hier entlang«, meinte Seymour Wallis und führte uns durch die Diele zu einer Tür. Über ihr hing ein schäbiger Hirschkopf mit verstaubtem Geweih und nur noch einem Auge.
Dan sagte: »Nach Ihnen«, und ich war mir nicht sicher, ob er sich über das Haus lustig machte. Es konnte jedenfalls nicht noch unheimlicher werden.
Wir betraten ein kleines, stickiges Büro. Rundherum standen leere Regale, auf denen früher einmal Bücher aufgereiht gewesen sein mussten, denn die bräunlich gemusterte Tapete hinter ihnen zeigte noch die Schatten, wo sie einst gestanden hatten. In der Ecke, unter einem melancholischen Bild des frühen San Francisco, standen ein Schreibtisch mit fleckiger lederbezogener Platte und ein Holzstuhl, an dessen Rückenlehne zwei Stäbe fehlten. Seymour Wallis hatte die Fensterläden unten gelassen und die Luft des Zimmers war stickig und säuerlich. Es roch nach Katzen, Lavendelkissen und Insektenmittel.
»Hier höre ich die Geräusche stärker als in jedem anderen Raum«, erklärte Wallis. »Meistens in der Nacht, wenn ich hier sitze und Briefe schreibe oder meine Bilanzen überprüfe. Zuerst hört man nichts. Doch dann spitze ich die Ohren und bin sicher, es zu hören. Sanftes Atmen, als habe jemand den Raum betreten und stehe eine Weile etwas von mir entfernt da und beobachte mich. Ich versuche, na ja, ich habe versucht, mich nicht umzudrehen. Aber ich muss zugeben, dass ich es doch immer tue. Und natürlich ist niemand da.«
Dan ging über den abgetretenen Läufer. Die Bodenbretter knackten unter seinen Füßen. Er nahm einen Sternenkalender von Seymour Wallis’ Schreibtisch und sah ihn einige Augenblicke prüfend durch.
»Glauben Sie an das Übernatürliche, Mr. Wallis?«
»Das hängt davon ab, was Sie unter Übernatürlich verstehen.«
»Tja, Geister.«
Wallis schaute erst mich und dann wieder Dan an. Ich glaubte, er fürchtete, wir wollten ihn zum Narren halten. In seinem dunkelbraunen Bademantel sah er aus wie einer von diesen älteren Herren, die darauf bestehen, am Weihnachtstag ein kurzes Bad im Meer zu nehmen.
»Ich habe meinem Kollegen hier schon erzählt, dass es Häuser gibt, die als Empfänger für Töne und Unterhaltungen aus der Vergangenheit dienen. Falls in ihrem Inneren etwas besonders Erregendes passiert, dann speichern sie die Geräusche im Gefüge der Mauern ab wie ein Aufnahmegerät und wiederholen sie später, wieder und immer wieder. Erst letztes Jahr gab es da einen Fall in Massachusetts: Ein junges Paar behauptete, es höre bei Nacht immer wieder einen Mann und eine Frau in ihrem Wohnzimmer streiten, aber sobald sie nach unten gingen, sei niemand da. Sie konnten tatsächlich Namen verstehen, und als sie im örtlichen Kirchenregister nachsahen, stellten sie fest, dass die Leute, die sie ständig hörten, 1860 in ihrem Haus gewohnt hatten.«
Seymour Wallis rieb sich sein stacheliges Kinn. »Sie wollen mir sagen, dass dieses Atmen, das ich höre, von einem Geist ist?«
»Nicht gerade ein Geist«, sagte Dan. »Es ist nur ein Echo aus der Vergangenheit. Es mag wohl beängstigend sein, ist aber nicht gefährlicher als die Töne, die aus dem Fernseher kommen. Es sind nur Geräusche, mehr nicht.«
Wallis setzte sich langsam auf den alten Stuhl und sah uns sehr ernst an. »Kann ich es dazu bringen, mich allein zu lassen?«, fragte er. »Ich meine, können Sie es vielleicht austreiben?«
»Ich befürchte, nein«, antwortete Dan. »Dazu müsste man das Haus abreißen. Was Sie hören, ist mit der Struktur des Hauses selbst verbunden.«
Ich hüstelte und sagte höflich: »Ich fürchte, da gibt es einen Ratsbeschluss gegen den Abriss dieser alten Häuser. Sie gehören zu Unterabschnitt 8.«
Seymour Wallis sah sehr müde aus. »Wissen Sie«, sagte er, »seit Jahren schon wollte ich eines dieser Häuser besitzen. Ich ging immer wieder hier vorbei und bewunderte ihr Alter, ihren Charakter und ihren Stil. Schließlich gelang es mir, eines zu ergattern. Dieses Haus bedeutet mir unsagbar viel. Es stellt für mich alles dar, was ich in meinem Leben versucht habe, um die alten Normen gegen die leichte, falsche, betrügerische, moderne Welt zu bewahren. Schauen Sie sich um! Hier gibt es kein Stück Formica, kein Gramm Plastik oder eine Spur von Glaswolle. Der Fries um die Decke ist aus echtem Gips, diese Bodenbretter stammen von einem alten Segelschiff. Schauen Sie, wie breit sie sind. Dann sehen Sie sich die Türen an. Sie sind solide und hängen richtig. Die Scharniere sind aus Messing.«
Er hob den Kopf, und als er sprach, klang seine Stimme sehr gerührt.
