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Eines der schlimmsten Dinge, die man im Leben entdecken kann, ist, dass einige von uns es draufhaben – und andere eben nicht. Ich schätze, dass es so auch ganz richtig ist. Hätte jeder junge Mann das Talent, Flugzeuge zu fliegen, Rennwagen zu fahren oder in einer Nacht 20 Frauen zu lieben, dann würde es wohl nicht mehr viele Freiwillige geben, die verstopfte Kanalrohre reinigten. Aber es ist immer schwer, wenn man entdeckt, dass man selbst es nicht draufhat und man anstatt ein luxuriöses Leben voller Spaß und Anerkennung in Beverly Hills zu führen, einem Job von neun bis fünf Uhr im öffentlichen Dienst nachgehen muss.

Ich bin das Kind von klugen, wohlhabenden Eltern aus Westchester, New York. Als mein Vater einen Schlaganfall erlitt, verließ ich meine Mutter mit ihrem Haus und ihrem Versicherungsgeld und machte mich auf nach Westen. Ich glaube, ich wollte Fernsehmoderator werden oder etwas ähnlich Grandioses, doch nachher war ich froh, überhaupt etwas zum Essen zu verdienen.

Ich habe eine Frau geheiratet, die sieben Jahre älter war, hauptsächlich, weil sie mich an meine Mutter erinnerte, und zum Glück reichte sie die Scheidung ein, nachdem sie mich mit einer Serviererin aus dem Fox im Bett ertappte. Diese Affäre ging ebenfalls in die Brüche. So blieb ich alleine zurück – mittellos. Ich musste nun zum ersten Mal in meinem Leben für mich selbst sorgen, zu mir selbst finden und mir klar darüber werden, was ich wirklich erreichen konnte und was nicht.

Mein Name ist John Hyatt, einer dieser Namen, von denen die Leute glauben, dass sie ihn nicht vergessen werden, aber sie vergessen ihn doch. Ich bin 31, ziemlich groß und ich trage gerne dunkle, gut geschnittene Sportjacken und weite graue Hosen im Stil der 50er-Jahre. Ich lebe allein im obersten Stockwerk eines Apartmentblocks in der Townsend Street, mit meiner Stereoanlage, meinen Topfpflanzen und meiner Sammlung von Taschenbüchern mit zerknitterten Buchrücken.

Ich glaube, dass ich hier mit meiner Arbeit eigentlich glücklich und zufrieden bin – aber sind Sie schon einmal abends ausgegangen, an irgendeinen ruhigen Ort, haben über eine Bucht geschaut, mit den zwinkernden Lichtern, wie es sie überall in Amerika gibt, und dann kam ihnen der Gedanke: Hey, das kann doch wirklich nicht alles im Leben sein?

Glauben Sie jetzt nicht, dass ich einsam bin. Bin ich nicht. Ich verabrede mich sogar öfter mit Frauen und habe gute Freunde, die mich zu Swimmingpool-Partys und zu Barbecues einladen. Aber an dem Abend, als wir zum Haus von Seymour Wallis gingen, machte ich gerade eine Phase der Antriebslosigkeit durch und war mir nicht sicher, was ich eigentlich vom Leben erwartete oder was das Leben von mir erwartete. Ich schätze, dass eine Menge Menschen dasselbe fühlten, als Präsident Carter gewählt wurde. Bei Nixon wusste man wenigstens, auf welcher Seite man stand.

Eventuell half mir das, was mit Dan Machin passiert war, wieder zu meiner alten Selbstsicherheit zu finden. Das war etwas so Unheimliches, so Entsetzliches, dass man an nichts anderes mehr denken konnte. Sogar einige Sekunden nachdem wir ins Zimmer gestürzt waren, Dan seine Augen geschlossen hatte und auf sein Kissen zurücksank, zitterte ich noch vor Schock und Entsetzen. Ich spürte die prickelnde Spannung der Angst bis in meine Handflächen.

Die Krankenschwester stammelte: »Er … er …«

Dr. Jarvis trat vorsichtig an Dans Bett, nahm sein Handgelenk und prüfte den Puls. Dann atmete er tief ein und hob eines von Dans Augenlidern. Ich bemerkte, dass ich einen Schritt zurücktrat – nur für den Fall, dass das Auge noch immer in dieser roten Farbe glühte, doch dem war nicht so. Es sah wieder normal grau aus, aber es war offensichtlich, dass Dan wieder bewusstlos geworden war.

»Schwester, ich brauche sofort eine gesamte Diagnoseausrüstung hier. Und lassen Sie Dr. Foley ausrufen.«

Die Schwester nickte und verließ den Raum. Man merkte ihr an, dass sie froh war, etwas tun zu müssen, das sie ablenkte.

Ich trat an Dans Bett und schaute auf sein blasses, fiebriges Gesicht. Er sah gar nicht mehr wie der gewitzte Hinterwäldler aus Kansas aus. Die Falten um seinen Mund waren zu tief und seine Blässe zu weiß. Immerhin atmete er wieder normal.

Ich schielte rüber zu Dr. Jarvis. Er kritzelte etwas auf seinen Notizblock, sein Gesichtsausdruck war gleichzeitig konzentriert und besorgt.

»Wissen Sie, was das war?«, fragte ich leise.

Er sah weder auf, noch gab er eine Antwort.

»Diese roten Augen. Wissen Sie, wodurch so etwas hervorgerufen werden kann?«

Er hielt im Schreiben inne und starrte mich an. »Ich möchte zu gern wissen, was es mit dem Atmen gestern Abend auf sich hat, mit dem Sie beide zu tun hatten. Sind Sie sich absolut sicher, dass keine Drogen im Spiel waren?«

»Hören Sie, das würde ich Ihnen doch sagen. Es hatte etwas mit einem Haus oben in Pilarcitos zu tun.«

»Ein Haus?«

»Genau. Wir arbeiten beide für das Gesundheitsamt. Der Besitzer hat uns gebeten, sein Haus zu untersuchen und dessen Atmen zuzuhören. Er sagte, dass sein Haus ein atmendes Geräusch machen würde, und er wusste nicht, was es war.«

Dr. Jarvis prüfte wieder Dans Puls. »Haben Sie herausgefunden, was es verursacht hat?«, fragte er. »Ich meine, dieses Atmen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass Dan eben genauso geatmet hat. Es ist fast so, als sei das Atmen des Hauses auf ihn übergegangen. Als ob er davon besessen ist.«

Dr. Jarvis legte seinen Block neben Dan Machins Schüssel mit Weintrauben. »Sind Sie ein aktives Mitglied im Club der Verrückten oder nur ein zahlendes?«, fragte er.

Dieses Mal spielte ich nicht den Beleidigten. »Ich weiß, dass es schwer zu verstehen ist«, sagte ich. »Ich verstehe es ja selbst nicht. Aber Besessenheit scheint mir der richtige Ausdruck. Ich habe das Haus atmen hören und ich hörte Dan atmen, als seine Augen ganz rot waren. Es klang ganz genauso.«

Dr. Jarvis sah Dan an. Er schüttelte den Kopf: »Es ist offensichtlich psychosomatisch. Er hat dieses atmende Geräusch vergangene Nacht gehört und es hat ihn so erschreckt, dass er sich damit identifiziert und aus Sympathie ebenso atmet.«

»Tja, das kann sein. Aber was war mit seinen Augen?«

Dr. Jarvis atmete tief durch. »Ein Lichteffekt«, erwiderte er ruhig.

»Ein Lichteffekt? Jetzt machen Sie aber mal halblang!«

Dr. Jarvis sah mich an, kalt. »Sie haben mich gehört«, schnauzte er. »Es war ein Lichteffekt.«

»Ich habe doch seine Augen genau gesehen! Und Sie auch!«

»Ich habe nichts gesehen. Zumindest nichts, was medizinisch unmöglich ist. Und ich glaube, dass wir beide uns darüber im Klaren sein sollten, bevor wir uns bei irgendjemandem den Mund verbrennen.«

»Aber die Krankenschwester …«

Dr. Jarvis machte eine abfällige Handbewegung. »In diesem Krankenhaus sind Schwestern nicht mehr als Hausmädchen in hübschen Uniformen.«

Ich beugte mich über Dan und betrachtete sein wächsernes Gesicht und wie seine Lippen sich im Schlaf bewegten und flüsterten.

»Doktor, dieser Mann ist mehr als einfach nur krank«, sagte ich. »Mit ihm stimmt wirklich etwas nicht. Was können wir denn jetzt tun?«

»Wir können nur eines tun. Seine Krankheit bestimmen und ihn angemessen medizinisch behandeln. Tut mir leid, Teufelsaustreibungen machen wir hier leider nicht. Ich glaube auf keinen Fall, dass es etwas Schlimmeres ist als ein fortgeschrittener Fall von Hypersuggestion. Ihr Freund ist in dieses Haus gegangen und wurde hysterisch, als er glaubte, das Atmen zu hören. Es war möglicherweise sein eigenes Atmen.«

»Aber ich habe es doch auch gehört.«

»Mag sein«, meinte Dr. Jarvis kurz angebunden.

»Doktor«, sagte ich ärgerlich.

