18

In dieser Nacht ließ der Regen nicht nach. Huma konnte trotz seiner Erschöpfung nicht schlafen. Wie Fürst Oswal sah er in dem plötzlichen Wechsel von ewiger Wolkendecke zu unablässigem Regen eine Vorbedeutung.

Er hörte Pferde vorbei traben. Selbst mitten in der Nacht war immer etwas los. Manche Männer schliefen, andere arbeiteten. Man würde Burg Vingaard nie unbewacht antreffen. Eine Patrouille kehrt zurück, befand er. Die Geräusche verklangen in Richtung der Stallungen. Huma überlegte, was für Neuigkeiten es geben mochte, wenn überhaupt. War die Front noch weiter zurückgewichen? Würden die Ritter sie bald von der Burg selbst sehen können? Wie lange konnte es noch dauern, bis sich die Zange endgültig um die Wiege der Ritterschaft schloß?

Huma stand langsam auf, um nicht die anderen zu stören, mit denen er das Gemeinschaftsquartier der Ritter der Krone teilte. Das Haus bestand im Grunde nur aus einem großen Raum, in dem sich flache, harte Betten und kleine Truhen für jeden Bewohner aneinander reihten. Da die Ritter in Schichten eingeteilt waren, war der Raum nie ganz voll. Viele waren auch aus dem einen oder anderen Grund nicht in der Burg. Nur die hochrangigsten Ritter hatten Privatquartiere.

Etwas frische Luft würde ihm guttun, beschloß Huma. Mit vorsichtigen Schritten tastete er sich zwischen seinen Kameraden durch.

Die Luft war kalt und der Wind etwas rauher, als er gedacht hatte. Voller Dankbarkeit für diesen Augenblick, wo er kurz von all den Sorgen und der Verwirrung ausruhen durfte, atmete er tief durch. Huma betete, daß morgen alles gut laufen würde.

Dann riß er die Augen auf. Sie fingen an, ihm Streiche zu spielen, denn er war sich einen Moment lang sicher gewesen, daß eine dunkle Gestalt sich zu Fürst Oswals Räumen, gleich hinter den beiden Wachen, geschlichen hatte. Er dachte daran, Alarm zu schlagen, doch keine der Wachen wirkte beunruhigt. Als er wieder hinsah, war von dem Eindringling nichts mehr zu sehen. Huma hatte keine Lust, sich lächerlich zu machen. Nicht jetzt. Er starrte in die Nacht hinaus und legte sich nach ein paar Minuten wieder hin. Diesmal kam der Schlaf rascher.

Der nächste Tag verstrich viel zu schnell. Huma hatte beabsichtigt, sich zumindest so lange von den anderen Rittern fernzuhalten, bis die Kommandofrage gelöst war. Zuviel hatte er erlebt, und er hielt sich in dieser Frage nicht mehr für neutral. Was er sagte, würde zweifellos auf Fürst Oswal abzielen, der immer zu ihm gehalten hatte. Sogar Rennard konnte beeinflußt werden.

Doch zwei Stunden vor dem Treffen des Ritterrats ließ Fürst Oswal Huma holen. Der Ritter der Rose, der die Nachricht brachte, betrachtete Huma mit großer Neugier, stellte jedoch aus Loyalität zum Obersten Kommandanten keine Fragen.

Auf dem Weg zu Fürst Oswals Räumen traf Huma genau den Menschen, den er hatte meiden wollen.

»Mir wurde berichtet, daß du noch lebst. Ich hatte jedoch meine Zweifel, bis ich dich eben sah.«

Bennett war standesgemäß gekleidet und trug einen purpurfarbenen Umhang, der die Abzeichen der Ritterschaft und der Güter seiner Familie zeigte. Quer über seinen Brustpanzer verlief eine schwarze Schmarre. Selbst jetzt, wo es immer noch nieselte und die Nacht kurz bevorstand, schien er zu strahlen. Trotz allem war Bennett der Sohn seines Vaters. Die habichtartigen Züge waren das getreue Abbild des älteren Ritters.