»Dieses Haus gehört mir. Und wenn ein Geist oder ein Geräusch in ihm ist, dann will ich es heraushaben. Ich bin der Herr hier. Bei Gott, ich werde es mit jeder übernatürlichen Kraft aufnehmen, denn es ist mein gutes Recht.«
»Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass ich Ihnen nicht glaube«, sagte ich, »denn ich bin sicher, dass Sie das, was Sie uns erzählt haben, wirklich gehört haben. Aber glauben Sie nicht, dass Sie vielleicht einfach überarbeitet sind? Vielleicht sind Sie nur müde.«
Seymour Wallis nickte. »Ich bin müde, das stimmt. Aber ich bin nicht so müde, dass ich nicht um das kämpfen würde, was mir gehört.«
Dan sah sich im Raum um. »Vielleicht könnten Sie mit diesem Atmen eine Einigung treffen. Irgendeinen Kompromiss schließen.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Also, ich weiß nicht, ob ich es selbst verstehe. Aber es gibt viele Spiritisten, die zu glauben scheinen, dass man mit den Geistern einen Pakt schließen kann, damit sie einen in Ruhe lassen. Ich meine, der Grund, warum es an einem Ort spukt, könnte einfach darin liegen, dass der Geist nicht frei ist, dahin zu gehen, wohin Geister eben verschwinden. Vielleicht versucht dieser atmende Geist, Sie dazu zu bringen, ihm bei etwas zu helfen. Ich weiß nicht. Es ist nur so ein Gedanke. Vielleicht sollten Sie einen Versuch unternehmen und mit ihm reden.«
Ich hob eine Augenbraue.
»Was schlagen Sie denn vor, was ich sagen soll?«, fragte Wallis vorsichtig.
»Seien Sie einfach geradeheraus. Fragen Sie, was er will.«
»Oh, jetzt hör aber auf, Dan«, fuhr ich dazwischen. »Das ist lächerlich.«
»Nein, das ist es nicht. Wenn Mr. Wallis das Atmen hören kann, dann kann das, was immer da atmet, ihn vielleicht auch hören.«
»Wir wissen überhaupt noch nicht, ob das Atmen wirklich existiert.«
»Aber angenommen, es atmet etwas.«
Wallis erhob sich. »Ich vermute, dass ich Sie nur überzeugen kann, wenn Sie es selber hören. Warum trinken wir nicht ein Glas Scotch? Dann setzen wir uns eine halbe Stunde hierhin, falls Sie die Zeit haben, und lauschen.«
»Ja, das würde ich gern«, sagte Dan.
Wallis schlurfte aus dem Zimmer und kam nach einem kurzen Augenblick mit zwei Holzstühlen zurück. Wir setzten uns, steif und unbequem, während er wieder davonschlurfte, um die Flasche zu holen.
Ich beschnüffelte die stickige Luft. Es war heiß und muffig in dieser kleinen Bibliothek und ich wünschte mich jetzt zurück in mein Büro, ein kaltes Bier trinkend.
Dan rieb sich kribbelig die Hände. »Das wird noch ganz aufregend.«
»Glaubst du, dass wir es hören werden?«
»Sicher werden wir es hören. Ich sagte dir doch: Ich glaube an solche Sachen. Einmal schon hätte ich fast einen Geist gesehen.«
»Du hast ihn fast gesehen? Was soll denn das heißen?«
»Ich wohnte mal in einem alten Hotel in Denver und ging eines Nachts gerade in mein Zimmer zurück, als ich sah, wie das Zimmermädchen dort herauskam. Ich steckte meinen Schlüssel ins Schloss und es fragte mich: »Sind Sie sicher, dass Sie ins richtige Zimmer wollen, Sir? Da drinnen nimmt ein Gentleman gerade ein Bad.« Nun, ich überprüfte meine Schlüsselnummer und es war das richtige Zimmer, also ging ich hinein. Das Mädchen kam mit, um nachzusehen, und als ich ins Badezimmer kam, war da niemand, der ein Bad nahm, kein Wasser in der Wanne, nichts. Hotels werden gerne von Geistern heimgesucht.«
»Bestimmt, und das Gesundheitsamt gerne von Märchenerzählern.«
In diesem Moment betrat Wallis den Raum mit einem angelaufenen Silbertablett, auf dem eine Whiskykaraffe und drei Gläser standen. Er setzte es auf den Tisch und schenkte uns die Gläser großzügig voll. Danach nahm er auf seinem Stuhl Platz und nippte an dem Scotch, als prüfe er ihn, ob er vergiftet sei. Draußen in der Halle schlug eine Uhr, die ich vorher nicht gesehen hatte, zehnmal an: Bommm …
Bommm … Bommm … Bommm …
»Haben Sie etwas Eis, Mr. Wallis?«, fragte Dan.
