Viertes Kapitel Poirot untersucht den Fall

Das Haus, in dem die Belgier im Dorf wohnten, lag ganz in der Nähe des Parktors. Man konnte den Weg dorthin abkürzen, indem man nicht die Auffahrt entlangging, sondern einem schmalen Pfad durch das hohe Gras folgte. Also ging ich dort entlang. Ich hatte das Pförtnerhaus fast erreicht, als ich einen Mann auf mich zulaufen sah. Es war Mr. Inglethorp. Wo war er gewesen? Welche Erklärung hatte er für seine Abwesenheit?

Aufgeregt sprach er mich an.

«Mein Gott! Das ist ja schrecklich! Meine arme Frau! Ich habe es eben erst erfahren.»

«Wo sind Sie gewesen?», fragte ich.

«Denby hat mich gestern lange aufgehalten. Es war schon ein Uhr, als wir fertig waren, und dann merkte ich, dass ich den Hausschlüssel vergessen hatte. Ich wollte nicht das ganze Haus aufwecken, deshalb habe ich bei Denby übernachtet.»

«Wie haben Sie die Neuigkeit erfahren?»

«Wilkins weckte Denby, um es ihm mitzuteilen. Meine arme Emily! Sie hat sich so aufgeopfert — so ein edler Mensch! Sie überschätzte ihre Kräfte.»

Eine Aufwallung von Ekel erfüllte mich. Was war dieser Mann doch für ein vollendeter Heuchler!

«Ich muss mich beeilen», sagte ich und war erleichtert, dass er mich nicht nach meinem Ziel fragte.

Wenige Minuten später klopfte ich an die Tür von Leastways Cottage.

Da niemand darauf reagierte, klopfte ich voller Ungeduld noch einmal. Über mir wurde vorsichtig ein Fenster geöffnet und Poirot höchstpersönlich schaute heraus.

Bei meinem Anblick entfuhr ihm ein Ausruf des Erstaunens. Mit wenigen kurzen Worten beschrieb ich ihm die Tragödie und bat um seine Hilfe.

«Warten Sie mein Freund, ich werde Sie hereinlassen und Sie erzählen mir alles, während ich mich ankleide.»

Schon nach wenigen Augenblicken hatte er die Tür entriegelt, und ich folgte ihm hinauf in sein Zimmer. Dort komplimentierte er mich in einen Sessel, und dann erzählte ich ihm die ganze Geschichte, hielt nichts zurück und vergaß keine auch noch so geringfügige Kleinigkeit, während er sorgfältig und bedächtig mit seiner Toilette beschäftigt war.

Ich berichtete, wie ich aufgewacht war, von Mrs. Inglethorps letzten Worten, von der Abwesenheit ihres Ehemannes, von der Unterhaltung zwischen Mary und ihrer Schwiegermutter, von der ich Satzfetzen aufgeschnappt hatte, von dem schon etwas zurückliegenden Streit zwischen Mrs. Inglethorp und Evie Howard und deren versteckten Anspielungen.

Leider drückte ich mich nicht so klar und präzise aus, wie ich es gern getan hätte. Ich wiederholte mich mehrere Male und musste manchmal eine ausgelassene Einzelheit nachtragen. Poirot lächelte freundlich.

«Die Gedanken sind verwirrt? Nicht wahr? Lassen Sie sich Zeit, mon ami. Sie sind erregt, Sie sind aufgebracht — das ist ganz natürlich. Wenn Sie sich beruhigt haben, werden wir die Tatsachen ordentlich sortieren und in die richtige Reihenfolge bringen. Wir werden sie prüfen und eliminieren. Die wichtigen Dinge suchen wir heraus, die unwichtigen — paff.», er verzog sein Gesicht und stieß auf eine drollige Art die Luft raus — «pusten wir einfach weg!»

«Das ist ja alles schön und gut», widersprach ich, «aber woher wollen Sie wissen, was wichtig ist und was nicht? Das erscheint mir sehr schwierig.»

Poirot schüttelte energisch den Kopf. Er zwirbelte nun mit großer Sorgfalt seinen Schnurrbart.

«Nicht doch. Voyyonsl Eine Tatsache führt zur nächsten — und so machen wir weiter. Passt die nächste dazu? Ja — merveilleuxl Gut! Wir können weitermachen. Dieser nächste kleine Fakt — nein! Ah, das ist aber seltsam! Da fehlt etwas — ein Glied der Kette fehlt. Wir überprüfen alles. Wir suchen es. Und dieses möglicherweise unbedeutende Detail, das einfach nicht dazu passen will, das tun wir hier hin!» Er machte eine überschwängliche Handbewegung. «Es ist wichtig! Es ist entscheidend!»

«Ah ja.»

«Ah!» Poirot fuchtelte mit dem Zeigefinger so heftig vor meiner Nase herum, dass ich zurückwich. «Achtung! Schande über den Detektiv, der sagt: Das führt zu Verwirrung! Alles ist wichtig.»

«Ich weiß. Das haben Sie schon immer gesagt. Deshalb habe ich ja auch alle Einzelheiten erzählt, ganz gleich, ob sie mir wichtig oder unwichtig erschienen.»

«Und ich bin mit Ihnen sehr zufrieden. Sie haben ein gutes Gedächtnis und Sie haben mir die Tatsachen wahrheitsgetreu berichtet. Über die Reihenfolge, in der Sie sie erzählten, schweige ich — die war wirklich mangelhaft. Aber ich will Ihnen zugute halten, dass Sie erschüttert sind. Diesem Umstand schreibe ich auch die Tatsache zu, dass Sie eine Sache von enormer Bedeutung ausgelassen haben.»

«Was wäre das?», fragte ich.

«Sie haben mir nicht gesagt, ob Mrs. Inglethorp gestern gut zu Abend gegessen hat.»

