Ich hatte bislang keine Gelegenheit gehabt, Lawrence Poirots Botschaft zu überbringen. Aber als ich jetzt verärgert über die Selbstherrlichkeit meines Freundes draußen über den Rasen schlenderte, sah ich, wie Lawrence auf dem Krocketplatz ziellos ein paar alte Bälle mit einem noch älteren Schläger über den Rasen schlug.
Ich fand die Gelegenheit günstig, die Botschaft auszurichten. Sonst würde Poirot am Ende die Angelegenheit noch selbst in die Hand nehmen. Ich begriff zwar immer noch nicht, was das Ganze sollte, aber ich bildete mir ein, dass ich durch Lawrence' Antwort und vielleicht noch ein kleines Kreuzverhör meinerseits bald dahinter käme. Also sprach ich ihn an.
«Ich habe dich gesucht», sagte ich nicht wahrheitsgemäß.
«Ach ja?»
«Ja. Um die Wahrheit zu sagen, ich soll dir etwas ausrichten — von Poirot.»
«Ja?»
«Er bat mich zu warten, bis ich dich allein anträfe.» Ich senkte meine Stimme bedeutungsvoll und beobachtete ihn aufmerksam aus dem Augenwinkel. Ich hatte schon immer ein besonderes Talent für das so genannte Kreieren einer Atmosphäre.
«Und?»
Der Ausdruck in dem melancholischen Gesicht hatte sich nicht verändert. Ahnte er vielleicht schon, was ich sagen würde?
«Ich soll dir Folgendes ausrichten», ich sprach noch leiser. «Finde die überzählige Kaffeetasse und du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen.»
«Was in aller Welt meint er damit?» Lawrence starrte mich in ungekünsteltem Erstaunen an.
«Weißt du es nicht?»
«Nicht im Geringsten. Du?»
Ich schüttelte gezwungenermaßen denn Kopf.
«Welche übrige Kaffeetasse?»
«Ich weiß es nicht.»
«Er sollte sich lieber an Dorcas oder an eins der Hausmädchen wenden, wenn er etwas wegen Tassen wissen will. Ich weiß überhaupt nichts über Tassen, außer dass wir welche haben, die nie benutzt werden, die einfach unglaublich schön sind. Altes Worcester-Geschirr. Du bist kein Kenner, was, Hastings?»
Ich verneinte.
«Dann entgeht dir eine Menge. Es ist eine schiere Freude, schönes altes Porzellan anzufassen oder auch nur anzuschauen.»
«Hm. Was soll ich Poirot sagen?»
«Sag ihm, ich weiß nicht, wovon er redet. Ich hätte nicht die geringste Ahnung.»
«Gut, das werde ich ausrichten.»
Ich ging wieder in Richtung Haus, als er mich plötzlich zurückrief: «Sag doch bitte, wie hieß das Ende der Nachricht? Würdest du das doch noch einmal wiederholen?»
«Finde die überzählige Kaffeetasse und dann kannst du ganz beruhigt sein. Weißt du ganz sicher nicht, was das bedeutet?»
Er schüttelte den Kopf. «Nein», sagte er nachdenklich. «Leider nein. Ich wünschte, ich wüsste es.»
Vom Haus her ertönte der Gong und wir gingen zusammen hinein. Poirot war von John zum Lunch eingeladen worden und saß bereits am Tisch.
In stillschweigender Übereinkunft vermieden wir jede Erwähnung der Tragödie. Wir unterhielten uns über den Krieg und andere Themen. Aber nachdem der Käse herumgereicht worden war und Dorcas den Raum verlassen hatte, wandte sich Poirot plötzlich Mrs. Cavendish zu.
«Verzeihen Sie, Madame, dass ich an unerfreuliche Themen rühre, aber ich hatte einen kleinen Einfall» — Poirots kleine Einfälle wurden langsam zu einem feststehenden Begriff — «und würde Ihnen gern ein oder zwei Fragen stellen.»
«Mir? Gern.»
«Sie sind zu liebenswürdig, Madame. Ich möchte Sie Folgendes fragen: Sie sagen, die Tür von Mrs. Inglethorps Zimmer zu dem von Mademoiselle Cynthia war verriegelt, nicht wahr?»
«Sie war ganz bestimmt verriegelt», erwiderte Mary Ca-vendish ziemlich überrascht. «Das habe ich bei der Untersuchung ausgesagt.»
«Verriegelt?»