Aber Dr. Jarvis kam mir zuvor, bevor ich weiterreden konnte: »Bevor Sie anfangen, mir mangelnde Fantasie vorzuwerfen, denken Sie bitte daran, dass ich hier arbeite«, schnauzte er. »Alles, was ich tue, muss vor dem Direktorium begründet werden. Falls ich hier etwas von dämonischer Besessenheit und Augen erzähle, die in der Dunkelheit rot glühen, dann werde ich meine Beförderung vorübergehend zu den Akten legen können. Außerdem wird man meine Arbeitsmöglichkeiten und die notwendigen Finanzen stark einschränken.«

Er kam um das Bett herum und sah mir gerade in die Augen. Leise und eindringlich sagte er: »Ich habe auch gesehen, dass die Augen von Mr. Machin rot wurden. Doch wenn wir etwas unternehmen wollen, irgendetwas Wirksames, dann sprechen wir besser nicht laut darüber. Verstehen Sie das?«

Ich sah ihn neugierig an: »Wollen Sie mir sagen, dass Sie glauben, dass er wirklich besessen ist?«

»Ich versuche, Ihnen gar nichts zu sagen. Ich glaube nicht an Dämonen und ich glaube auch nicht an Besessenheit. Aber ich glaube, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Etwas, das wir aber selbst herausfinden müssen, ohne dass das Krankenhaus davon erfährt.«

In diesem Augenblick bewegte sich Dan und stöhnte. Ich spürte, dass mir die Haare im Nacken alarmierend zu Berge standen, aber als er sprach, war er offensichtlich ziemlich normal.

»John …«, murmelte er. »John …«

Ich beugte mich über ihn. Seine Augen waren nur einen Schlitz weit geöffnet und seine Lippen ganz rissig.

»Ich bin hier, Dan. Was ist los? Wie fühlst du dich?«

»John …«, flüsterte er. »Lass mich nicht gehen …«

Ich schaute zu Dr. Jarvis hinüber. »Es ist alles in Ordnung, Dan. Niemand will dich gehen lassen.«

Dan hob schwach eine Hand. »Lass mich nicht gehen, John. Es ist das Herz, John. Lass mich nicht gehen

Dr. Jarvis beugte sich näher zu Dan. »Ihr Herz? Tut Ihnen das Herz weh? Spüren Sie irgendwelche Krämpfe – oder Schmerzen?«

Dan schüttelte den Kopf, nur eine schwache Andeutung. »Es ist das Herz«, flüsterte er so leise, dass es kaum zu hören war. »Es schlägt und schlägt und schlägt. Es schlägt noch immer. Es ist das Herz, John, es schlägt noch weiter! Es schlägt noch!«

»Dan«, flüsterte ich eindringlich. »Dan, du darfst dich da nicht so hineinsteigern! Dan, um Gottes willen!«

Dr. Jarvis deutete kurz an, dass ich jetzt schweigen sollte. Dan lag schon wieder ruhig auf seinem Kissen. Die Augen hielt er geschlossen. Sein Atmen wurde langsamer und wieder regelmäßig, langsam, qualvoll und schwer, und obwohl es mich immer noch an das Atmen erinnerte, das wir in Seymour Wallis’ Haus gehört hatten, schien er doch endlich etwas Ruhe zu finden. Ich richtete mich wieder auf. Ich fühlte mich ausgelaugt und müde.

»Er wird jetzt Ruhe haben, zumindest für ein oder zwei Stunden«, sagte Dr. Jarvis leise. »Diese Anfälle scheinen in regelmäßigen Abständen von 90 Minuten aufzutreten.«

»Haben Sie dafür irgendeine Erklärung?«

Er zuckte die Achseln. »Dafür könnte es viele Gründe geben. Aber 90 Minuten ist der Zeitzyklus des REM-Schlafes, die Art Schlaf, bei dem die Leute ihre lebhaftesten Träume haben.«

Ich schaute hinunter auf Dans graues, eingefallenes Gesicht. »Vorhin hat er zu mir etwas über Träume gesagt«, meinte ich. »Er hat von Türklopfern geträumt, die lebendig wurden, und von Figuren, die sich bewegten. Es hatte alles etwas mit dem Haus zu tun, das wir gestern Abend besucht haben.«

»Gehen Sie wieder dorthin? Zu dem Haus?«, fragte Dr. Jarvis.

»Ich hatte vor, heute Abend noch einmal hinzufahren. Einer meiner Ingenieure glaubt, dass die Geräusche von einem ungewöhnlichen Fallstrom stammen könnten. Warum?«

Dr. Jarvis fixierte Dan weiterhin. »Ich würde gern mitkommen, deshalb frage ich. Hier geht etwas vor, das ich nicht verstehe, ich will es aber verstehen.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Plötzlich sind Sie sich wohl gar nicht mehr so sicher?«

Er brummte. »Okay, das habe ich wohl verdient. Aber ich würde mich wirklich gern anschließen.«

Ich schaute noch einmal zu Dan. Er lag jung und blass wie ein Leichnam auf seinem Krankenhausbett. Sehr leise antwortete ich: »In Ordnung. Es ist 1551 Pilarcitos. Punkt neun Uhr.«

Dr. Jarvis nahm einen Kugelschreiber und notierte sich die Adresse. Dann, bevor ich ging, sagte er noch: »Hören Sie, tut mir leid, dass ich vorhin so grob zu Ihnen war. Sie müssen bedenken, dass wir hier immer eine Menge Freunde und Verwandte haben, die zu viel ›General Hospital‹ anschauen und glauben, dass sie alles besser wüssten. Ich meine, wir müssen uns ständig verteidigen.«

Ich blieb stehen, dann nickte ich. »Okay. Ich verstehe Sie. Bis um neun also.«

An diesem Nachmittag wurde vom Ozean her eine graue Wolkenbank hereingeweht, die Regen mit sich brachte. Ich saß bis halb zwei Uhr nervös und zappelig am Schreibtisch, dann nahm ich meinen Regenschirm und ging spazieren. Mein unmittelbarer Vorgesetzter, der pensionierte Seeleutnant Douglas P. Sharp, würde wahrscheinlich genau diesen Nachmittag für eine Stippvisite wählen, aber im Augenblick war mir das absolut gleichgültig. Ich war zu besorgt, zu nervös und zu betroffen von dem, was Dan zugestoßen war.

Ich überquerte die Bryant Street. Einige centstückgroße Regentropfen fielen auf den Bürgersteig. Die Luft war angefüllt mit einer magnetischen Spannung.

Ich glaube, ich kannte mein Ziel, auf das ich die ganze Zeit zusteuerte. Ich ging in die Brannan Street, und dort war es: The Head Bookstore. Ein kleiner, rot angestrichener Laden, der drinnen von einer Reihe nackter Glühbirnen beleuchtet wurde, vollgestopft mit Taschenbüchern aus zweiter Hand. Weltatlanten, Poster und wertloser Plunder standen zum Verkauf.

Ich trat ein, die Klingel schrillte. Ein bärtiger junger Bursche sah hinter der Theke auf und sagte: »Hallo. Suchen Sie etwas Bestimmtes?«

»Jane Torresino?«

»Oh, klar. Sie ist hinten, packt gerade Castanedas aus.«

Ich zwängte mich durch die Regale voller Marx, Seale und indianischem Räucherwerk, duckte mich unter der kleinen Tür, die zum Lagerraum führte. Ja, Jane war da. Sie saß auf dem Boden und sortierte Yaqui-Weisheit in saubere Stapel.

Erst schaute sie nicht auf und ich lehnte mich in den Türrahmen und beobachtete sie. Sie gehörte zu den Frauen, die immer hübsch und strahlend aussehen, ganz gleich, wie lässig sie sich anziehen. Heute trug sie enge weiße Jeans und ein blaues T-Shirt, auf das eine lächelnde Katze gedruckt war. Jane war schlank, hatte sehr langes, mittelblondes Haar, in das kleine Locken frisiert worden waren und das mich immer an Botticelli erinnerte. Ihr Gesicht war scharf und gut geschnitten mit großen Kulleraugen.

Ich hatte sie das erste Mal bei einer Party in Daly City getroffen, wo die zweite Wiedergeburt von Christus gefeiert wurde, die von einem Weisen des 18. Jahrhunderts prophezeit worden war. Der Hauptehrengast, was nicht wirklich verwundert, tauchte dann gar nicht auf. Entweder war das vorausgesagte Datum falsch oder aber er hatte nicht Daly City gewählt für seine Wiederkunft. Ich konnte ihm das nicht verübeln. Doch wenn auch mit der zweiten Wiederkehr alles schieflief, so lief es zwischen Jane und mir goldrichtig. Wir trafen uns, redeten, tranken viel zu viel Tohay und fuhren danach zu meiner Wohnung, um uns zu lieben. Später, ich erinnere mich gut, trank ich im Bett starken Kaffee, den sie mir aufgebrüht hatte. Ich war sehr glücklich über das, was das Leben mir so großzügig in den Schoß gelegt hatte.

Aber so lief es natürlich nicht weiter. Diese Nacht – die Wiedergeburts-Nacht – war unsere erste und einzige geblieben. Jane bestand darauf, dass wir nur gute Freunde seien, und so trafen wir uns zu gemeinsamen Kino-Besuchen, zum gemeinsamen Essen und das Licht der Kerzen, das dabei über der spaghetti bolognaise so romantisch schien, galt mir alleine. Schließlich akzeptierte ich unsere Freundschaft als solche und schaltete jeden Gedanken an ein Liebesleben mit Jane aus.