Ich starrte ihn an. Bestimmt hatte der Verstand des kleinen Mannes durch den Krieg gelitten. Er war gerade mit dem Abbürsten seines Jacketts beschäftigt und schien völlig in diese Tätigkeit versunken.

«Ich kann mich nicht mehr erinnern», sagte ich. «Außerdem sehe ich nicht, was.»

«Das sehen Sie nicht? Aber das ist außerordentlich wichtig.»

«Ich wüsste nicht, warum», sagte ich ziemlich pikiert. «Soweit ich mich erinnere, aß sie nicht viel. Sie war ganz offensichtlich aufgebracht und hatte deshalb keinen Appetit. Das war doch nur natürlich.»

«Ja», sagte Poirot nachdenklich, «das war nur natürlich.»

Er öffnete eine Schublade, nahm eine kleine Aktentasche heraus und drehte sich wieder zu mir um.

«Jetzt bin ich fertig. Wir werden zum chateau gehen und uns alles an Ort und Stelle ansehen. Entschuldigen Sie, mon ami, Sie haben sich in Eile angekleidet und Ihre Krawatte sitzt schief. Gestatten Sie.» Mit einer geschickten Bewegung rückte er sie gerade.

«Pay est! So, können wir?»

Wir eilten durch das Dorf und bogen beim Parktor ab. Poirot blieb einen Augenblick lang stehen und ließ seinen Blick traurig über den schönen Park schweifen, in dem noch der Morgentau funkelte.

«So herrlich, so schön, aber da gibt es die bedauernswerte Familie, in tiefe Trauer gestürzt, vom Kummer gebeugt.»

Er betrachtete mich während dieser Worte aufmerksam und ich merkte, wie ich unter diesem anhaltenden Blick rot wurde.

War die Familie vom Kummer gebeugt? War ihre Trauer über Mrs. Inglethorps Tod so tief? Da erst wurde mir bewusst, dass im Haus keine Trauer geherrscht hatte. Die Tote hatte nicht die Gabe besessen, bei anderen Liebe zu erwecken. Ihr Tod war ein Schock und ein Unglück, aber sie würde nicht leidenschaftlich betrauert werden.

Poirot schien meinen Gedanken gefolgt zu sein. Er nickte ernst.

«Nein, Sie haben Recht, es ist nicht so, als gäbe es da Blutsbande. Sie war freundlich und großzügig zu diesen Cavendishes, aber sie war nicht ihre richtige Mutter. Blutsbande sind verräterisch — denken Sie immer daran — Blutsbande sind verräterisch.»

«Poirot, ich wünschte, Sie würden mir sagen, warum Sie wissen wollten, ob Mrs. Inglethorp gestern Abend viel gegessen hat. Ich grübele und grübele, aber ich sehe keinen Zusammenhang mit dem, was passiert ist.»

Er schwieg, während wir weitergingen, und sagte schließlich: «Ich werde es Ihnen sagen, obwohl Sie ja wissen, dass es meine Gewohnheit ist, Erklärungen erst am Ende eines Falles abzugeben. Die momentane Streitfrage ist doch, ob Mrs. Inglethorp an einer Strychninvergiftung gestorben ist und dass ihr das Gift wahrscheinlich im Kaffee verabreicht wurde.»

«Ja?»

«Um wie viel Uhr wurde denn der Kaffee serviert?»

«So gegen acht.»

«Dann hat sie ihn also zwischen acht und halb neun getrunken — bestimmt nicht später. Aber Strychnin ist ein ziemlich schnell wirkendes Gift. Die Wirkung wäre rasch eingetreten, wahrscheinlich eine Stunde später. Doch bei Mrs. Inglethorp zeigten sich die Symptome erst um fünf Uhr am nächsten Morgen: neun Stunden später! Wenn sie nun zur selben Zeit mit dem Gift eine schwere Mahlzeit eingenommen hätte, wäre die Wirkung zwar verzögert worden, aber wohl kaum in diesem Ausmaß. Doch die Möglichkeit muss immerhin in Betracht gezogen werden. Nach Ihrer Beobachtung aß sie am Abend aber nur sehr wenig — und trotzdem zeigten sich die Symptome erst am nächsten Morgen! Das ist doch wirklich höchst sonderbar, mein Freund. Vielleicht kann die Autopsie ja eine Erklärung dafür liefern. In der Zwischenzeit werden wir es im Gedächtnis behalten.»

Als wir uns dem Haus näherten, kam John uns entgegen. Er sah müde und verhärmt aus.

«Das ist eine ganz schreckliche Angelegenheit, Monsieur Poirot. Hastings hat Ihnen bereits deutlich gemacht, dass wir in der Angelegenheit möglichst kein Aufsehen wollen?»

«Das verstehe ich völlig.»

«Sie sehen ja, bisher ist es nur ein Verdacht. Wir haben keinerlei Beweise.»

«Ich verstehe. Eine reine Vorsichtsmaßnahme.»

John wandte sich mir zu, holte ein Zigarettenetui hervor und zündete sich eine Zigarette an.

«Du weißt bereits, dass Inglethorp zurück ist?»

«Ja. Ich habe ihn getroffen.»

John schnippte das Streichholz auf das Blumenbeet neben uns. So etwas konnte Poirot nicht mit ansehen. Er hob es auf und verscharrte es sorgsam.

«Ich weiß überhaupt nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll.»

«Diese Unsicherheit wird bald zu Ende sein», kündigte Poirot an.

John sah verwirrt drein, er verstand nicht, was sich hinter diesen rätselhaften Worten verbarg. Er händigte mir die zwei Schlüssel aus, die Bauerstein ihm gegeben hatte.

«Zeig Monsieur Poirot alles, was er sehen will.»

