4

Jane rief an. Sie bedauerte, dass sie zur Mittagszeit nicht im Laden gewesen sei, und hoffte, dass ich mir keine Sorgen gemacht hätte.

Ich sah Dr. Jarvis an und fragte: »Sorgen gemacht? Weißt du, was passiert ist?«

»Ich habe es im Fernsehen gehört. Seymour Wallis ist tot.«

»Ja, aber es ist noch viel schlimmer. Er starb mit mehr Blut in seinen Adern, als Sam Peckinpah in einem ganzen Film verspritzt. 15 Liter. Und dann erzählt mir Jim hier noch, dass dieses Blut noch nicht einmal sein eigenes war. Sie haben es analysiert und es stellte sich heraus, dass es Hundeblut war.«

»Du machst Witze.«

»Jane, wenn du glaubst, dass ich in der Stimmung für Witze bin …«

»Ich habe das nicht so gemeint«, unterbrach sie mich hastig. »Ich meinte nur, es passt alles zusammen.«

»Passt zusammen? Passt wozu?«

»Zu dem, was ich dir zu sagen versucht habe. Ich bin heute Mittag nach Sausalito gefahren. Ich habe dir doch so einiges über diese indianischen Geschichten erzählt. Na ja, ich habe Freunde in Sausalito, die einige Indianer gut kennen und auch in der indianischen Kultur ziemlich bewandert sind. Sie haben von diesem Dämon, dem Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte, gehört, und sie meinen, dass ich nach Round Valley fahren sollte, um mit einem der Medizinmänner zu sprechen.«

Ich seufzte und sagte nichts.

»John? Hast du gehört?«

»Ja, ich habe es gehört.«

»Aber du hältst es für keine gute Idee?«

»Warte mal bitte einen Moment.«

Ich legte meine Hand über die Sprechmuschel und sagte zu Jim Jarvis: »Jane ist davon überzeugt, dass alles, was sich in Seymour Wallis’ Haus ereignet hat, mit irgendeiner indianischen Legende in Zusammenhang steht. Jetzt will sie mit irgendeinem Medizinmann im Round Valley reden. Was hältst du davon?«

Er zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es eine gute Idee. Jede Theorie ist besser als gar keine.«

Ich nahm meine Hand vom Hörer. »Okay, Jane. Dr. Jarvis meint, dass wir es versuchen sollten.«

»Du hättest mich sowieso nicht davon abhalten können«, meinte sie eingeschnappt.

»Jane«, sagte ich irritiert. »Ich habe den ganzen verdammten Nachmittag damit verbracht herauszufinden, wo du steckst. Wir hatten zwei Verletzte und einen Toten. Es ist für keinen von uns ratsam, jetzt etwas auf eigene Kappe zu unternehmen.«

»Ich wusste nicht, dass du dir solche Sorgen gemacht hast.«

»Du weißt verdammt genau, dass es so ist.«

»Tja, wenn dir so viel an mir liegt, dann kommst du besser mit mir morgen nach Round Valley. Ich leihe mir Bill Thorogoods Wagen.«

Ich legte den Hörer auf. Morgen war wenigstens Samstag, also musste ich mir nicht schon wieder eine neue Entschuldigung für meinen Boss, Douglas P. Sharp, einfallen lassen.

Ich sagte zu Dr. Jarvis: »Jetzt scheine ich mir selbst den Kopf in die Schlinge gelegt zu haben. Ich hoffe nur, dass es das wert ist.«

Er drückte seine zweite Zigarette aus und zuckte die Achseln. »Es gibt Zeiten, da wird man in der Medizin mit Fällen konfrontiert, die einen beleben. Solche Herausforderungen wie schwere Fälle von Vergiftungen oder ungewöhnlich komplizierte Brüche. Dann spürt man, dass es sich lohnt, Arzt zu sein, dafür die Personalpolitik des Krankenhauses, die Streitigkeiten über finanzielle Zuteilungen und das alles zu ertragen.«

Er schaute auf und fügte hinzu: »Und dann gibt es Zeiten wie diese: Man versteht überhaupt nicht mehr, was eigentlich vor sich geht, und man verliert seine Energie. Ich könnte den ganzen Tag zwischen Dan Machin, Bryan Corder und Seymour Wallis herumrennen und wäre doch nicht in der Lage, auch nur das Geringste für sie zu tun.«

Er griff nach den Zigaretten. »Mit anderen Worten, John, fahre zum Round Valley und schätze dich glücklich, dass du überhaupt irgendetwas tun kannst. Ich kann es nicht.«

Ich sah ihn eine Weile an. »Ich wusste nicht, dass Ärzte auch schwermütig werden können. Ich habe geglaubt, das würde nur in Filmen passieren.«

Er räusperte sich. »Und ich habe geglaubt, dass das, was hier im Augenblick passiert, nur in Albträumen passiert.«

Samstagmorgen war ein schöner und klarer Tag. Wir fuhren über die Golden Gate. Der Ozean glänzte unter uns und das Sonnenlicht tanzte in unruhigen Flecken über die Brückenseile und die Pfeiler. Jane saß bequem zurückgelehnt auf ihrem Sitz. Sie trug eine rote Seidenbluse und weiße Levis, auf ihrer Nase ruhte eine riesige Sonnenbrille und um ihr Haar hatte sie ein rotes Tuch gebunden.

Bill Thorogood war der glückliche Besitzer des weißen Jaguars XJ 12 und außerdem großzügig genug, dass er ihn verlieh – ich saß hinter dem Lenkrad und bildete mir ein, ich sei ein angehender Filmstar, der einen Tagesausflug zu einem teuren Restaurant macht, anstatt ein Angestellter des Gesundheitsamtes, der 160 Meilen nach Round Valley zu rasen hatte.

Wir schossen mit 100 Meilen die Stunde durch Marin und Sonoma County, durch Cloverdale, Preston und Hopland. In Ukiah machten wir Mittagspause. Die Sonne stand hoch am Himmel und der Wind blies vom Lake Mendocino herauf. Wir saßen hinter einer niedrigen Windschutzmauer vor einer Raststätte, aßen Chiliburger und beobachteten, wie ein Vater versuchte, seine fünf Kinder zusammen mit Angelzeug, aufblasbaren Booten und Zelten in seinen Kombi zu stopfen. Sobald er endlich alles verstaut hatte, kletterte ein Kind doch wieder heraus und dann musste er noch einmal zum Heck des Wagens gehen, um alles neu zu verstauen.

»Die Flüchtigkeit des Daseins«, bemerkte Jane. »So schnell man etwas tut, so schnell ist es wieder dahin.«

»Ich glaube nicht, dass das Leben flüchtig ist.«

Jane trank Coca-Cola aus der Dose. »Du glaubst also nicht, dass uns jemand als Spielzeug benutzt? Wie im Moment?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube, dass die Sache hier sehr viel ernster ist. Aber ich bin überzeugt, dass wir es bekämpfen müssen, egal, was immer es auch ist.«

Sie berührte meine Hand. »Genau das mag ich an dir, John. Du bist immer bereit zu kämpfen.«

Wir stiegen wieder in den Wagen und ich fuhr mit quietschenden Reifen vom Parkplatz. Wir rasten mit 100 weiter nordwärts bis nach Longvale, dann bogen wir ab in die Berge von Dos Rios und Eel River und hinauf in das Round Valley Reservat.

Der Medizinmann, mit dem wir uns treffen wollten, hieß George Thousand Names. Jane wusste nicht mehr über ihn, als dass er einer der ältesten und geachtetsten Medizinmänner des Südwestens war und dass er viel länger in San Francisco und Los Angeles als hier im Norden gelebt hatte. Er hatte für eine indianische Investment-Gesellschaft gearbeitet und sich für die Rechte der Indianer eingesetzt. Inzwischen lebte er wieder im Kreise seiner Familie und jeder, der seinen Rat suchte, musste den Weg ins Round Valley auf sich nehmen.

Der Jaguar schaukelte sich langsam durch die ausgefahrene Furche im Gras, die zwischen hohen Kiefern und flachen Hügeln hoch zum Haus von George Thousand Names führte. Er lebte abseits von den vielen Wohnwagen und Häusern, in denen die übrigen Indianer des Round Valley lebten, oben auf dem bewaldeten Kamm, mit Blick über den Eel River.

Während wir langsam hinaufwippten, kam sein Haus in Sicht. Es war im Chalet-Stil gebaut, mit Zwischenstockwerk, Terrasse und breiten Schiebefenstern.

»Toller Wigwam«, bemerkte Jane.

Ich hielt den Wagen vor der Holztreppe an, die zum Haus hinaufführte. Dann kletterte ich hinaus und blinzelte ins Sonnenlicht, um irgendein Zeichen von Leben zu entdecken. Ich hupte mehrmals, bis eines der Schiebefenster geöffnet wurde und ein kleiner Mann in kariertem Hemd und gut gebügelter Hose auf die Terrasse trat.