»Verzeiht mir, Fürst Bennett.« Die Besitztümer der Familie waren von Oswal und Trake zu gleichen Teilen verwaltet worden, bis der letztere zum Großmeister aufgestiegen war. Als Trakes Erbe stand dieser Titel jetzt Bennett zu. Da Oswal keine eigenen Nachkommen hatte, würden die Güter eines Tages nur noch einem Mann unterstehen. »Ich wollte Euch schon früher mein Beileid aussprechen – «

»Verkauf mich nicht für dumm, Ziegenhirte«, fiel ihm Bennett ins Wort. »Du hast mich gemieden, weil wir immer Feinde waren. Ich glaube immer noch nicht, daß du zu uns gehören solltest, aber mein eigenes, gutes Herz hat deinen Rausschmiß jetzt praktisch unmöglich gemacht. Wie konnte ich wissen, als ich dich pries – meiner Meinung nach im Gedenken –, daß du wiederkommen würdest?«

Humas gesamter Körper versteifte sich, doch er wollte sich auf keinen Fall von Bennett provozieren lassen. Er war fest davon überzeugt, daß viel von seinem Zorn dem plötzlichen Tod seines Vaters zuzuschreiben war.

»Ich bin nie Euer Feind gewesen, mein Fürst. Ich habe Euch vielmehr immer bewundert, obwohl Ihr gegen meine Aufnahme gesprochen habt.« Bennetts Gesicht verriet bei Humas Worten tatsächlich einige Überraschung. »Euer Verhalten, Eure Kampfkunst, Eure Fähigkeit, selbst unter widrigsten Umständen das Kommando zu führen – Ihr seid mein Vorbild, das ich vielleicht nie erreiche. Ich bitte nur darum, meine Pflicht tun zu dürfen.«

Bennetts Mund ging wieder zu. Er schaute Huma kurz an, um dann zu murmeln: »Vielleicht.«

»Vielleicht?« Huma zog eine Augenbraue hoch. »Was soll das heißen?«

Der junge Fürst von Baxtrey jedoch hatte sich bereits abgewendet. Huma konnte ihm nur hinterhersehen, wie er in der Burg verschwand.

Also setzte Huma seinen Weg zu Fürst Oswal fort.

Dort traf er auf Rennard. Huma unterbrach die beiden beim Kartenlesen. Fürst Oswal zeigte gerade auf einen Punkt im Norden. Als Huma eingelassen wurde, sahen sie auf, und der Oberste Kommandant lächelte kurz. Rennard nickte nur.

Fürst Oswal rollte die Karte zusammen. »Warst du nicht in den Quartieren der Krone?«

»Doch. Ich hatte unterwegs leider eine kleine Auseinandersetzung mit Eurem Neffen, mein Fürst.«

Der ältere Ritter schüttelte den Kopf. Er wirkte viel erschöpfter als letzte Nacht. »Ja, ja. Achte nicht auf ihn, Huma. Er ist durcheinander, weil du offenbar von den Toten zurückgekehrt bist.«

»Er haßt mich noch immer.«

»Dann ist er ein Narr«, warf Rennard unvermittelt ein. »Du hast bewiesen, daß du zehnmal mehr ein Ritter bist als er.«

»Vielen Dank, auch wenn ich das nicht finde.«

»Dann bist auch du ein Narr.«

Fürst Oswal mischte sich ein. »Das letzte, was wir brauchen, ist Zwietracht untereinander.« Der Oberste Kommandant legte die Hand an die Stirn, wobei er fast eine brennende Kerze umgestoßen hätte. Huma wollte ihn stützen, doch Oswal winkte ab. »Es geht mir gut. Hab’ wohl heute nacht nicht genug geschlafen. Genau die falsche Nacht für Schlaflosigkeit, möchte man meinen.«

»Werdet Ihr das Treffen des Rates durchstehen können?« fragte Rennard.

»Mir bleibt keine andere Wahl. Vielleicht ist das nur meine persönliche Meinung, aber wenn mein Neffe – der ohne Zweifel glaubt, daß er nur das Beste tut – irgendeinen Einfluß auf den nächsten Großmeister hat, werden wir in den Untergang rennen.«

Dieses deutliche Urteil des Obersten Kommandanten bezüglich seines Neffen überraschte Huma. Er hatte gewußt, daß die beiden sich nicht verstanden, aber das… »Warum?«

»Wie so viele von uns ist Bennett zu sehr den Legenden der Ritterschaft verhaftet. Er ist der Typ von Anführer, der jeden verfügbaren Ritter von Burg Vingaard in einem einzigen, heldenhaften Ausfall hinausschicken würde, bei dem alle umkommen würden.«

»Würde er das?« Huma zweifelte. Selbst angesichts der Finsternis war ihm Bennett berechnend und im Vollbesitz seiner Sinne erschienen.