«Sind die Zimmer abgeschlossen?», fragte Poirot.

«Dr. Bauerstein fand das ratsam.»

Poirot nickte nachdenklich.

«Dann ist er sich seiner Sache sehr sicher. Na, das vereinfacht die Dinge für uns.»

Wir gingen zusammen zu dem Zimmer, in dem sich die Tragödie abgespielt hatte. Zur allgemeinen Verständlichkeit füge ich einen Plan des Zimmers und seiner wichtigsten Möbelstücke bei.

Poirot schloss die Tür von innen ab und begann mit einer peinlich genauen Untersuchung. Er bewegte sich mit der Behändigkeit eines Grashüpfers von einem Gegenstand zum nächsten. Ich blieb bei der Tür stehen, da ich be-fürchtete, mögliche vorhandene Hinweise zu verwischen. Doch Poirot schien mir für meine Vorsicht nicht dankbar zu sein.

«Was haben Sie denn, mein Freund? Warum bleiben Sie da stehen wie ein — äh, wie sagt man? — ah ja, wie festgenagelt?»

Ich erklärte ihm, dass ich befürchtete, irgendwelche vorhandenen Fußspuren zu verwischen.

«Fußspuren? Was für ein Gedanke! Hier ist doch schon eine ganze Armee durchmarschiert! Welche Fußspuren könnte man da wohl noch finden? Nein, kommen Sie näher und helfen Sie mir bei meiner Suche. Ich stelle meine kleine Tasche jetzt ab, bis ich sie brauche.»

Er legte sie dann auf den runden Tisch am Fenster, aber das war unklug, denn die Platte lag nur lose auf und der Aktenkoffer fiel zu Boden.

«Et voila une table!», rief Poirot aus. «Ach, mein Freund, da lebt man nun in einem großen Haus und hat doch so wenig Komfort!»

Nach dieser tiefsinnigen Anmerkung setzte er seine Suche fort. Als Nächstes widmete er seine Aufmerksamkeit einem kleinen violetten Aktenkoffer, der mit dem Schlüssel im Schloss auf dem Schreibtisch stand. Er zog den Schlüssel aus dem Schloss und reichte ihn mir zur genaueren Inspektion. Ich konnte jedoch nichts Auffälliges daran feststellen. Es war ein ganz normaler Sicherheitsschlüssel, durch den ein Stückchen verbogener Draht gezogen war.

Danach untersuchte er den Rahmen der Tür, durch die wir eingedrungen waren, und vergewisserte sich, dass sie verriegelt gewesen war. Dann ging er zu der Tür gegenüber, die in Cynthias Zimmer führte. Diese Tür war auch verriegelt, wie ich bereits festgestellt hatte. Er machte sie jedoch mehrmals auf und zu und gab sich dabei größte Mühe, auch das noch so kleinste Geräusch zu vermeiden.

Plötzlich schien etwas am Riegel selbst seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Er untersuchte ihn sorgfältig, zog dann geschickt eine Pinzette aus seinem Köfferchen und holte damit einen winzigen Gegenstand hervor, den er sorgfältig in ein kleines Kuvert tat, das er zuklebte.

Auf der Kommode stand ein Tablett mit einem Spirituskocher und einem kleinen Topf, dessen Boden von einer dunklen Flüssigkeit bedeckt war. Daneben stand auf einer Untertasse eine leere Tasse, aus der getrunken worden war.

Ich wunderte mich, wie ich so unaufmerksam hatte sein können und das übersehen hatte. Das hier war ein wertvoller Hinweis. Poirot tauchte seinen Finger behutsam in die Flüssigkeit und kostete vorsichtig. Er zog eine Grimasse.

«Kakao — mit — Rum, denke ich.»

Er wandte sich nun dem Durcheinander auf dem Fußboden zu, wo der Tisch neben dem Bett umgestürzt war. Eine Leselampe, ein paar Bücher, Streichhölzer, ein Schlüsselbund und die Scherben einer Kaffeetasse lagen durcheinander.

«Ach, das ist aber merkwürdig», sagte Poirot.

«Ich muss gestehen, dass mir hier nichts besonders Merkwürdiges auffällt.»

«Nein? Schauen Sie doch nur die Lampe an — der Zylinder ist an zwei Stellen zerbrochen. Die Scheiben liegen so, wie sie gefallen sind. Aber sehen Sie dort, die Kaffeetasse ist in winzigste Scherben zerstampft.»

«Hm», sagte ich müde, «wahrscheinlich ist jemand draufgetreten.»

«Sehr richtig.» Poirots Stimme klang sonderbar. «Jemand ist draufgetreten.»

Dann erhob er sich von den Knien und ging langsam hinüber zum Kamin, wo er stehen blieb und geistesabwe-send die Nippesgegenstände gerade rückte — wie es seine Angewohnheit war, wenn er sich aufregte.

«Mon ami», er drehte sich zu mir um, «jemand trat auf die Tasse, zertrat sie fast zu Staub, und der Grund dafür war entweder die Tatsache, dass sie Strychnin enthielt oder — und das wäre viel schlimmer — weil sie kein Strychnin enthielt.»

Ich antwortete nicht. Ich war verwirrt, aber ich wusste, dass es keinen Zweck hatte, ihn um eine Erklärung zu bitten. Gleich darauf fuhr er mit seinen Untersuchungen fort. Er hob den Schlüsselbund vom Boden auf, ließ die Schlüssel durch seine Finger gleiten und wählte schließlich einen hell glänzenden aus, mit dem er das Schloss des violetten Aktenkoffers zu öffnen versuchte. Er passte und Poirot öffnete den Koffer, doch nach kurzem Zögern machte er ihn zu, verschloss ihn wieder und ließ den Schlüsselbund zusammen mit dem Schlüssel, der vorhin im Schloss gesteckt hatte, in seine Tasche gleiten.