Wallis schaute ihn verwirrt an, schüttelte dann den Kopf, »Tut mir leid. Der Eisschrank ist kaputt. Ich wollte ihn schon längst reparieren lassen, aber meistens esse ich auswärts, deshalb war es eigentlich noch nicht nötig.«
Dan hob sein Glas. »Also, dann auf das Atmen, wer immer es verursacht.«
Ich trank den warmen puren Scotch und verzog das Gesicht.
Wir warteten schweigend fast zehn Minuten. Es ist erstaunlich, wie viele Geräusche man macht, wenn man Whisky in völliger Stille trinkt. Nach einer Weile konnte ich das Ticken der Uhr draußen in der Vorhalle hören, sogar noch das entfernte Murmeln des Verkehrs auf der Mission Street. Und da war noch das Rauschen meines eigenen Blutes, das durch meine Gehörgänge zirkulierte.
Wallis unterdrückte ein Husten: »Noch etwas Whisky?«
Dan hielt sein Glas hin, aber ich sagte: »Falls ich noch mehr trinke, dann höre ich Glocken, aber kein Atmen.«
Wir lehnten uns wieder zurück und das Holz der Stuhllehnen knackte unangenehm.
Dan fragte: »Wissen Sie etwas über die Geschichte des Hauses, Mr. Wallis? Irgendetwas, was helfen könnte, diesem geheimnisvollen Atmer auf die Spur zu kommen?«
Seymour Wallis rückte nervös einige Sachen auf seinem Schreibtisch zurecht – Stifte, Brieföffner, Terminkalender – und schaute Dan mit demselben mutlosen Gesicht an, das er auch gemacht hatte, als er in mein Büro getreten war.
»Ich habe die Grundbucheinträge durchgesehen – sie reichen zurück bis ins Jahr 1885, als man das Haus gebaut hat. Der erste Besitzer war ein Samenhändler, danach hat es ein Schiffskapitän gekauft. Aber hier geschah nichts Ungewöhnliches. Kein Mord oder so etwas.«
Dan trank noch etwas Whisky. »Vielleicht hält sich der Atmer hier auf, weil er in diesem Haus glücklich war. Das passiert manchmal. Ein Geist spukt in einem Haus und versucht, sein altes Glück zu wiederholen.«
»Ein glücklicher Atmer?«, fragte ich skeptisch.
»Genau«, verteidigte sich Dan. »So etwas hat es schon gegeben.«
Wir schwiegen wieder. Dan und ich saßen ganz ruhig da, aber Seymour Wallis zappelte ein wenig und kratzte sich voller Unruhe. Die Uhr schlug die halbe Stunde und wir warteten weiter und hörten immer noch nichts. Das Schweigen des Hauses umgab uns und wurde durch keinen Laut gestört – in diesem Gebäude lebten seit mehr als hundert Jahren Menschen, doch nun stand es bewegungslos und still, kein Fensterladen rührte sich.
Ich stellte mein Whiskyglas auf eine Ecke von Seymour Wallis’ Schreibtisch. Er sah kurz auf und ich lächelte, aber er schaute zur Seite und biss sich auf die Lippen. Wahrscheinlich machte er sich Sorgen, dass es heute Abend nicht atmete und wir glauben würden, dass er entweder ein Lügner oder völlig verrückt sei.
Jetzt machte Dan: »Psssscht.«
Ich erstarrte und lauschte. »Ich höre nichts.«
Wallis hob seine Hand. »Es ist zuerst immer sehr leise, doch es wird dann lauter. Hören Sie.«
Ich spitzte meine Ohren. Man vernahm immer noch das Ticken der Uhr in der Halle, immer noch das Geräusch des Verkehrs. Aber da war noch etwas anderes, ja, so leise, dass wir angestrengt die Stirn krausten, als wir versuchten, es zu hören.