»Er würde. Du hast Bennett noch nie in einem Kriegsrat erlebt; er ist für Blitzangriffe oder vernichtende Wellen, nie für solide, langfristige Strategien. Seit Trakes Tod ist er, glaube ich, mehr denn je dazu entschlossen, etwas Bedeutendes zu tun – um das Andenken seines Vaters zu ehren.«

»Huma wird das vielleicht kaum glauben können, aber ich kenne Bennett schon länger. Ich würde dem beipflichten«, ergänzte Rennard.

Fürst Oswal sah zu Huma hoch. »Noch etwas. Er würde dir nie deine Geschichte über Zauberschwerter, gefangene Drachen und göttliche Prüfungen abnehmen, die den Schlüssel zum Sieg halten. Ich schon. Nenn es Glauben an Paladin, aber ich tue es.«

Der alte Ritter beugte sich plötzlich vor und preßte eine Hand gegen seinen Kopf.

»Ruhe. Ich brauche etwas Ruhe«, stammelte Oswal.

»Hilf mir, Huma.«

Gemeinsam geleiteten die beiden Ritter den Obersten Kommandanten zu seinem Bett. Während sie ihm halfen, sich hinzulegen, faßte Fürst Oswal nach Rennard. »Du bist dafür verantwortlich, daß ich rechtzeitig zur Ratssitzung wieder wach bin. Hast du verstanden?«

Das blasse Gesicht wendete sich Huma zu, dann wieder dem Obersten Kommandanten. Mit gewohnt ausdruckslosem Gesicht antwortete Rennard: »Natürlich. Das wißt Ihr doch.«

»Gut.« Fürst Oswal schlief fast augenblicklich ein. Die beiden Ritter gingen leise davon. Als sie mit dem Rücken zur Tür standen, wandte Rennard sich an Huma.

»Er will dich im Ritterrat dabei haben.«

»Was ist mit ihm?« Huma fürchtete um Oswals Wohlergehen.

»Er wird dort sein. Ich habe versprochen, mich um ihn zu kümmern.« Rennard lächelte sogar ein wenig. »Ich habe alles in der Hand. Du wirst schon sehen.«

Huma sorgte dafür, daß er als erster da war.

Nicht jede Sitzung des Ritterrats war öffentlich. Bei den meisten waren nur die regierenden Ritter und die Personen zugelassen, die etwas mit einzelnen Punkten der Tagesordnung zu tun hatten. Es gab auch einen vorgeschriebenen Ablauf, dessen Schritte unter normalen Bedingungen eingehalten wurden. Der Kommandostab fand jedoch, daß die Wahl eines neuen Großmeisters etwas war, das jeden anging, und obwohl nicht alle in den Saal paßten, würde die Ritterschaft als Ganzes gut vertreten sein.

Die Meister des Ordens der Krone und des Schwertes hatten bereits Platz genommen. Arak Falkenauge zupfte an seinem winzigen Ziegenbärtchen und starrte seinen Kollegen vom Schwert arrogant an. Den Mann neben Fürst Falkenauge kannte Huma nicht. Es war nicht derselbe Ritter, der den Orden des Schwertes in den letzten vier Jahren geführt hatte. Der letzte Befehlshaber war an der Ostfront gefallen, und sein Nachfolger war als Notbehelf auf dem Schlachtfeld gewählt worden. Das kantige Gesicht des Ritters erinnerte Huma mehr an eine Statue als an einen Menschen. Sein Bart war lang und gut gestutzt, die Augen unter den dicken, buschigen Brauen fast unsichtbar. Als Bennett eintrat, wurde klar, wer in Wirklichkeit die Macht im Orden des Schwertes innehatte, denn die anderen nahmen Haltung an.

Irgendwann war der Saal voll, und das Warten begann. Nur noch zwei maßgebliche Männer fehlten: Rennard und Fürst Oswal. Der Ritterrat wartete geduldig, während sich seine Mitglieder pausenlos untereinander berieten. Schließlich marschierte Bennett herrisch zu Fürst Falkenauge hinüber und redet mit ihm, nicht ohne eine gewisse Schärfe in der Stimme. Falkenauge antwortete im gleichen Tonfall, und der Streit ging minutenlang hin und her. Leider sprachen sie nicht laut, so daß Huma nur raten konnte, was zwischen ihnen vorgegangen war.

