Zehntes Kapitel Die Verhaftung

Zu meiner großen Verärgerung war Poirot nicht zu Hause, und der alte Belgier, der mir die Tür geöffnet hatte, teilte mir mit, mein Freund sei nach London gereist.

Ich war völlig ratlos. Was in aller Welt tat Poirot in London? War das ein ganz plötzlicher Entschluss von ihm oder hatte er das schon vorgehabt, als wir uns vor ein paar Stunden trennten?

Einigermaßen verdrossen ging ich wieder nach Styles zurück. Ich wusste nicht, wie ich mich in Poirots Abwesenheit verhalten sollte. Hatte er die Verhaftung vorhergesehen? Hatte er sie am Ende sogar veranlasst? Diese Fragen konnte ich nicht beantworten. Aber was sollte ich in der Zwischenzeit tun? Sollte ich die Verhaftung öffentlich bekannt geben oder nicht? Obwohl ich es mir selbst gegenüber nicht eingestehen wollte, lastete der Gedanke an Mary Cavendish schwer auf meiner Seele. War das für sie nicht ein fürchterlicher Schock? Für den Augenblick wischte ich jeden Verdacht gegen sie beiseite. Sie konnte damit nichts zu tun haben, sonst hätte ich davon etwas gehört.

Natürlich war es unmöglich, ihr Dr. Bauersteins Verhaftung auf Dauer zu verheimlichen. Morgen würde es in allen Zeitungen stehen. Dennoch scheute ich davor zurück, es herauszuposaunen. Wenn doch nur Poirot erreichbar gewesen wäre, dann hätte ich seinen Rat einho-len können. Was war bloß in ihn gefahren, dass er ohne jede Erklärung einfach nach London fuhr?

Fast gegen meinen Willen war meine Achtung vor seinem Scharfsinn ins Unermessliche gestiegen. Mir wäre es nie im Traum eingefallen, den Doktor zu verdächtigen, wenn Poirot mich nicht auf den Gedanken gebracht hätte. Ja, der kleine Mann war wirklich klug.

Nach einigem Nachdenken beschloss ich, John einzuweihen und es ihm zu überlassen, ob er die Sache publik machen wollte oder nicht.

Als ich ihm die Neuigkeiten mitteilte, stieß er einen lauten Pfiff aus.

«Sapperlot! Du hattest also Recht! Ich konnte es einfach nicht glauben.»

«Nein, es ist auch unglaublich; man muss sich erst an die Vorstellung gewöhnen und erkennen, wie alles zueinander passt. Was sollen wir jetzt tun? Natürlich wird es morgen überall bekannt sein.»

John überlegte.

«Ganz egal», sagte er schließlich, «momentan werden wir noch nichts sagen. Das ist nicht notwendig. Wie du schon sagtest, es wird ohnehin früh genug bekannt werden.»

Aber als ich am nächsten Morgen früh hinunterkam, wurde die Verhaftung in den Zeitungen mit keiner Silbe erwähnt! Es gab eine Spalte mit lauter Wiederholungen über den «Giftmord in Styles», aber nichts sonst. Das war ziemlich rätselhaft, doch ich vermutete, dass Japp aus irgend einem Grund die Sache aus den Zeitungen heraushalten wollte. Das machte mir einiges Kopfzerbrechen, denn daraus konnte man schließen, dass es noch zu weiteren Verhaftungen kommen würde.

Nach dem Frühstück beschloss ich ins Dorf zu gehen und nachzusehen, ob Poirot schon wieder zurück war, aber da erschien auf einmal ein wohl bekanntes Gesicht vor einem der Fenster und eine wohl bekannte Stimme sagte:

«Bonjour, mon ami!»

«Poirot!», rief ich erleichtert aus, ergriff seine beiden Hände und zog ihn ins Zimmer. «Noch nie habe ich mich so über den Anblick von jemandem gefreut. Ich habe zu niemandem etwas gesagt außer zu John, war das richtig?»

«Mein Freund», erwiderte Poirot, «ich weiß nicht, wovon Sie reden.»

«Von Bauersteins Verhaftung, das ist doch klar.»

«Wurde Bauerstein also verhaftet?»

«Wussten Sie das nicht?»

«Ich hatte nicht die geringste Ahnung.» Aber dann fügte er hinzu: «Obwohl es mich nicht überrascht. Schließlich sind wir hier nur vier Meilen von der Küste entfernt.»

«Die Küste?», fragte ich verwirrt. «Was hat die denn damit zu tun?»