«Ich bin nicht berechtigt, diese Papiere zu durchsuchen. Aber man sollte das unbedingt tun, und zwar gleich.»

Danach untersuchte er sorgfältig die Schubladen des Waschtischs. Als er zu dem linken Fenster ging, erregte ein runder dunkelbrauner, kaum sichtbarer Fleck sein besonderes Interesse. Er kniete sich nieder und untersuchte ihn eingehend — ja, er roch sogar daran.

Schließlich goss er ein paar Tropfen Kakao in ein Rea-genzröhrchen und verschloss es vorsichtig. Als Nächstes holte er sein kleines Notizbuch heraus.

«In diesem Zimmer haben wir sechs interessante Dinge gefunden», sagte er, während er eifrig schrieb. «Soll ich sie aufzählen oder wollen Sie das tun?»

«Oh, Sie», erwiderte ich rasch.

«Also gut. Erstens, eine Kaffeetasse wurde in winzig kleine Scherben zertreten, zweitens, ein Aktenkoffer mit einem Schlüssel im Schloss, drittens, ein Fleck auf dem Fußboden.»

«Der kann doch auch schon älter sein», warf ich ein.

«Nein, denn er ist noch feucht und riecht nach Kaffee. Viertens, ein kleiner grüner Stofffetzen — nur ein oder zwei Fäden, aber erkennbar.»

«Aha!», rief ich. «Das war es, was Sie in den Umschlag getan haben.»

«Ja. Es kann sich natürlich herausstellen, dass es sich dabei um Fädchen von Mrs. Inglethorps eigenen Kleidern handelt, dann ist das ganz bedeutungslos. Das werden wir sehen. Fünftens — dies hier!» Mit einer theatralischen Geste wies er auf den großen Wachsfleck auf dem Teppich vor dem Schreibtisch. «Der kann erst nach dem gestrigen Tag dorthin gekommen sein, denn ein gutes Stubenmädchen hätte ihn sofort mit Löschpapier und einem heißen Bügeleisen entfernt. Einer meiner besten Hüte war einmal — aber das gehört nicht zur Sache.»

«Höchstwahrscheinlich ist es gestern Abend (heute Morgen?) passiert. Wir waren alle sehr aufgeregt. Oder vielleicht hat Mrs. Inglethorp selbst ihre Kerze fallen lassen.»

«Sie haben nur eine Kerze in das Zimmer gebracht?»

«Ja. Lawrence Cavendish hielt sie in der Hand. Aber er war furchtbar durcheinander. Es war, als ob er hier etwas gesehen hätte» — ich zeigte auf das Kaminsims — «woraufhin er vor Schreck erstarrte.»

«Das ist interessant», sagte Poirot schnell. «Ja, das wäre gut möglich.» Sein Blick glitt über die gesamte Breite der Wand. «Aber dieser große Fleck stammt nicht von seiner Kerze, denn Sie sehen ja, das hier ist weißes Wachs, doch Monsieur Lawrence' Kerze, die immer noch auf dem Frisiertisch steht, ist rosa. Mrs. Inglethorp hatte aber keinen Leuchter im Zimmer, nur eine Leselampe.»

«Und was schließen Sie daraus?»

Doch darauf gab mein Freund nur die ärgerliche Antwort, dass ich doch meinen eigenen Verstand gebrauchen sollte.

«Und der sechste Punkt? Wahrscheinlich ist das der Rest Kakao.»

«Nein», sagte Poirot nachdenklich. «Ich hätte das in meinen sechsten Punkt mit einbeziehen können, aber ich habe das nicht getan. Nein, den sechsten Punkt werde ich vorläufig für mich behalten.»

Er sah sich im Zimmer rasch um. «Hier gibt es meiner Meinung nach nichts mehr zu tun, außer —» er betrachtete den Ascherest im Kamin lange mit ernstem Gesicht. «Das Feuer brennt — und es zerstört — aber vielleicht haben wir Glück — da könnte — schauen wir mal nach!»

Er ließ sich geschickt auf die Knie nieder und durchsuchte nun vorsichtig die Asche. Plötzlich stieß er einen leisen Schrei des Erstaunens aus.

«Die Pinzette, Hastings!»

Ich gab sie ihm rasch und geschickt fischte er ein kleines Stück halb verkohltes Papier heraus.

«Na bitte, mon ami. Was sagen Sie nun?»

Ich betrachtete den Papierfetzen.

Dies hier ist die exakte Wiedergabe: ment

Ich war verwirrt. Das Papier war ungewöhnlich dick, es war kein gewöhnliches Notizpapier. Plötzlich hatte ich eine Idee.

«Poirot!», rief ich. «Das ist ein Teil eines Testaments!»

«Sehr richtig.»

Ich sah ihn scharf an. «Sie sind nicht überrascht?»

«Nein», sagte er ernst. «Ich habe das erwartet.»

Ich gab ihm das Stückchen Papier zurück und sah zu, wie er es mit der ihm eigenen Sorgfalt in seine Tasche steckte. In meinem Kopf drehte sich alles. Was bedeutete diese Komplikation mit dem Testament? Wer hatte es verbrannt? Die Person, die auch die Wachsflecke auf den Boden gemacht hatte? Offensichtlich. Aber wie war sie hereingekommen? Alle Türen waren doch von innen verriegelt gewesen.

«Und jetzt, mein Freund», sagte Poirot energisch, «werden wir gehen. Ich möchte dem Stubenmädchen ein paar Fragen stellen — sie heißt Dorcas, nicht wahr?»