»Entschuldigen Sie«, rief ich. »Sind Sie Mr. Thousand Names?«

»Ich bin George Thousand Names. Wer sind Sie?«

»John Hyatt. Und das ist Jane Torresino. Miss Torresino hat einen Termin mit Ihnen vereinbart.«

»Ich bin kein Zahnarzt«, sagte George Thousand Names. »Sie brauchen bei mir keinen Termin. Aber ich erinnere mich. Kommen Sie hoch.«

Wir kletterten die Stufen zur Terrasse hoch. George Thousand Names kam uns entgegen und schüttelte uns die Hand. Hier direkt vor uns stehend sah er noch kleiner aus, ein schmaler und zierlicher alter Mann, dessen Gesicht so zerfurcht und zerklüftet war wie das Blatt eines Kohlkopfes. Er stand jedoch kerzengerade da und strahlte eine innere Würde aus, die mich sofort spüren ließ, dass er ein besonderer Mann war. Um seinen Hals hingen Amulette und Halsketten, die uralt, mächtig und rätselhaft aussahen, aber er trug sie so natürlich, als seien sie nichts weiter als einfacher Schmuck. Um sein Handgelenk trug er eine Armbanduhr von Cartier, echtes Gold, das Ziffernblatt sah aus wie ein Tigerauge.

»Ihre Freunde in Sausalito haben kurz erwähnt, Sie wären besorgt über einige unserer Legenden.« George Thousand Names führte uns ins Haus. Wir traten in einen gemütlichen, eleganten Raum mit polierten Kiefernholzwänden, überall lagen indianische Teppiche und Kissen. Durch eine halb offene Schiebetür sah ich in eine moderne Küche mit Keramikspüle und Mikrowellenherd.

Jane schenkte George Thousand Names einen Tabakkrug, den sie an diesem Morgen in Healdsburg gekauft hatte. »Ich habe gehört, dass das so eine Art Tradition ist«, sagte sie. »Ich hoffe, Sie mögen Klompen Kloggen.«

George Thousand Names lächelte. »Ich weiß nicht, warum sich Weiße immer so rechtfertigen müssen, wenn es um Tradition geht«, erwiderte er. »Aber das ist wirklich eine gute Marke. Wollen Sie sich nicht setzen? Wie wäre es mit Kaffee?«

Wir setzten uns auf bequeme Kissen, die auf dem Boden lagen, während eine junge Indianerin, wahrscheinlich George Thousand Names’ Haushaltsgehilfin, Kaffee für uns zubereitete. Genau hinter George Thousand Names’ Schulter glitt die Sonne wie ein Speer durch das breite Fenster und umspielte sein bejahrtes Haupt mit einem strahlenden Heiligenschein.

»Sie beide haben etwas auf dem Herzen, was Sie sehr verwirrt«, begann er. »Sie fürchten, dass Sie nicht verstehen, um was es sich handelt, und dass es Sie beide vernichten könnte.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte ich ihn.

»Ganz einfach, Mr. Hyatt. Es steht Ihnen in den Gesichtern geschrieben. Im Übrigen ist es sehr ungewöhnlich, dass Weiße sich an indianische Medizinmänner wenden und um Rat bitten, es sei denn, dass sie spüren, jede mögliche Erklärung, die ihnen ihre eigene Kultur bietet, erschöpft zu haben.«

»Wir sind nicht wirklich sicher, ob es etwas mit Indianer-Legenden zu tun hat, Mr. Thousand Names«, sagte Jane. »Es ist nur eine Vermutung. Aber je mehr wir darüber erfahren, je mehr Dinge passieren, desto mehr scheint es der Fall zu sein.«

»Erzählen Sie mir davon. Von Anfang an.«

Ich erklärte ihm, welchen Job ich bei der Gesundheitsbehörde habe und wie Seymour Wallis mich aufgesucht hatte, um mir über das Atmen in seinem Haus zu berichten. Dann schilderte ich, was Dan Machin zugestoßen war und anschließend Bryan Corder und dann Seymour Wallis selbst. Ich sprach über die Bilder des Mount Taylor und Cabezon Peak. Ich erwähnte auch die Bärenfrau, die inzwischen fehlte, und den Türklopfer mit dem grässlichen Gesicht.

George Thousand Names hörte sich das alles still und unbeweglich an. Als ich fertig war, hob er den Kopf. »Haben Sie eine Vorstellung, was Sie mir da beschreiben?«

Ich schüttelte den Kopf.

Jane sagte: »Aus diesem Grunde sind wir ja zu Ihnen gekommen – wir verstehen das alles einfach nicht. Ich arbeite in einem Buchladen, dort habe ich unter Mount Taylor nachgeschlagen und fand heraus, dass Big Monster irgendwie mit all diesen Geschichten verbunden ist, und der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte. Ich hätte nicht weiter darüber nachgedacht, aber es wurde dort erwähnt, dass der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, auf dem Pfad der vielen Teile zurückkommen wird. Irgendwie hat es da bei mir Klick gemacht. Ich kann nicht einmal erklären, weshalb.«

Das Indianermädchen brachte uns Kaffee in Keramikschalen und frische Pekannuss-Plätzchen. Sie schien ein psychisches Einfühlungsvermögen in meine innersten Gedanken zu haben, so wie George Thousand Names – wie sonst konnte sie meine Schwäche für Nussplätzchen kennen?

George Thousand Names sagte leise: »Jeder indianische Dämon hat einen geläufigen Namen und einen rituellen, genau wie die europäischen Dämonen. Zum Beispiel gab es die Eye Killers, über die man sagte, dass sie von der Tochter eines Häuptlings gezeugt worden wären, die sich selbst mit der Spitze eines bitteren Kaktus missbraucht hatte. Dann gab es, wie Sie schon erwähnten, Big Monster, dessen wahrer Name ganz anders lautete, und dann den Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte.«

Der Medizinmann schien seine Worte sorgfältig zu bedenken. Er biss mit seinen makellosen Zähnen in das Nussplätzchen und kaute eine Weile, bevor er weitersprach.

»Der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, war der schrecklichste und grausamste aller indianischen Dämonen. Er war schlau, listig und tückisch. Sein größtes Vergnügen war es, Hass und Verwirrung zu stiften und seine Lust an Frauen zu befriedigen. Der Grund, warum wir ihn den Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte, nennen, liegt darin, dass seine Spielchen und Gräueltaten in den Herzen der Menschen die ersten Gefühle von Wut und Rache auslösten.

Sie wissen vielleicht, dass es wohlwollende indianische Götter und böse indianische Götter gibt. Im Großen Rat der Götter saßen die bösen Götter mit dem Gesicht nach Norden und die guten mit dem Gesicht nach Süden. Der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, jedoch war so heimtückisch und bösartig, dass er von keiner Seite akzeptiert wurde und allein neben dem Ausgang saß. Er war der Dämon des Chaos und der Unordnung, und die Indianer erzählen manchmal, dass er, als man ihn in den frühen Tagen darum bat, bei der Anbringung der Sterne zu helfen, er seine eigene Handvoll Sterne nahm und sie an den Rand des Nachthimmels warf, und so hat er die Milchstraße geschaffen.«

George Thousand Names nippte an seinem Kaffee.

»Haben wir es damit zu tun? Mit diesem Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte?«, fragte ich.

Das Gesicht des Indianers verriet nichts. Er setzte seine Schale zurück auf die Untertasse und tupfte sich die Lippen sorgfältig mit einem sauberen Taschentuch ab.

»Nach allem, was Sie mir erzählt haben, Mr. Hyatt, ist das mehr als wahrscheinlich.«

Ich wusste nicht, ob er sich über mich lustig machen wollte. Da mir der trockene Humor der Indianer bekannt war, hätte es schon sein können. Ich sah ihn vor mir, wie er im ganzen Round Valley die Geschichte über die dummen Bleichgesichter erzählte, die den weiten Weg hierher unternommen hatten, um seinen Rat zu hören, und dass er ihnen feierlich etwas über einen Dämon erzählt habe, der die Sterne durchs Weltall warf, und wie die Weißen wieder abgebraust seien, im Glauben, gegen ein uraltes Phantom der Rothäute zu kämpfen. Ich sah sie vor mir, wie sie lachten und dabei all ihre verdammten Halsketten rasselten.

»Wahrscheinlich?«, fragte ich vorsichtig zurück. »Was ist bei einem Dämon denn wahrscheinlich?«

Er lächelte: »Ich spüre Ihren Verdacht. Aber ich versichere Ihnen, dass ich in keiner Weise hier ein Spielchen mit Ihnen treibe.«

Ich konnte nicht verhindern, dass ich errötete. Vor diesem Medizinmann hatte ich das Gefühl, einen Bildschirm auf der Stirn zu tragen, der jeden Gedanken von mir eins zu eins übertrug. Egal, wie sein Humor beschaffen sein mochte, er war ein wirklich kluger Kerl.