«Ja.» Sie sah verwirrt aus.
«Worauf ich hinaus will — Sie sind sicher, dass sie verriegelt war und nicht nur verschlossen?»
«Oh, jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Nein, da bin ich mir nicht sicher. Ich meinte mit verriegelt, dass sie sich nicht öffnen ließ, aber soweit ich weiß, wurde festgestellt, dass alle Türen von innen verriegelt waren.»
«Aber was Sie betrifft, hätte die Tür auch nur abgeschlossen sein können?»
«Ja.»
«Sie haben bei Ihrem Betreten von Mrs. Inglethorps Zimmer nicht zufällig bemerkt, ob diese Tür verriegelt war oder nicht?»
«Ich — ich glaube, sie war verriegelt.»
«Aber Sie haben es nicht gesehen?»
«Nein. Ich — ich habe nicht nachgeschaut.»
«Aber ich habe nachgeschaut», schaltete sich Lawrence plötzlich ein. «Ich habe zufälligerweise gesehen, dass sie verriegelt war.»
«Ah, dann wäre das ja geklärt.» Poirot sah niedergeschlagen aus.
Ich verspürte eine gewisse Schadenfreude, dass endlich einmal eine seiner kleinen Ideen nichts getaugt hatte.
Nach dem Mittagessen bat Poirot mich, ihn zu sich nach Hause zu begleiten. Ich willigte ziemlich ungnädig ein.
«Sie sind verärgert, nicht wahr?», erkundigte er sich besorgt, als wir durch den Park liefen.
«Überhaupt nicht», sagte ich kühl.
«Dann ist es ja gut. Das nimmt mir eine schwere Last von der Seele.»
Das war nicht ganz die Reaktion, auf die ich gehofft hatte. Ich hatte erwartet, dass er meine Reserviertheit bemerken würde. Aber dennoch trug die Wärme seiner Worte dazu bei, dass meine berechtigte Verärgerung verschwand.
«Ich überbrachte Lawrence Ihre Nachricht», sagte ich.
«Und was hat er dazu gesagt? War er völlig verwirrt?»
«Ja. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er keine Ahnung hatte, was Sie meinten.»
Ich hatte erwartet, dass Poirot enttäuscht darauf reagieren würde, aber er erwiderte zu meiner Überraschung, dass er sich das schon gedacht hätte und darüber sehr froh wäre.
Mein Stolz verbot mir zu fragen, warum.
Poirot wechselte dann das Thema. «Mademoiselle Cyn-thia kam ja heute gar nicht zum Mittagessen. Wissen Sie, warum?»
«Sie ist im Krankenhaus, sie arbeitet seit heute wieder.»
«Das ist ja eine fleißige kleine Mademoiselle. Und hübsch dazu. Sie ähnelt Gemälden, die ich in Italien gesehen habe. Ich würde gern einmal einen Blick in ihre Apotheke werfen. Glauben Sie, sie würde das erlauben?»
«Sie wird sich sicherlich darüber freuen. Es ist ein interessanter Arbeitsplatz.»
«Geht sie jeden Tag dorthin?»
«Sie hat mittwochs immer frei und kommt samstags zum Mittagessen nach Hause. Das sind ihre einzigen freien Zeiten.»
«Ich werde daran denken. Frauen leisten ja heutzutage Außerordentliches, und Mademoiselle Cynthia ist klug — oh ja, die Kleine hat Verstand.»
«Ja. Soweit ich weiß, hat sie ein schwieriges Examen bestanden.»
«Zweifellos. Schließlich ist das eine sehr verantwortungsvolle Arbeit. Bestimmt haben sie dort auch sehr gefährliche Gifte?»
«Ja, sie hat sie uns gezeigt. Sie werden in einem verschlossenen kleinen Schrank aufbewahrt. Ich glaube, Sie müssen sehr vorsichtig damit umgehen. Sie ziehen immer den Schlüssel ab, bevor sie den Raum verlassen.»
«Aha. Steht dieser Schrank in der Nähe des Fensters?»
«Nein, er steht an der gegenüberliegenden Wand. Warum?»
Poirot zuckte die Schultern. «Ich hab mich das nur gefragt, das ist alles. Wollen Sie mit hineinkommen?»
Wir hatten sein Cottage erreicht.
«Nein, ich möchte lieber wieder nach Hause gehen. Ich werde den langen Weg durch den Wald nehmen.»
