Dreizehntes Kapitel Poirot erklärt

«Poirot, Sie alter Schuft», sagte ich. «Ich würde Sie ganz gern erwürgen! Wie konnten Sie mich so täuschen?»

Wir saßen in der Bibliothek. Hinter uns lagen hektische Tage. Im Zimmer unter uns waren John und Mary wieder vereint, während Alfred Inglethorp und Evelyn Howard im Gefängnis saßen.

Poirot antwortete erst nach einem Zögern:

«Ich habe Sie nicht getäuscht, mon ami. Ich habe Ihnen höchstens gestattet, sich selbst zu täuschen.»

«Ja, aber warum?»

«Oh, das lässt sich nur schwer erklären. Sehen Sie, mein Freund, Sie sind von Natur aus ehrlich und in Ihrem Verhalten so durchschaubar — enfin, Sie können Ihre Gefühle einfach nicht verbergen! Hätte ich Ihnen von meinem Verdacht erzählt, dann hätte Ihr Verhalten beim Anblick von Mr. Alfred Inglethorp diesem aufmerksamen Herrn gezeigt, dass da jemand Lunte gerochen hatte. Und dann adieu zu unseren Chancen, ihn zu überführen!»

«Ich finde, ich bin diplomatischer, als Sie mir zutrauen.»

«Mein Freund», bat Poirot, «ich bitte Sie inständigst, beruhigen Sie sich! Ihre Hilfe war höchst wertvoll. Es liegt nur an Ihrem offenherzigen, ehrlichen Charakter, dass ich mich zurückhielt.»

«Na ja», knurrte ich etwas besänftigt, «ich finde aber immer noch, Sie hätten mir einen Hinweis geben können.»

«Aber das habe ich doch, mein Freund. Sogar mehrere Hinweise. Sie wollten aber nicht zuhören. Denken Sie einmal nach, habe ich jemals zu Ihnen gesagt, dass ich John für schuldig hielt? Sagte ich Ihnen nicht ganz im Gegenteil, dass er bestimmt freigesprochen würde?»

«Ja, aber.»

«Und sagte ich nicht direkt danach, dass es sehr schwierig wäre, den Mörder zu überführen? War Ihnen denn da nicht klar, dass ich von zwei völlig verschiedenen Personen sprach?»

«Nein, das war mir nicht klar!»

Poirot fuhr fort: «Habe ich Ihnen nicht gleich zu Anfang mehrere Male gesagt, ich wollte nicht, dass Mr. In-glethorp jetzt verhaftet werden sollte? Das hätte Ihnen doch etwas sagen müssen.»

«Wollen Sie damit sagen, dass Sie ihn schon so lange im Verdacht hatten?»

«Ja. Denn es stand fest, dass er vom Tod seiner Frau am meisten profitieren würde. Das war völlig klar. Als ich am ersten Tag mit Ihnen nach Styles ging, wusste ich noch nicht, wie das Verbrechen durchgeführt worden war, aber nach dem, was ich über Mr. Inglethorp erfahren hatte, dachte ich mir schon, dass es sehr schwer werden würde, ihm etwas nachzuweisen. Als ich in Styles ankam, war mir sofort klar, dass Mrs. Inglethorp das Testament selbst verbrannt hatte. Und genau da dürften Sie sich eigentlich nicht beschweren, denn ich gab mir große Mühe, um Sie auf die Bedeutung eines Kaminfeuers im Hochsommer hinzuweisen.»

«Ja, ja», sagte ich ungeduldig. «Machen Sie weiter.»

«Was die Schuld von Mr. Inglethorp betraf, so wurde meine Überzeugung zunächst sehr erschüttert. Denn es gab so viele Beweise gegen ihn, dass ich zu dem Glauben neigte, er hätte es nicht getan.»

«Wann haben Sie Ihre Meinung geändert?»