Wir betraten Alfred Inglethorps Zimmer, und Poirot ließ sich Zeit für eine ziemlich eingehende Untersuchung. Nachdem wir beide Türen wieder sorgfältig verschlossen hatten, führte ich ihn hinunter in das Boudoir, das er unbedingt sehen wollte, und machte mich dann auf die Suche nach Dorcas.

Als ich mit ihr zurückkam, war das Boudoir jedoch leer.

«Poirot!», rief ich. «Wo sind Sie?»

«Ich bin hier, mein Freund.»

Er war durch die Terrassentür nach draußen gegangen und schien ganz versunken in die Bewunderung verschieden geformter Blumenbeete.

«Bewundernswert!», murmelte er. «Bewundernswert! Was für eine Symmetrie! Sehen Sie nur diesen Halbmond, diese Rauten — solche vollkommenen Formen erfreuen das Auge. Auch die Anordnung der Pflanzen — einfach vollkommen. Das wurde erst vor kurzem angelegt, nicht wahr?»

«Ja, ich glaube, erst gestern Nachmittag. Aber kommen Sie doch herein — Dorcas ist da.»

«Eh bien, eh bien! Gönnen Sie meinen Augen einen Moment der Vollkommenheit.»

«Schon, aber diese Angelegenheit ist wichtiger.»

«Und woher wollen Sie wissen, dass diese Begonien nicht genauso wichtig sind?»

Ich zuckte mit den Achseln. Wenn er solche Argumente anführte, lohnte es sich nicht zu widersprechen.

«Sie sind nicht meiner Meinung? Aber die Möglichkeit besteht. Na gut, ich komme jetzt herein und stelle der guten Dorcas ein paar Fragen.»

Dorcas stand mit gefalteten Händen im Boudoir, die steifen grauen Locken unter der weißen Haube ordentlich frisiert. Sie sah aus wie der Inbegriff eines pflichtbewussten Dienstmädchens von anno dazumal.

Zunächst benahm sie sich Poirot gegenüber ziemlich misstrauisch, aber das hielt nicht lange an. Er rückte ihr einen Sessel zurecht.

«Bitte setzen Sie sich, Mademoiselle.»

«Danke schön, Sir.»

«Sie sind schon viele Jahre bei Mrs. Inglethorp, nicht wahr?»

«Zehn Jahre.»

«Das ist eine lange Zeit. Sie waren Mrs. Inglethorp sehr zugetan, nicht wahr?»

«Sie war immer sehr gut zu mir.»

«Dann haben Sie sicherlich nichts dagegen, mir ein paar Fragen zu beantworten. Mr. Cavendish hat mir dazu seine Erlaubnis gegeben.»

«Gern.»

«Dann möchte ich Sie als Erstes nach den Ereignissen von gestern Nachmittag befragen. Mrs. Inglethorp hatte sich gestritten?»

«Ja. Aber ich glaube, es wäre nicht richtig, wenn ich.» Dorcas hielt inne.

Poirot sah sie scharf an.

«Meine gute Dorcas, es ist absolut notwendig, dass ich jede Einzelheit dieses Streits erfahre. Haben Sie keine Angst, dass Sie Geheimnisse Ihrer Herrin verraten. Ihre Herrin ist tot und es ist wichtig, dass wir alles erfahren — um ihren Tod zu rächen. Nichts kann sie wieder lebendig machen, aber falls sie ermordet wurde, können wir wenigstens dafür sorgen, dass der Mörder bestraft wird.»

«Amen», stieß Dorcas hervor. «Ich will ja keine Namen nennen, aber es gibt in diesem Haus einen, den niemand ausstehen kann. Es war ein Unglückstag, als er zum ersten Mal den Fuß über diese Schwelle setzte.»

Poirot wartete, bis sich ihre Entrüstung etwas gelegt hatte, und fuhr dann in geschäftsmäßigem Ton fort: «Zurück zu diesem Streit. Wann haben Sie zuerst davon gehört?»

«Na ja, ich ging gestern gerade zufällig durch die Halle, als —»

«Um wieviel Uhr war das?»

«Das kann ich nicht genau sagen, aber bis zum Tee war es noch eine Weile hin. Vielleicht vier Uhr — oder etwas später. Wie ich schon sagte, ich kam also zufällig vorbei, als ich sehr laute und wütende Stimmen hier drinnen hörte. Ich wollte eigentlich gar nicht lauschen, aber dann. Ich blieb stehen. Die Tür war zu, aber Mrs. Inglethorp redete sehr laut und deutlich und ich konnte genau verstehen, was sie sagte. Dann konnte ich wieder nichts verstehen, aber danach redete sie weiter: Dann dachte ich, sie würden rauskommen, und deshalb bin ich schnell weggegangen.»

«Sie sind ganz sicher, dass Sie die Stimme von Mr. In-glethorp gehört haben?»

«Aber ja, wer hätte es denn sonst sein sollen?»

«Hm. Und was geschah dann?»

«Später kam ich zurück in die Halle, aber da war alles still. Um fünf läutete Mrs. Inglethorp und wollte, dass ich ihr eine Tasse Tee — aber nichts zu essen — in ihr Boudoir bringe. Sie sah schrecklich aus — ganz blass und aufgeregt — und sagte: , und ich sagte: Sie hielt etwas in der Hand. Ich weiß nicht, ob es ein Brief oder nur ein Zettel war, aber es war etwas darauf geschrieben, und sie starrte es dauernd an, als könnte sie nicht glauben, was da stand. Sie redete leise mit sich selbst, als ob sie mich vergessen hätte: Und dann sagte sie zu mir: Ich holte ihr schnell eine Tasse Tee, und sie bedankte sich bei mir und sagte, danach würde es ihr bestimmt wieder besser gehen. , sagte sie. In dem Augenblick kam Mrs. Cavendish herein, und sie sagte nichts mehr.»

«Hatte sie den Brief, oder was immer das war, noch in der Hand?»