Da kam Rennard atemlos hereingerannt. Auf seinem Gesicht lag ein gehetzter Ausdruck. Daß der normalerweise gelassene Ritter so aufgewühlt erschien, war Anlaß genug für mehr als einen, in Erwartung schlechter Neuigkeiten aufzustehen.

Rennard flüsterte Fürst Falkenauge eilig etwas zu. Bennett und die anderen Ratsmitglieder hörten so gut wie möglich mit. Bennetts Gesicht wurde weiß, und er mußte sich an einem Stuhl festhalten. Arak Falkenauge erhob sich, um sich an die plötzlich besorgte Menge zu wenden.

»Unsere Versammlung wird bis auf weiteres vertagt. Ich bedaure, den Anwesenden mitteilen zu müssen, daß Fürst Oswal von Baxtrey, Oberster Kommandant und Meister des Ordens der Rose erkrankt ist – an derselben Krankheit, der der Großmeister erlegen ist.«

»Die Burg steht unter Quarantäne. Fürst Oswal wird die Nacht wahrscheinlich nicht überleben.«

Rennard bebte immer noch.

»Ich kam, um ihn zu wecken, wie er es gewünscht hatte, und fand ihn zitternd und bewußtlos im Bett vor, obwohl er unter zwei oder drei Decken lag. Ich habe ihn versorgt, so gut ich konnte, und dann einen Kleriker geholt.«

Huma hatte ihn noch nie im Zustand solcher Aufregung erlebt. Es war fast, als erlebte der blasse Ritter seine eigene Begegnung mit der Seuche noch einmal.

»Was hat der Kleriker gemacht?«

»Wenig. Die Krankheit hat ihn entsetzt. Wahrscheinlich ein weiteres Geschenk der Königin, verdammt soll sie sein.«

»Kann man denn überhaupt nichts tun?« Huma fühlte sich plötzlich schwach. Fürst Oswal war sein Lehrer, sein Freund, fast ein Vater für ihn. Er durfte nicht sterben!

»Wir können nur warten und beten.« Lag da ein Hauch von Spott in Rennards Stimme? Huma konnte es ihm kaum verübeln. Er fühlte sich selbst so ohnmächtig. Die Drachenkönigin, Crynus und der verräterische Zauberer Galan Drakos würden sich über ihr Los kaputtlachen, nahm er an.

»Huma.« Rennard legte ihm die Hand auf die Schulter. Sein blasses Gesicht wirkte noch immer erschöpft. Wieviel Rennard für Oswal empfunden hatte! »Leg dich eine Weile hin.«

Sie standen im Vorraum des Paladintempels der Burg, wohin man den Obersten Kommandanten in der Hoffnung getragen hatte, daß die Götter seine Genesung günstig beeinflussen würden. Im Moment waren die Kleriker, die den alten Ritter behandelten, ratlos. Manchmal dachten sie, sie hatten die Krankheit besiegt, doch im nächsten Moment kam sie stärker zurück als zuvor. Die Zeit wurde knapp. Fürst Oswals Körper konnte nicht mehr viele schwere Erschütterungen seiner Gesundheit aushalten.

Rennard lächelte dünn. »Ich verspreche dir, dich zu wecken, wenn es etwas Neues gibt.«

Trotz seiner guten Vorsätze wurde Huma auf einmal schläfrig, als hätte ihn die bloße Erwähnung von Schlaf müde gemacht. Er nickte Rennard zu und stand auf.

»Du weckst mich aber wirklich.«

»Das hatte ich Fürst Oswal auch versprochen«, erwiderte Rennard bitter.

Als Huma ging, konnte er immer noch Bennetts Stimme aus dem Nebenraum hören, wo die Kleriker sich berieten. Bennett schien sein Onkel fast ebenso wichtig zu sein wie sein Vater. Bei der Nachricht von der Erkrankung des Obersten Kommandanten war es Bennett gewesen, der eine Panik verhindert, die vorläufige Quarantäne angeordnet und die Verlegung des kranken Edelmanns in den Tempel veranlaßt hatte. Jetzt widmete er sich abwechselnd dem Gebet für seinen Onkel und dem Streit mit den Klerikern, die seiner Meinung nach zu langsam reagierten.