«Als ich merkte, dass er sich immer mehr anstrengte, verhaftet zu werden, je mehr ich mich bemühte, ihn zu entlasten. Als ich dann herausbekam, dass nicht Mr. In-glethorp mit Mrs. Raikes zu tun hatte, sondern dass dies eher John Cavendishs Sache war, da war ich mir ganz sicher.»

«Aber warum?»

«Ganz einfach. Wenn Mr. Inglethorp ein Verhältnis mit Mrs. Raikes gehabt hätte, wäre sein Schweigen völlig verständlich gewesen. Aber als ich dann herausbekam, dass das ganze Dorf von der Liebelei zwischen John und der hübschen Bäuerin wusste, musste ich Mr. Inglethorps Schweigen ganz anders interpretieren. Es war nämlich Unsinn, dass er Angst vor einem Skandal hatte, da ihm kein Skandal angehängt werden konnte. Das gab mir furchtbar zu denken und ich kam langsam zu der Überzeugung, dass Alfred Inglethorp verhaftet werden wollte. Eh bien! Von diesem Augenblick an war ich ebenso entschlossen, dass er nicht verhaftet werden sollte.»

«Einen Augenblick, bitte. Ich begreife nicht, warum er verhaftet werden wollte.»

«Weil es in Ihrem Land, mein Freund, von Gesetzes wegen so ist, dass jemand, der einmal freigesprochen wurde, für dieses Verbrechens nie wieder angeklagt werden kann. Ah! Das war sehr schlau gedacht! Ganz gewiss ist er ein sehr methodischer Mensch. Wissen Sie, er wusste, dass er als Ehemann unter Verdacht geraten musste, deshalb kam er auf den ausgesprochen schlauen Einfall, eine Menge Beweise gegen sich selbst zu fabrizieren. Er wollte unter Verdacht geraten. Er wollte verhaftet wer-den. Dann würde er sein lückenloses Alibi vorlegen — und ab sofort war er für den Rest seines Lebens sicher!»

«Aber ich begreife immer noch nicht, wie er einerseits ein Alibi hatte und andererseits zur Apotheke gehen konnte.»

Poirot sah mich überrascht an.

«Ist das denn die Möglichkeit? Mein armer Freund! Haben Sie immer noch nicht begriffen, dass es Miss Howard war, die zur Apotheke ging?»

«Miss Howard?»

«Aber gewiss. Wer denn sonst? Es war für sie kinderleicht. Sie ist ziemlich groß, hat eine tiefe Stimme, und zu allem Überfluss sind sie und Inglethorp ja auch noch verwandt miteinander, und sie sind sich etwas ähnlich, besonders in Haltung und Gang. Es war so einfach. Sie sind ein schlaues Pärchen!»

«Mir ist immer noch nicht so ganz klar, wie die Sache mit dem Brom vor sich ging», bemerkte ich.

«Bon! Ich werde es für Sie, so gut ich kann, rekonstruieren. Ich denke, dass Miss Howard diejenige war, die den ganzen Plan ausgeheckt hat. Erinnern Sie sich, wie sie einmal erwähnte, dass ihr Vater Arzt war? Vermutlich half sie ihm bei der Herstellung der Arzneien. Oder sie kam auf die Idee durch eines der vielen Bücher, die Ma-demoiselle Cynthia während ihrer Prüfung herumliegen ließ. Jedenfalls wusste sie, dass die Beifügung von Brom zu einer strychninhaltigen Mischung dazu führt, dass das Strychnin sich kristallisiert und setzt. Wahrscheinlich kam sie ganz plötzlich auf die Idee. Mrs. Inglethorp hatte eine Schachtel mit Schlafpulvern, von denen sie ab und zu mal eines nahm. Was konnte leichter sein, als heimlich eins oder mehrere dieser Pulver in Mrs. Inglethorps große Medizinflasche zu schütten, wenn sie frisch aus der Apotheke kam? Das Risiko war praktisch null. Der Mord wird ja erst etwa zwei Wochen später stattfinden. Falls irgend-jemand einen der beiden mit der Medizinflasche hantieren gesehen hatte, ist das bis dann längst vergessen. Miss Howard hatte genug Zeit, ihren Streit vom Zaun zu brechen und abzureisen. Ihre Abwesenheit vor dem Verbrechen und während der Tat würde sie außerhalb jeden Verdachts stellen. Ja, es war wirklich ein schlauer Plan! Wenn sie es so gemacht hätten, hätte man es ihnen vielleicht nie nachweisen können. Aber sie waren damit nicht zufrieden. Sie wollten zu klug sein — und das war ihr Ende.»