»Der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, war der einzige indianische Dämon, der den Tod besiegt hat. Er ist viele Male gestorben, manchmal aus verlogenem Liebesbeweis für eine Frau, manchmal infolge einer Strafe, die von den anderen Göttern verhängt worden war. Aber jedes Mal, bevor er in die Unterwelt musste, sorgte er dafür, dass die wesentlichen Dinge, die er brauchte, um zurück ins Leben zu kommen, in der Oberwelt versteckt waren. Sein Atem, sein Herz, sein Blut – und das Haar, das er Big Monster vom Kopf geschnitten hatte.«

Die Sonne war inzwischen hinter George Thousand Names’ Rücken versunken und ich konnte sein Gesicht im Halblicht kaum noch erkennen. Ich fragte entsetzt: »Sein Atem, sein Herz und sein Blut?«

Er nickte. »Deshalb taten Sie gut daran, hierherzukommen, Mr. Hyatt. Aus dem, was Sie mir heute Nachmittag erzählt haben, ist zu schließen, dass der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, entschlossen ist, wieder ins Leben zurückzukehren, und zwar durch das Medium ihrer unglücklichen Freunde.«

»Aber ich verstehe das nicht«, sagte Jane. »Wie kann der Atem und das Blut und so weiter dort sein, im Inneren eines Hauses?«

»Das ist ganz einfach. Der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, wurde vor vielen Jahrhunderten in die Unterwelt verbannt, lange bevor irgendein weißer Mann diesen Kontinent entdeckt hat. In jenen Tagen waren Medizinmänner fast so etwas wie Götter, und wenn sie auch nicht in der Lage waren, ihn zu töten, so konnten sie ihn doch zeitweilig in die Unterwelt zurückschicken. Aus dem, was Sie berichten, schließe ich, dass der Dämon seine lebenswichtigen Teile in einem Wald oder im Erdboden versteckt hat. Als man dann dieses Haus baute, wurde es unwissentlich aus Bäumen oder Steinen errichtet, in denen der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, seine vielen Teile versteckt hatte.«

»Aber was ist mit diesen ganzen Gemälden vom Mount Taylor? Der Dämon kann sie dort wohl nicht aufgehängt haben. Und was ist mit dem Türklopfer?«

George Thousand Names hob die Hände. »Natürlich hat der Dämon diese Gegenstände nicht selbst dorthin gebracht. Aber ich nehme an, dass sein Einfluss auf das Haus seit Jahrzehnten schon sehr stark war. Die Menschen, die unglücklicherweise dort gelebt haben, taten wahrscheinlich viele unbewusste Dinge, um den Weg für eine spätere Rückkehr des Dämons vorzubereiten. Ich vermute, dass der Türklopfer, den Sie geschildert haben, Ähnlichkeit mit dem Gesicht des Dämons besitzt.«

»Und die Bilder.«

»Tja, wer weiß?«, meinte er. »Aber vergessen Sie nicht, dass die alten Indianer Bilder von wichtigen Orten aus vielen verschiedenen Blickwinkeln zu malen pflegten, damit sie versteckte Bodenschätze oder unterirdische Quellen entdecken konnten. Diese ganzen Zeichnungen vom Mount Taylor und Cabezon Peak könnten eine sehr intellektuelle Bildersprache sein – wenn Sie sie alle zusammenlegen, dann könnten Sie vielleicht herausfinden, dass sie zu einem Punkt führen, wo der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, irgendetwas Wichtiges versteckt hat.«

»Was könnte das sein?«, fragte Jane. »Ich meine, was immer es wäre, es muss sehr wichtig sein.«

George Thousand Names lächelte sie wohlwollend an. »Ich mag es eigentlich nicht, Hypothesen aufzustellen, meine Liebe, aber ich vermute, dass diese Bilder den Weg zum abgeschnittenen Haar von Big Monster weisen. Der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, hat Big Monsters Haare abgeschnitten, weil sie magische Eigenschaften hatten … Sie machten den Träger gegenüber menschlichen und übernatürlichen Waffen unverwundbar. Es wird erzählt, es sei so grau wie Eisen, das Haar, und so kräftig wie eine Peitsche. Falls ich mich richtig erinnere, so heißt es in der Legende, dass der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, das Haar in New Mexico versteckte, im Gebiet der Acoma und Canoncito, damit die Zwillingsgötter, die Big Monster getötet haben, es nie finden können. Aber es wurde gefunden und fortgezaubert; niemand weiß, wohin. Ohne das Haar sei der Dämon angreifbar und würde niemals die Stärke erreichen, die er braucht, um in der Welt der Menschen und lebenden Geister verweilen zu können.«

Ich lehnte mich zurück in das Kissen. George Thousand Names war so ruhig, so selbstbeherrscht, dass ich nicht länger annehmen konnte, dass er sich über uns lustig machte. Seine Ausführungen erforderten allerdings eine äußerst starke Vorstellungskraft, um sie zu glauben. Ich war mir nicht einmal sicher, sie grundsätzlich glauben zu können, auch wenn er sie noch so ernsthaft vortrug. Wenn Dan, Bryan und Seymour Wallis nicht gewesen wären, dann hätte ich meinen Kaffee höflich ausgetrunken und wäre gegangen. Aber zwei von ihnen waren krank und der dritte lag tot im Leichenhaus, und was der Indianer uns erzählt hatte, war bisher die einzige Erklärung, die man uns gegeben hatte.

»Wie lautet denn der gebräuchliche Name für den Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte?«, fragte Jane.

George Thousand Names hob eine Augenbraue. »Den haben Sie wahrscheinlich schon gehört. Der Dämon wird gewöhnlich Coyote genannt. Die Hunde der Wüste wurden nach ihm benannt. Dieser Name bedeutet List und Schmeichelei und gemeines Täuschen.«

Ich hustete. »Besteht irgendeine Möglichkeit festzustellen, ob er wirklich herumgeistert? Gibt es ein Zeichen, irgendein Merkmal, an dem wir ihn erkennen können?«

»Wie Poltergeister, die sich vor Feuer fürchten? Oder Vampire?«, meinte Jane.

»Coyote kommt in vielerlei Gestalt, aber Sie können ihn immer erkennen. Er hat das Gesicht eines dämonischen Wolfes und sein Erscheinen wird immer angekündigt von Zeichen des Unheils.«

»Und welche?«

»Etwa Unwetter oder Krankheit oder besondere Vögel oder andere Tiere.«

Ich spürte das vertraute eiskalte Gefühl auf meiner Kopfhaut.

»Graue Vögel?«, fragte ich den Medizinmann. »Graue Vögel, die einfach dasitzen und nie singen?«

George Thousand Names nickte. »Die grauen Vögel sind die ständigen Begleiter Coyotes. Er benutzt ihre Federn, um seine Pfeile zu befiedern. Das ist etwas, was ein indianischer Krieger niemals getan hätte, weil diese grauen Vögel Boten des Verderbens und der Panik sind.«

»Ich habe sie gesehen.«

Zum ersten Mal lehnte sich George Thousand Names vor, sein Gesicht gespannt und bleich. »Sie haben sie gesehen?«

»Tausende von ihnen, wirklich Tausende. Sie sitzen alle auf dem Dach des Krankenhauses, in das Dan Machin, Bryan Corder und Seymour Wallis eingeliefert worden sind. Meine eigene Abteilung der Gesundheitsbehörde war gestern dort, um sie zu vertreiben, aber sie wollen nicht verschwinden.«

»Sind sie immer noch da?«, fragte er, als könne er nicht glauben, was ich sagte. »Sie haben sie mit Ihren eigenen Augen gesehen?«

Ich nickte.

George Thousand Names schaute ins Nirgendwo. Seine Augen, glühend und hell zwischen den vielen Falten seiner Haut, schienen in unsichtbarer weiter Entfernung etwas zu suchen. Er flüsterte mehr zu sich selbst als zu Jane und mir: »Coyote … Es wird also geschehen.«

Ich befeuchtete unsicher meine Lippen. »Mr. Thousand Names«, sagte ich, wobei ich versuchte nicht zu sehr wie ein weißer Tourist zu klingen, der wegen Indianerdecken verhandelt, »können wir irgendetwas tun? Oder gibt es irgendetwas, was Sie tun können, um uns zu helfen?«

Er wandte seinen Kopf ruckartig zu mir und starrte mich an, als ob ich von allen Geistern verlassen wäre. »Ich? Was kann ich denn angesichts eines Dämons wie Coyote ausrichten?«

»Das weiß ich nicht genau. Aber wenn Sie nichts tun können, was zum Teufel können wir dann noch tun?«

George Thousand Names stand auf und ging zu dem offenen Fenster hinüber. Es war jetzt fast fünf Uhr und die Sonne würde höchstens noch zwei Stunden über den Baumspitzen stehen. Er ging hinaus auf die Terrasse.

Jane und ich sahen uns besorgt an, während George Thousand Names stumm dastand und über die Hügel und Flüsse des Round Valleys blickte. Ich stand auf und folgte ihm an die frische Luft. Sie roch nach frischen Tannen und Holzrauch und in der Ferne hörte man, wie jemand Holz hackte.