Jedoch hatte sich eine angenehme Verbindung angebahnt, die zwar sehr vertraulich war, aber niemals fordernd. Manchmal trafen wir uns dreimal in einer Woche. Dann wieder hatten wir monatelang keinen Kontakt. Heute, als ich mit meinem Regenschirm und meinen Sorgen über Dan Machin erschien, war es mein erster Besuch seit sechs oder sieben Wochen.

»Das Gesundheitsamt schickt Ihnen beste Grüße und hofft, dass Ihre Rohrleitungen gut funktionieren.«

Sie schaute mich über ihre rosa gefärbte Lesebrille an und lächelte: »John, ich habe dich wochenlang nicht gesehen!«

Sie stand auf und kam auf Zehenspitzen vorsichtig durch die Bücherstapel auf mich zu. Wir gaben uns einen Kuss, einen sehr keuschen, dann meinte sie: »Du siehst müde aus. Ich hoffe, du schläfst nicht mit zu vielen Frauen.«

Ich grinste: »Sollte das ein Problem sein? Dann wäre ich gern etwas müde.«

»Komm nach draußen«, sagte sie. »Wir haben heute Morgen eine neue Lieferung mit Büchern bekommen, deshalb die Unordnung. Hast du Zeit für einen Kaffee?«

»Sicher. Ich habe mir wegen guter Führung heute Nachmittag selbst freigegeben.«

Wir verließen den Buchladen und gingen über die Straße zu Prokic’s Deli, wo ich uns Cappuccino und Alfalfa-Sandwiches bestellte. Aus irgendeinem Grund hatte ich ein Faible für Alfalfa-Sandwiches. Dan Machin (Gott möge ihn schützen) hatte gemeint, dass ich mich wahrscheinlich in ein Pferd verwandele. Ich würde, statt Mist zu entsorgen (wie er sagte), übergehen zur Produktion von Mist.

Jane setzte sich ans Fenster und wir beobachteten, wie der Regen draußen auf die Straße herabstürzte. Ich zündete eine Zigarette an und rührte in meinem Kaffee; die ganze Zeit sah sie mich stumm an, als ob sie wüsste, dass ich ihr etwas erzählen wollte.

»Du siehst gut aus«, meinte ich. »Die Zeit vergeht und du wirst mit jeder Stunde immer hübscher.«

Sie schlürfte ihren Cappuccino. »Du bist doch nicht gekommen, um mir Komplimente zu machen.«

»Nein, das nicht. Aber ich will auch keine Gelegenheit dazu versäumen.«

»Du siehst besorgt aus.«

»Sieht man mir das an?«

»Ja, extrem.«

Ich lehnte mich auf dem wackligen Stuhl zurück und stieß Rauch aus. Direkt über Janes Kopf hing ein Poster an der Wand, das für die Legalisierung von Haschisch warb, doch nach dem unterschwelligen Aroma in Prokic’s Deli zu urteilen, war sowieso niemand von den Gesetzen beeindruckt – man konnte hier hereinspazieren, ein Glas Milch und ein Salami-Sandwich kaufen, und kam high wieder raus.

»Hast du in deinem gesamten Leben schon einmal etwas erlebt, das so absolut seltsam war, dass du nicht wusstest, wie du es begreifen kannst?«, fragte ich.

»Was meinst du mit absolut seltsam?«

»Also, manchmal passieren doch seltsame Dinge, oder? Du siehst jemanden auf der Straße, den du für tot gehalten hast, oder so etwas Ähnliches. Nur ein einzelner Vorfall. Aber mit absolut seltsam meine ich eine Situation, die ganz seltsam anfängt und dann immer seltsamer wird.«

Sie schob sich die Haare aus der Stirn. »Das ist es, was dich so belastet?«

»Jane«, meine Stimme klang ganz rau, »es belastet mich nicht. Es macht mich verrückt.«

»Willst du darüber reden?«

»Es klingt alles so lächerlich.«

Sie schüttelte den Kopf. »Erzähle es mir trotzdem. Ich liebe lächerliche Geschichten.«

Langsam, mit vielen Unterbrechungen und Erklärungen, erzählte ich ihr alles, was in Seymour Wallis’ Haus passiert war. Das Atmen, die Freisetzung von Energie, wie Dan Machin ohnmächtig wurde. Dann beschrieb ich den Zwischenfall im Krankenhaus und Dans unheimlich glühende Augen. Ich erzählte ihr auch von seinen seltsam geflüsterten Worten: Es ist das Herz, John, es schlägt noch weiter!

Jane hörte mir die ganze Zeit mit ernstem Gesichtsausdruck zu. Dann legte sie eine ihrer langfingrigen Hände auf meine. »Darf ich dich etwas fragen? Wirst du nicht beleidigt sein?«

Ich ahnte, was sie fragen wollte. »Wenn du glaubst, dass ich hier eine Show abziehe, um uns wieder zusammenzubringen, dann irrst du. Alles, was ich gerade erzählt habe, ist passiert, und nicht letzten Monat oder letztes Jahr. Es ist hier in San Francisco in der vergangenen Nacht und hier in San Francisco heute Morgen passiert. Es ist Wirklichkeit, Jane, ich schwöre es.«

Sie griff über den Tisch und nahm sich eine von meinen Zigaretten. Ich hielt ihr meinen Glimmstängel hin und sie zündete sie sich an der glühenden Spitze an. »Es klingt so, als ob dieses Ding, dieser Geist oder was immer es ist, ihn besetzt. Es klingt wie Der Exorzist oder so …«

»Das habe ich auch schon gedacht. Aber ich fand es zu blöd, um es auszusprechen. Ich meine, um Gottes willen, diese Dinge passieren doch nicht wirklich.«

»Vielleicht doch. Nur weil sie nie jemandem passieren, den wir kennen, heißt das ja nicht, dass sie überhaupt nicht passieren.«

Ich drückte meine Zigarette aus und seufzte: »Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen und doch glaube ich es einfach nicht. Er saß aufrecht in seinem Bett und ich sage dir, Jane, seine Augen glühten. Er ist doch ein ganz normaler junger Typ, der für die Stadt arbeitet, er trägt noch einen Bürstenhaarschnitt wie ein Junge, und er sah aus wie der Teufel.«

»Was kann ich tun?«, fragte Jane.

Ich schaute aus dem Fenster, vor dem Leute standen, die sich vor dem Regen schützten. Der Himmel hatte eine seltsame grüne Metallfarbe angenommen und die Wolken bewegten sich schnell über die Dächer der Brannan Street. Heute früh, bevor ich zu Dan gegangen war, hatte ich mit Seymour Wallis telefoniert, um mich mit ihm für eine weitere Besichtigung des Hauses zu verabreden, und er hatte mich dasselbe gefragt: »Was kann ich tun? Himmelherrgott, sagen Sie mir, was kann ich tun?«

»Ich weiß es wirklich nicht«, antwortete ich Jane. »Aber vielleicht kannst du heute Abend mitkommen, wenn wir das Haus besichtigen. Du verstehst doch etwas von Okkultismus, oder? Geister und Gespenster und all dieser Kram. Ich möchte gern, dass du dir mal den Türklopfer des alten Wallis anschaust, und auch drinnen so einiges. Vielleicht finden wir irgendeinen Anhaltspunkt. Ich weiß es nicht.«

»Warum ich?«, meinte sie ruhig. »Es gibt bestimmt bessere Experten für Okkultismus. Ich verkaufe nur Bücher darüber.«

»Du liest sie aber doch auch, oder?«

»Sicher, aber …«

Ich griff nach ihrer Hand. »Bitte, Jane, tu mir den Gefallen, geh mit. Es ist um neun Uhr heute Abend, in der Pilarcitos Street. Ich weiß nicht, warum ich dich dort brauche, aber ich fühle, dass ich dich brauche. Wirst du kommen?«

Jane berührte ihr Gesicht mit den Fingerspitzen, als wollte sie sich vergewissern, dass sie existierte, immer noch 26 Jahre alt war und sich über Nacht nicht in jemand anderen verwandelt hatte.

»In Ordnung, John, wenn du mich wirklich dabeihaben willst … und solange es kein Versuch ist, mich irgendwie zu verführen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Kannst du dir ein Paar vorstellen, das John und Jane heißt? Das würde nie klappen.«

Sie lächelte stumm.

Ich ging an diesem Abend etwas früher zur Pilarcitos Street. Aufgrund des bewölkten Himmels war es viel schneller dunkel geworden als sonst. Das düstere Haus wurde von Schatten und Regen verhüllt. Während ich draußen stand und wartete, hörte ich Wasser in der Regenrinne gurgeln und sah das feuchte Dach schieferdunkel glänzen. Bei diesem Wetter, in dieser Finsternis, schien Nummer 1551 in sich selbst zusammenzukriechen, sich schwermütig und unbehaglich zu fühlen, inmitten der von Regen gepeitschten Stadt.

Ich hatte noch einmal kurz im Krankenhaus angerufen, aber die Schwester sagte, dass Dan noch immer schlief und es wäre keine Veränderung eingetreten. Dr. Jarvis sei im Augenblick nicht im Dienst, deshalb könne ich nicht mit ihm über Dans Fortschritte reden, doch wahrscheinlich, mit etwas Glück, könnte ich ihn wohl heute Abend erreichen.