Poirot zuckte die Achseln. «Das ist doch wohl sonnenklar!»

«Mir nicht. Zweifellos bin ich sehr dumm, aber ich verstehe nicht, was die Nähe der Küste mit dem Mord an Mrs. Inglethorp zu tun haben soll.»

«Natürlich nichts», erwiderte Poirot lächelnd. «Aber wir sprachen doch gerade von der Verhaftung Dr. Bauersteins.»

«Aber wenn er nicht wegen des Mordes an Mrs. Inglethorp verhaftet wurde.»

«Was?», rief Poirot erstaunt aus. «Dr. Bauerstein wurde wegen des Mordes an Mrs. Inglethorp verhaftet?»

«Ja.»

«Unmöglich! Das wäre doch absolut lächerlich! Wer hat Ihnen das erzählt, mein Freund?» «Das hat mir niemand so erzählt», gestand ich. «Aber er wurde verhaftet.»

«Oh ja, höchstwahrscheinlich. Aber wegen Spionage, mon ami.»

«Spionage?» Das verschlug mir den Atem.

«Ganz recht.»

«Nicht wegen des Mordes an Mrs. Inglethorp?»

«Nur wenn unser Freund Japp völlig verrückt geworden ist», erwiderte Poirot gelassen.

«Aber ich glaubte, Sie hätten das auch gedacht?»

Poirot sah mich mitleidig an, als sei er überrascht, wie ich auf eine so gänzlich absurde Idee gekommen sein konnte.

«Wollen Sie damit sagen», langsam gewöhnte ich mich an diese völlig neue Vorstellung, «dass Dr. Bauerstein ein Spion ist?»

Poirot nickte.

«Haben Sie denn niemals Verdacht geschöpft?»

«Das ist mir nie in den Kopf gekommen.»

«Sie fanden es nicht seltsam, dass ein berühmter Londoner Arzt sich in so einem kleinen Dorf vergraben hatte und die Gewohnheit hatte, zu den merkwürdigsten Nachtstunden herumzuspazieren?»

«Nein», gestand ich, «darüber habe ich nie nachgedacht.»

«Er ist deutscher Abstammung», meinte Poirot nachdenklich. «Er praktiziert aber schon so lange hier in diesem Land, dass alle ihn für einen Engländer halten. Vor fünfzehn Jahren wurde er englischer Staatsbürger. Ein sehr kluger Mann — natürlich ein Jude.»

«So ein Schurke!», rief ich empört aus.

«Aber nein. Ganz im Gegenteil — er ist ein Patriot. Denken Sie doch nur, was er nun verlieren wird. Ich bewundere diesen Mann.»

Aber ich konnte die Dinge nicht mit demselben Gleichmut betrachten wie Poirot.

«Und mit diesem Mann ist Mrs. Cavendish überall herumgewandert!», rief ich empört.

«Ja. Er wird sie wohl sehr nützlich gefunden haben», bemerkte Poirot. «Solange der Klatsch ihre beiden Namen zusammenbrachte, blieben alle anderen Aktivitäten des Doktors unbemerkt.»

«Dann glauben Sie, dass er niemals etwas für sie empfunden hat?», fragte ich eifrig — unter den gegebenen Umständen vermutlich etwas zu eifrig.

«Darüber kann ich mir natürlich kein Urteil erlauben, aber soll ich Ihnen meine persönliche Meinung dazu sagen, Hastings?»

«Ja.»

«Also ich würde es so sehen: Mrs. Cavendish hat sich niemals auch nur das kleinste Bisschen aus Dr. Bauerstein gemacht!»

«Glauben Sie wirklich?» Ich konnte meine Freude nicht völlig verbergen.

«Ich bin mir da ganz sicher. Und ich sage Ihnen auch, warum.»

«Ja?»

«Weil sie jemand anderen liebt, mon ami.»

«Oh!» Was meinte er damit? Ganz gegen meinen Willen durchflutete mich eine angenehme Wärme. Ich bin im Hinblick auf Frauen nicht eitel, aber ich erinnerte mich an ein paar Vorfälle, die ich damals möglicherweise nicht richtig eingeschätzt hatte, die aber gewiss anzudeuten schienen.

Meine Träumereien wurden durch das plötzliche Erscheinen von Miss Howard unterbrochen. Sie sah rasch nach allen Seiten, um sich zu vergewissern, dass niemand sonst im Zimmer war, und holte dann schnell einen alten Bogen Packpapier hervor. Das reichte sie Poirot, während sie die geheimnisvollen Worte murmelte:

«Oben auf dem Schrank.» Dann verließ sie eilig wieder den Raum.