»Irgendjemand hat dieses alte Übel wieder zum Leben erweckt.« Seine Stimme klang rau. »Irgendwie. Coyote ist wieder eins geworden.«

»Ich verstehe nicht.«

Der Medizinmann drehte sich um und schaute mich an. »Die Götter und die Medizinmänner haben dafür gesorgt, dass Coyote in mehrere Stücke in die Unterwelt gelangte und dass es ihm nicht möglich war, diese Zerlegung rückgängig zu machen. Die ersten vier Male, als er starb, hatte er einen Feuerstein an seinem Körper versteckt, damit er seinen Atem, sein Blut und seinen Herzschlag wiederbeleben konnte. Das letzte Mal, als er starb, versicherten sich die Götter, dass er keinen Feuerstein und keine Axt bei sich trug. Die Einzige, die ihn unter Umständen wieder beschworen haben kann, ist das Bärenmädchen.«

»Mr. Thousand Names«, sagte ich, »ich möchte nicht als dumm gelten, aber diese Legenden sind mir etwas zu hoch. Ich meine, es fällt mir schwer, sie zu akzeptieren.«

Er drehte sich um. »Das ist ganz klar«, meinte er mit flacher Stimme, die weder irritiert noch ungeduldig klang. »Was meinen Sie, was ich empfunden habe, als ich das erste Mal hörte, dass Jesus Christus über das Wasser geschritten ist?«

Jane, die am offenen Fenster stand, sagte: »Erzählen Sie uns etwas über dieses Bärenmädchen. Bitte.«

George Thousand Names massierte müde seinen Nasenrücken mit Finger und Daumen. »Das Bärenmädchen war eine wunderschöne Jungfrau, nach der Coyote gierte. Er hat zigmal versucht, sie zu verführen, aber jedes Mal widerstand sie ihm. Sie war es, die ihn die ersten Male in die Unterwelt schickte, damit er beweisen konnte, dass er glücklich für sie sterben würde. Schließlich unterlag sie doch seinen sexuellen Anstürmen und er schenkte ihr eine Liebesnacht, die sie ihm völlig gefügig machte.

Von diesem Augenblick an flößte Coyote ihr böse Gedanken ein und so veränderte sie sich nach und nach von einer Frau in einen Bären. Ihre Zähne wurden länger, ihre Nägel schärfer und dunkle Haare wuchsen ihren Nacken hinunter. Es wurde ihr größtes Vergnügen, Menschen mit ihren mächtigen Zähnen den Nacken zu zerfleischen.«

»Nicht gerade eine liebenswerte Begleiterin für einen Sonntagabend«, bemerkte ich.

George Thousand Names sah mich mit einem tiefen Blick an, der besagen sollte, dass er gerade nicht für dumme Witze aufgelegt war. »Es ist möglich, dass die Figur von diesem Wallis, die er in Fremont gefunden hat, genügte, um Coyote wieder ins Leben heraufzubeschwören. Sie kann mit einem Zauber versehen sein, wie ein kleines Totem. Hat er irgendwelche Probleme oder Schwierigkeiten in Fremont erwähnt? Irgendeine Krankheit oder einen Streit oder unerklärliche Ereignisse?«

»Ja. Sie bauten eine Fußgängerbrücke in einem Park und offensichtlich lief es mit dem verdammten Ding von Anfang bis Ende schief.«

»Dann ist es das«, sagte er. »Die Statue der Bärenfrau war mehr als nur eine antike Kuriosität. Sie war das ursprüngliche magische Totem, das Coyote die Kraft und den Willen verleihen konnte, um aus seinem Schlaf in der Unterwelt zu erwachen. Und Seymour Wallis hat sie in das Haus gebracht?«

»Glauben Sie, dass das rein zufällig geschah?«, fragte Jane. »Ich meine, es scheint ja ein unglaublicher Zufall, dass er gerade dieses Haus gekauft hat.«

George Thousand Names schüttelte den Kopf. »Von dem Moment an, in dem Seymour Wallis die Figur ausgegraben hatte, war er Coyotes Einfluss ausgesetzt. Er sagte Ihnen doch, dass er sich vom Pech verfolgt fühlte, nicht wahr? Es war kein wirkliches Pech. Es lag an Coyote, der ihn näher und näher an Pilarcitos Street heranführte. Ich wette um jeden Preis.«

»Was meinen Sie?«

»Pilarcitos Street ist die erste Abzweigung nach der Fifth Street hinter Mission.«

Ich nickte: »Das ist richtig.«

Er hielt die Finger von beiden Händen in die Höhe. »Fünf plus eins ist sechs. Dann haben Sie die Nummer 1551. Eins plus fünf ist sechs und fünf plus eins ist sechs. Drei Sechsen – 666. Die Zahl des größten aller Dämonen, egal von welcher Kultur wir sprechen. Das Zeichen der Bestie.«

Mir war plötzlich ganz kalt hier draußen auf der Terrasse. Auch Jane schlotterte im Türrahmen.

»Was sollen wir jetzt nur tun?«, fragte ich.

George Thousand Names kratzte sich im Nacken. »Mit zwei praktischen Schritten sollten wir beginnen. Zunächst müssen Sie Ihren Freund im Elmwood Hospital anrufen, damit er die drei Opfer von Coyote trennt und in verschiedene Krankenhäuser schafft. Das ist lebenswichtig. Zweitens, verschaffen Sie sich diese Bilder vom Mount Taylor und Cabezon Peak und versuchen, das Versteck der abgeschnittenen Haare herauszubekommen. Wenn Sie die von Coyote fernhalten, besteht vielleicht eine kleine Chance.«

Dann fügte er noch hinzu: »Drittens, und das wird schwieriger sein, halten Sie alle Schwestern oder weiblichen Ärzte, überhaupt jede Frau, von den verschiedenen Teilen Coyotes fern. Coyote hungert nach weiblichem Fleisch und darauf ist er möglicherweise jetzt gerade aus.«

Ich atmete tief ein. Wie seltsam und weit hergeholt diese ganze Geschichte auch zu sein schien, ich wusste, dass ich um meines eigenen ruhigen Gewissens willen Dr. Jarvis anrufen und ihm davon erzählen musste. Jim Jarvis war intelligent und er war Vorschlägen gegenüber offen, doch ich fragte mich, was er wohl sagen würde, wenn ich George Thousand Names’ Anweisungen durchgab.

»Mr. Thousand Names, darf ich Ihr Telefon benutzen?«, fragte ich.

»Selbstverständlich. Was halten Sie jetzt von einem Schluck Feuerwasser?«

»Sehr viel. Wie wäre es mit russischem Feuerwasser und Tonic?«

Ich ging über die glänzenden Holzdielen zurück ins Haus und nahm den Hörer ab. George Thousand Names folgte mir und bat das Mädchen um einige Drinks für uns drei. Anschließend setzte er sich im Schneidersitz auf sein kleines Sofa und öffnete seine Tabaksdose. Neben ihm auf dem Kaffeetisch stand ein Pfeifenständer. Keine davon sah aus wie eine Friedenspfeife – es waren zwei teure Meerschaumpfeifen und drei englische Bruyèerepfeifen.

Der Telefonist des Round-Valley-Reservats verband mich mit San Francisco und San Francisco stellte zum Elmwood Foundation Hospital durch. Dr. Jarvis war glücklicherweise zu sprechen.

»Jim? Hier spricht John Hyatt. Ich rufe aus dem Round Valley an.«

»Gott sei Dank, ich habe versucht, dich zu erreichen. Hier ist die Hölle los.«

»Was ist denn los?«

»Hier drehen alle durch. Dein Freund Dan Machin ist aus seinem Koma erwacht und er hat sich mit Bryan Corder eingeschlossen. Wir haben versucht, die Tür aufzubrechen, aber ohne Erfolg. Dr. Crane hat gerade die Polizei angerufen, damit sie die Tür aufbrechen.«

Wieder diese Woge der Angst.

»Er hat sich selbst eingeschlossen? Du willst sagen, sie sind zusammen?«

»Richtig. Ich weiß nicht, was die …«

Plötzlich war die Verbindung unterbrochen. Ich schüttelte das Telefon, aber die Leitung war absolut tot.

George Thousand Names sagte: »Tut mir leid, das passiert hier manchmal. Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«

Ich legte den nutzlos gewordenen Hörer hin. »Ich glaube ja. Dan Machin hat sich mit Bryan Corder in einem Zimmer eingeschlossen. Die Belegschaft des Krankenhauses kommt nicht an sie heran.«

George Thousand Names stopfte weiter seine Pfeife und griff nach den Streichhölzern. »Das klingt, als ob es losgeht«, sagte er. »Vielleicht fahren wir besser hinunter.«

»Wir?«

Das Indianermädchen brachte die Getränke und George Thousand Names hob sein Bourbonglas.

»Sie glauben doch wohl nicht, dass ich den Weißen den größten indianischen Dämon allein überlassen werde, oder? Über dieses Ereignis werden die roten Männer noch in Generationen sprechen. Jetzt trinken wir erst einmal auf die Verwirrung unserer Feinde.«

Ich hob meinen Wodka. »Ich weiß nichts über die Verwirrung unserer Feinde«, meinte ich trocken. »Ich weiß aber verdammt genau, dass ich völlig verwirrt bin.«

In dieser Nacht fuhren wir mit über 90 Meilen pro Stunde nach San Francisco zurück, während Insekten auf der Windschutzscheibe zerklatschten und unsere Gesichter grün im Licht der Armaturenbeleuchtung des Jaguars schimmerten. Mit quietschenden Reifen nahmen wir die Kurven den Berg hinunter, bis wir auf die 101 trafen, auf der wir uns durch Willits, Ukiah, Cloverdale und zurück ins Sonoma County schlängelten. Es war kurz nach Mitternacht, als wir in Marin County ankamen, und erst als ich das Glitzern der Lichter über der dunklen Bucht von San Francisco sah, nahm ich den Fuß vom Gaspedal und fuhr mit 40 über die Golden Gate Bridge.