Auf der anderen Seite der Bucht wanderte ein Wetterleuchten umher und weit in der Ferne hörte ich das Grollen eines Unwetters. So, wie der Wind jetzt blies, würde der Sturm in einer halben Stunde über die Stadt hinwegziehen.

Ich öffnete das Gartentor und ging die Stufen zur Eingangstür hinauf. In der Dunkelheit konnte ich noch soeben die Umrisse des Türklopfers mit seinem grinsenden Wolfsgesicht ausmachen. Vielleicht war ich nur nervös und dachte zu sehr an den Traum von Dan Machin, aber der Türklopfer schien seine Augen zu öffnen und mein Nahekommen zu beobachten. Ich erwartete schon beinahe, dass er reden und etwas flüstern würde, wie Dan es sich eingebildet hatte.

Widerwillig streckte ich meine Hand aus, um den Klopfer zu nehmen und gegen die Tür zu schlagen. In dem Augenblick, als ich zugriff, ließ ich auch schon wieder los – für den Bruchteil einer Sekunde, nur einen abwegigen Moment lang, schien es, als hätte ich Borsten statt Bronze angefasst. Doch ich packte wieder zu, denn mir war bewusst, dass ich mir solche Sachen nur einbildete. Der Türklopfer war grotesk, sein Gesicht war wild und bösartig, aber er bestand aus nichts anderem als gegossenem Metall. Als ich ihn auf die Tür schlug, verursachte er einen lauten, schweren Knall, der drinnen durch das Innere des Hauses hallte.

Ich wartete, lauschte dabei dem Geräusch des sanft fallenden Regens und dem Sausen der Autos auf der Mission Street. Erneut grollte der Donner und das Wetterleuchten ging wieder los, inzwischen viel näher. Im Haus hörte ich das Öffnen einer Tür und wie sie geschlossen wurde, dann folgten Schritte, die sich der Eingangstür näherten.

Die Riegel und Ketten rasselten und dann schaute Seymour Wallis durch den Spalt. »Sie sind es«, meinte er. »Sie sind aber früh dran.«

»Ich wollte mit Ihnen reden, bevor die anderen kommen. Darf ich eintreten?«

»Aber natürlich«, sagte er und öffnete die schwere, knarrende Tür.

Ich betrat die muffige Halle. Sie war noch immer so alt und roch so stickig, wie ich sie gestern empfunden hatte, und obwohl durch den Knall vergangene Nacht die Rahmen gerissen und die Glasscheiben gesprungen waren, hingen die trübseligen Zeichnungen des Mount Taylor und Cabezon Peak immer noch an der schäbigen Tapete.

Ich ging zu der seltsamen Bärenstatue hinüber, die auf dem Endpfosten des Treppengeländers stand. Gestern Abend hatte ich sie nicht sonderlich beachtet, aber jetzt sah ich, dass das Frauengesicht ziemlich hübsch war, friedlich und gefasst, mit geschlossenen Augen.

»Das ist wirklich eine außergewöhnliche Skulptur.«

Wallis war noch damit beschäftigt, die Tür zu verriegeln. Er wirkte heute Abend älter und steifer in seiner ausgebeulten grauen Hose und der weiten grauen Strickjacke, deren Ärmel er hochgekrempelt hatte. Er roch nach Whisky.

Er beobachtete, wie ich mit der Hand über den Bronzerücken des Bären strich.

»Ich habe sie gefunden«, sagte er. »Schon vor einigen Jahren, als ich drüben in Fremont arbeitete. Wir haben eine Verkehrsbrücke für den Park gebaut und dabei haben wir sie ausgegraben. Seitdem habe ich sie immer bei mir gehabt. Sie gehörte nicht mit zum Haus.«

»Dan Marchin hat heute Morgen davon geträumt«, erzählte ich.

»Wirklich? Ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum er von ihr träumen sollte. Es ist doch nur eine alte Skulptur. Ich weiß nicht mal, wie alt sie ist. Was würden Sie schätzen? 100 Jahre, 200 Jahre?«

Ich sah mir das demütige Gesicht der Bärenfrau näher an. Ich weiß nicht, weshalb, aber der Gedanke an einen Bären mit dem Gesicht einer Frau gab mir ein unangenehmes, gruseliges Gefühl. Ich vermute, es lag ganz einfach an der gesamten Atmosphäre in Wallis’ Haus. Aber wer hatte eine solch seltsame Figur geschaffen? Was sollte sie ausdrücken? Hatte sie eine symbolische Bedeutung? Zumindest war es sicher, dass sie nicht nach einem lebenden Modell modelliert worden war – das hoffte ich jedenfalls.

Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Experte. Ich kenne mich nur im Gesundheitswesen aus.«

»Kommt Ihr Freund auch? Der Ingenieur?«, fragte Wallis, während er mich in sein Büro führte.

»Er hat es gesagt. Außerdem kommen noch ein Arzt, wenn Sie nichts dagegen haben, und eine Bekannte von mir, die einen auf esoterische Literatur spezialisierten Buchladen in Brannan führt.«

»Ein Arzt?«

»Ja, es ist der, der Dan behandelt. Wir hatten heute einen kleinen Zwischenfall.«

Wallis ging zu seinem Schreibtisch hinüber und schenkte mit zitternder Hand zwei volle Gläser Scotch ein. »Zwischenfall?«, fragte er, den Rücken mir zugewandt.

»Es ist schwer zu beschreiben. Aber ich habe das Gefühl, dass das, was auch immer wir vergangene Nacht hier hörten, Dan sehr aufgeregt hat. Er hat sogar so ähnlich geatmet. Der Arzt glaubte zuerst, dass Dan Asthma hätte.«

Wallis drehte sich um, in jeder Hand ein Glas, gefüllt mit bernsteinfarbenem Scotch. Sein Gesicht sah in dem grünen Schattenlicht der Schreibtischlampe angespannt und geradezu gespenstisch aus. »Wollen Sie mir damit sagen, dass Ihr Freund genauso geatmet hat, wie das Atmen sich hier im Haus anhört?«

Er war so aufgeregt, dass ich ganz verlegen wurde. »Ja, genau das. Dr. Jarvis dachte, dass es vielleicht psychosomatische Gründe habe. Sie wissen, selbst verursacht. Das passiert hin und wieder nach einer schweren Gehirnerschütterung.«

Seymour Wallis gab mir den Whisky und setzte sich dann. Er sah so perplex und nachdenklich aus, dass ich mir die Frage nicht verkneifen konnte: »Was ist los? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Dollar verloren und dafür einen Nickel gefunden.«

»Es ist das Atmen«, sagte er. »Es hat aufgehört.«

»Aufgehört? Woher wissen Sie das?«

»Ich weiß es nicht. Nicht genau. Nicht sicher. Aber ich habe es gestern Nacht nicht mehr gehört und auch heute noch nicht. Außerdem spüre ich, dass es vorbei ist.«

Ich setzte mich auf eine Ecke des Schreibtisches und nippte an meinen Whisky. Der Whisky war neun Jahre alt und schmeckte reif und mild, aber er passte nicht so besonders gut zu meinem halb verdauten Salatsandwich. Ich hätte besser etwas Solides essen sollen, bevor ich auf Gespensterjagd ging. Ich rülpste leise in meine Faust, während Wallis unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Er sah noch unglücklicher aus.

»Glauben Sie, dass das Atmen sich irgendwie aus dem Haus auf Dan übertragen hat?«, fragte ich.

Er schaute nicht auf, zuckte nur die Achseln und wurde noch unruhiger. »So etwas schleicht sich in die Gedanken hinein, ist doch so, oder? Ich meine, wenn Geister tatsächlich in der Lage sind, einen Ort heimzusuchen, warum sollen sie dann nicht auch eine Person heimsuchen können? Wer kann denn schon beurteilen, was sie können und was sie nicht können? Ich weiß es nicht, Mr. Hyatt. Die ganze verdammte Angelegenheit ist mir ein Rätsel – und ich hab sie satt.«

Eine Weile saßen wir schweigend da. Seymour Wallis’ Büroraum war wie zuvor vollgestellt und luftlos und mich überkam das Gefühl, in einer kleinen Höhle auf dem Boden einer Mine zu hocken, begraben unter unzähligen Schichten aus Felsen. Das Haus gab einem das Gefühl, als wolle es einen unter dem Gewicht eines Jahrhunderts voller Leid und Duldsamkeit erdrücken. Es war kein sonderlich angenehmes Gefühl, nein, es deprimierte mich und machte mich nervös.