Die Wälder rund um Styles sind wunderschön. Nach dem Spaziergang durch den sonnigen Park war es angenehm, langsam durch den kühlen Schatten zu schlendern. Es regte sich kaum ein Lüftchen, selbst das Vogelgezwitscher klang gedämpft. Ich folgte einem engen Pfad und ließ mich dann am Fuß einer mächtigen alten Buche nieder; die ganze Menschheit erschien mir in einem rosigen Licht. Ich verzieh sogar Poirot seine dumme Geheimniskrämerei — mit einem Wort: ich befand mich in Harmonie mit der ganzen Welt. Dann gähnte ich.
Ich grübelte über den Mord nach, und plötzlich erschien er sehr unwirklich und sehr weit weg.
Ich gähnte wieder.
Wahrscheinlich ist er in Wirklichkeit nie geschehen, dachte ich. Natürlich — es ist einfach nur ein böser Traum. In Wirklichkeit hatte Lawrence Alfred Inglethorp mit dem Krocketschläger ermordet. Aber es war töricht von John, sich deshalb so aufzuregen und laut herumzubrüllen: «Ich sage dir, ich werde das nicht dulden!»
Ich schreckte aus meinem Nickerchen hoch.
Mir wurde sofort klar, dass ich in eine äußerst peinliche Situation geraten war. Denn nur wenige Meter entfernt standen John und Mary Cavendish einander gegenüber und befanden sich ganz offensichtlich mitten in einer heftigen Auseinandersetzung. Und genauso deutlich war mir klar, dass sie sich meiner Gegenwart nicht bewusst waren, denn bevor ich mich rühren oder etwas sagen konnte, wiederholte John die Worte, die mich aus mei-nem Traum gerissen hatten: «Ich sage dir, Mary, ich werde das nicht dulden.»
Marys Stimme klang kühl und klar: «Woher nimmst du das Recht, mein Verhalten zu kritisieren?»
«Das ganze Dorf wird sich darüber das Maul zerreißen! Meine Mutter wurde erst am Samstag beerdigt und du machst mit diesem Kerl rum!»
«Ach so.» Sie zuckte die Achseln. «Du regst dich also nur über den Dorfklatsch auf!»
«Das stimmt nicht. Ich will nicht mehr, dass der Kerl hier rumschleicht. Außerdem ist er ein polnischer Jude.»
«Ein paar Tropfen jüdisches Blut können nie schaden. Das mindert die» — sie sah ihn an — «die unerschütterliche Dummheit des Durchschnittsengländers.»
Ihre Augen loderten, ihre Stimme war eisig. Es wunderte mich nicht, dass Johns Gesicht dunkelrot angelaufen war.
«Mary!»
«Ja?» Ihr Ton war unverändert.
«Heißt das, dass du Bauerstein gegen meinen ausdrücklichen Wunsch weiterhin sehen wirst?» Das Flehen war aus seiner Stimme verschwunden.
«Wenn es mir passt.»
«Du stellst dich gegen mich?»
«Nein, aber ich spreche dir das Recht ab, meine Handlungen zu kritisieren. Hast du denn keine Freundinnen, die mir missfallen?»
John machte einen Schritt zurück. Die Farbe schwand langsam aus seinem Gesicht.
«Was meinst du damit?», fragte er mit unsicherer Stimme.
«Aha!», sagte Mary ruhig. «Du siehst also, du hast kein Recht, mir in die Wahl meiner Freunde hineinzureden, nicht wahr?»
John sah sie bittend an. «Kein Recht? Habe ich kein Recht, Mary?», sagte er mit zitternder Stimme und streckte die Hände aus. «Mary.»
Ich dachte schon, er hätte sie umgestimmt, denn auf ihrem Gesicht erschien ein weicherer Ausdruck, doch dann drehte sie sich plötzlich heftig um.
«Gar keins!»
Sie ging davon, aber John rannte hinter ihr her und ergriff sie am Arm.
«Mary» — seine Stimme war jetzt sehr ruhig — «hast du dich in diesen Bauerstein verliebt?»
Sie zögerte, doch dann auf einmal glitt ein seltsamer Ausdruck über ihr Gesicht, alt wie die Berge und doch ewig jung, wie das Lächeln einer ägyptischen Sphinx.
Sie befreite sich ruhig aus seinem Griff und sagte: «Vielleicht», und damit hatte sie die kleine Lichtung auch schon verlassen und John blieb wie zu Stein erstarrt zurück.