George Thousand Names hatte bequem auf dem Rücksitz geschnarcht, erwachte aber mit einem Satz, als wir vom Presidio Drive abbogen und in Richtung Krankenhaus fuhren. Er streckte sich und sagte: »Die verflixten englischen Wagen zwingen einen, die ganze Zeit aufrecht zu sitzen. Für wen halten Sie mich eigentlich, für einen Adligen vom Lande?«

»Sie hätten ja nicht mitfahren brauchen«, erinnerte ich ihn, während wir in die Einfahrt bogen und in den Hof des Krankenhauses einfuhren.

»Das wäre ja so, als hätte man versucht, Custer davon abzuhalten, zum Little Big Horn zu reiten.«

»Sind Sie so pessimistisch?«, fragte Jane.

George Thousand Names schnäuzte sich ziemlich laut. »Pessimismus ist nicht gerade eine indianische Eigenschaft. Ich habe das Omen des heutigen Tages befragt, bevor wir losfuhren, und das scheint in Ordnung, obwohl ich hinzufügen muss, dass eine Wolke am Horizont steht, nicht größer als die Faust eines Mannes.«

»Das sind die Vögel«, sagte ich und zeigte nach oben. »Es scheint so, als ob das Gesundheitsamt den Versuch aufgegeben hat, sie fortzujagen.«

Die Scheinwerfer glitten über die Reihen der grauen Vögel, als wir die Einfahrt hochfuhren. Dann parkte ich den Jaguar und wir stiegen aus. George Thousand Names stand in der frischen Nachtluft und starrte auf die stummen, gefiederten Zeugen von Coyotes Wiedergeburt.

»Und?«, fragte ich.

Er nickte. »Es gibt keinen Zweifel. Dies sind die seltenen Vögel, die wir die ›Graue Traurigkeit‹ nennen. Man hat sie in großen Ansammlungen bei Wounded Knee und beim Begräbnis von Sitting Bull gesehen, ebenso als Rain-in-the-Face starb. Es sind die Vögel der Trauer und des Unglücks.«

Jane kam zu mir und fasste nach meiner Hand. Ihre eigene Hand war sehr kalt. »Bedeutet ihre Anwesenheit wirklich, dass Coyote hier ist?«

George Thousand Names hob den Kopf, als ob er in den Wind schnüffelte, und fragte uns: »Können Sie etwas riechen?«

Ich schnupperte. »Nicht viel. Ich habe eine Nasenverkrümmung.«

Jane sagte: »Es riecht wie … Ich weiß nicht genau, wonach. Wie Hunde … Wie Hunde, wenn sie nass sind.«

Er nickte und sagte nichts weiter. Ich nahm Janes Arm und führte sie zu den Krankenhaustüren und er folgte uns, sah dabei ab und zu hinauf zu den Vögeln, der Grauen Traurigkeit. In seinem Blick lag der Ausdruck von Misstrauen und Angst, wie bei einem Jungen, den man in eine Leichenhalle führt, damit er sich den Leichnam seines Vaters ansieht.

Bei den Aufzügen standen zwei uniformierte Wachpolizisten des SFPD. Einer von ihnen kam durch das Foyer auf uns zu und hob die Hand.

»Tut mir leid, Sir. Im Moment darf niemand hier hinein.«

»Ich bin mit Dr. Jarvis verabredet. Er erwartet uns.«

Der Polizist sah uns prüfend an. »Es tut mir leid. Ich habe strikte Anweisungen, niemanden hinaufzulassen.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte ich. »Dr. Jarvis hat vor drei oder vier Stunden mit mir telefoniert und wir kommen jetzt extra aus Round Valley.«

»Mister«, sagte der Polizist geduldig. »Es wäre mir auch egal, wenn Sie vom Mars kämen. Meine Befehle lauten: Niemand fährt hoch.«

Der zweite Polizist kam heran: »Das stimmt. So lauten die Befehle.«

»Jetzt hören Sie doch zu, verdammt noch mal …«, entgegnete ich.

George Thousand Names unterbrach mich. »Wir haben eine Erlaubnis«, erzählte er dem Polizisten ruhig. »Möchten Sie sie sehen?«

Die Polizisten schauten ihn misstrauisch an. Aber George Thousand Names griff in seine rote Windjacke und hob eines der goldenen Amulette in die Höhe, die um seinen Hals hingen.

»Was ist das?«, fragte einer der Polizisten.

»Schauen Sie es an«, bat George Thousand Names. »Schauen Sie nur.«

Irgendwie fing er das Licht des Foyers mit dem Amulett auf und ließ es in die Augen der Polizisten scheinen. Die schienen zu blinzeln und erstarrten, dann traten sie einen Schritt zurück, als hätte sie jemand aus dem Weg gestoßen.

Ich sah George Thousand Names an und dann Jane, aber Jane zuckte nur die Achseln.

»Wir haben eine Genehmigung und dürfen hier hinein«, sagte George Thousand Names laut. »Haben Sie verstanden?«

Die beiden Polizisten nickten. Einer von ihnen drehte sich wie ein Schlafwandler um und öffnete uns die Türen des Aufzugs. Wir traten ein. George Thousand Names flüsterte zu mir: »Immer zu Ihren Diensten, Mr. Hyatt«, und ich drückte auf den Knopf für die fünfte Etage.

»Ist das eine Art Hypnose?«, fragte ich, während wir langsam aufwärtsfuhren. »Sie haben das doch mit dem Amulett gemacht?«

Der Medizinmann stopfte es in seine Windjacke zurück. »Wir nennen es ›Den Weg der Freundlichen Eroberung‹. Es ist eine Art Hypnose, ja, aber sie hat den Vorteil, eine Gehorsamstrance für nur wenige Augenblicke herbeizuführen, Augenblicke, an die sich das Opfer nie mehr erinnern wird. Sie können sie nicht auf Leute anwenden, die aggressiv sind oder sich vorgenommen haben, der Hypnose zu widerstehen. Aber es klappt ganz gut bei normalen Menschen, deren Gemütslage ziemlich entspannt ist.«

»Aber werden die Polizisten jetzt nicht nach uns suchen?«, fragte Jane.

George Thousand Names schüttelte den Kopf. »Das ist unwahrscheinlich. Sie werden vielleicht jetzt gerade da unten stehen und die Köpfe schütteln, weil sie das sichere Gefühl haben, dass irgendetwas nicht stimmt, aber sie werden absolut nicht wissen, was es sein könnte.«

Wir erreichten den fünften Stock und die Aufzugtüren öffneten sich. George Thousand Names ging höflich an Janes Seite in den Flur und ich folgte ihnen und schaute mich nach den Anzeichen der schrecklichen Panik um, von der Jim bei seinem Anruf gesprochen hatte.

Der Flur lag ruhig vor uns. Ich horchte einen Augenblick, konnte aber noch nicht einmal die Geräusche eines geschäftigen Privatkrankenhauses vernehmen wie etwa Rollwagen, Gespräche oder Durchsagen für die Ärzte. Nichts – nur das Surren des Aufzugs, als dessen Türen sich hinter uns schlossen und er in eine andere Etage hinauffuhr.

»Ich schlage vor, dass wir es am besten erst einmal in Dr. Jarvis’ Büro versuchen«, sagte ich. »Wenn er nicht dort ist, dann wird er sicher auf der Intensivstation sein, die ist weiter den Flur hinab.«

»Gehen Sie vor«, bat George Thousand Names. »Je eher wir dieses Monster in unsere Gewalt bekommen, desto besser.«

Jane lachte nervös. »Das hört sich ja an wie ein Frankenstein-Film.«

George Thousand Names steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans, verzog das Gesicht und erwiderte pragmatisch: »Es ist schlimmer als das.«

Wir gingen über den weichen roten Teppich bis zu Jims Büro. Ich hielt den Atem an und klopfte an die Tür. Wir warteten, aber es kam keine Antwort.

George Thousand Names, dessen Augen in seinem Ledergesicht ruhig wie die einer Eidechse aussahen, meinte: »Ich hoffe, Sie haben diesem Arzt gesagt, wem er da gegenübersteht.«

Ich öffnete Dr. Jarvis’ Tür und schaute mich prüfend in dem kleinen Zimmer um. Es war sauber und ordentlich. Auf dem Schreibtisch stand noch ein dampfender Kaffeebecher, verlassen, wie die letzte Mahlzeit auf der Marie Céleste. Ein Zigarettenstummel schwelte in dem übervollen Aschenbecher. Die nahezu leere Ginflasche stand auf dem Kunststoffschränkchen.

»Gespenstisch«, flüsterte Jane.

»Sie müssen hinten in der Intensivstation sein«, sagte ich. »Es geht da entlang, auf der linken Seite.«

Als wir um die Ecke bogen, begannen wir zu laufen. Ich weiß nicht, warum. Die Stille gab uns irgendwie das Gefühl der Dringlichkeit – je länger es so totenstill blieb, desto unheimlicher kam uns alles vor. Alles, was wir hörten, war unser eigenes Atmen und das heftige Rascheln der Kleidung, weil wir uns so schnell bewegten.

Ich machte mir nicht einmal die Mühe, an die Doppeltüren der Station zu klopfen. Ich drückte sie einfach auf, hinein in das Flimmern und die Schatten und das blaue Zwielicht der Welt, in der Bryan Corder sein unnatürliches Leben weiterlebte.