»Sie sagten etwas über einen Park«, erinnerte ich ihn. »Als Sie das erste Mal in mein Büro kamen, erwähnten Sie den Park auch schon. Ich weiß gar nicht, was Sie damit meinten.«

»Den Park? Habe ich das?«

»Ja, es klang zumindest so.«

»Ich schätze, Sie haben recht. Seitdem ich an diesem verdammten Park gearbeitet habe, hat mich das Pech verfolgt.«

»War es der Park in Fremont? Wo Sie die Bärenfrau gefunden haben?«

Er nickte. »Es war eine ganz einfache Auslegerbrücke. Nur ein Überweg für Fußgänger, nichts Großartiges. Ich habe davon sicher 20, 30 in den verschiedensten Städten die ganze Küste entlang gebaut. Aber diese war verhext. Die Fundamente stürzten sechs-oder siebenmal zusammen. Drei der Wetbacks, Sie wissen, diese illegalen Mexikaner, wurden sehr schwer verletzt. Einer erblindete. Niemals war man sich einig, wie und wo die Brücke am besten aufgestellt werden sollte. Die Diskussionen mit dem Stadtrat trieben einen in den Wahnsinn. Ich habe vier Monate gebraucht, um diese Brücke aufzustellen, die normalerweise in vier Tagen hätte aufgesetzt werden können. Das schadete natürlich meinem Ruf. Ich kann Ihnen jedenfalls sagen, Mr. Hyatt, dass ich mich seit der Zeit in Fremont verfolgt fühlte.«

Ich hob das Whiskyglas und ließ den Inhalt kreisen, während ich mich umschaute. »Und das hier, dieses Atmen und all das, dachten Sie, es könnte mit dem Pech zusammenhängen?«

Er seufzte. »Ich weiß nicht. Es war nur so ein Gedanke. Manchmal frage ich mich, ob ich verrückt werde.«

In diesem Augenblick ertönte der Türklopfer zweimal.

»Ich mach schon auf«, sagte ich und ging in die schattige Halle, um die Haustür zu öffnen. Während ich die Riegel und Ketten löste, konnte ich nicht anders und blickte kurz hinüber zu der Bärenfrau. Im Dunkeln wirkte sie jetzt größer als bei Licht, struppiger, als ob die Schatten um sie herum zu Pelz gewachsen wären. An jeder Wand um mich herum hingen diese trüben und langweiligen Landschaftsbilder des Mount Taylor und des Cabezon Peak, Drucke, Stiche und Tuschezeichnungen, und sie waren alle bei schlechtestem Wetter gemalt. Da ich immerhin wusste, dass beide Berge im sonnigen New Mexico lagen, erschien es umso seltsamer, dass jede einzelne dieser Dutzend Ansichten an einem regnerischen Tag gemalt worden war.

Der Türklopfer knallte wieder aufs Holz. »Schon gut, schon gut!«, rief ich. »Ich hab euch doch gehört!«

Ich öffnete die Tür und Dr. Jarvis stand mit Jane auf der Schwelle. Es regnete und donnerte noch immer, aber nach der stickigen Enge in Seymour Wallis’ Büro war die Nachtluft kühl und erfrischend. Auf der anderen Straßenseite sah ich Bryan Corder, der mit hochgezogenen Schultern durch den Regen auf uns zukam.

»Ihr beide habt euch wohl getroffen«, sagte ich zu Jane und Dr. Jarvis, während ich sie ins Haus bat.

»Es war ganz zufällig, als wir beide in einem dunklen Türeingang Schutz suchten«, sagte Jane.

Bryan lief die Stufen hoch und schüttelte sich wie ein nasser Hund den Regen aus den Haaren. Er war ein untersetzter, kräftiger, etwa 40 Jahre alter Mann mit einem pausbäckigen, freundlichen Gesicht, das mich an einen lebenslustigen Mönch erinnerte, falls es so etwas gibt. Er griff nach meinem Arm. »Hi, John. Ich hätte es fast nicht geschafft. Und, wie läuft es?«

»Beängstigend«, antwortete ich. Ich meinte es auch so. Bevor ich die Tür schloss, konnte ich nicht widerstehen und schaute noch einmal kurz auf den Türklopfer, nur um zu sehen, ob er immer noch aus Bronze, immer noch leblos und immer noch so scheußlich war wie bisher.

Ich führte sie alle in Seymour Wallis’ Büro und stellte sie ihm vor. Wallis war freundlich, aber zerstreut, als wären wir Grundstücksmakler, die den Wert seines Eigentums beurteilen wollten. Er gab jedem die Hand, bot Whisky an und holte Stühle, aber dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch, starrte auf den schäbigen Teppich und sagte kaum noch etwas.

Dr. Jarvis sah in seiner marineblauen Sportjacke und Hose nun etwas weniger nach einem Mediziner aus. Er hatte ein elegant geschnittenes Gesicht, war klein und rotblond, und ich fing an, ihn zu mögen. Er trank einen Schluck Whisky, hustete und meinte: »Ihr Freund hat keine großen Fortschritte gemacht, muss ich leider gestehen. Er erlitt zwar keinen weiteren Anfall, aber er leidet immer noch unter Atembeschwerden und wir können ihn nicht aus seinem Koma wecken. Heute Abend werden wir noch ein EKG und ein EEG machen, um festzustellen, ob es irgendein Anzeichen einer Hirnschädigung gibt.«

»Hirnschädigung? Aber er ist doch bloß vom Stuhl gefallen.«

»Ich habe erlebt, dass Leute durch den Fall von einem Stuhl gestorben sind.«

»Glauben Sie immer noch an eine Gehirnerschütterung?«, fragte Jane. »Was ist mit seinen Augen?«

Dr. Jarvis drehte sich auf seinem Sitz herum. »Würde ich glauben, dass es nur eine Gehirnerschütterung ist und nichts anderes, wäre ich nicht hier. Es scheint so, als ob da noch etwas mit im Spiel ist, aber bis jetzt habe ich noch keine echte Idee, was es sein könnte.«

Bryan fragte: »Ist das hier der Raum, in dem es passierte? Das Atmen und auch das Übrige?«

»Ja.«

Bryan stand auf und ging an den Wänden des Zimmers entlang, tastete sie an einigen Stellen ab und schaute in den Kamin. Hier und da klopfte er mit seinen Knöcheln den Verputz ab, um nach Hohlräumen zu hören. Nach einer Weile blieb er mitten im Raum stehen und blickte sich verwundert um.

»Die Tür war geschlossen?«, fragte er mich.

»Die Tür und die Fenster.«

Er schüttelte langsam den Kopf. »Das ist wirklich seltsam.«

»Was ist seltsam?«

»Also, normalerweise, wenn sich aufgrund von Zugluft oder Luftströmungen ein Druck bildet, dann ist der Kamin frei und der Schornstein nicht blockiert. Aber Sie können Ihre Hand hier in den Kamin halten und es selbst spüren. Hier ist keine Luftströmung vorhanden. Der Schornstein ist komplett zu.«

Ich ging hinüber und kniete mich auf den fadenscheinigen verblichenen Indianerteppich vor der Feuerstelle. Es war einer dieser schmalen viktorianischen Zimmerkamine mit einer verzierten Stahlhaube und einem feuerfesten Gitter. Ich steckte meinen Kopf hinein und schaute hoch in die kalte, nach Ruß riechende Finsternis. Bryan hatte recht, es gab keinen Luftzug, keinen Windhauch. Normalerweise, wenn man unter einem Kaminschacht hockt, kann man die Geräusche der Nacht hören, die herabrauschen, aber in diesem Schornstein war es still.

»Mr. Wallis«, sagte Bryan, »sind Sie sicher, dass dieser Schornstein frei ist? Oder hat ihn jemand zugemauert?«

Wallis bedachte uns mit einem mürrischen Blick. »Der Kamin ist nicht zugemauert. Ich habe erst vor wenigen Tagen ein Feuer gemacht und einige alte überflüssige Unterlagen darin verbrannt.«

Bryan schaute noch einmal den Kaminschacht hinauf. »Also, Mr. Wallis, selbst wenn er zu dem Zeitpunkt noch frei war, jetzt ist er mit Sicherheit zu. Vielleicht hängt das mit den Geräuschen zusammen, die Sie gehört haben. Dürfte ich vielleicht in dem oberen Raum einen Blick in den Kamin werfen?«

»Nur zu«, antwortete Wallis. »Aber ich bleibe hier, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich habe für heute von alldem wirklich genug.«

Wir vier gingen in die Diele und schalteten das schwache Licht ein, das die Treppe beleuchtete. Es war so schwach, weil es von einem grün und gelb gemusterten Glas abgedeckt wurde, das in Staub und Spinnweben gehüllt war. Alles im Haus schien muffig, verblichen und mit Staub bedeckt zu sein, aber genau das nannte Wallis wahrscheinlich Charakter. Mich überkam geradezu eine Sehnsucht nach Plastik und billigen modernen Wohnblöcken.

Als Bryan die erste Stufe betrat, bemerkte Jane plötzlich die Bronzestatue der Bärenfrau.

»Die ist aber ungewöhnlich«, sagte sie. »Gehörte sie schon immer zum Haus?«

»Nein. Seymour Wallis hat sie in Fremont ausgegraben, irgendwo, als er an einer Brücke gearbeitet hat. Er baut nämlich Brücken, zumindest hat er das getan.«

Jane berührte das feierliche Gesicht der Statue, als erwartete sie, dass sie jeden Moment die Augen öffnete.

»Sie erinnert mich an etwas«, sagte sie gedankenvoll. »Sie verursacht mir ein ganz seltsames Gefühl. Es ist fast so, als hätte ich sie schon früher einmal gesehen, aber das kann nicht sein.«

Sie schwieg einige Momente, ihre Hand auf den Kopf der Statue gelegt, dann schaute sie auf. »Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht denke ich später darüber nach. Sollen wir weitergehen?«

Bryan ging voran. Wir folgten ihm so leise wie möglich die alten, quietschenden Treppen hinauf. Es waren zwei Treppen mit jeweils etwa zehn Stufen, dann standen wir auf einem langen Flur, der ebenfalls von einer trüben Glaslampe erleuchtet wurde und mit einem staubigen roten Teppich ausgelegt war. Es sah aus, als wäre das Haus seit 20 oder 30 Jahren nicht mehr renoviert worden, und überall hingen diese tiefgründige Stille und dieser klamme Mief.