Zuerst klang es wie ein leises Flüstern, als wehe der Wind ein Stück Seide durch den Raum. Aber nach und nach wurde es lauter. Ich konnte nur noch Dan anschauen, um festzustellen, ob er auch hörte, was ich hörte, um sicher zu sein, dass es keine Selbsttäuschung war oder durch einen Luftzug verursachte Geräusche.
Es atmete. Langsames, tiefes Atmen, wie das Atmen eines Schlafenden. Es atmete ein und aus, ein und aus, als würden die Lungen endlos gefüllt und geleert – das Atmen von jemandem, der schlief und schlief und niemals den Morgen erleben sollte.
Jetzt verstand ich, warum Seymour Wallis Angst hatte. Dieses Geräusch, dieses Atmen, konnte einem eine eisige Gänsehaut verursachen. Es war das Atmen von jemandem, der niemals wieder aufwacht. Es hatte mehr mit dem Tod als mit dem Leben zu tun, und es ging immer weiter, lauter und lauter, bis wir unsere Ohren nicht mehr spitzen mussten, sondern einfach nur dasaßen und uns gegenseitig in Schrecken und Angst ansahen.
Es ließ sich unmöglich bestimmen, woher das Atmen kam. Es kam von überall. Ich sah mir sogar die Wände an, um ganz sicher zu sein, dass sie sich nicht bei jedem Atemzug bewegten. Wallis hatte recht. Das Haus atmete und es war nicht tot, wie wir zuerst geglaubt hatten, nein, es schlief.
Ich flüsterte: »Dan, Dan!«
»Was ist los?«
»Sprich zu ihm, Dan, wie du es vorhin gesagt hast. Frage, was es will!«
Dan leckte über seine Lippen. Überall um uns herum atmete es weiter, langsam und schwer. Einige Male glaubte ich, dass es aufhört, dann jedoch kam wieder ein tiefer Atemzug und noch einer, als ob es so schon mehr als hundert Jahre geatmet hätte und vermutlich immer so weiteratmen wird.
Dan hustete. »Ich kann nicht.« Seine Stimme klang rau. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
Wallis selbst saß nur da, verkrampft und ruhig, zum ersten Mal an diesem Abend, seinen Whisky noch unberührt in der Hand.
Langsam, vorsichtig stand ich auf. Das Atmen veränderte sich nicht. Es war jetzt so laut, als läge ich dicht neben jemandem im Bett, der mir in der Dunkelheit sein Gesicht zugewandt hatte.
»Wer ist da?«, fragte ich.
Es kam keine Antwort. Das Atmen ging weiter.
»Wer ist da?«, fragte ich, jetzt viel lauter. »Was willst du? Sage uns, was du willst, und wir werden dir helfen!«
Das Atmen ging weiter, obwohl ich irgendwie meinte, dass es schroffer wurde. Es war jetzt auch schneller.
»Mach es nicht, um Himmels willen!«, bat Dan.
Ich ignorierte ihn und ging in die Mitte des Raumes. Laut rief ich: »Wer immer hier auch atmet, höre mir zu! Wir möchten dir helfen! Sage uns, was wir für dich tun können, und wir werden dir helfen! Gib uns ein Zeichen! Zeige uns, dass du uns bemerkst!«
Seymour Wallis sagte: »Bitte, ich glaube, das ist gefährlich. Lassen Sie uns einfach nur zuhören … Lassen wir es in Frieden.«
Ich schüttelte den Kopf. »Wie können wir das? Dan glaubt an Geister und Sie sagen, dass es Ihnen Angst macht. Also, auch ich höre es, und wenn ich es hören kann, dann muss da irgendetwas sein, denn ich glaube nicht an Geister und bin auch nicht sonderlich verängstigt.«
Das Atmen wurde immer schneller. Es war immer noch das Atmen eines Schlafenden, aber eines Schlafenden, der träumt, oder eines Schlafenden, den Albträume quälen.
Wallis stand auf, sein Gesicht war verzerrt und blass. »Mein Gott, so laut ist es noch nie gewesen. Bitte, sagen Sie nichts mehr. Lassen Sie es in Ruhe, dann geht es wieder fort.«
»Wer auch immer hier atmet!«, rief ich heiser. »Wer immer auch da ist! Hör zu! Wir können dir helfen! Wir können dir helfen, dieses Haus zu verlassen!«
Das Atmen raste jetzt nahezu, keuchte, winselte. Seymour Wallis hielt sich vor Grausen die Ohren zu und Dan saß erstarrt auf seinem Stuhl, das Gesicht völlig blutleer. Bisher hatte ich keine Angst gehabt – aber das hier war Wahnsinn. Das war einfach eine Schauerfantasie.