Ich ging auf ihn zu und trat dabei auf ein paar trockene Zweige. John drehte sich um. Zum Glück nahm er an, dass ich gerade erst gekommen war. «Hallo, Hastings. Hast du den kleinen Kerl sicher nach Hause zurückbegleitet? Ein drolliger Kerl! Kann er denn wirklich was?»
«Zu seiner Zeit galt er als einer der fähigsten Detektive.»
«Na, dann muss da ja was dran sein, nehme ich an. Was für eine schreckliche Welt!»
«Findest du?»
«Gütiger Gott, ja! Diese fürchterliche Geschichte! Die Männer von Scotland Yard, die wie Springteufelchen dauernd ins Haus platzen! Man weiß nie, wo sie das näch-ste Mal auftauchen werden. Dicke Schlagzeilen in allen Zeitungen des Landes — diese Journalisten soll der Teufel holen! Weißt du, dass heute Morgen eine ganze Gruppe von Neugierigen vor dem Parktor stand und glotzte? Anscheinend haben wir hier eine Schreckenskammer wie bei Madame Tussaud, die man umsonst begaffen kann. Ziemlich widerlich, nicht wahr?»
«Mach dir nichts draus, John!», sagte ich tröstend. «Das kann ja nicht ewig dauern.»
«Nein? Es kann aber so lange dauern, dass keiner von uns seinen Kopf jemals wieder in der Öffentlichkeit zeigen kann.»
«Nein, nein, du siehst das alles viel zu düster.»
«Das kann einem aber auch die Laune verderben, wenn man von diesen grässlichen Journalisten verfolgt und von Idioten angestarrt wird, egal wo man ist! Aber es gibt noch Schlimmeres.»
«Was?»
John senkte die Stimme.
«Hast du schon mal darüber nachgedacht, Hastings, wer es getan haben könnte? Für mich ist das ein Albtraum. Manchmal denke ich, es muss doch ein Unfall gewesen sein, denn — denn wer könnte es getan haben? Jetzt, wo Inglethorp aus dem Schneider ist, gibt es keinen Verdächtigen, niemanden, außer — einem von uns.»
In der Tat — ein schrecklicher Albtraum für jeden Menschen. Einer von uns? Ja, es musste einer von uns gewesen sein, falls nicht.
Mir kam ein neuer Gedanke. Ich überprüfte ihn schnell — und sofort wurde mir einiges klar. Poirots geheimnisvolle Handlungen, seine Hinweise — alles passte dazu. Wie dumm von mir, dass ich nicht schon eher daran gedacht hatte, und was für eine Erleichterung für uns alle.
«Nein, John, es ist keiner von uns, das ist undenkbar.» «Ich weiß, aber wer sonst käme noch in Frage?»
«Kannst du es nicht erraten?»
«Nein.»
Ich blickte mich vorsichtig um und flüsterte ihm zu: «Dr. Bauerstein!»
«Unmöglich!»
«Keineswegs.»
«Aber was für ein Interesse könnte er am Tod meiner Mutter haben?»
«Das verstehe ich auch noch nicht», gestand ich, «aber ich verrate dir etwas: Poirot denkt das.»
«Poirot? Ach ja? Woher weißt du das?»
Ich berichtete ihm von Poirots heftiger Erregung, als er erfuhr, dass Dr. Bauerstein in der Todesnacht in Styles gewesen war, und fuhr fort:
«Er sagte zweimal:
«Hm. Das wäre sehr riskant gewesen.»
«Ja, aber nicht unmöglich.»
«Und woher hätte er wissen sollen, dass der Kaffee für sie bestimmt war? Nein, alter Junge, ich glaube kaum, dass es so gewesen sein kann.»
Aber mir war noch etwas eingefallen.
«Du hast ganz Recht. So ist das auch nicht passiert. Hör mal zu.» Und dann erzählte ich ihm von der Kakaoprobe, die Poirot zur Analyse weggebracht hatte.
John bracht den gleichen Einwand vor wie ich bei Poi-rot.
«Aber hör mal, Dr. Bauerstein hat das doch schon selber analysiert!»