Poirot faltete das Papier neugierig auseinander und stieß einen Laut der Befriedigung aus. Er breitete den Bogen auf dem Tisch aus.

«Kommen Sie her, Hastings. Jetzt sagen Sie mir, was ist das für ein Buchstabe, ein J oder ein L?»

Das Blatt war von mittlerer Größe, ziemlich staubig, als ob es schon längere Zeit herumgelegen hätte. Aber es war der Aufkleber, der Poirots Aufmerksamkeit fesselte. Oben war der Stempel der Firma Parkson, des berühmten Theaterkostümverleihs, und die Anschrift lautete:« — (der unklare Buchstabe) Cavendish, Styles Court, Styles St, Mary, Essex.»

«Es könnte ein T sein. Oder vielleicht ein L», sagte ich, nachdem ich das Papier kurz studiert hatte. «Ganz gewiss ist es kein J.»

«Gut.» Poirot faltete den Bogen wieder zusammen. «Ich denke wie Sie. Es ist ein L, verlassen Sie sich darauf!»

«Wo kam das her?», fragte ich neugierig. «Ist das wichtig?»

«Nicht besonders. Es bestätigt nur eine meiner Hypothesen. Ich war von seiner Existenz überzeugt und setzte Miss Howard darauf an, und wie Sie sehen, war sie erfolgreich.»

«Was meinte sie mit

«Sie meinte», erwiderte Poirot prompt, «dass sie es oben auf einem Schrank gefunden hat.» «Ein seltsamer Ort für einen Bogen Packpapier», überlegte ich.

«Aber nein. Oben auf einem Schrank ist eine sehr gute Ablage für Packpapier und Pappschachteln. Ich bewahre dort auch welche auf. Ordentlich aufeinander gestellt sind sie kein störender Anblick.»

«Poirot, wissen Sie schon, wer dieses Verbrechen begangen hat?», fragte ich ihn ernsthaft.

«Ja — das heißt, ich glaube, ich weiß, wie es geschehen ist.»

«Aha!»

«Leider habe ich außer meiner Annahme keinerlei Beweise bis auf.» Plötzlich ergriff er meinen Arm, zog mich energisch bis zur Halle und rief aufgeregt auf Französisch: «Mademoiselle Dorcas, Mademoiselle Dorcas, un moment, s'il vousplatt!»

Dorcas kam aufgeschreckt durch den Lärm aus dem Anrichtezimmer herbeigelaufen.

«Meine gute Dorcas, ich habe eine Idee — eine kleine Idee —, und falls sie sich als richtig herausstellt, wäre das ein Riesenglück! Sagen Sie mir, war am Montag, nicht am Dienstag, Dorcas, am Montag irgendetwas mit der Klingel von Mrs. Inglethorp nicht in Ordnung?»

Dorcas sah sehr überrascht aus.

«Ja, Sir, jetzt, wo Sie es sagen, die Klingel war kaputt, obwohl ich nicht weiß, wie Sie das wissen können. Eine Maus oder irgend so was muss das Kabel durchgenagt haben. Der Handwerker kam am Dienstagmorgen und hat sie repariert.»

Mit einem begeisterten Ausruf führte Poirot mich zurück in das Morgenzimmer.

«Sehen Sie, man sollte keine Beweise von außen verlangen. Nein, Logik sollte genügen. Aber das Fleisch ist schwach, es ist doch immer befriedigend, wenn man fest-stellt, dass man auf der richtigen Spur ist. Ach, mein Freund, ich könnte vor Freude Luftsprünge machen!»

Und tatsächlich, er rannte und sprang und tollte wie wild auf dem Rasen vor der Terrassentür herum.

«Was ist denn in Ihren bemerkenswerten kleinen Freund gefahren?», fragte eine Stimme hinter mir, und als ich mich umdrehte, stand da Mary Cavendish.

Sie lächelte, und ich auch. «Was ist denn los?»

«Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen. Er fragte Dorcas irgendwas wegen einer Klingel und freute sich so über die Antwort, dass er völlig außer sich geriet, wie Sie sehen.»

Mary lachte.

«Wie spaßig! Er verschwindet gerade durch das Tor. Kommt er heute noch einmal zurück?»

«Das weiß ich nicht. Ich habe das Rätselraten um seine nächsten Schritte aufgegeben.»

«Ist er richtig verrückt, Mr. Hastings?»

«Ich weiß es wirklich nicht. Manchmal denke ich, er ist total übergeschnappt, und wenn er sich gerade am verrücktesten aufführt, entdecke ich in seiner Verrücktheit Methode.»