Das Atmen steigerte sich mehr und mehr, als arbeite es sich auf einen Höhepunkt zu, den Gipfel einer grotesken Anstrengung. Jetzt war es das keuchende Atmen eines Läufers, der zu weit und zu schnell läuft, das Atmen eines Tieres in Panik. Und dann krachte es plötzlich, dass ich die Augen zukniff, und Dan Machin wurde runter von seinem Stuhl gerissen und durch den halben Raum geschleudert. Seymour Wallis kreischte wie eine Frau und fiel auf die Knie. Ich hörte irgendwo im Haus Glas klirren und Gegenstände prasselten und krachten zu Boden. Dann war es still.
Ich öffnete die Augen. Wallis hockte auf dem Boden, erschüttert, aber unverletzt. Doch um Dan machte ich mir Sorgen; er lag auf dem Rücken und bewegte sich nicht, sein Gesicht war unheimlich bleich.
Ich hob den Stuhl auf, kniete neben ihm nieder und tätschelte seine Wange. »Dan? Bist du in Ordnung? Dan!«
»Vielleicht rufe ich besser einen Krankenwagen«, bot Wallis an.
Mit einem Daumen schob ich eines von Dans Augenlidern in die Höhe. Der Augapfel zuckte, also lebte er noch, aber er musste eine sehr starke Gehirnerschütterung oder einen Schock erlitten haben – solche Sachen hatte ich in der Army aufgeschnappt.
Während Wallis im Krankenhaus anrief, deckte ich Dan mit meiner Jacke zu und schaltete das alte Heizöfchen ein, um ihn warm zu halten. Dan bewegte sich nicht, er zitterte nicht einmal. Er lag einfach flach auf dem Rücken, bleich und still, doch als ich dicht an seinem Mund horchte, konnte ich schwach sein Atmen hören. Ich schlug mehrmals auf seine Wangen, doch er rührte sich nicht.
»Sie werden gleich hier sein.« Wallis legte den Hörer wieder auf.
Ich hob den Kopf. Einen Augenblick lang glaubte ich, ich hörte das Atmen wieder, dieses leise, rasselnde Atmen. Aber es war Dan, er kämpfte ums Überleben. Das Haus selbst schien wieder in seinen alten, mysteriösen Schlaf zurückgekehrt zu sein.
Wallis kniete sich langsam und mühsam neben mich. »Haben Sie irgendeine Vermutung, was das war? Dieses Geräusch? Diese starke Kraft? Ich konnte es nicht glauben. So was ist bisher noch nie passiert.«
»Ich weiß nicht. Vielleicht wurde irgendein Druck freigesetzt – vielleicht gibt es hier so etwas wie einen Luftdruck, der ab und zu abgelassen werden muss. Verdammt, ich weiß nicht, was es gewesen ist.«
»Glauben Sie immer noch, dass es ein Geist ist?«
Ich sah ihn an. »Sie?«
Wallis überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Wenn es ein Geist ist, dann muss es ein verdammt mächtiger sein. Ich habe noch nie gehört, dass ein Geist Leute flachlegen kann.«
Er sah auf Dans bleiches Gesicht und biss sich auf die Lippen: »Glauben Sie, dass er wieder gesund wird?«
Was sollte ich antworten? Ich konnte nur in der staubigen Bibliothek knien, hilflos die Achseln heben und auf den Krankenwagen warten.
Als ich Dan am folgenden Morgen besuchte, saß er aufrecht in seinem Bett. Er hatte ein grün angestrichenes Privatzimmer erhalten, mit Aussicht auf die Bucht, und die Schwestern hatten Blumen ins Zimmer gestellt. Er war wohl immer noch blass und die Ärzte hielten ihn unter Beobachtung, aber er war wieder ganz fröhlich. Ich gab ihm die neue Ausgabe des Playboy und die Morgenausgabe des Examiner und zog mir einen der Besucherstühle ans Bett.
Er klappte den Playboy in der Mitte auf und warf einen schnellen, kritischen Blick auf eine Brünette mit riesigen Brüsten. »Genau das kann ich jetzt brauchen«, sagte er trocken. »Einen kurzen Adrenalin-Schock.«
»Ich dachte mir, das wirkt besser als Benzedrin. Und, wie geht es dir?«
Er ließ das Magazin sinken. »Ich bin mir nicht sicher. So allgemein fühle ich mich eigentlich okay. Nicht schlimmer, als hätte mir jemand mit einem Baseball-Schläger eins auf den Kopf gegeben …«
Er verstummte und sah mich an. Sogar hinter seiner Clark-Kent-Brille wirkten seine Augen ungewöhnlich winzig. Vielleicht lag das an den Medikamenten, die sie ihm verabreicht hatten. Vielleicht hatte er auch eine leichte Gehirnerschütterung. Jedenfalls sah er nicht mehr wie der Dan Machin aus, den ich gestern Abend zu einem Drink getroffen hatte. Er wirkte irgendwie leblos, als ob sein Mund zwar etwas sagen würde, doch er selbst an etwas völlig anderes dachte.