«Ja, genau das ist der Punkt. Ich habe es auch erst jetzt durchschaut. Verstehst du denn nicht? Bauerstein ließ die Probe analysieren — genau das ist es! Falls Bauerstein der Täter ist, wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, den Kakao durch eine eigene Probe zu ersetzen und zur Untersuchung wegzuschicken. Und natürlich finden sie dann kein Strychnin darin. Aber niemand würde auch nur im Traum Dr. Bauerstein verdächtigen oder sich eine andere Probe besorgen — außer Poirot», fügte ich mit verspäteter Anerkennung hinzu.
«Ja, aber was ist mit dem bitteren Geschmack, den der Kakao nicht verdecken kann?»
«Na ja, dazu gibt es bislang ja nur seine Aussage. Und es gibt ja noch andere Möglichkeiten. Er ist zugegebenermaßen einer der bedeutendsten Toxikologen.»
«Einer der bedeutendsten — was? Sag das doch noch einmal.»
«Er weiß mehr über Gifte als irgendwer sonst», erklärte ich. «Also mein Einfall war, dass er etwas entdeckt hat, wodurch man Strychnin geschmacklos machen kann. Oder es war in Wahrheit gar kein Strychnin, sondern irgendeine unbekannte Droge, von der wir noch nie gehört haben, die aber ganz ähnliche Symptome hervorruft.»
«Hm, ja, das wäre möglich», sagte John. «Aber wie sollte er an den Kakao herangekommen sein? Der stand doch nicht unten.»
«Nein, stimmt», sagte ich zögernd.
Und dann tauchte urplötzlich eine schreckliche Möglichkeit in meinen Gedanken auf. Ich hoffte und betete, dass John das nicht auch einfallen würde. Ich sah ihn von der Seite an. Er runzelte ratlos die Stirn, und ich atmete erleichtert auf, denn mein schrecklicher Gedanke war folgender gewesen: dass Dr. Bauerstein eine Komplizin gehabt haben könnte.
Aber das war doch unmöglich! Bestimmt war eine so schöne Frau wie Mrs. Cavendish keine Mörderin. Aber es hatte auch schon schöne Giftmörderinnen gegeben.
Und plötzlich erinnerte ich mich wieder an unsere erste Unterhaltung beim Tee am Tag meiner Ankunft und an das Funkeln in ihren Augen, als sie behauptet hatte, Gift sei die Waffe einer Frau. Sie war an dem tragischen Dienstag höchst erregt gewesen! Hatte Mrs. Inglethorp herausgefunden, dass Marys Freundschaft zu Dr. Bauerstein nicht harmlos war und gedroht, es John zu erzählen? War das Motiv für das Verbrechen gewesen, genau das zu verhindern?
Dann fiel mir wieder diese rätselhafte Unterhaltung zwischen Poirot und Evelyn Howard ein. Hatten sie das gemeint? War es diese abscheuliche Möglichkeit gewesen, die Miss Howard so weit von sich gewiesen hatte?
Ja, das passte alles zusammen.
Kein Wunder, dass Miss Howard vorgeschlagen hatte, wir sollten alles unter den Teppich kehren. Jetzt begriff ich ihren unvollendeten Satz: «Emily selbst.» Tief in meinem Herzen war ich auch ihrer Meinung. Wäre Mrs. Inglethorp nicht lieber ungerächt geblieben als solche fürchterliche Schande auf den Namen der Familie Ca-vendish zu laden?
«Da gibt es noch etwas anderes», sagte John mit einem Mal, und der unerwartete Klang seiner Stimme ließ mich schuldbewusst zusammenzucken. «Etwas, weshalb ich bezweifele, was du gesagt hast.»
«Was denn?» Ich war dankbar, dass er die Frage, wie das Gift in den Kakao gelangt sein könnte, erst einmal ad acta gelegt hatte.
«Na, dass Bauerstein eine Autopsie verlangte. Das hätte er ja nicht tun müssen. Der kleine Wilkins hätte sich mit der Diagnose Herzschlag ganz zufrieden gegeben.»
«Ja.» Ich bezweifelte das. «Aber das wissen wir nicht. Vielleicht fand er es so letzten Endes sicherer. Jemand hätte später schwatzen können. Dann hätte die Polizei die Exhumierung angeordnet, und alles wäre herausgekommen, und er hätte ziemlich dumm dagestanden, denn niemand hätte ihm geglaubt, dass ein Mann von seinem Ruf sich von einem scheinbaren Herzanfall täuschen ließ.»
«Tja, das wäre möglich», gab John zu. «Aber ich habe nicht die leiseste Ahnung, was er für ein Motiv gehabt haben könnte.» Ich zitterte.