«Ich verstehe.»

Trotz ihres Lachens sah Mary an diesem Morgen besorgt aus. Sie schien ernst, fast traurig zu sein.

Ich fand, das sei eine günstige Gelegenheit, sie einmal wegen Cynthia ins Gebet zu nehmen. Meiner Meinung nach brachte ich das Thema sehr taktvoll aufs Tapet, aber ich war noch nicht weit gekommen, als sie mich sehr gebieterisch unterbrach.

«Sie sind zweifellos ein hervorragender Anwalt, Mr. Hastings, aber in diesem Fall verschwenden Sie Ihr Ta-lent. Cynthia wird nie Gefahr laufen, von mir unfreundlich behandelt zu werden.»

Ich stotterte herum, dass ich hoffte, sie würde nicht denken. Wieder unterbrach sie mich, und ihre Worte waren so unerwartet, dass sie Cynthia und ihren Kummer völlig aus meinen Gedanken verdrängten.

«Mr. Hastings, glauben Sie, dass mein Mann und ich miteinander glücklich sind?»

Ich war wie vor den Kopf geschlagen und murmelte irgendetwas, dass mich das nichts anginge und ich über derlei Dinge nicht nachdächte.

«Ob es Sie etwas angeht oder nicht, ist ganz gleich, ich sage Ihnen, wir sind nicht glücklich.»

Ich schwieg, denn ich sah, dass sie noch nicht fertig war.

Sie lief mit leicht gesenktem Kopf langsam im Zimmer auf und ab, ihre schlanke, ranke Gestalt bewegte sich dabei graziös. Dann blieb sie plötzlich stehen und sah zu mir auf.

«Sie wissen nichts über mich, nicht wahr? Woher ich komme, wer ich vor meiner Heirat mit John war — gar nichts, nicht wahr? Ich werde es Ihnen erzählen, ich werde Sie zu meinem Beichtvater machen. Sie sind liebenswürdig, glaube ich — ja, ich bin mir sicher, dass Sie liebenswürdig sind.»

Seltsamerweise freuten mich ihre Worte längst nicht so, wie man hätte erwarten können. Mir war eingefallen, dass Cynthia ihre Vertraulichkeiten genau so begonnen hatte. Außerdem sollte ein Beichtvater doch ein eher älterer Herr sein, das ist wahrlich keine Rolle für einen jüngeren Mann.

«Mein Vater war Engländer», sagte Mrs. Cavendish. «Aber meine Mutter war Russin.»

«Aha», sagte ich. «Jetzt verstehe ich.» «Was verstehen Sie?»

«Sie haben so einen Hauch von Fremdheit an sich — da ist irgendetwas.»

«Ich glaube, meine Mutter war sehr schön. Ich weiß es nicht, weil ich mich nicht an sie erinnern kann. Sie starb, als ich noch sehr klein war. Ich vermute, dass ihr Tod mit irgendeiner Tragödie verknüpft ist — sie nahm irrtümlicherweise eine Überdosis von einem Schlafmittel. Was auch immer geschah, mein Vater kam nie darüber hinweg. Kurz darauf trat er in den diplomatischen Dienst ein. Ich folgte ihm, wo immer er auch hinging. Als ich dreiundzwanzig war, hatte ich fast schon die ganze Welt gesehen. Es war ein wunderschönes Leben, und ich genoss es in vollen Zügen.»

Sie lächelte und warf den Kopf zurück und schien in die Erinnerung an die schönen alten Zeiten versunken.

«Dann starb mein Vater. Er hinterließ mir nichts, und ich musste zu meinen alten Tanten nach Yorkshire ziehen und bei ihnen leben.» Ihr schauderte. «Sie werden mich verstehen, wenn ich sage, dass das für jemanden mit meiner Erziehung ein sterbenslangweiliges Leben war. Die Enge, die tödliche Monotonie trieben mich fast zum Wahnsinn.» Sie schwieg etwa eine Minute lang und fuhr dann in verändertem Ton fort: «Und dann begegnete ich John Cavendish.»

«Ja?»

«Sie können sich vorstellen, dass er in den Augen meiner Tanten eine sehr gute Partie für mich war. Für mich war diese Tatsache nicht ausschlaggebend. Nein, er war einfach ein Ausweg aus der unerträglichen Eintönigkeit meines Lebens.»

Ich schwieg und dann sprach sie weiter.