Und der Krieg? Es sah aus, als hätten die, die hinter den Mauern der Burg hockten, ihn völlig vergessen. Auf dem Weg zu seinem Bett nagte dieser Gedanke unablässig an Huma.

Er wachte auf. Sein Verstand war sofort hellwach. Fürst Oswal war sein erster Gedanke, und Huma rechnete sofort mit dem Schlimmsten. Die anderen schliefen weiter, weil sie den täglichen Verlust kostbarer Leben anscheinend mehr gewohnt waren.

Huma schlich sich in die Nacht hinaus und sah sich um. Im schwachen Fackelschein konnte er aufmerksame Posten auf den Mauern erkennen, während andere den Hof kontrollierten. Vor der Tür zum Quartier des Obersten Kommandanten standen noch Wachen. Das war ein gutes Zeichen.

Da er nicht weiter schlafen konnte, beschloß Huma, in den Tempel zurückzukehren. Es überraschte ihn nicht, daß Rennard nicht zu ihm gekommen war; der blasse Ritter wollte offenbar die ganz Zeit über wach bleiben, wenn das möglich war.

Der Regen hatte immer noch nicht nachgelassen, und der Hof hatte sich in eine einzige Schlammpfütze verwandelt.

Der Paladintempel wirkte düster, als er näher kam. Niemand stand Wache, was ihn nicht überraschte. Doch als er die Stufen hoch kam und an die Tempeltore klopfen wollte, bemerkte er, daß eine etwas offen stand. Nachdem er sie aufgedrückt hatte, stellte er fest, daß auch der Hauptgang dunkel war. Er wußte, daß das nicht so sein sollte. Hier hätte ein Posten oder zumindest ein Kleriker sein müssen.

Plötzlich stand Huma vor einem Ritter der Rose, der als Ehrengarde und Leibwache für den kranken Obersten Kommandanten eingeteilt war. Der Ritter stand mit strengem Blick an der Tür, so daß Huma fast salutiert hätte, ehe er merkte, daß der Mann nicht ohne einen guten Grund in der Dunkelheit stehen würde. Vorsichtig schlich sich Huma über den Marmorboden und blieb erst unmittelbar vor dem Wächter stehen.

Der Ritter der Rose starrte zurück, ohne ihn zu sehen.

Huma hielt dem anderen eine Hand vors Gesicht. Er konnte den Atem des Mannes hören und fühlen, doch es war das Atmen von jemandem im Tiefschlaf. Huma wagte es, den Mann leicht auf die Wange zu klapsen. Der Ritter rührte sich nicht.

Huma kam ganz nah, um die offenen Augen zu untersuchen. Sie waren wie verschleiert. Er hatte schon früher einmal solche Männer gesehen, wenn sie aus dem einen oder anderen Grunde betäubt worden waren. Huma vermutete, daß der Ritter der Rose nichts von seiner Pflichtvergessenheit wissen würde. Er hatte auch den Verdacht, daß dem Rest der Tempelbewohner dasselbe geschehen war – einschließlich Rennard.

Mit einem Gebet zu Paladin zog Huma sein Schwert. Er folgte den dunklen Gängen, bis er zu dem Platz kam, wo Rennard gesessen hatte. Der hagere Ritter war verschwunden. Die Tür zu dem Raum, wo Fürst Oswal ruhte, stand ebenfalls einen Spalt offen, und Huma fand zwei weitere Posten in demselben betäubten Zustand vor.

Er befürchtete das Schlimmste. Rennard und Fürst Oswal waren bestimmt überwältigt worden, schloß er rasch.

Vorsichtig öffnete Huma die Tür zu Fürst Oswals Zimmer. Die Dunkelheit verwirrte ihn nur einen Moment lang, dann nahmen seine geschärften Sinne sogar den noch dunkleren Fleck wahr, wo Fürst Oswal neben der Pritsche stand.

Stand! Huma zwinkerte, damit sich seine Augen schneller an die Dunkelheit gewöhnten. Nein, das war nicht der Oberste Kommandant. Oswal lag noch immer auf dem Bett. Was dann? Ein Schatten?