Poirot zog an seiner winzigen Zigarette und richtete die Augen an die Zimmerdecke.

«Sie heckten einen Plan aus, wie sie mit dem Kauf von Strychnin in der Dorfapotheke und einer gefälschten Unterschrift den Verdacht auf John Cavendish lenken konnten.

Am Montagabend würde Mrs. Inglethorp die letzte Dosis ihrer Medizin nehmen. Deshalb richtet Alfred Inglethorp es so ein, dass er um sechs Uhr von einer Anzahl von Leuten weit weg vom Dorf gesehen wird. Miss Howard hat zuvor Schauergeschichten über ihn und Mrs. Raikes erzählt, um sein anschließendes Schweigen zu begründen. Um sechs Uhr geht Miss Howard als Alfred Inglethorp verkleidet in die Apotheke, erzählt die Geschichte von dem Hund, bekommt Strychnin und unterschreibt mit Alfred Inglethorp, aber in Johns Handschrift, die sie vorher sorgfältig geübt hatte.

Aber da das alles nichts bewirkt, falls John ebenfalls ein Alibi vorlegen kann, schreibt sie ihm den anonymen Brief — immer noch in seiner Handschrift —, der ihn zu einem entlegenen Ort führt, wo es äußerst unwahrscheinlich ist, dass er jemandem begegnet.

So weit geht alles gut. Miss Howard fährt zurück nach Middlingham. Alfred Inglethorp kommt nach Styles zurück. Es gibt nichts, was ihn irgendwie verraten könnte, denn Miss Howard hat das Strychnin, das sie ja eigentlich nur brauchte, um den Verdacht auf John Cavendish zu lenken.

Aber jetzt gibt es eine Panne. Mrs. Inglethorp nimmt an diesem Abend ihre Medizin nicht ein. Die zerschnittene Klingelschnur, Cynthias Abwesenheit — von Inglethorp durch seine Frau arrangiert — alles umsonst. Und dann macht er seinen Patzer.

Mrs. Inglethorp ist weggefahren, und er schreibt seiner Komplizin, weil er befürchtet, dass sie durch die vorläufige Erfolglosigkeit ihres Plans in Panik gerät. Wahrscheinlich kehrt Mrs. Inglethorp früher als erwartet zurück und ertappt ihn beim Schreiben. Etwas nervös klappt er seinen Sekretär zu und schließt ihn ab. Wenn er im Zimmer bleibt, könnte es passieren, dass er ihn wieder aufmachen muss und dass Mrs. Inglethorp den Brief sieht, bevor er ihn verschwinden lassen kann. Deshalb verlässt er das Haus und spaziert durch den Wald, ohne die leiseste Ahnung, dass Mrs. Inglethorp seinen Sekretär aufschließen und das verräterische Dokument entdecken wird.

Aber wie wir wissen, ist genau das geschehen. Mrs. In-glethorp liest den Brief, und ihr wird der Betrug von ihrem Mann und Evelyn Howard klar, obwohl die Erwähnung des Broms leider kein Warnsignal für sie ist. Sie weiß, dass sie in Gefahr schwebt — aber sie weiß nicht, wie die aussieht. Sie beschließt, ihrem Mann nichts zu sagen, aber sie schreibt an ihren Rechtsanwalt und bittet ihn, am nächsten Tag zu kommen. Sie entschließt sich außerdem, umgehend das Testament zu vernichten, das sie gerade gemacht hat. Sie behält den fatalen Brief.»