«Missverstehen Sie mich nicht. Ich war ihm gegenüber völlig ehrlich. Ich sagte ihm die Wahrheit: dass ich ihn sehr gern hätte, dass ich hoffte, ihn irgendwann zu lieben, dass ich aber überhaupt nicht in ihn verliebt war. Er erklärte, das genüge ihm und — wir heirateten.»

Sie schwieg jetzt längere Zeit und auf ihrer Stirn erschien eine kleine Falte. Offensichtlich erinnerte sie sich an die vergangenen Tage.

«Ich glaube — ich bin mir sicher —, dass er mich zuerst sehr gern hatte. Aber ich fürchte, wir passten nicht sonderlich gut zusammen. Fast von Anfang an trieben wir auseinander. Er wurde meiner bald überdrüssig — so wenig schmeichelhaft das für mich auch ist, es ist die Wahrheit.»

Ich musste irgendetwas Gegenteiliges gemurmelt haben, denn sie sprach rasch weiter: «Doch, das stimmt! Es macht mir jetzt nichts mehr aus, jetzt wo sich unsere Wege trennen werden.»

«Was meinen Sie damit?»

Sie antwortete ruhig: «Ich meine damit, dass ich nicht in Styles bleiben werde.»

«Sie und John werden nicht hier leben?»

«John wird wohl hier leben, aber ich nicht.»

«Wollen Sie ihn verlassen?» «Ja.»

«Aber warum?»

Sie schwieg lange und sagte schließlich: «Vielleicht, weil ich frei sein möchte!»

Als sie das sagte, hatte ich plötzlich eine Vision von weiten Ebenen, urwüchsigen Wäldern, Neuland — und ein Bild davon, was Freiheit für eine Frau wie Mary Caven-dish bedeuten musste. Einen Moment lang sah ich sie so, wie sie war, ein wildes, stolzes Geschöpf, so ungezähmt wie ein scheuer Vogel. Es klang wie ein Aufschrei, als sie fortfuhr: «Sie wissen es nicht, Sie ahnen ja nicht, wie sehr dieses furchtbare Haus ein Gefängnis für mich war!» «Ich verstehe», sagte ich. «Aber — aber überstürzen Sie nichts!»

«Überstürzen!» Ihre Stimme spottete über meine Mahnung.

Dann plötzlich sagte ich etwas, weswegen ich mir schon im nächsten Moment die Zunge hätte abbeißen können: «Wissen Sie, dass Dr. Bauerstein verhaftet wurde?»

Sofort verwandelte sich ihr Gesicht in eine ausdruckslose Maske. «John war so freundlich, es mir heute Morgen mitzuteilen.»

«Ja — und wie denken Sie darüber?», fragte ich zaghaft.

«Worüber?»

«Über seine Verhaftung.»

«Was sollte ich denn denken? Offensichtlich ist er ein deutscher Spion, jedenfalls hat der Gärtner das John erzählt.»

Ihre Stimme und ihr Gesicht waren völlig gefühl- und ausdruckslos. Machte es ihr etwas aus oder nicht?

Sie ging ein paar Schritte und richtete die Blumen in einer der Vasen. «Die hier sind schon ziemlich verblüht. Ich muss frische holen. Würden Sie mich bitte vorbeilassen — danke, Mr. Hastings.» Und damit ging sie leise an mir vorbei auf die Terrasse hinaus und nickte mir kühl zu, als wäre ich nun entlassen.

Nein, sie machte sich bestimmt nichts aus Bauerstein. Keine Frau könnte diese Rolle mit so eisiger Gleichgültigkeit spielen.

Poirot erschien auch am folgenden Morgen nicht, und die Scotland-Yard-Beamten ließen sich ebenfalls nicht sehen.

Aber um die Mittagszeit tauchte ein neues Beweisstück auf — oder vielmehr ein fehlendes Beweisstück. Bislang hatten wir vergeblich nach dem vierten Brief gefahndet, den Mrs. Inglethorp am Abend vor ihrem Tod geschrie-ben hatte. Da die Suche erfolglos geblieben war, hatten wir sie aufgegeben und hofften, der Brief würde eines Tages von allein auftauchen. Und genau so geschah es, und zwar in Form einer Mitteilung, die mit der zweiten Post kam. Ein französischer Musikverlag bestätigte den Scheck von Mrs. Inglethorp und bedauerte, dass es ihnen nicht gelungen wäre, eine bestimmte Sammlung russischer Volkslieder aufzutreiben. Damit war die letzte Hoffnung verschwunden, mit Hilfe von Mrs. Inglethorps Korrespondenz an jenem tragischen Abend das Rätsel zu lösen.