«Ja.»

«Was hat sie damit wohl nachher gemacht?»

«Das weiß ich nicht, aber wahrscheinlich hat sie ihn in ihren violetten Aktenkoffer eingeschlossen.» «Hat sie darin immer alle wichtigen Papiere aufbewahrt?»

«Ja. Sie hat ihn jeden Morgen mit heruntergebracht und jeden Abend mit nach oben genommen.»

«Wann hat sie den Schlüssel dazu verloren?»

«Sie vermisste ihn gestern während des Mittagessens und trug mir auf, ich sollte sorgfältig danach suchen. Sie hat sich deshalb sehr aufgeregt.»

«Aber sie besaß einen Ersatzschlüssel?»

«Oh ja, Sir.»

Dorcas sah Poirot sehr aufmerksam an und, ehrlich gesagt, ich auch. Was sollte das alles mit dem verlorenen Schlüssel? Poirot lächelte.

«Lassen Sie nur, Dorcas, es gehört zu meinem Beruf, dass ich bestimmte Dinge weiß. Ist das der verlorene Schlüssel?» Damit zog er aus seiner Tasche den Schlüssel, den er oben im Schloss des Aktenkoffers gefunden hatte.

Dorcas wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen.

«Stimmt, Sir, ganz genau. Aber wo haben Sie ihn gefunden? Ich habe überall danach gesucht.»

«Ah, aber er war gestern sicherlich nicht da, wo er heute war. Lassen Sie uns nun kurz zu einem anderen Thema kommen. Besaß Mrs. Inglethorp ein dunkelgrünes Kleid?»

Dorcas war durch die unerwartete Frage sichtlich aus der Fassung gebracht.

«Nein, Sir.»

«Sind Sie sich ganz sicher?»

«Aber ja, Sir.»

«Besitzt sonst jemand im Haus ein grünes Abendkleid?»

Dorcas überlegte. «Miss Cynthia hat ein grünes Abendkleid.»

«Hell- oder dunkelgrün?»

«Hellgrün, es ist aus — ich glaube, man nennt das Chiffon.»

«Schade, das suche ich nicht. Und niemand sonst hat ein grünes Kleidungsstück?»

«Nein, Sir, nicht dass ich wüsste.»

Poirots Gesicht verriet mit keiner Regung, ob er enttäuscht war oder nicht. Er sagte nur: «Gut, lassen wir das und machen wir weiter. Haben Sie irgendeinen Grund zu der Annahme, dass Mrs. Inglethorp gestern Abend ein Schlafmittel genommen hat?»

«Nicht gestern Abend, Sir, da hat sie bestimmt keins genommen, das weiß ich.»

«Weshalb sind Sie sich da so sicher?»

«Weil die Schachtel leer war. Sie nahm das letzte Pulver vor zwei Tagen und sie hat kein neues gekauft.»

«Sind Sie sich da ganz sicher?»

«Aber ja, Sir.»

«Dann wäre das geklärt. Übrigens, hat Mrs. Inglethorp Sie gestern vielleicht irgendwas unterschreiben lassen?»

«Unterschreiben? Nein, Sir.»

«Als Mr. Hastings und Mr. Lawrence gestern Abend nach Hause kamen, trafen sie Mrs. Inglethorp beim Briefeschreiben an. Wahrscheinlich haben Sie keine Idee, an wen diese Briefe gerichtet waren?»

«Leider nein, Sir. Ich war gestern Abend weg. Vielleicht kann Annie es Ihnen sagen, aber sie ist nicht besonders aufmerksam. Sie hat gestern Abend nicht einmal die Kaffeetassen abgeräumt. Wenn ich mich nicht um alles kümmere, geht es hier drunter und drüber.»

Poirot hob die Hand.

«Wenn die Tassen bisher nicht abgeräumt wurden, können sie auch noch ein bisschen länger da rumstehen, Dorcas. Ich möchte sie gern untersuchen.»

«Sehr wohl, Sir.»

«Wann sind Sie denn gestern Abend weggegangen?»

«Gegen sechs, Sir.»

«Danke sehr, Dorcas, das wäre alles, was ich Sie fragen wollte.» Poirot erhob sich und schlenderte zum Fenster. «Ich habe die Blumenbeete vorhin bewundert. Ach, übrigens, wie viele Gärtner arbeiten eigentlich hier?»

«Jetzt nur noch drei. Vor dem Krieg hatten wir fünf, als alles hier noch so in Stand gehalten wurde, wie es sich für so einen vornehmen Landsitz gehört. Ich wünschte nur, Sie hätten es damals sehen können. Das war ein schöner Anblick. Aber jetzt gibt es nur noch den alten Manning und den jungen William und eine neumodische Gärtnerin, die Hosen trägt. Ach, wir leben in furchtbaren Zeiten!»

«Die guten Zeiten werden wiederkehren, Dorcas, wenigstens hoffen wir das. Wären Sie jetzt so freundlich und schicken Annie herein?»

«Ja, Sir, selbstverständlich.»

«Woher wussten Sie, dass Mrs. Inglethorp ein Schlafmittel nahm?», fragte ich neugierig, nachdem Dorcas das Zimmer verlassen hatte. «Und was hat es mit dem verlorenen Schlüssel und dem Zweitschlüssel auf sich?»

«Eins nach dem andern. Das mit dem Schlafmittel wusste ich hierdurch.» Er zog plötzlich eine kleine Schachtel hervor, wie sie in Apotheken verkauft wird.

«Wo haben Sie die gefunden?»

«In der Waschtischschublade in Mrs. Inglethorps Schlafzimmer. Das war die Nummer sechs in meiner Aufzählung.» «Aber wenn sie vor zwei Tagen das letzte Schlafmittel nahm, hat das doch keine große Bedeutung, oder?»