«Hat ihr Mann das Schloss des Aktenkoffers aufgebrochen, um den Brief wiederzubekommen?»

«Ja, und an dem damit verbundenen enormen Risiko können wir sehen, wie wichtig ihm der war. Der Brief war das Einzige, was ihn mit dem Verbrechen in Verbindung bringen konnte.»

«Aber eines begreife ich nicht. Warum hat er ihn nicht vernichtet, als er ihn dann hatte?»

«Weil er das größte Risiko nicht eingehen wollte — den Brief mit sich herumzutragen.»

«Das verstehe ich nicht.»

«Betrachten Sie es einmal von seiner Warte. Ich habe herausgefunden, dass ihm für das Aufbrechen des Koffers und das Auffinden des Briefes nur fünf kurze Minuten zur Verfügung standen — genau die fünf Minuten, bevor wir dort erschienen, denn vorher putzte Annie die Treppe und hätte jeden gesehen, der in den rechten Flügel ging. Stellen Sie sich die Szene doch einmal vor! Er betritt das Zimmer, die Tür hat er mit einem der anderen Zimmerschlüssel öffnen können, da sie alle ähnlich sind. Er eilt zu dem Köfferchen — es ist abgeschlossen und die Schlüssel sind nirgendwo zu sehen. Das ist für ihn ein schwerer Schlag, denn das bedeutet, dass er seine Anwesenheit in dem Zimmer nicht mehr verheimlichen kann, wie er gehofft hatte. Aber er erkennt ganz klar, dass er alles riskieren muss, um dieses gefährliche Beweisstück in seine Hand zu bekommen. Also bricht er das Schloss schnell mit seinem Taschenmesser auf und wühlt in den Papieren, bis er das Gesuchte findet.

Aber jetzt erhebt sich ein neues Dilemma. Er wagt nicht, das Papier einzustecken. Wenn ihn jemand beim Verlassen des Zimmers beobachtet, ist er geliefert. Wahrscheinlich hört er auch genau in diesem Moment, dass Mr. Wells und John unten das Boudoir verlassen. Er muss schnell handeln. Wo kann er dieses schreckliche Blatt Papier verstecken? Der Inhalt der Papierkörbe wird aufbewahrt und würde ohnehin bestimmt durchsucht werden. Er kann es nicht verbrennen, und er wagt nicht, es zu behalten. Er blickt sich um und sieht — na, was wohl, mon ami?»

Ich schüttelte den Kopf.

«In Sekundenschnelle hat er den Brief in lange schmale Streifen zerrissen, rollt sie zusammen zu einem Fidibus und steckt sie zu den anderen Fidibussen in die Vase auf dem Kaminsims.»

«Oh!»

«Keiner wird dort suchen», fuhr Poirot fort. «Und er kann dann in aller Ruhe bei Gelegenheit zurückkommen und dieses einzige Beweisstück gegen sich vernichten.»

«Also war der Brief die ganze Zeit bei den Fidibussen in der Vase in Mrs. Inglethorps Schlafzimmer — direkt vor unserer Nase?»

Poirot nickte.

«Ja, mein Freund. Dort habe ich das fehlende Glied entdeckt, und diese Entdeckung verdanke ich Ihnen!»

«Mir?»

«Ja. Erinnern Sie sich, wie Sie mir erzählten, dass meine Hand zitterte, als ich die Nippes auf dem Sims zurechtrückte?»

«Ja, aber ich begreife nicht.»

«Nein, aber ich habe es sofort begriffen! Sie müssen wissen, mein Freund, dass ich schon beim ersten Mal, als wir in dem Zimmer waren, alle Gegenstände auf dem Sims gerade gerückt hatte. Und da ich das gemacht hatte, hätte es eigentlich keiner erneuten Korrektur bedurft, wenn nicht in der Zwischenzeit jemand sie wieder verrückt hatte.»

«Lieber Himmel», murmelte ich, «das ist also die Erklärung für Ihr seltsames Verhalten. Sie fuhren in aller Eile nach Styles und fanden das Gesuchte dort?»