Als ich vor dem Tee einen Spaziergang zu Poirot machte, um ihm die neue Enttäuschung mitzuteilen, war er zu meinem Befremden abermals nicht da.

«Ist er wieder nach London gefahren?»

«Oh nein, Monsieur, er hat nur den Zug nach Tadmins-ter genommen. Um sich die Apotheke einer jungen Dame anzusehen, wie er sagte.»

«So ein Esel!», entfuhr es mir. «Ich habe ihm doch gesagt, dass der Mittwoch ihr einziger freier Tag ist! Würden Sie ihm dann bitte ausrichten, dass er uns morgen besuchen soll?»

«Gewiss, Monsieur.»

Aber am folgenden Tag tauchte Poirot nicht auf. Langsam wurde ich wütend. Er verhielt sich uns gegenüber wirklich ziemlich arrogant.

Nach dem Mittagessen nahm Lawrence mich beiseite und fragte, ob ich Poirot heute noch besuchen würde.

«Nein, ich denke eher nicht. Wenn er uns sehen will, kann er ja herkommen.»

«Hm.» Lawrence sah unentschlossen aus. Er verhielt sich ungewöhnlich nervös und aufgeregt, und das machte mich neugierig.

«Was gibt es denn?», fragte ich. «Wenn es irgendetwas Wichtiges ist, könnte ich hingehen.»

«Es dreht sich um nichts Besonderes, aber wenn du zu ihm gehst, kannst du ihm dann sagen» — er senkte die Stimme zu einem Flüstern —, «ich glaube, ich habe die überzählige Tasse gefunden!»

Ich hatte diese rätselhafte Botschaft Poirots schon fast vergessen, nun war meine Neugier wieder geweckt.

Lawrence wollte aber nicht mehr verraten und so be-schloss ich, von meinem hohen Ross wieder herunterzusteigen und Poirot in Leastways Cottage aufzusuchen.

Diesmal wurde ich mit einem Lächeln empfangen. Monsieur Poirot war da. Ob ich hereinkommen wollte? Ich stieg also die Treppe hoch.

Poirot saß am Tisch und hatte den Kopf in den Händen vergraben. Bei meinem Eintritt sprang er auf.

«Was haben Sie?», erkundigte ich mich besorgt. «Sie sind doch hoffentlich nicht krank?»

«Nein, nein, ich bin nicht krank. Aber ich muss gerade etwas sehr Wichtiges entscheiden.»

«Ob Sie den Verbrecher entlarven oder nicht?», fragte ich scherzend.

Doch zu meiner großen Überraschung nickte Poirot ernst.

«Sprechen oder nicht sprechen, wie Ihr großer Shakespeare sagt, das ist hier die Frage.»

Ich machte mir nicht die Mühe, das Zitat zu korrigieren.

«Sie meinen das ernst, Poirot?»

«Ich meine das höchst ernst. Denn es steht das Wichtigste auf dem Spiel, das es gibt.»

«Und das wäre?»

«Das Glück einer Frau, mon ami», sagte er nachdrücklich.

Ich wusste nicht recht, was ich darauf sagen sollte.

«Der Augenblick ist gekommen, und ich weiß nicht, was ich tun soll», sagte Poirot grübelnd. «Denn ich spiele um einen hohen Einsatz, müssen Sie wissen. Keiner außer mir, Hercule Poirot, würde das wagen!» Dabei klopfte er sich stolz auf die Brust.

Ich schwieg eine Weile respektvoll, um die Wirkung seiner Worte nicht zu beeinträchtigen, und dann überbrachte ich ihm Lawrence' Botschaft.

«Aha!», rief Poirot. «Er hat also die überzählige Tasse gefunden. Das ist gut. Er ist intelligenter, als man glaubt, Ihr langgesichtiger Monsieur Styles!»

Ich hatte keine besonders hohe Meinung von Lawrence' Intelligenz, aber ich verzichtete darauf, Poirot zu widersprechen. Stattdessen hielt ich ihm in leicht vorwurfsvollem, aber freundlichem Ton vor, dass er meine Information bezüglich Cynthias freiem Tag vergessen hatte.

«Das stimmt, ich habe ein Gedächtnis wie ein Sieb. Aber die andere junge Dame war überaus freundlich. Es tat ihr Leid, dass ich so enttäuscht war, und sie hat mir alles bereitwillig gezeigt.»

«Na, dann ist es ja gut. Sie können mit Cynthia dann ein anderes Mal Tee trinken.»

Ich erzählte ihm von dem Brief.