»Der Bürokamin muss durch diesen Raum führen«, sagte Bryan. Er führte uns zu einer Tür, die am Ende des Flurs lag. Er drückte den Messinggriff herunter und öffnete sie.

Es war ein kleines, kaltes Schlafzimmer. Es hatte ein Fenster zum Garten hin, in dem sich dunkle, nasse Bäume im Wind und Regen hin und her bewegten. Die Wände waren blassblau tapeziert und wiesen überall Wasserflecke auf. Das wenige Mobiliar bestand aus einem mit Klarlack behandelten Kleiderschrank und einem schäbigen Eisenbett. Auf dem Boden lag altmodisches Linoleum, das vor vielen Jahren einmal grün gewesen sein musste.

Bryan ging zum Kamin, der dem in Seymour Wallis’ Büro glich, nur dass ihn jemand cremefarben gestrichen hatte. Er kniete nieder und lauschte, während wir Übrigen um ihn herumstanden und ihn beobachteten.

»Kannst du etwas hören?«, fragte ich. »Ist er noch blockiert?«

»Ich schätze schon«, antwortete er und strengte dabei seine Augen an, um in der Dunkelheit etwas zu sehen. »Ich muss nur um die Kante herumschauen, dann könnte ich vielleicht …«

Er rückte etwas näher heran und schob seinen Kopf vorsichtig unter der Feuerhaube hindurch.

Dr. Jarvis lachte, aber es war ein nervöses Lachen. »Können Sie etwas erkennen?«

»Ich bin nicht sicher«, antwortete Bryan mit dumpfer Stimme. »Hier ist die Resonanz ganz anders. Eine Art dumpfes Geräusch. Ich bin mir nicht sicher, ob es durch den Schornstein hereinkommt oder ob es durchs ganze Haus vibriert.«

»Wir können hier draußen nichts hören«, sagte ich.

»Dann kommt her«, erwiderte Bryan und kroch weiter, sodass sein ganzer Kopf im Kamin verschwand.

»Ich schätze, dass Sie sich Ihr Haar waschen müssen, bevor Sie wieder in die Zivilisation zurückkehren«, sagte Jane.

»Ach, ich habe schon Schlimmeres getan als das hier«, meinte Bryan. »Abwasserkanäle sind schlimmer als eine ganze Woche Schornsteine.«

»Kannst du jetzt etwas hören?«, fragte ich und kniete mich neben den Kamin.

»Sssshht!«, forderte Bryan. »Jetzt baut sich hier irgendein Geräusch auf. Wieder dieses dumpfe Schlagen.«

»Ich kann immer noch nichts hören«, sagte ich.

»Hier drinnen höre ich es ganz deutlich. Da ist es wieder. Bum-bum-bum-bum-bum-bum-bum. Es ist fast wie ein Herzschlag. Bum-bum-bum – warum messt ihr es nicht? Hast du einen Sekundenzeiger an deiner Uhr?«

»Ich werde es messen«, sagte Dr. Jarvis. »Wenn es ein Puls ist, dann fällt es in mein Fachgebiet.«

»Okay.« Bryan hustete. »Ich beginne jetzt.«

Er hielt seinen Kopf in der Kaminhaube und suchte blind mit seiner Hand umher, bis er Dr. Jarvis’ Knie ertastete. Dann begann er, das, was in seinen Ohren dröhnte, als Takt zu schlagen, und Dr. Jarvis prüfte es mit seiner Uhr.

»Es ist kein Puls«, kommentierte Dr. Jarvis nach einigen Minuten. »Zumindest kein menschlicher Puls.«

»Reicht das?«, hustete Bryan. »Ich bekomme hier nämlich Klaustrophobie.«

»Sie sind der Santa Claustrophobius«, scherzte Jane. »Bringen Sie uns einen Sack voll mit Spielsachen mit?«

»Ach, Blödsinn«, brummte Bryan und fing an, sich wieder herauszuwinden.

Unvermittelt schrie er entsetzlich auf. Ich habe noch nie einen Menschen so schreien hören … Eine Sekunde lang konnte ich mir nicht vorstellen, was passierte. Dann brüllte er: »Holt mich raus! Holt mich raus! Um Himmels willen, holt mich raus!«, und ich wusste, dass etwas Schreckliches mit ihm geschah.

Dr. Jarvis packte eines von Bryans Beinen und schrie: »Zieh! Zieh ihn da raus!«

Vor Furcht erstarrt, packte ich Bryans zweites Bein, und gemeinsam versuchten wir, ihn herauszuziehen. Aber, obwohl nur sein Kopf in dem Kamin hing, schien er darin festzustecken. Er kreischte und schrie und seinen gesamten Körper durchzuckten Todeskrämpfe.

»Holt mich raus! Holt mich raus! Oh Gott, oh Gott, holt mich raus!«

Dr. Jarvis ließ Bryans Bein los und versuchte zu erspähen, was dort in der Kaminhaube vor sich ging. Aber Bryan zappelte und kreischte so grauenhaft, dass es unmöglich war zu erkennen, was vor sich ging.

Dr. Jarvis brüllte: »Bryan! Bryan, hören Sie! Keine Panik! Halten Sie still oder Sie werden sich verletzen!«

Er drehte sich um zu mir. »Irgendwie muss sein Kopf feststecken. Um Gottes willen, versuchen Sie, ihn ruhig zu halten.«

Wir beide rissen an der Kaminhaube, um sie aus der Befestigung der Fliesen zu lösen, aber sie saß durch den Staub und den Ruß der Jahre so fest, dass es uns nicht gelang. Bryan schrie die ganze Zeit, aber dann verstummte er plötzlich und sein Körper sackte auf den Boden des Kamins.

»Oh Gott«, sagte Dr. Jarvis. »Sehen Sie.«

Unter der Haube floss langsam feucht glänzendes Blut hervor, das Bryans Kragen und Krawatte durchtränkte. Jane, die hinter uns stand, würgte. Das war viel zu viel Blut für einen kleinen Schnitt oder einen Kratzer. Es tropfte von Bryans Hemd herab und über unsere Hände, bis es in die Fugen zwischen die Platten des Kaminbodens floss.

»Jetzt vorsichtig«, befahl Dr. Jarvis. »Ziehen Sie ihn vorsichtig herunter.«

Stück für Stück zogen wir Bryans Körper abwärts. Zunächst schien es, als würde sein Kopf immer noch festgehalten, aber dann stieg uns der eklige Geruch von rohem Fleisch in die Nase und er rutschte vollständig aus dem Kamin, fiel auf das Feuergitter.

Ich starrte mit wachsendem Grauen auf seinen Kopf. Ich konnte es kaum ertragen hinzusehen, aber wegsehen konnte ich auch nicht. Von seinem gesamten Kopf war die Haut abgeschält. Nur der nackte Schädel war noch übrig, an dem einige wenige Fetzen Fleisch und Haarbüschel hingen. Sogar die Augen waren aus ihren Höhlen herausgerissen worden, sodass nur noch klebrige Knochen zurückgeblieben waren.

Jane, deren Stimme vor Übelkeit zitterte, sagte: »Oh John, oh mein Gott, was ist passiert?«

Dr. Jarvis legte Bryans Körper vorsichtig nieder. Der Schädel machte auf den Fliesen ein grausiges, knöchernes Geräusch. Dr. Jarvis’ Gesicht war so weiß und geschockt, wie meines wohl auch aussehen musste.

»Ich habe noch nie so etwas gesehen«, flüsterte er. »Noch nie.«

Ich schaute auf den dunklen Schlund des alten viktorianischen Kamins. »Ich will nur wissen, was hat das getan. Um Himmels willen, Doktor, was hängt da oben drin?«

Dr. Jarvis schüttelte stumm den Kopf. Keiner von uns traute sich, in den Kaminschacht zu blicken. Was auch immer Bryan das Fleisch vom Kopf gerissen hatte, ob es ein launenhafter Unfall oder ein bösartiges Tier war, niemand von uns wollte sich dem stellen.

»Jane«, sagte Dr. Jarvis und nahm eine Karte aus seiner Brusttasche, »das ist die Nummer des Elmwood Foundation Hospital, in dem ich arbeite. Rufen Sie Dr. Speedwell an und sagen Sie ihm, was passiert ist. Sagen Sie ihm, dass ich hier bin. Und bitten Sie ihn, uns so schnell wie möglich einen Krankenwagen herzuschicken.«

»Was ist mit der Polizei?«, fragte ich. »Wir können nicht einfach …«

Dr. Jarvis sah skeptisch zum Kamin hinüber. »Ich weiß nicht. Meinen Sie, dass die uns glauben werden?«

»Um Gottes willen, wenn da irgendetwas in dem Kamin steckt, das Leute auseinanderreißt, dann werde ich da nicht hochsteigen und nachsehen. Und Sie werden das auch nicht tun.«

Dr. Jarvis nickte. »Okay«, sagte er zu Jane. »Rufen Sie die Polizei auch an.«

Jane wollte den Raum gerade verlassen, als es zaghaft an die Tür klopfte. Seymour Wallis’ Stimme sagte: »Ist bei Ihnen alles in Ordnung? Ich dachte, ich hätte Schreie gehört.«

Ich ging zur Tür und öffnete. Wallis stand blass und besorgt da und er musste an meinem Gesichtsausdruck gemerkt haben, dass irgendetwas schiefgelaufen war. »Wir hatten einen Unfall«, sagte ich. »Es ist vielleicht besser, Sie kommen nicht herein.«

»Ist jemand verletzt?«, fragte er und versuchte über meine Schulter zu schauen.