«Wahrscheinlich nicht, aber fällt Ihnen an dieser Schachtel nichts auf?»

Ich betrachtete sie aufmerksam von allen Seiten. «Nein, eigentlich nicht.»

«Sehen Sie sich mal das Etikett an.»

Ich las aufmerksam, was darauf stand: «Mrs. Inglethorp. Falls erforderlich, ein Pulver vor dem Einschlafen. — Nein, mir fällt nichts auf.»

«Und dass der Name der Apotheke nicht darauf steht?»

«Stimmt, das ist sehr merkwürdig!»

«Haben Sie schon jemals einen Apotheker eine Schachtel verkaufen sehen, auf der nicht der Name der Apotheke stand?»

«Nicht, dass ich mich erinnern könnte.»

Ich war ganz aufgeregt, aber Poirot dämpfte meinen Eifer mit der Bemerkung: «Doch die Erklärung ist ganz einfach, mein Freund. Zerbrechen Sie sich nicht weiter den Kopf.»

Draußen hörte man Schritte, die Annies Kommen ankündigten, deshalb blieb mir keine Zeit mehr für eine Antwort.

Annie war ein hübsches dralles Mädchen und offensichtlich sehr aufgeregt, gleichzeitig schien sie die Tragödie aber auf eine makabere Art zu genießen.

Poirot kam sofort zur Sache.

«Ich habe Sie hergebeten, Annie, weil ich hoffte, Sie könnten mir etwas zu den Briefen sagen, die Mrs. Inglethorp gestern Abend geschrieben hat. Wie viele waren es? Können Sie mir die Namen und Adressen sagen?»

Annie überlegte.

«Es waren vier Briefe, Sir. Einer war an Miss Howard und einer war an Mr. Wells, den Rechtsanwalt, und an die anderen zwei kann ich mich nicht mehr erinnern, Sir — oh, doch, einer war an das Lebensmittelgeschäft Ross in Tadminster. Den Letzten weiß ich nicht mehr.»

«Denken Sie nach», drängte Poirot.

Annie zerbrach sich den Kopf, aber vergeblich.

«Es tut mir Leid, Sir, ich hab es total vergessen. Ich glaube, ich habe diese Adresse auch gar nicht genau sehen können.»

Poirot ließ sich keine Enttäuschung anmerken. «Das macht nichts. Jetzt möchte ich Sie noch etwas anderes fragen. In Mrs. Inglethorps Zimmer steht ein Topf mit Kakao. Hat sie jeden Abend welchen getrunken?»

«Ja, Sir, der wurde ihr jeden Abend aufs Zimmer gebracht und sie hat ihn sich dann warm gemacht — wenn sie Appetit darauf bekam.»

«Was war es genau? Einfach nur Kakao?»

«Ja, Sir, mit Milch, einem Teelöffel Zucker und zwei Teelöffeln Rum.»

«Wer brachte ihr den nach oben?»

«Ich, Sir.»

«Immer?»

«Ja, Sir.»

«Um wieviel Uhr?»

«Immer wenn ich die Gardinen zuzog, Sir.»

«Haben Sie ihn immer direkt von der Küche hochgebracht?»

«Nein, Sir. Wissen Sie, auf dem Herd ist nicht viel Platz, deshalb machte die Köchin den Kakao schon früher fertig, bevor sie das Gemüse für das Abendessen aufsetzte. Danach brachte ich ihn immer hoch und stellte ihn auf den Tisch neben der Schwingtür, und später brachte ich ihn dann in ihr Zimmer.»

«Die Schwingtür ist im linken Flügel, ja?»

«Ja, Sir.»

«Und der Tisch — steht der auf dieser Seite von der Tür oder auf der anderen, der Dienstbotenseite?»

«Auf dieser Seite, Sir.»

«Um wieviel Uhr haben Sie den Kakao gestern hochgebracht?»

«Ungefähr um Viertel nach sieben, glaube ich.»

«Und wann haben Sie ihn in Mrs. Inglethorps Zimmer gebracht?»

«Als ich hochging, um die Fenster zu schließen, Sir. Da war es so acht Uhr. Mrs. Inglethorp kam hoch, während ich noch damit zugange war.»

«Dann stand also der Kakao zwischen sieben Uhr fünfzehn und acht Uhr auf dem Tisch im linken Flügel?»

«Ja, Sir.» Annies Gesicht war immer röter geworden und jetzt platzte sie heraus: «Und wenn da Salz drin war, dann war das nicht meine Schuld. Ich habe nie Salz mit hochgenommen.»

«Wie kommen Sie darauf, dass Salz darin war?», fragte Poirot.

«Ich habe es auf dem Tablett gesehen, Sir.»

«Sie haben auf dem Tablett Salz gesehen?»

«Ja, es sah aus wie grobes Küchensalz. Als ich das Tablett hochbrachte, hab ich es nicht gesehen, aber als ich dann später das Tablett in Mrs. Inglethorps Schlafzimmer bringen wollte, hab ich es gleich bemerkt. Wahrscheinlich hätte ich das Tablett mit runternehmen und die Köchin bitten sollen, neuen Kakao zu kochen. Aber ich war in Eile, denn Dorcas war nicht da, und ich dachte, der Kakao selbst wäre in Ordnung, und irgendwer hätte Salz auf dem Tablett verschüttet. Deshalb wischte ich es mit meiner Schürze weg und brachte das Tablett hinein.»

Ich konnte mich nur noch mit allergrößter Mühe beherrschen. Ohne es zu wissen, hatte Annie uns ein wichtiges Beweisstück geliefert. Wie hätte sie erst die Augen aufgerissen, wenn sie gewusst hätte, dass ihr «grobes Küchensalz» Strychnin war — eins der wirkungsvollsten Gifte, die es überhaupt gibt. Ich bewunderte Poirot für seine Ruhe. Seine Selbstbeherrschung war einfach erstaunlich. Ungeduldig wartete ich auf seine nächste Frage, aber die enttäuschte mich.