Dr. Jarvis war da, ebenso Dr. Crane, Dr. Weston und Lieutenant Stroud von der Polizei; außerdem zwei verwirrte, stämmige Polizisten.

Jim drehte sich um, als wir eintraten. »Du hast es geschafft. Ich hatte schon Angst, dass es nicht klappt.«

»Was ist denn los?«, fragte ich. »Was ist hier passiert?«

Jim nahm meinen Arm und führte mich nach vorne zur Glaswand, die den Blick in die Tiefen der eigentlichen Station freigab. Drinnen brannte immer noch das blaue Licht, aber irgendwie erschien das Licht schwächer und viel unruhiger, ähnlich wie das kalte Leuchten, das in den Nächten über die See schwebt. Ich konnte die Umrisse des Bettes erkennen, Ständer mit Infusionslösungen und einige silberne Geräte, die darumstanden. Ich glaubte, die knochenweiße Wölbung von Bryan Corders Schädel zu erkennen, aber auf dem Bett selbst lag ein undefinierbares Gewirr von verdrehten Gliedern und Fleisch. Genaueres konnte ich nicht unterscheiden, weil es zu dunkel war.

»Dan Machin ist da drin?«, fragte ich. »Ich sehe ihn nicht.«

»Können Sie nicht hineingehen?«, fragte Jane.

Lieutenant Stroud, groß und kultiviert wie immer, antwortete: »Lady, wir stehen hier draußen nicht aus Gesundheitsgründen. Wir haben sechs-oder siebenmal versucht hineinzugelangen, aber jedes Mal wurden wir zurückgetrieben.«

»Zurückgetrieben?«, fragte ich. »Was meinen Sie mit ›zurückgetrieben‹?«

»Versuchen Sie es selbst«, schlug Lieutenant Stroud vor. »Die Tür befindet sich direkt vor Ihnen.«

Ich ging schon vorwärts, aber George Thousand Names sagte, und das sehr leise: »Tun Sie es nicht, Mr. Hyatt. Es lohnt sich nicht.«

Lieutenant Stroud fragte: »Was wissen denn Sie?«

George Thousand Names schaute ihn durch das Dämmerlicht an, und ich sah, dass er ein Lächeln unterdrückte.

»Das ist George Thousand Names, Lieutenant«, sagte ich. »Wir haben ihn heute Nacht vom Round Valley Reservat mitgebracht.«

»Schwätzen Sie immer noch von diesem Indianerkram?«

»Nennen Sie es ruhig Schwätzen«, entgegnete ich gelassen. »Aber bisher ist es die einzige vernünftige Erklärung. George Thousand Names glaubt, dass wir Zeuge der Wiedergeburt eines indianischen Dämons aus der frühen Zeit sind.«

Lieutenant Stroud sah Dr. Jarvis, dann die anderen Ärzte und danach seine beiden Plattfüße an. Dann wandte er sich mit sarkastischem, missratenem Lächeln George Thousand Names zu. »Ein indianischer Dämon aus der frühen Zeit? Ich habe das richtig verstanden?«

George Thousand Names war zu alt und zu selbstbeherrscht, als dass er sich durch Sarkasmus herausfordern ließ. Er nickte nur. »Das ist richtig. Der Name des Dämons lautet Coyote, manchmal wird er auch der Erste, der Worte zur Gewalt benutzte, genannt. Er wird allgemein als ein Dämon der Verwirrung, des Zorns, des Streites angesehen, abgesehen von seiner unersättlichen Gier nach Frauen.«

Lieutenant Stroud lachte auf, kurz und hart. »Der dämonische Frauenschänder?«

George Thousand Names lächelte, blieb aber beherrscht. »Das ist genau richtig, Lieutenant. Der dämonische Frauenschänder. Es gibt ein altes Lied der Navahos, das erzählt, wie Coyote auf einem Bergpfad einst eine junge Frau traf, wie er sie dazu brachte, ihr Kleid für ihn zu heben. Ein charmantes Lied, auf seine Weise. Aber es erwähnt nicht, dass Coyote der wildeste und am fürchterlichsten aussehende Dämon aller Zeiten war und dass er sich nicht gerade wie ein Gentleman benahm, wenn er eine Frau verführte.«

»Was meinen Sie mit nicht wie ein Gentleman benahm?«, fragte Lieutenant Stroud kühl.

»Es sind Damen anwesend.«

»Keine der Damen hier wird sich über anatomische Einzelheiten aufregen, wenn Sie auf so etwas rauswollen.«

»Das ist es nicht«, antwortete George Thousand Names. »Wenn es diesem Dämon gelingt, wieder ins Leben zurückzukehren, dann wird keine Frau in San Francisco vor ihm sicher sein, und ich möchte die Damen nicht unnötig beunruhigen.«

»Spucken Sie es schon aus«, forderte Lieutenant Stroud. »Wenn hier etwas passiert, dann will ich auch wissen, was!«

»Nun gut«, meinte George Thousand Names. »Coyote verführt zunächst seine Frauen, dann behandelt er sie auf eine Weise, die bei den Navahos die ›Pein der Drei‹ heißt.«

Jane sagte: »Mein Gott, davon habe ich gehört.«

George Thousand Names strich ihr über den Arm. »Es war die seltsamste aller alten Foltern, und ihre Geschichte reicht weit zurück in die Zeit vor der Zivilisation der nordamerikanischen Stämme. Viele unserer weisen Männer behaupten, dass es die persönliche Erfindung Coyotes gewesen ist, aber wer kann das wissen?«

Jim krauste die Stirn. »Ich habe nie von der ›Pein der Drei‹ gehört. Was zur Hölle ist das?«

George Thousand Names berührte eines seiner Amulette um seinen Hals. Er sprach mit tonloser Stimme: »Zur ›Pein der Drei‹ gehörte das Aufschneiden eines Frauenmagens, in den wurde ein lebendes Reptil genäht, etwa eine Krusteneidechse. Danach schnitt man ein Pferd auf, manchmal auch eine Kuh, weidete sie aus und die Frau wurde dann in das Pferd eingenäht. Die Kunst der Marter bestand darin, alle drei Opfer, die Echse, die Frau und das Pferd, so lange wie möglich am Leben zu halten.«

Dr. Weston sagte: »Ach, hören Sie auf. Das erfinden Sie doch nur.«

George Thousand Names schüttelte den Kopf. »Prüfen Sie es bei Ihren eigenen Anthropologen nach, wenn Sie wollen. Die Skelette einer Echse, einer Frau und eines Pferdes, ineinandergesteckt wie ein chinesisches Puzzle, wurden am Lake Winnemucca, in Nevada, ausgegraben; und das ist kaum sechs Jahre her. Es war Professor Forrester von der Universität Colorado.«

Lieutenant Stroud zog an seiner Unterlippe. »Okay, Mr. Thousand Names. Wenn Sie also wissen, was sich so alles abspielt, was meinen Sie denn, tut sich hier drinnen?«

Er deutete durch die Glaswand auf die trüben, schattenhaften Formen auf dem Bett der Intensivstation. Irgendetwas bewegte sich dort drinnen, eine Silhouette, massig und dunkel. Sie bewegte sich mit den unkontrollierten krampfhaften Zuckungen, die man bei Insekten beobachten kann, wenn sie aus der Puppe schlüpfen.

George Thousand Names antwortete: »Die graue Traurigkeit zu sehen war mir Beweis genug. Was Sie hier erleben, ist das Zusammenkommen von Coyote, dem widerwärtigsten aller indianischen Dämonen. Als er in die Unterwelt verbannt wurde, versteckte er seinen Atem, sein Blut und seinen Herzschlag, und jetzt ist es ihm gelungen, alle Teile wieder an einem Ort zu versammeln. Er kehrt ins Leben zurück, ob Sie es nun mögen oder nicht.«

Lieutenant Stroud starrte George Thousand Names eine ganze Weile an, seine Augen funkelten aufmerksam in der Dunkelheit. »Sie glauben das also wirklich. Sie glauben wirklich, dass das hier passiert.«

»Das hat nichts mit Glauben zu tun, Lieutenant, oder mit religiösen Vorstellungen – ich weiß, was vor sich geht. Es ist für mich so klar wie für Sie ein platter Reifen. Es ist eine Tatsache«, bekräftigte George Thousand Names.

»Was geht dann da … da drinnen vor sich?«, fragte Jim.

»Holen Sie eine Taschenlampe und Sie werden es sehen«, erwiderte George Thousand Names, meiner Ansicht nach viel zu ruhig. »Der Atem und der Herzschlag vereinigen sich. Bald, dann wird Coyote sein Blut und sein schreckliches Gesicht benötigen.«

»Jane«, sagte ich leise in ihr Ohr. »Der Türklopfer in der Pilarcitos Street. Könntest du ihn holen? Schlag ihn mit einem Hammer von der Tür, falls es nötig ist.«

Jane griff nach meinem Arm. »Ich möchte jetzt nicht von dir fortgehen, John. Jetzt nicht.«

Ich zog eine Zehn-Dollar-Note aus der Tasche und drückte sie ihr in die Hand. »Du wirst ja nicht lange fort sein. Nimm ein Taxi. Aber besorge uns diesen Türklopfer, bevor ihn sich jemand anderes holt.«

Jane blickte mich mit ihren großen, chinablauen Augen an, legte ihren Arm um meinen Hals und küsste mich. »Vielleicht wären wir besser zusammengeblieben, du und ich«, flüsterte sie. Jane verließ den Raum und machte sich auf den Weg zu Seymour Wallis’ Haus.