»Ja. Bryan ist schwer verletzt. Aber bitte, ich rate Ihnen, nicht hinzuschauen. Es ist ziemlich schlimm.«

Wallis schubste mich zur Seite. »Es ist mein Haus, Mr. Hyatt. Ich will wissen, was hier vor sich geht.«

Ich schätze, er hatte durchaus recht. Doch als er in das Schlafzimmer trat und Bryans Körper daliegen sah, den Schädel grinsend zur Decke gerichtet, erstarrte er. Er vermochte weder zu reden noch sich zu bewegen.

Dr. Jarvis schaute auf. »Rufen Sie doch den Krankenwagen«, sagte er schroff zu Jane. »Je eher wir herausfinden, was hier passiert ist, desto besser.«

Wallis setzte sich schwerfällig auf das schmale Bett, seine Hände in den Schoß gelegt. Er starrte Bryan mit unverhohlenem Grauen an.

»Tut mir leid, Mr. Wallis«, sagte Dr. Jarvis. »Er dachte, er höre irgendein Geräusch im Kamin und steckte seinen Kopf hinein, um nachzusehen, wodurch es verursacht wurde.«

Wallis öffnete seinen Mund, sagte nichts, dann schloss er ihn wieder.

»Wir hatten den Eindruck, dass ihn irgendetwas oder irgendjemand angriff«, erklärte ich. »Als sein Kopf in dem Kamin steckte und wir versuchten, ihn herauszuziehen, schien es, als ob ihn jemand mit gleicher Kraft zurückziehe.«

Geradezu verstohlen schaute Wallis zu dem dunklen, leeren Kamin. »Ich verstehe nicht«, sagte er heiser. »Was versuchen Sie mir zu sagen?«

Dr. Jarvis stand auf. Er konnte für Bryan nichts mehr tun, außer herauszufinden, was ihn getötet hatte. Er sagte ernst: »Entweder hatte er einen fatalen Unfall, Mr. Wallis, oder aber da oben hockt eine Kreatur drin, oder ein Mensch, der Bryan Corder in einem psychopathischen Anfall das Fleisch vom Schädel gerissen hat.«

»Oben im Schornstein? Oben im Schornstein meines Hauses?«

»Ich fürchte, dass es ganz so aussieht.«

»Aber das ist doch Irrsinn. Was zum Teufel lebt in einem Schornstein und zerfleischt Leute derart?«

Dr. Jarvis blickte auf Bryans Körper, dann zurück zu Seymour Wallis. »Das, Mr. Wallis, ist genau das, was wir herausfinden müssen.«

Wallis dachte eine Weile darüber nach, dann rieb er sich durch sein Gesicht. »Das Ganze ergibt doch keinen Sinn. Erst das Atmen und jetzt das hier. Sie müssen mir wohl beipflichten, dass ich das Haus verkaufen muss.«

»Dabei würden Sie bestimmt kein Geld verlieren«, sagte ich gefällig. »Diese alten Villen stehen heutzutage hoch im Kurs.«

Er schüttelte müde den Kopf. »Es geht nicht ums Geld, das kümmert mich wenig. Ich will nur an einem Ort leben, wo solche Dinge sich nicht zutragen. Ich möchte nur etwas Ruhe haben … Der arme Kerl.«

»Na ja, solange der Geist Ihnen nicht folgt, ist ein Umzug bestimmt die beste Lösung für Sie«, meinte ich.

Wallis starrte mich geschockt und ärgerlich an. »Es steckt da in dem verdammten Kamin!«, schnauzte er. »Es hat soeben Ihren Kollegen umgebracht und Sie tun so, als wäre das nicht weiter tragisch. Es ist da oben drin, es versteckt sich, und wer sind Sie, dass Sie mir versichern können, dass es nicht in der Nacht, wenn ich im Bett liege, herauskommt und mich erwürgt?«

»Mr. Wallis«, sagte ich. »Ich bin kein Rod Serling.«

»Ich vermute, dass Sie die Polizei benachrichtigt haben«, erwiderte Wallis, ohne mich weiter zu beachten.

Dr. Jarvis nickte. »Sie müsste bald hier sein.«

In diesem Augenblick kam Jane zurück und erklärte: »Zwei, drei Minuten … Sie hatten einen Wagen in der Nachbarschaft. Ich habe auch das Krankenhaus angerufen, sie schicken sofort einen Krankenwagen her.«

»Danke, Jane«, sagte ich.

»Ich habe eine Waffe, hören Sie«, sagte Wallis. »Es ist zwar nur mein alter Kriegscolt, aber wir könnten in den Schornstein schießen, und was immer es ist, es hätte keine Chance.«

Dr. Jarvis kam zu uns herüber. »Könnten Sie mir bitte einen Kopfkissenbezug geben?«, fragte er. »Ich möchte Mr. Corders Kopf bedecken.«

»Sicher. Nehmen Sie ihn einfach hier von dem Kissen ab. Es ist ein sehr grausamer Anblick. Können Sie sich vorstellen, welches verdammte Tier so etwas tut? Gibt es einen Vogel, der so etwas macht? Vielleicht ist ein Rabe im Kamin gefangen oder ein Schimpanse.«

»Ein Schimpanse?«, fragte ich zweifelnd.

Dr. Jarvis meinte: »Das ist gar nicht so weit hergeholt. Es gibt eine Geschichte von Edgar Allan Poe über einen Affen, der ein Mädchen ermordet und es in einen Schornstein hineinzwängt.«

»Gut, aber wer immer das hier getan hat, muss wirklich sehr wild sein. Es sieht mir eher nach einer Katze oder einer Ratte aus. Vielleicht ist das Tier völlig ausgehungert, weil es schon eine Weile dort gefangen ist.«

Wallis stand von dem Bett auf. »Ich hole meinen Revolver«, sagte er. »Wenn das Vieh da rauskommt, werde ich nicht schutzlos hier herumstehen.«

Draußen auf der Straße näherte sich eine Sirene. Jane drückte meinen Arm. »Sie sind da. Gott sei Dank dafür.«

Ein lautes Klopfen ertönte an der Haustür. Wallis ging hinunter, um zu öffnen. Wir hörten Schritte die Treppe heraufkommen und zwei Polizisten mit regennassen Hemden und Mützen betraten das kleine Schlafzimmer. Sie knieten neben Bryans Körper nieder, ohne uns andere auch nur anzuschauen, als wäre Bryan ihr ständig betrunkener Bruder, den sie heimholen wollten.

»Was soll das Kopfkissen über seinem Kopf?«, fragte einer von ihnen, ein Kaugummi kauender Italiener mit herabhängendem Schnurrbart. Er machte keinen Versuch, das Kopfkissen zu berühren oder den Körper zu bewegen. Wie die meisten der Polizisten an der Westküste hatte er ein gut ausgeprägtes Misstrauen, und eine der ersten Regeln, die er hatte lernen müssen, lautete: Berühre nichts, bevor du nicht weißt, was es ist.

Ich antwortete: »Wir haben das Haus untersucht. Es gab hier einige Geräusche, die Mr. Wallis sehr gestört haben. Mein Name ist John Hyatt und ich arbeite für das Gesundheitsamt. Das hier ist Jane Torresino und hier steht Dr. Jarvis vom Elmwood.«

Der Cop schielte rüber zu seinem Kollegen, einem jungen Iren mit blassgrauen Augen und einem über und über mit Sommersprossen bedeckten Gesicht. »Wie kommt es, dass das Gesundheitsamt noch so spät arbeitet?«

»Tja, also …«, erwiderte ich, »… das gehörte hier nicht zu den üblichen Erkundungen des Gesundheitsamtes. Sie können es eher eine private Arbeit nennen.«

»Was ist mit Ihnen, Doktor?«

Dr. Jarvis lächelte kurz und verkrampft. »Dasselbe gilt für mich. Ich bin hier nebenberuflich tätig.«

»Was ist denn hier eigentlich passiert?«

Ich räusperte mich und erklärte. »Also, meine Herren, das ist Bryan Corder. Er ist Ingenieur bei derselben Abteilung wie ich. Er ist Spezialist für Hausbau und arbeitet normalerweise an der Sanierung von städtischen Gebäuden und solchen Sachen. Wir haben ihn hierhergebeten, weil er sich auskennt mit eigenartigen Geräuschen und Luftströmungen und allem, was mit Trockenfäule zu tun hat.«

Der Polizist sah mich immer noch freundlich an, machte aber keine Anstalten, um den Kopfkissenbezug von Bryans Kopf zu ziehen.

»Er meinte, er hätte ein dumpfes Klopfen im Schornstein gehört«, flüsterte ich fast. »Er steckte seinen Kopf in den Kamin hinein, um es besser zu hören, und, nun ja … das hier ist das Ergebnis. Irgendetwas schien ihn anzugreifen. Wir haben nicht gesehen, was es war.«

Der Polizist blickte seinen Kollegen an, zuckte die Achseln und zog den Kissenbezug herunter.