»Du wirkst verändert«, sagte ich. »Meinst du das vielleicht?«
»Ich fühle mich nicht wie ich selbst … Ich weiß nicht, was es ist, aber mir geht es irgendwie merkwürdig.«
»Hast du irgendetwas Seltsames während dieser Explosion bemerkt?«
Er zuckte die Achseln. »Ich erinnere mich gar nicht daran. Ich erinnere mich nur an das Atmen und wie es immer stärker wurde, aber was danach passiert ist, weiß ich nicht mehr. Ich habe das Gefühl, dass ich angegriffen wurde.«
»Angegriffen? Wovon?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Dan. »Es ist wirklich schwer zu erklären. Wenn ich es dir beschreiben könnte, würde ich es tun. Aber ich kann nicht.«
»Glaubst du immer noch, dass es ein Geist oder Gespenst war?«
Er strich sich mit der Hand durch die kurzen Haare. »Ich bin nicht so sicher. Es könnte so etwas wie ein Poltergeist gewesen sein, weißt du, diese Geister, die Gegenstände verrücken. Es kann aber auch ein Erdbeben gewesen sein. Vielleicht verläuft genau unter dem Haus eine Spalte.«
»Plötzlich suchst du wieder nach einer normalen Erklärung. Ich habe auch schon daran gedacht, aber die Zeitungen berichten nichts über ein Beben. Im Büro habe ich heute auch herumgefragt, aber niemand hat etwas bemerkt.«
Dan nahm sich ein Glas Wasser. »Tja, ich habe auch keine Ahnung. Vielleicht war es ein Geist. Aber ich habe immer geglaubt, dass Geister eigentlich völlig harmlos sind … Weißt du, sie gehen umher, tragen den Kopf unterm Arm, rasseln mit ihren Ketten, mehr aber auch nicht.«
Ich ging zum Fenster und sah hinab auf die Autos, die über die Golden Gate Bridge fuhren. Der Nebel war in die Höhe gestiegen, doch ein letzter Schleier schmiegte sich noch um die Pfeiler der Brücke und gab dem Bild etwas Verschmiertes, wie bei einem Aquarell.
»Heute Abend werde ich nochmals ins Haus gehen«, sagte ich. »Ich möchte mir alles wirklich genau anschauen und herausbekommen, was da passiert. Bryan Corder von der Technischen Abteilung wird mitkommen. Ich habe heute Morgen mit ihm gesprochen und er vermutet, dass eine Fallströmung dahintersteckt.«
Als ich mich umdrehte, schien Dan gar nicht zugehört zu haben. Er saß aufrecht im Bett und starrte geistesabwesend durch das Zimmer; sein Unterkiefer war heruntergefallen.
»Dan? … Hast du mir zugehört?«
Er blinzelte mich an.
»Dan?«
Ich ging schnell zum Bett hinüber und nahm seinen Arm.
»Dan, ist alles in Ordnung? Du siehst wirklich krank aus.«
Er leckte über seine Lippen, als seien sie sehr trocken.
»Klar«, sagte er unsicher. »Ich bin okay. Ich glaube, ich brauche nur etwas Ruhe, das ist alles. Seit ich aus der Betäubung erwacht bin, habe ich nicht besonders geschlafen. Ich hatte ständig Träume.«
»Warum bittest du die Krankenschwester nicht um eine Schlaftablette?«
»Ich weiß nicht. Es waren ja nur diese Träume.«
Ich setzte mich wieder und sah ihn aufmerksam an. »Was denn für Träume? Albträume?«
Dan nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen. »Nein, nein, keine Albträume. Ich meine, sie waren etwas unheimlich, doch sie haben mir keine Angst verursacht. Ich habe von dem Türklopfer geträumt, du weißt doch, dem am Haus des alten Wallis. Aber er war weit mehr als ein Türklopfer. Ich habe geträumt, dass er zwar an der Tür hing, aber trotzdem mit mir sprach. Anstatt aus Metall war er aus echtem Haar und Fleisch, und er hat zu mir gesprochen … wollte mir etwas mit dieser ruhigen, flüsternden Stimme erklären.«
»Was hat er gesagt? Dass man im Wald kein Feuer anzünden soll?«
Dan schien gar nicht zu bemerken, dass ich das als Scherz gemeint hatte, denn er schüttelte ernst den Kopf.