Lieutenant Stroud sagte: »Wir haben es bereits mit Taschenlampen versucht. Vielleicht liegt es am Glas, aber wir kommen mit dem Lichtstrahl nicht durch.«

George Thousand Names blickte von Lieutenant Stroud zu Dr. Jarvis und dann wieder zurück. »In diesem Fall hat der große Coyote bereits mehr Kraft zurückgewonnen, als ich dachte. Er ist schon so mächtig, dass er Ihr Licht völlig absorbieren kann.«

Dr. Westen sagte: »Absorbieren? Wovon reden Sie?« Es war offensichtlich, dass sie wenig von der ethnischen Folklore dieses George Thousand Names hielt.

»Sie haben die letzte Ausgabe des Scientific American nicht gelesen?«, fragte George Thousand Names. »Wenn ein Gegenstand genügend Dichte hat, dann kann er tatsächlich verhindern, dass Licht von ihm reflektiert wird. Er drängt das Licht auf sich selbst zurück durch seine intensive Abstoßungskraft. Das ist es, was hier vor sich geht. Coyote ist eine Bestie der Unterwelt, und das bedeutet, wenn man es so nennen will: Er ist ein lebendes schwarzes Loch.«

»Meinen Sie, dass er komplett unsichtbar sein wird?«, fragte Jim.

George Thousand Names schüttelte den Kopf: »Nur, wenn er es will.«

»Was ist mit seinem Blut?«, warf Dr. Crane ein. »Wenn sein Herzschlag und sein Atem sich hier verbinden, sollten wir dann nicht versuchen, Mr. Wallis zu isolieren? Er ist doch das Gefäß für das Blut dieses Dämonen, vermute ich.«

»Ja«, antwortete der Medizinmann. »Versuchen Sie, ihn von hier fortzuschaffen. Aber achten Sie auf die Vögel, achten Sie auf jeden magischen Trick, den Coyote versuchen wird, um Sie daran zu hindern.«

»Magische Tricks?«, fragte Lieutenant Stroud skeptisch. »Welche zum Beispiel?«

»Lieutenant, das hört sich vielleicht wie ein Scherz an, ist aber keiner. Wenn ich von magischen Tricks rede, dann meine ich keine Kaninchen, die man aus dem Hut zieht, oder Damen, die man zersägt. Ich rede von Tod, Verletzungen und Illusionen, wie Sie noch keine erlebt haben.«

Ich nickte. »Das könnte stimmen, Lieutenant. Alles, was George bisher gesagt hat, klingt logisch.«

»Wer hat Sie gefragt?«, knurrte Lieutenant Stroud.

Dr. Jarvis sagte: »Es hat keinen Zweck zu streiten, Lieutenant. Keiner von uns hat eine bessere Idee.«

»Meinen Sie das?«, fragte Lieutenant Stroud und drehte sich um. »Vielleicht habe ich eine bessere Idee. Vielleicht ist dieses ganze verfluchte Ding nur ein Schwindel.«

»Ein Schwindel?«, sagte ich. »Sie meinen, wir hätten wegen eines Schwindels einem Mann das Fleisch vom Schädel gerissen?«

»Na ja, dieser ganze dämliche Kram über indianische Dämonen –«

»Kram!«, meinte George Thousand Names zornig. »Sie bezeichnen unsere Dämonen als Kram! Sind Sie verrückt? Wissen Sie, wozu Coyote fähig ist? Haben Sie auch nur die geringste Vorstellung?!«

Lieutenant Stroud wich förmlich zurück vor George Thousand Names’ Ungestüm. »Tja, Sie erwähnten die Pein der Drei …«

»Das ist unwichtig! Das stellte er mit den Frauen an, mit denen er sich vergnügte und an denen er die Lust verlor. Coyote hat Kräfte, die jedes menschliche Vorstellungsvermögen übersteigen. Kräfte, die es für alle guten und bösen Götter zusammen fast unmöglich machen, ihn zu zerstören. Und das ohne die zusätzlichen Kräfte, die er von anderen Dämonen wie Big Monster und den Loogaroos gestohlen hat.«

»Loogaroos?«, fragte Lieutenant Stroud ungläubig.

»So nannten sie die französischen Siedler, als sie nach Amerika kamen. Es ist die Verfälschung des Wortes loups-garous und bedeutet ›Werwölfe‹. Coyote hat von ihnen alle Kräfte übernommen. Er bedeckte seinen Rücken mit dem Fell eines Werwolfes und seinen Kopf mit dem Skalp von Big Monster, und durch sie ist er nahezu unzerstörbar.«

Lieutenant Stroud hörte sich diesen Ausbruch an und stand anschließend lange Zeit schweigend da, während wir alle sein Gesicht beobachteten und uns fragten, was er wohl antworten würde. Zunächst glaubte ich, dass er alles, was George Thousand Names gesagt hatte, als Mist bezeichnen würde, doch dann sah ich, wie sein Gesichtsausdruck sich entspannte und die Falten um seinen Mund sich vertieften, und ich erkannte, dass die feste Überzeugung des Medizinmannes ihn sozusagen überzeugt hatte.

»Ich will wissen, was da drinnen vor sich geht, in dem Zimmer. Ich möchte, dass Sie es mir erklären«, meinte er schließlich.

George Thousand Names trat einen Schritt vor. Das blaue Licht, das aus der Intensivstation strahlte, ließ seine Augen glitzern und vertiefte die Furchen in seinem Gesicht mit azurblauen Linien. Er hob eine seiner faltigen Hände – ums Handgelenk hingen Perlenarmbänder und die Finger waren mit Silberringen geschmückt – und presste die Hand gegen das Glas, als könne er die Vibrationen fühlen, die von der dunklen, verschlungenen Masse ausgingen, die vielleicht Dan war, oder Bryan, oder beide, oder vielleicht auch keiner von ihnen.

Mit der anderen Hand fasste er nach seinem goldenen Amulett und sagte leise: »Es ist die Zeit für Coyote gekommen, sich wieder selbst zum Leben zu erwecken, sich aus dem Lehm des menschlichen Fleisches neu zu formen. Er benötigt Blut, aber er kann auch ohne Blut auferstehen. Er formt sich aus den Körpern derer, die seinen Herzschlag und seinen Atem aufnahmen. Seht!«

Die ganze Zeit, während George Thousand Names die Hand gegen das Glas gepresst hielt, muss er geistig gegen die Kräfte Coyotes gekämpft haben. Als er nämlich ›Seht!‹ sagte, wurde das blaue Licht deutlich heller, und in dieser kurzen und entsetzlichen Helligkeit konnten wir tatsächlich sehen, was er versucht hatte, uns zu erklären. Wir sahen den Anfang des Erscheinens von Coyote, dem Dämon, dem Frauenschänder und Verräter, dem Ersten, der Worte zur Gewalt benutzte.

Wir sahen Glieder, die sich auf dem Bett hoben und wieder herabsanken. Zunächst wirkte es wie Arme und Beine von Menschen, die in einem dunklen See untergehen – aber dann schien die in sich verknotete Fleischmasse sich zu erheben und fast aufrecht zu stehen. Ich konnte nur sprachlos hinstarren und fühlte, dass mir ein eiskalter Schauer über den Rücken lief.

Auf eine unbeschreibliche Weise waren Dan Machin und Bryan Corder zu einer Kreatur zusammengewachsen. Sie war fast zweieinhalb Meter groß und erhob sich blind von dem Bett. Bryans fleischloser Schädel bildete ihren Kopf, aber sie hatte von den beiden Männern die Beine und auch die Arme, die sie nach uns ausstreckte. Die beiden Rümpfe hatten sich in einem formlosen Doppelleib ineinander verschlungener Muskeln vereinigt, und Dan Machins gespenstisches Gesicht erschien einen Augenblick inmitten des Magens der Bestie, gegen die durchsichtige Haut gepresst, den Mund zu einem höllischen Schrei geöffnet.

Jim stammelte: »Das ist unmöglich!« Dr. Weston stöhnte, als hätte sie Schmerzen. Aber das blaue Licht wurde schon wieder schwächer und wir konnten nur noch die dunklen Umrisse des monströsen Geschöpfes erkennen.

Lieutenant Stroud sagte heiser: »Nun gut, Mr. Thousand Names, was ist das?«

George Thousand Names ging müde vom Fenster fort. »Es ist Coyote«, antwortete er schlicht. »Er nimmt viele Formen an, aber diese bevorzugt er. Er könnte auch als Frau, als Hirsch oder sogar als Fisch erscheinen. Es wird erzählt, dass er seine irdische Gestalt einmal aus einem Mädchen und einer Tarantel gebildet hat. Aber heute Abend wird er glücklich sein. Er hat zwei starke junge Männer für seine Reinkarnation, und unten im Leichenkeller liegt das Blut von Seymour Wallis.«

»Haben Sie die Anweisung erteilt, dass man das Blut fortschafft?«, fragte Lieutenant Stroud.