«Das finde ich sehr bedauerlich», sagte er. «Ich hatte auf diesen Brief große Hoffnungen gesetzt. Aber es sollte eben nicht sein. Diese Geschichte muss von innen heraus aufgewickelt werden.» Er tippte sich an die Stirn. «Diese kleinen grauen Zellen, die müssen jetzt arbeiten.» Dann fragte er plötzlich: «Sind Sie ein Experte in Sachen Fingerabdrücken, mein Freund?» «Nein», antwortete ich ziemlich überrascht. «Ich weiß, dass kein Fingerabdruck dem anderen gleicht, aber das ist auch schon alles.»

«Genau.»

Er schloss eine kleine Schublade auf und holte einige Fotos heraus, die er auf den Tisch legte.

«Ich habe sie mit 1,2 und 3 nummeriert. Würden Sie sie mir einmal kurz beschreiben?»

Ich betrachtete die Abzüge aufmerksam. «Sie sind alle sehr stark vergrößert, soweit ich sehe. Nummer eins sind meiner Ansicht nach die Abdrücke eines Mannes, und zwar von Daumen und Zeigefinger. Nummer zwei sind die einer Frau, sie sind viel kleiner und total anders. Nummer drei» — ich schwieg kurz — «das sind anscheinend mehrere Abdrücke wirr durcheinander, aber dieser hier stammt eindeutig von Nummer eins.»

«Und überschneidet sich mit den anderen?»

«Ja.»

«Und Sie erkennen ihn mit Sicherheit wieder?»

«Oh ja, die sind absolut identisch.»

Poirot nickte, nahm die Fotos vorsichtig auf und ver-schloss sie wieder.

«Ich nehme an, dass Sie mir das hier, wie sonst auch, nicht erklären werden?»

«Ganz im Gegenteil. Nummer eins waren die Abdrücke von Monsieur Lawrence. Nummer zwei waren die von Mademoiselle Cynthia. Die sind unwichtig. Ich habe sie mir nur zu Vergleichszwecken besorgt. Nummer drei ist etwas komplizierter.»

«Ja?»

«Die sind, wie Sie ja sehen konnten, sehr vergrößert. Wahrscheinlich haben Sie bemerkt, dass alle Fotos leicht verschwommen sind. Ich will Ihnen den komplizierten Apparat nicht weiter beschreiben, den Puder und all das, was ich benutzt habe. Die Polizei bedient sich schon lange dieser Methode, damit kann man in kürzester Zeit ein Foto von Fingerabdrücken auf jedem Gegenstand erhalten. Mein Freund, Sie haben die Fingerabdrücke gesehen — jetzt muss ich Ihnen nur noch verraten, auf welchem besonderen Gegenstand ich sie gefunden habe.»

«Nun sagen Sie's schon — ich bin schrecklich neugierig.»

«Eh bien! Foto Nummer drei zeigt die stark vergrößerte Oberfläche einer winzigen Flasche auf dem obersten Bord im Giftschrank in der Apotheke des Roten-Kreuz-Krankenhauses in Tadminster — das klingt wie in einer Suchanleitung.»

«Du lieber Himmel!», rief ich aus. «Aber wie kommen die Fingerabdrücke von Lawrence Cavendish dorthin? An dem Tag, als wir beide dort waren, kam er nie auch nur in die Nähe des Giftschranks.»

«Aber ja!»

«Unmöglich! Wir waren die ganze Zeit zusammen!»

Poirot schüttelte den Kopf. «Nein, mein Freund, es gab einen Moment, da waren Sie nicht alle zusammen. Es gab einen Moment, da konnten Sie gar nicht alle zusammen sein, oder Sie hätten Monsieur Lawrence nicht auch auf den Balkon rufen müssen.»

«Das hatte ich vergessen», gab ich zu. «Aber das war doch nur eine Sekunde!»

«Lange genug.»

«Lang genug wofür?»

Poirots Lächeln wurde immer rätselhafter. «Lang genug für jemanden, der einmal Medizin studiert hat, um ein sehr natürliches Interesse und seine Neugier zu befriedigen.»

Unsere Blicke trafen sich. Poirot sah mich freundlich unbestimmt an. Er stand auf und summte eine kleine Melodie. Misstrauisch beobachtete ich ihn.

«Poirot, was war in diesem besonderen Fläschchen?»

Poirot sah aus dem Fenster.

«Eine Chlorsäure-Strychnin-Mischung», sagte er dann und summte weiter.