Ein weiß-gold lackierter Cadillac-Krankenwagen raste durch den leichten Regen, um Bryan Corders Körper ins Elmwood Foundation Hospital zu bringen. Ich stand auf den Stufen des Hauses Nummer 1551 und sah ihn davonfahren. Neben mir zündete sich der Polizei-Lieutenant, der inzwischen eingetroffen war, um den Fall zu übernehmen, eine Zigarette an. Er war ein großer, grüblerischer Mann mit einem nassen Hut und einer schmalen Nase, und wenn er Fragen stellte, klang das höflich und ruhig. Er hatte sich als Lieutenant Stroud vorgestellt und dabei seine Dienstmarke hervorgeholt, wie ein Magier, der eine Papierblume aus dem Nichts der Luft zaubert.

»Tja«, meinte er sanft und blies Rauch aus: »Das war nicht gerade Ihr Abend, Mr. Hyatt.«

Ich knurrte: »Das können Sie laut sagen.«

Lieutenant Stroud rauchte eine Weile. »Kannten Sie Mr. Corder gut?«

»Wir haben in derselben Abteilung gearbeitet. Ich habe bei ihm einmal zu Abend gegessen. Moira ist Spezialistin für Nussplätzchen.«

»Nussplätzchen, hmm, das ist auch meine Schwäche. Ich nehme an, Mrs. Corder wird es hart treffen.«

»Ganz bestimmt. Sie ist eine sehr nette Frau.«

Oben wurde klappernd ein Fenster geöffnet und einer der Polizisten steckte den Kopf heraus. »Lieutenant?«

Stroud trat einen Schritt zurück und schaute hinauf. »Was ist los? Haben Sie etwas gefunden?«

»Wir haben den halben verdammten Kamin aufgerissen, Sir, und da ist absolut nichts. Nur getrocknetes Blut.«

»Keine Spuren von Ratten oder Vögeln? Kein Geheimgang?«

»Nichts, Sir. Sollen wir noch weitersuchen?«

»Noch ein wenig, Kollege.«

Das Fenster schloss sich geräuschvoll und Lieutenant Stroud wandte sich erneut der Straße zu. Die Wolken waren fast alle fortgezogen und am klaren Nachthimmel begannen die Sterne zu funkeln. Unten auf der Mission Street sauste und rauschte der Verkehr vorbei und aus dem oberen Fenster des Hauses auf der gegenüberliegenden Straßenseite ertönten die Klänge eines Halleluja-Chors.

»Sind Sie ein religiöser Mann, Mr. Hyatt?«, fragte Lieutenant Stroud.

»Mehr oder weniger«, antwortete ich vorsichtig. »Eher weniger als mehr, ich glaube, dass ich eher abergläubisch als gläubig bin.«

»Dann glauben Sie das wirklich alles … was Sie mir über das Atmen und die Herzschläge im Haus erzählt haben?«

Ich sah ihn aufmerksam an. Seine Augen glänzten und waren hellwach. Ich schüttelte den Kopf: »Tja.«

»Ich muss eine Reihe Alternativen in Betracht ziehen. Entweder starb Mr. Corder durch einen besonders bizarren und unwahrscheinlichen Unfall oder er wurde von einem Tier angegriffen, das im Kamin gefangen saß, oder aber er wurde von einem unbekannten Mann oder einer Frau angegriffen, die irgendwie in den Kamin gelangt waren. Vielleicht wurde er aber auch von Ihnen und Ihren Freunden getötet.«

Ich starrte auf den nassen Bürgersteig und nickte. »Das ist mir klar.«

»Natürlich gibt es auch noch die Möglichkeit, dass irgendein übernatürliches Ereignis stattfand, das irgendwie mit Ihren okkulten Nachforschungen im Hause zu tun hat.«

Ich schaute auf. »Sie ziehen das als eine Möglichkeit in Betracht?«

Lieutenant Stroud lächelte: »Nur weil ich Polizeibeamter bin, heißt das doch nicht, dass ich den Dingen dieser Welt völlig unaufgeschlossen gegenüberstehe. Und auch denen außerhalb dieser Welt. Eines meiner Hobbys ist Science-Fiction.«

Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich erwidern sollte. Vielleicht versuchte dieser große, höfliche Mann, mein Vertrauen zu gewinnen und mich zu der Aussage zu bringen, dass Dr. Jarvis, Jane und ich Bryan in einer verbotenen Zeremonie der Schwarzen Magie geopfert hätten. Aber sein Gesichtsausdruck verriet nichts. Er wirkte intelligent, aber kühl. Er war der erste kultivierte Polizist, dem ich begegnete, und ich wusste nicht ganz, ob ich diese Erfahrung gern machte.

Ich drehte mich wieder zur Tür um und nickte in Richtung des wölfischen Türklopfers. »Was halten Sie denn davon?«

Er hob eine Augenbraue. »Ich habe ihn bemerkt, als ich eben ankam. Er sieht etwas unheimlich aus, nicht?«

»Mein Freund meinte, dass er wie ein Werwolf aussehe.«

Lieutenant Stroud trat etwas zurück. »Nun, damit kenne ich mich nicht aus, Mr. Hyatt. Ich interessiere mich zwar für Science-Fiction, bin aber kein Experte für Vampire und Dämonen und all diese Sachen. Im Übrigen bevorzugen meine Vorgesetzten Mörder aus Fleisch und Blut, die sie einbuchten können. Ich suche immer erst nach einer natürlichen Antwort, bevor ich an eine übernatürliche denke.«

»Natürlich, Sie sind Polizist.«

Die Haustür öffnete sich und Dr. Jarvis kam heraus. Er war blass und sah aus, als ob er den ganzen Abend Blut gespendet hätte. »John, kann ich Sie mal kurz allein sprechen?«

Lieutenant Stroud gab nickend seine Genehmigung. Dr. Jarvis führte mich in die Diele. Neben der Statue der Bärenfrau drehte er sich um und sah mich mit einem Gesichtsausdruck an, der noch geschockter und ernster war als zuvor.

»Was ist denn los? Sie sehen erschreckend aus.«

Er nahm ein Taschentuch heraus und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich konnte dem Lieutenant davon nichts sagen. Er wird es früher oder später aber doch herausfinden. Aber ich hätte lieber, dass er es von jemand anderem hört, von jemandem, der gerade dort ist.«

In diesem Moment kam Jane die Treppe herunter. Sie sagte: »Sie haben fast das ganze Schlafzimmer auseinandergenommen, aber nicht das Geringste gefunden. John, können wir jetzt gehen? Ich würde meine besten Klamotten für einen Gin-Orangensaft geben.«

»Jane«, sagte Dr. Jarvis. »Sie können ruhig zuhören. Sie waren dabei, als es passiert ist. Sie werden es zumindest glauben.«

Jane fragte stirnrunzelnd: »Was ist denn? Ist etwas passiert?«

Ich nutzte die Gelegenheit, um meinen Arm um sie zu legen und sie männlich beschützend zu drücken. Es ist seltsam, wie die sexuellen Instinkte eines Mannes weiterarbeiten, selbst in Augenblicken der Krise und des Grauens. Aber meine Glut war nicht gerade auf dem Siedepunkt. Und als Dr. Jarvis uns seine Neuigkeiten berichtete, fielen meine Hände zur Seite und ich stand da, erschrocken, erstarrt und erschauernd, überzeugt davon, dass das, was in Seymour Wallis’ Haus vor sich ging, mit jeder vergehenden Stunde düsterer, mächtiger und bedrohlicher wurde.

»Gerade hat das Elmwood angerufen. Sie haben Ihren Freund Bryan Corder sofort ins Leichenhaus gebracht und mit der Leichenöffnung begonnen.«

»Haben sie herausgefunden, woran er gestorben ist?«, fragte Jane.

Dr. Jarvis schluckte verlegen. »Nein, sie konnten es nicht herausfinden. Trotz der Verletzung seines Kopfes ist er klinisch noch nicht tot.«

Mein Unterkiefer klappte dumm herunter. »Er lebt noch? Das kann doch nicht sein!«

»Ich befürchte, dass es aber so ist. Zumindest glauben es die Chirurgen. Verstehen Sie, sein Herz schlägt noch. Sie haben seine Brust abgehorcht, und es schlägt laut und deutlich mit 24 Schlägen pro Minute.«

»24?«, fragte Jane. »Das ist nicht –«

»Nicht menschlich«, fiel Dr. Jarvis ein. »Wirklich nicht menschlich. Aber die Tatsache bleibt bestehen, dass sein Herz schlägt, und solange es noch schlägt, werden sie alles tun, um es weiterschlagen zu lassen.«

Genau in diesem Augenblick meinte ich, ein Flüstern zu hören. Es war wohl einer der Polizisten aus dem ersten Stock. Es war vielleicht auch das Geräusch von Autoreifen auf der nassen Straße. Aber als ich mich unwillkürlich herumdrehte, um zu sehen, woher es rührte, stellte ich fest, dass ich ziemlich nahe an diesem verdammten, widerlichen Türklopfer stand, diesem Türklopfer, auf dem geschrieben war: Rückkehr.


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