«Als Sie in Mrs. Inglethorps Zimmer gingen, war da die Tür zu Miss Cynthias Zimmer verriegelt?»

«Oh ja, Sir, immer. Sie wurde nie geöffnet.»

«Und die Tür zum Zimmer von Mr. Inglethorp? Haben Sie gesehen, ob sie ebenfalls verriegelt war?»

Annie zögerte.

«Das kann ich nicht genau sagen, Sir. Die Tür war geschlossen, aber ich kann nicht sagen, ob sie verriegelt war oder nicht.»

«Hat Mrs. Inglethorp die Tür hinter Ihnen verriegelt, als Sie dann aus dem Zimmer gingen?»

«Nein, Sir, da noch nicht, aber wahrscheinlich hat sie es später getan. Sie hat nachts eigentlich immer abgeschlossen. Jedenfalls immer die Tür zum Flur.»

«Als Sie gestern das Zimmer sauber gemacht haben, war da irgendwo Kerzenwachs auf dem Fußboden?»

«Wachs? Bestimmt nicht, Sir. Mrs. Inglethorp hatte keine Kerze, nur eine Leselampe.»

«Wenn also ein großer Wachsfleck auf dem Teppich gewesen wäre, wäre der Ihnen aufgefallen?»

«Ja, Sir, und ich hätte ihn mit einem Löschblatt und einem Bügeleisen rausgemacht.»

Anschließend wiederholte Poirot die Frage, die er auch schon Dorcas gestellt hatte: «Besaß Mrs. Inglethorp jemals ein grünes Kleid?»

«Nein, Sir.»

«Oder einen grünen Umhang, ein Cape oder vielleicht — wie heißt das noch mal? — einen Regenmantel?»

«Nicht in Grün.»

«Oder sonst jemand im Haus?»

Annie überlegte. «Nein, Sir.»

«Sie sind sich da ganz sicher?»

«Doch, ja.»

«Bien! Das ist alles, was ich wissen wollte. Ich bedanke mich vielmals.»

Mit einem aufgeregten Kichern verließ Annie das Zimmer. Meine aufgestaute Erregung brach sich nun Bahn.

«Poirot!», rief ich, «ich beglückwünsche Sie! Das ist ja eine tolle Entdeckung.»

«Was ist eine tolle Entdeckung?»

«Na, dass der Kakao vergiftet war und nicht der Kaffee. Das erklärt doch alles! Natürlich konnte dann die Wirkung erst am frühen Morgen eintreten, da der Kakao ja erst in der Nacht getrunken wurde.»

«Sie glauben also, dass der Kakao — achten Sie gut auf das, was ich sage, Hastings, der Kakao — das Strychnin enthielt?»

«Natürlich! Was sollte denn dieses Salz auf dem Tablett anderes gewesen sein?»

«Es könnte Salz gewesen sein», erwiderte Poirot gelassen.

Ich zuckte die Achseln. Wenn er die Sache so anging, dann hatte es keinen Sinn, mit ihm zu diskutieren. Nicht zum ersten Mal überlegte ich kurz, dass der arme alte Poirot langsam alt wurde.

Poirot beobachtete mich und hatte dabei ein kaum merkliches Funkeln in den Augen.

«Sie sind mit mir nicht zufrieden, mon ami?»

«Mein lieber Poirot», sagte ich kühl, «es steht mir nicht zu, Ihnen Ratschläge zu erteilen. Sie haben ein Recht auf Ihre Meinung, genau wie ich auf meine.»

«Eine höchst bewundernswerte Einstellung», bemerkte Poirot, während er rasch aufstand. «Ich bin jetzt mit diesem Zimmer fertig. Ach, übrigens — wem gehört der kleine Tisch dort in der Ecke?»

«Mr. Inglethorp.»

«Ach so.» Er versuchte vorsichtig, den Rolldeckel hochzuschieben. «Abgeschlossen. Aber vielleicht lässt er sich mit einem von Mrs. Inglethorps Schlüsseln öffnen.» Er probierte mehrere Schlüssel aus, stocherte und drehte sie hin und her und stieß schließlich befriedigt aus: «Voilä! Der Schlüssel stimmt zwar nicht, aber mit ein bisschen Nachhilfe klappt es doch.» Er ließ den Rollladen zurückgleiten und warf einen raschen Blick auf die ordentlich abgelegten Papiere. Zu meiner Überraschung untersuchte er sie nicht genauer, sondern verschloss den Schreibtisch wieder und bemerkte: «Dieser Mr. Inglethorp ist wirklich ein ordnungsliebender Mann!»

In Poirots Beurteilung war «ordnungsliebend» das höchste Lob, das einem Menschen zuteil werden konnte.

Als mein Freund dann zusammenhanglos weiterplapperte, dachte ich, dass er sich doch sehr verändert hatte.

«Es gab keine Briefmarken in seinem Schreibtisch, aber es könnten ja welche da gewesen sein, was, mon ami? Es könnten doch welche da gewesen sein? Ja», — sein Blick wanderte im Zimmer umher —, «dieses Boudoir kann uns nichts mehr verraten. Da war nicht viel zu holen. Nur das hier.»

Er zog einen zerknitterten Briefumschlag aus einer seiner Taschen und warf ihn mir zu. Es handelte sich um ein seltsames Dokument. Ein einfacher, schmuddeliger, alter Umschlag, auf den anscheinend willkürlich ein paar Worte gekritzelt waren: besessen ich bin beseßen Er ist bessessen ich habe besessen beseßen

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