»Er sagte, ich solle irgendwo hingehen und dort etwas suchen, aber ich habe nicht verstanden, was es ist. Er erklärte es wieder und wieder, aber ich verstand es einfach nicht. Es hatte etwas mit dem Bären auf dem Geländer von Mr. Wallis’ Wendeltreppe zu tun, du erinnerst dich sicher, die kleine Bärenfigur mit dem Gesicht einer Frau. Aber ich begriff den Zusammenhang nicht.«
Ich betrachtete Dans blasses Gesicht eine Weile nachdenklich, bis ich lächelte und freundschaftlich seine Hand drückte. »Weißt du, woran du leidest, Dan, mein alter Freund? Post-Geist-Delirium. Das ist eine Art übersinnliche postnatale Depression. Du musst dich jetzt einige Tage ausruhen, dann wirst du dich überhaupt nicht mehr daran erinnern, was dich eigentlich so bedrückt hat.«
Dan zog eine Grimasse. Er schien mir nicht recht zu glauben.
»Hör zu«, sagte ich, »wir werden heute Abend das Haus durchsuchen und was dich auch immer umgeworfen hat, wir werden es finden. Und nicht nur das – wir werden es auch lebend mitbringen, damit du es in deinem Labor in einem Einmachglas aufbewahren kannst.«
Dan versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht wirklich. »Okay«, erwiderte er leise. »Tu, was du willst.«
Ich saß noch einige Minuten bei ihm, aber Dan schien keine Lust auf ein weiteres Gespräch zu haben. Also drückte ich ihm noch einmal freundschaftlich die Hand.
»Ich schaue morgen noch mal vorbei. Etwa um dieselbe Zeit.«
Dan nickte, ohne aufzusehen.
Ich ließ ihn alleine und trat auf den Krankenhausflur.
Ein Arzt wollte gerade in Dans Zimmer. Als er mich beim Öffnen der Tür streifte, fragte ich: »Herr Doktor?«
Der Arzt schaute mich ungeduldig an. Er war ein kleiner Mann mit sandfarbenem Haar, spitzer Nase und unter seinen Augen hingen rotblaue Tränensäcke wie die Rüschen eines altmodischen Theatervorhangs. Ein Namensschild auf dem Jackenaufschlag wies ihn als Doktor James T. Jarvis aus.
Ich nickte in Richtung von Dans Zimmer. »Ich möchte mich nicht aufdrängen. Ich bin nur ein Freund von Mr. Machin, kein Verwandter oder so. Aber ich möchte gerne wissen, ob er okay ist. Ich meine, er erscheint mir heute ziemlich eigenartig.«
»Was meinen Sie mit eigenartig?«
»Na, sie kennen das sicher. Er ist nicht ganz er selbst.«
Doktor Jarvis schüttelte den Kopf. »Das ist nicht ungewöhnlich nach einer heftigen Gehirnerschütterung. Geben Sie ihm ein paar Tage zum Auskurieren.«
»War das wirklich nur eine Gehirnerschütterung?«
Der Doktor sah sich den Krankenbericht auf dem Klemmbrett an. »Ja, mehr nicht. Abgesehen von dem Asthma.«
»Asthma? Wieso Asthma? Er hat kein Asthma.«
Der Arzt sah mich kalt an. »Wollen Sie mir meinen Job beibringen?«
»Natürlich nicht. Aber ich spiele mit Dan Tennis. Er leidet nicht an Asthma. Er hat auch nie welches gehabt, soweit ich weiß.«
Der Arzt legte seine Hand auf den Türgriff zu Dans Zimmer. »Nun ja, das ist halt Ihre Sicht, Mr. …«
»Und wie ist Ihre Sicht?«, fragte ich.
Der Doktor grinste. »Tut mir leid, aber das ist vertraulich zwischen mir und meinem Patienten. Wenn er allerdings kein Asthma hat, dann leidet er mit Sicherheit an einer Erkrankung der Luftwege. Durch die Gehirnerschütterung hat sie sich verschlimmert; er musste vergangene Nacht drei oder vier Stunden unter einer Sauerstoffmaske liegen. Ich glaube nicht, dass ich schon einmal einen solch schweren Fall wie diesen erlebt habe.«
Eine hübsche brünette Krankenschwester kam in einer engen weißen Tracht den Gang entlang. Sie trug ein Tablett mit Injektionsspritzen und Arzneifläschchen.