«Hör mal», sagte ich, «vielleicht irre ich mich ja, und bitte denk daran, dass das alles streng vertraulich ist.»
«Oh, natürlich — das ist doch selbstverständlich.» Während wir uns unterhielten, waren wir weitergegangen und jetzt kamen wir durch ein kleines Tor in den Garten. In der Nähe waren Stimmen zu hören, denn unter dem Ahorn war wie damals am Tag meiner Ankunft der Teetisch gedeckt.
Cynthia war vom Krankenhaus zurück und ich rückte meinen Stuhl neben ihren und erzählte ihr, dass Poirot sie gern in der Apotheke besuchen würde.
«Aber natürlich! Ich würde sie ihm gern zeigen. Er sollte mal in den nächsten Tagen zum Tee kommen. Ich muss mich mit ihm verabreden. Er ist so ein netter kleiner Mann! Neulich sagte er, ich sollte die Brosche aus meinem Schlips abmachen und wieder neu anstecken, weil sie seiner Meinung nach schief saß.» Ich lachte.
«Das ist bei ihm eine regelrechte Besessenheit.»
«Ja, nicht wahr?»
Wir schwiegen ein Weilchen, und dann warf Cynthia einen Blick in Mary Cavendishs Richtung und sagte leise: «Mr. Hastings.»
«Ja?»
«Ich würde gern nach dem Tee mit Ihnen reden.»
Ihr Blick zu Mary hinüber ließ mich stutzen. Ich hatte den Eindruck, dass zwischen den beiden Frauen wenig Sympathie herrschte. Zum ersten Mal machte ich mir über die Zukunft des Mädchens Gedanken. Mrs. Inglethorp hatte ihr nichts hinterlassen. John und Mary würden wahrscheinlich darauf bestehen, dass sie in Styles wohnen blieb — zumindest bis Kriegsende, nahm ich an. Ich wusste, dass John sie gut leiden mochte und sie nicht gern gehen lassen würde.
John war ins Haus gegangen und kam jetzt wieder. Sein gutmütiges Gesicht sah ungewohnt verärgert aus.
«Der Teufel soll diese Detektive holen! Ich habe keine Ahnung, was sie eigentlich suchen. Sie waren in jedem einzelnen Zimmer und haben alles um und um gewühlt! Es ist wirklich unerträglich! Wahrscheinlich nutzten sie die Gelegenheit, weil wir alle nicht zu Hause waren. Ich werde diesem Inspector Japp aber bei der nächsten Gelegenheit mal meine Meinung sagen!»
«Nichts weiter als neugierige Halunken», grummelte Miss Howard.
Lawrence fand, die Polizisten müssten so tun, als wären sie beschäftigt.
Mary Cavendish schwieg.
Nach dem Tee forderte ich Cynthia zu einem Spaziergang auf und wir schlenderten in Richtung Wald davon.
«Na?», fragte ich, als wir durch das Laub vor neugierigen Augen geschützt waren.
Seufzend ließ Cynthia sich auf die Erde fallen und warf ihren Hut zur Seite. Vereinzelte Sonnenstrahlen drangen durch das Blätterdach und verwandelten das Kastanienbraun ihres Haars in Kupfergold.
«Mr. Hastings, Sie sind immer so freundlich und Sie wissen so viel.»
Mir fiel auf, dass Cynthia wirklich ein reizendes Geschöpf war! Viel bezaubernder als Mary, die nie so charmante Dinge äußerte.
«Ja?», fragte ich gütig, als sie zögerte.
«Ich möchte Sie um Ihren Rat bitten. Was soll ich tun?»
«Tun?»
«Ja. Sehen Sie, Tante Emily sagte mir immer, dass sie für mich sorgen würde. Wahrscheinlich vergaß sie es oder sie hielt es für unwahrscheinlich, dass sie sterben könnte — jedenfalls hat sie mir keinen Pfennig hinterlassen! Und ich weiß nicht, was ich tun soll. Meinen Sie, ich sollte sofort von hier weggehen?»
«Du meine Güte, nein! Niemand hier will, dass Sie ausziehen, da bin ich mir ganz sicher.»
Cynthia zögerte kurz und rupfte mit ihren winzigen Händen Grashalme aus. Dann sagte sie: «Mrs. Cavendish schon. Sie hasst mich.»
«Hasst Sie?», rief ich erstaunt.
Cynthia nickte. «Ja, ich weiß nicht, warum, aber sie kann mich nicht ausstehen und er auch nicht.»