«Gütiger Himmel!», sagte ich leise. Ich war nicht überrascht. Ich hatte diese Antwort erwartet.

«Sie verwenden reines Chlorsäure-Strychnin sehr selten — nur manchmal für Tabletten. Sie benutzen häufiger die übliche Lösung. Deshalb blieben auch die Fingerabdrücke so lange erhalten.»

«Wie haben Sie das fotografieren können?»

«Ich ließ meinen Hut vom Balkon fallen», erklärte Poi-rot schlicht. «Besucher waren zu dem Zeitpunkt unten nicht erlaubt, deshalb musste trotz meiner vielen Entschuldigungen die Kollegin von Mademoiselle Cynthia hinuntergehen und ihn holen.»

«Dann wussten Sie also, was Sie finden würden?»

«Nein, überhaupt nicht. Ich hatte auf Grund Ihrer Erzählung nur gemerkt, dass es für Monsieur Lawrence möglich war, zum Giftschrank zu gehen. Diese Möglichkeit musste entweder bestätigt oder ausgeschlossen werden.»

«Poirot, Ihre Fröhlichkeit täuscht mich nicht. Das ist eine sehr wichtige Entdeckung.»

«Ich weiß es nicht. Aber eine Sache fiel mir auf. Zweifellos ist sie Ihnen auch aufgefallen.»

«Was denn?»

«Dass es in diesem Fall viel zu viel Strychnin gibt. Dies ist nun schon das dritte Mal, dass wir darauf treffen. Es gab Strychnin in der Medizin von Mrs. Inglethorp.

Strychnin wurde von Mr. Mace in der Apotheke von St. Mary verkauft. Jetzt haben wir noch mehr Strychnin, mit dem ein Familienmitglied zu tun hatte. Das ist sehr verwirrend, und wie Sie wissen, kann ich Verwirrung nicht leiden.»

Bevor ich antworten konnte, steckte einer der Belgier den Kopf zur Tür herein.

«Unten ist eine Dame, sie will Mr. Hastings sprechen.»

«Eine Dame?»

Ich sprang auf. Poirot folgte mir die Treppe hinunter. Mary Cavendish stand in der offenen Tür.

«Ich habe gerade eine alte Frau im Dorf besucht», erklärte sie, «und Lawrence sagte mir, Sie seien bei Monsieur Poirot, also dachte ich, ich komme vorbei.»

«Oh, Madame», sagte Poirot, «ich dachte schon, Sie würden mir die Ehre eines Besuches erweisen.»

«Wenn Sie mich einladen, komme ich gern einmal», versprach sie ihm lächelnd.

«Sehr schön. Falls Sie jemals einen Beichtvater brauchen, Madame» — sie zuckte leicht zusammen —, «denken Sie daran, Papa Poirot steht Ihnen immer gern zu Diensten.»

Sie starrte ihn kurz an, als ob sie eine verborgene Bedeutung in seinen Worten erraten wollte. Dann drehte sie sich unvermittelt um.

«Kommen Sie, Monsieur Poirot, wollen Sie uns nicht auf dem Rückweg begleiten?»

«Aber gern, Madame.»

Während des ganzen Heimwegs nach Styles redete Mary schnell und fieberhaft. Mir kam es so vor, als fürchtete sie sich vor Poirots Augen.

Das Wetter war umgeschlagen und der scharfe Wind war fast herbstlich. Mary zitterte ein wenig und knöpfte ihren schwarzen Mantel zu. Der Wind in den Bäumen hörte sich an wie das Seufzen eines Riesen.

Wir kamen zum Haupteingang von Styles und merkten sofort, dass irgendetwas nicht stimmte.

Dorcas kam auf uns zugelaufen. Sie weinte und rang die Hände. Ich sah die Dienstboten alle hinten in der Halle herumstehen und wie sie ganz Aug und Ohr waren.

«Oh, oh, ich weiß gar nicht, wie ich es Ihnen sagen soll.»

«Was ist denn, Dorcas?», fragte ich ungeduldig. «Nun reden Sie doch schon.»

«Diese schrecklichen Kriminalbeamten. Sie haben ihn verhaftet, sie haben Mr. Cavendish verhaftet!»

«Lawrence ist verhaftet?», fragte ich entgeistert.

Dorcas sah mich mit einem seltsamen Blick an.

«Nein, Sir, nicht Mr. Lawrence — Mr. John!»

Mit einem lauten Schrei fiel Mrs. Cavendish von hinten gegen mich, und als ich mich umdrehte, um sie aufzufangen, sah ich stillen Triumph in Poirots Augen glitzern.

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