»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe, Dr. Jarvis«, sagte sie. »Mrs. Walters brauchte wieder einen Wechsel.«
»Ist schon in Ordnung«, antwortete Dr. Jarvis. »Ich führe hier gerade ein fachliches Gespräch mit Mr. Machins gebildetem Freund. Ich lerne sehr viel dabei und es tut mir fast leid, aber jetzt muss ich gehen.«
Er öffnete die Tür zu Dans Zimmer etwas weiter, aber ich hielt seinen Arm fest und sagte: »Bitte, nur noch eine Sache.«
Er blieb stehen und schaute auf meine Hand, als ob gerade etwas Schmutziges seinen Ärmel berührt habe.
»Hören Sie.« Er schien sauer zu werden. »Ich weiß ja nicht, welche angeborene Sachkenntnis Sie auf dem Gebiet der diagnostischen Medizin haben, aber ich muss jetzt die Behandlung Ihres Freundes fortsetzen. Also, entschuldigen Sie mich.«
»Es geht nur um das Atmen. Es könnte wichtig sein.«
»Natürlich ist es wichtig«, erwiderte Dr. Jarvis sarkastisch. »Wenn unsere Patienten nicht mehr atmen, werden wir ernsthafte Schwierigkeiten bekommen.«
»Würden Sie mir bitte zuhören?«, grollte ich. »Vergangene Nacht waren Dan und ich in etwas verwickelt, das mit Atmen zu tun hatte. Ich muss wissen, warum Sie glauben, dass er einen Asthma-Anfall gehabt hat.«
»Verdammt, wovon reden Sie eigentlich? Etwas, das mit Atmen zu tun hatte? Meinen Sie, dass Sie Drogen geschnüffelt haben, oder so etwas?«
»Ich kann es nicht erklären. Es waren keine Drogen. Aber es könnte wirklich sehr wichtig sein.«
Dr. Jarvis schloss die Tür wieder und seufzte mit übertriebener Verzweiflung. »Gut. Wenn Sie es wirklich wissen müssen, Mr. Machin keuchte und schnappte nach Luft. Ungefähr alle 90 Minuten begann er heftig zu atmen und das steigerte sich bis zu einem hechelnden Röcheln. Das war alles. Es war ernst und es war ungewöhnlich, aber es gab keinen Anhaltspunkt dafür, dass es keine regulären Asthma-Attacken waren.«
»Aber ich habe es Ihnen doch gerade gesagt. Er hat kein Asthma.«
Dr. Jarvis senkte den Kopf und sagte ruhig: »Würden Sie jetzt hier verschwinden. Die Besuchszeit ist zu Ende und das Letzte, was ich brauche, sind altkluge Ratschläge. In Ordnung?«
Ich wollte noch etwas erwidern, doch dann riss ich mich zusammen. Wahrscheinlich wäre ich selbst genauso verdrießlich gewesen, wenn jemand in mein Büro gekommen wäre, um mir klarzumachen, wie man Wanzen ausrottet. Ich hob die Hände mit einer versöhnlichen Geste. »Okay. Ich verstehe. Tut mir leid.«
Die Schwester öffnete die Tür und trat ins Zimmer, während ich mich umdrehte, um zu gehen.
»Ich wollte wirklich nicht unhöflich sein«, entschuldigte sich Dr. Jarvis. »Aber ich weiß, was ich tue. Sie können um fünf Uhr wiederkommen, wenn Sie wollen. Bis dahin werden wir etwas mehr wissen.«
In dieser Sekunde hörten wir einen schrillen Entsetzensschrei aus Dans Zimmer. Dr. Jarvis sah mich an und ich ihn, und dann stießen wir beide die Tür weit auf und liefen ins Zimmer. Was ich jetzt sah, konnte ich nicht glauben. Es geschah vor meinen Augen, aber ich konnte es nicht glauben.
Die Schwester stand erstarrt vor Schreck neben Dan Machins Bett. Dan selbst saß aufrecht im Bett, in einem blau gestreiften Krankenhausschlafanzug, dies war so weit völlig normal und gewöhnlich. Doch Dans Augen … grauenvoll. Seine Brille lag auf dem Boden. Seine Augen waren blutunterlaufen – es waren die Augen eines bösen Hundes, die in der Nacht von einer Taschenlampe erfasst werden, oder vielleicht sehen so die Augen eines Dämons aus.
Er atmete ein und aus, ein und aus, mit den tiefen, stöhnenden Atemzügen, die wir in Seymour Wallis’ Haus in der vergangenen Nacht gehört hatten, dieses schwere endlose Atmen eines Schläfers, der nie mehr erwachen kann. Dan atmete wie das Haus selbst, wie alles, das uns in den düsteren, alten Räumen Angst eingeflößt hatte. Und es schien, als ob das Krankenzimmer mit jedem Atemzug kälter wurde.
»Mein Gott! Was ist das?«, keuchte Dr. Jarvis.