«Da irren Sie sich aber», sagte ich überzeugt. «Ganz im Gegenteil, John mag Sie sehr gern.»
«Oh, ja, John. Ich meinte Lawrence. Es ist mir natürlich völlig gleichgültig, ob Lawrence mich hasst oder nicht. Aber es ist doch ziemlich grauenhaft, wenn man von niemandem geliebt wird, finden Sie nicht?»
«Aber man hat Sie doch lieb, Cynthia», sagte ich ernst. «Sie irren sich bestimmt. Sehen Sie mal, da wäre John — und Miss Howard.»
Cynthia nickte traurig. «Ja, John mag mich, glaube ich, und natürlich würde Evie trotz ihrer poltrigen Art keiner Fliege etwas zu Leide tun. Aber Lawrence redet mit mir nur, wenn er es nicht vermeiden kann, und Mary schafft es kaum, den Anstand zu wahren und höflich zu bleiben. Sie möchte, dass Evie hier wohnen bleibt und bittet sie zu bleiben, aber mich will sie nicht und — und — ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.» Plötzlich brach das arme Kind in Tränen aus.
Ich weiß nicht, was plötzlich über mich kam. Vielleicht war es ihre Schönheit, wie sie da saß und ihr Haar im Sonnenlicht schimmerte, vielleicht war es auch die Erleichterung darüber, dass hier jemand in keiner Weise mit der Tragödie zu tun hatte, vielleicht war es einfach Mitleid mit ihrer Jugend und ihrer Einsamkeit. Jedenfalls beugte ich mich vor, nahm ihre kleine Hand und sagte verlegen: «Heiraten Sie mich, Cynthia.»
Ohne es zu ahnen, hatte ich damit ein Heilmittel für ihre Tränen gefunden. Sie richtete sich sofort auf, zog ihre Hand zurück und sagte mit einiger Schroffheit: «Seien Sie nicht töricht!»
Ich war etwas gekränkt. «Ich bin nicht töricht. Ich bitte Sie, mir die Ehre zu erweisen und meine Frau zu werden.»
Zu meiner unsäglichen Überraschung lachte Cynthia laut heraus und nannte mich einen «komischen Schatz».
«Das ist wirklich unheimlich lieb von Ihnen», sagte sie, «aber Sie wissen genau, dass Sie das gar nicht wollen!»
«Doch, ich will, ich habe.»
«Ganz egal, was Sie haben. Sie wollen gar nicht wirklich heiraten — und ich auch nicht.»
«Na, damit wäre natürlich alles geklärt», sagte ich beleidigt. «Aber ich wüsste nicht, was es da zu lachen gibt. Ich sehe in einem Heiratsantrag nichts Komisches.» «Nein, das stimmt», sagte Cynthia. «Vielleicht wird Ihr Antrag beim nächsten Mal angenommen. Auf Wiedersehen, Sie haben mich sehr aufgeheitert.»
Und mit fröhlichem Gelächter verschwand sie zwischen den Bäumen.
Ich ging unsere Unterredung noch einmal im Geiste durch und fand sie auf einmal höchst unbefriedigend.
Dann kam mir plötzlich der Einfall, ins Dorf zu gehen und Bauerstein zu besuchen. Jemand musste den Kerl im Auge behalten. Gleichzeitig sollte man klugerweise verhindern, dass er auf den Gedanken kam, er könnte verdächtigt werden. Mir fiel wieder ein, wie sehr Poirot meine Diplomatie gelobt hatte.
Also ging ich zu dem kleinen Haus, in dessen Fenster ein Schild mit der Aufschrift «Pension» stand und wo er meines Wissens logierte, und klopfte an die Tür.
Eine alte Frau öffnete die Tür.
«Guten Tag», sagte ich freundlich. «Ist Dr. Bauerstein da?»
Sie starrte mich an. «Ja, wissen Sie denn nicht.?»
«Was denn?»
«Von ihm.»
«Was ist denn mit ihm?»
«Er ist weg.»
«Weg? Verreist?»
«Nein, die Polizei hat ihn mitgenommen.»
«Die Polizei!» Ich schnappte nach Luft. «Wollen Sie damit sagen, dass er verhaftet wurde?»
«Ja, das und.»
Ich wartete aber nicht mehr das Ende ihres Satzes ab, sondern rannte die Dorfstraße hinunter zu Poirot.