»Dr. Crane kümmert sich darum«, erwiderte Dr. Jarvis. »Seymour Wallis’ Körper ist jetzt sicher schon auf halbem Weg nach Redwood City.«

»Redwood City?«, fragte der Lieutenant. »Wieso denn nach Redwood City?«

»Elmwood Foundation finanziert ein Forschungscenter für Kälteerzeugung in Redwood. Wir können ihn dort so lange auf Eis legen, wie wir wollen.«

»Und was werden wir damit tun?« Ich wies auf den düsteren Schatten in der Intensivstation. »Wir können da doch nicht einfach zusehen.«

Lieutenant Stroud sah mich ungeduldig an, als ob er sagen wollte, dass ich mich doch verdammt noch mal um meine eigenen Angelegenheiten kümmern solle, aber er ging zu Jim und legte ihm vertraulich die Hand auf die Schulter.

»Doktor«, sagte er. »Ist das Ding eine Bedrohung für menschliche Leben? Für das Leben Ihrer Belegschaft?«

Jim leckte sich über die Lippen. »Dafür habe ich noch keinen Beweis. Bis jetzt habe ich nur außergewöhnliche physiologische Abnormitäten beobachtet. Es hat uns noch nicht bedroht.«

George Thousand Names mischte sich ein. »Coyotes Existenz ist eine Bedrohung! Sobald das Blut wieder in seinen Adern pocht, wird er uns in Stücke reißen!«

»Haben Sie dafür Beweise?«, fragte Lieutenant Stroud. »Ich zweifle nicht an Ihrem Wort, Sir, aber das Ding da drinnen ist ja irgendwie menschlicher Natur und ich kann keine menschlichen Wesen erschießen, es sei denn, ich hätte triftige Gründe zu glauben, dass sie Leben oder Eigentum bedrohen.«

George Thousand Names stand starr wie der Stachel eines Stachelschweins, seine Augen schleuderten Blitze. Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Intensivstation. »Lieutenant, das ist Coyote! Er ist aus der Unterwelt zurückgekehrt! Was kann ich Ihnen noch sagen? Das ist Coyote!«

Lieutenant Stroud schaute zu den beiden Polizisten hinüber – einer von ihnen hob seine Augenbrauen, als wollte er damit sagen, George Thousand Names habe nicht alle Tassen im Schrank.

»Was meinen Sie, Doktor?«, fragte der Lieutenant Dr. Weston. »Ist das ein indianischer Dämon? Oder ist es nur ein medizinisches Monstrum?«

Obwohl Dr. Weston noch zitterte von dem, was sie in der Intensivstation gesehen hatte, antwortete sie: »Es ist ein Monstrum. Es muss eines sein. Ich habe noch nie so etwas gesehen, aber wir können es nicht töten.«

»Angenommen …«, begann Dr. Jarvis.

»Nichts angenommen!«, unterbrach Dr. Weston. »Jim, dieses Geschöpf ist das seltsamste medizinische Ereignis, das wir je gesehen haben. Es ist, als wären siamesische Zwillinge vor unseren Augen entstanden. Wir können es jetzt nicht zerstören. Auf keinen Fall!«

»Dr. Weston«, meldete ich mich, »Sie haben nicht gesehen, wie Bryan Corder verletzt wurde. Sie waren nicht dabei, als die Augen von Dan Machin aufleuchteten wie die des Teufels … Was auch immer da drinnen ist, ob ein Dämon oder nicht, wir müssen unbedingt sichergehen, dass es nicht noch jemanden tötet!«

Dr. Weston wollte gerade antworten, aber dazu kam sie nicht mehr. Was jetzt passierte, war wie ein Autobahnunfall. Er rauschte so schnell an meinen Augen vorbei, dass ich es kaum begreifen konnte. Ich erinnere mich aber noch an zwei lebhafte und schreckliche Dinge, und ich nehme an, dass ich sie nie vergessen werde.

Jim rief plötzlich: »Es kommt hier entlang!«

Als wir uns umdrehten, um auf die Intensivstation zu schauen, hörten wir schon das Klirren zerspringenden Glases. Tausend Teile der Beobachtungsscheibe schwirrten durch den Raum. Einer der Polizisten fiel sofort auf die Knie, sein Gesicht sah aus wie zerhackte Leber, der andere drehte sich zur Seite und hielt die Hände über die Augen – Blut rann durch seine Finger. Meine eigenen Wangen wurden in dem Splitterregen zerschnitten, aber es war nicht das Glas, was mich erstarren ließ.

Es war Coyotes Erscheinung: Aufgerichtet wie eine riesige, bleiche Gottesanbeterin, den grinsenden Schädel regungslos auf dem formlosen Rumpf, drückte er mit seinen vier Armen die Reste der Glaswand beiseite, ohne Zeit zu verlieren.

Und mit ihm kam diese Hitze. Die entsetzliche, glühende Hitze. In der Intensivstation mussten 200 Grad herrschen, und jetzt drang von dort ein trockener, sengender Wind mit Geheul heraus, während Coyote durch das zerbrochene Fenster schnellte.

Lieutenant Stroud riss seine Einsatzwaffe vom Gürtel der Hose und feuerte zweimal auf den monströsen Dämon. Aber Coyote schwang einen Arm in Strouds Richtung, der daraufhin durch den ganzen Raum geschleudert wurde und mit dem Rücken krachend an der Wand landete. Die Pistole schlitterte in die Masse aus zerbrochenem Glas.

Jim schrie: »John, halt ihn fest!« Aber ich wusste, dass es keine Möglichkeit gab, dieses Wesen zurückzuhalten, deshalb riss ich die Tür auf und schrie: »Sinnlos! Um Gottes willen, kommt hier heraus!«

George Thousand Names hielt die Hände schützend über seinen Kopf. Er stolperte so schnell er konnte aus dem Raum. Dr. Weston folgte ihm, dann Jim und ich. Der Polizist mit den blutenden Augen wollte Lieutenant Stroud helfen, aber der Dämon schlug wieder mit seinem Arm zu und der Polizist schrie auf und stolperte hilflos in Richtung Tür.

»Ich brenne!«, schrie er. »Holt mich heraus! Oh Gott! Ich brenne!«

Jim rannte auf ihn zu, aber der Polizist öffnete jetzt den Mund und – eine glühende Flamme leckte zwischen seinen Lippen hervor. Er brannte innerlich, sein Magen und seine Lungen brannten, und jedes Mal, wenn er um Hilfe schreien wollte, strömte die Glut der Flammen aus ihm heraus.

»John! Eine Decke! Hol mir eine Decke!«, rief Dr. Jarvis, aber es war zu spät. Der Polizist fiel gegen die Flurwand und rutschte auf die Knie, wobei er eine Spur brennenden Blutes an der Wand hinterließ. Dann fiel er in sich zusammen, blieb still vor unseren Augen liegen und zu unserem Entsetzen drangen die Flammen, die ihn innerlich verbrannten, jetzt langsam nach außen, züngelten, setzten seine Uniform in Brand und dann seinen gesamten Körper, bis er wie ein ritueller Selbstmörder lodernd vor uns auf dem Boden lag.

Aus dem Innern des Raumes drang ein weiterer heißer Luftzug. Wir hörten ein Brummen und Gestöhn, der Klang eines teuflischen Biestes, das entschlossen war, uns zu vernichten. Plötzlich, wie bei einem Wunder, tauchte Lieutenant Stroud im Türrahmen auf und rollte sich seitwärts auf uns zu. Er schnappte nach Luft wie ein überanstrengter Athlet. George Thousand Names und Dr. Jarvis knieten sich neben ihm nieder.

»Okay, ich bin okay«, sagte er und versuchte aufzustehen. »Mein Rücken ist völlig zerkratzt, aber ich glaube, ich bin okay. Um Himmels willen, lasst uns schnell hier verschwinden. Das Vieh dreht völlig durch.«

»Es dreht nicht durch. Das ist sein natürliches Benehmen«, sagte George Thousand Names. »Er wird uns vernichten und verschlingen, und wir können nichts dagegen tun.«

Lieutenant Stroud stand unter Schmerzen auf, seine Augen fest auf die dunkle Tür gerichtet, hinter der Coyote lauerte.

»Vielleicht können Sie nichts tun, Medizinmann, aber ich weiß, was ich tun werde. Das … das Ding darin hat uns den Krieg erklärt, und wenn es Krieg will, verdammt, dann soll es ihn bekommen!«

George Thousand Names griff nach dem Lieutenant und hielt ihn zurück. »Bitte, Lieutenant. Sie haben es hier nicht mit irgendeiner Kreatur aus dem Fernsehen zu tun. Bomben und Tränengas können Coyote nicht verletzen. Sie können nicht mehr als …«

Seine Worte gingen unter in einem Gebrüll, das das ganze Gebäude erzittern ließ. Türteile, Fetzen von Teppichen, Mörtelstücke und eine trockene, wilde Hitze, die nach Tieren und Tod stank, schlugen auf uns ein. Coyote drängte aus dem Zimmer, um sein Blut und sein Gesicht zu suchen, und er kam, um uns abzuschlachten. Es war Coyote, der Dämon des Zornes und der Angst!


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