Huma trat vor, und die Dunkelheit schien sich zu verlagern. Er zwinkerte wieder. Die Gestalt – oder was er dafür gehalten hatte – war nicht mehr da. Etwas zögernd ging Huma weiter, bis er neben dem stillen Körper von Fürst Oswal stand. Zu seiner Erleichterung hörte er die regelmäßigen Atemzüge des Obersten Kommandanten.

Humas Fuß stieß gegen etwas. Er sah nach unten und entdeckte den unbeweglichen Körper eines der Kleriker. Er schlief, wie die Wachen geschlafen hatten, mit offenen, aber glasigen Augen. Huma schüttelte ihn kräftig, um ihn zu wecken, doch der Mann rührte sich nicht einmal.

Er spürte mehr, als daß er es hörte, wie sich die Dunkelheit hinter ihm bewegte. Er zögerte, und dieses Zögern hatte ihn fast das Leben gekostet, denn etwas Metallenes traf seinen Brustharnisch und wäre tief in seine Gurgel gedrungen, wenn er nur ein wenig langsamer reagiert hätte.

Mit einem Fluch über sich selbst parierte Huma einen weiteren heimtückischen Stich von einer winzigen, gekrümmten Klinge. Er konnte einen ersten Blick auf seinen Angreifer werfen, eine von Dunkelheit umflutete Gestalt mit rotglühenden Augen. Die Gestalt warf die Klinge nach seinem Kopf. Während Huma noch die Waffe abwehrte, zog das Schattenwesen einen kleinen Beutel hervor und erhob ihn.

Der Ritter fuhr sofort zurück. Jetzt gab es keine Frage mehr, wem er gegenüber stand. Das Verhalten, die Erscheinung – er war überrascht, daß er den Eindringling nicht sofort entlarvt hatte. Es war einer der Anhänger Morgions, des Gottes von Krankheit und Verwesung. Einer von diesem Ungeziefer hatte sich in Burg Vingaard eingeschlichen – und es war ihm bereits gelungen, einen, vielleicht auch zwei der wichtigsten Vertreter der Ritterschaft umzubringen.

Die zerlumpte Figur zögerte, bevor sie den Inhalt des Beutels warf.

Huma sprang vor, wobei er sein erhobenes Breitschwert vor sich hielt. Mit der flachen Klinge traf er einen berstenden Beutel und schleuderte durch den Schwung einen Großteil seines Inhalts auf den vermummten Eindringling zurück. Huma taumelte zurück, um der tödlichen Dusche auszuweichen, die auf den anderen herunterregnete.

Der Mörder hustete stoßweise, als ihm der Staub ins Gesicht rieselte. Er stolperte rückwärts, doch Huma wagte es nicht, ihm zu folgen. Der Kultanhänger fiel auf eine Bank, wo er sich langsam wieder aufrappelte.

»Wenn du glaubst« – die rauhe, keuchende Stimme klang bekannt – »daß du mich mit meinen eigenen Waffen schlagen kannst, so wisse, daß Morgion die Seinen beschützt. Außerdem wollte ich dich bloß einschläfern. Jetzt läßt du mir keine Wahl.«

Huma konnte bloß noch sein Schwert umklammern, als die vermummte Gestalt sich den Staub aus der Kehle gehustet hatte und die Stimme zu erkennen war. Erschüttert trat Huma einen Schritt zurück, obwohl der Kultanhänger ein Breitschwert zog, das er in seiner Robe verborgen hatte.

»Die Messerspitze hätte dich nur geritzt, und du hättest auch wieder geschlafen. Aber ich fürchte, jetzt bleibt mir nur noch das.« Die Klinge zeigte mit der Spitze auf Humas Hals.

Huma konnte sich nicht zum Kämpfen durchringen. Das konnte nicht wahr sein. So durfte es nicht geschehen. Das war ein schrecklicher Alptraum, aus dem er gleich erwachen würde!

Der Mörder lachte leise. Sein Schwert senkte sich ein wenig. Das Lachen schien durch Humas Kopf zu hallen und alles zu verspotten, an das er je geglaubt hatte.

»Ich habe versucht, dich davor zu bewahren. Es tut mir wirklich leid, Huma.«

Und obwohl Huma die Worte zuerst nicht herausbrachte, erschallten sie in seinem Kopf, schrien in seinem Herzen:

Warum, Rennard!

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