«Ja, und es war ein Rennen gegen die Zeit.»

«Ich begreife aber immer noch nicht, wie Inglethorp so dumm sein konnte, den Brief dort zu lassen, wenn er doch so viele Möglichkeiten hatte, den Brief zu vernichten.»

«Aber er hatte doch gar keine Gelegenheit. Dafür hatte ich gesorgt.»

«Sie?»

«Ja. Wissen Sie noch, wie Sie mir Vorwürfe machten, weil ich alle Bewohner des Hauses ins Vertrauen gezogen hatte?»

«Ja.»

«Aber genau darin sah ich meine einzige Chance. Damals war ich mir noch nicht sicher, ob Inglethorp der Mörder war oder nicht, aber falls er es war, vermutete ich, dass er den Brief nicht mit sich herumtrug, sondern ihn irgendwo versteckt hatte. Als ich mich dann der Mithilfe des gesamten Haushalts versichert hatte, konnte ich ihn auf jeden Fall daran hindern, den Brief zu vernichten. Er stand bereits unter Verdacht, und indem ich die ganze Sache publik machte, hatte ich mir die Hilfe von zehn Amateurdetektiven besorgt, die ihn unablässig beobachteten. Da er sich ihrer Wachsamkeit bewusst war, wagte er es nicht mehr, das belastende Beweisstück zu zerstören. So war er gezwungen, bei seinem Auszug den Brief in dem Fidibusbehälter zurückzulassen.»

«Miss Howard hatte doch bestimmt jede Menge Möglichkeiten, ihm zu helfen!»

«Ja, aber Miss Howard wusste nichts von der Existenz dieses Papiers. Wie sie ursprünglich geplant hatten, sprach sie nie mit Alfred Inglethorp. Sie waren angeblich Todfeinde, und bis zur endgültigen Verurteilung von John Cavendish durften sie kein Treffen riskieren. Natürlich hatte ich Mr. Inglethorp immer unter Beobachtung, denn ich hoffte, er würde mich früher oder später zu seinem Versteck führen. Aber er war viel zu schlau, um ein Risiko einzugehen. Der Brief war dort, wo er war, sicher, und da in der ersten Woche niemand dort danach gesucht hatte, war es unwahrscheinlich, dass es später noch jemand tun würde. Ohne Ihre zufällige Bemerkung hätten wir ihn vielleicht niemals überführen können.»

«Das begreife ich jetzt, aber wann haben Sie zum ersten Mal Miss Howard verdächtigt?»

«Als mir klar wurde, dass sie bei der Voruntersuchung bezüglich des Briefes von Mrs. Inglethorp gelogen hatte.»

«Wieso? Was war denn daran gelogen?»

«Haben Sie den Brief gesehen? Erinnern Sie sich noch an sein Aussehen?»

«Ja — mehr oder weniger.»

«Dann werden Sie sich bestimmt auch an Mrs. Inglethorps charakteristische Handschrift erinnern, mit großen Abständen zwischen den einzelnen Wörtern. Aber wenn Sie sich das Datum oben auf dem Briefbogen ansehen, werden Sie bemerken, dass <17. Juli> ganz anders aussieht. Verstehen Sie, worauf ich hinaus will?»

«Nein», gestand ich.

«Sehen Sie nicht, dass der Brief nicht am 17. sondern am 7. geschrieben wurde? Das war der Tag nach Miss Howards Abreise. Die 1 wurde vor die 7 gesetzt, um aus ihr eine 17 zu machen.»

«Aber warum?»

«Genau das habe ich mich auch gefragt. Warum verheimlicht Miss Howard den Brief vom 17. und zeigt stattdessen einen Brief vom 7.? Weil sie den Brief vom 17. nicht zeigen wollte. Und warum? Da keimte in mir ein Verdacht. Sie erinnern sich vielleicht an meine Bemerkung, es sei klug, sich vor Leuten in Acht zu nehmen, die nicht die Wahrheit sagen.»

«Und trotzdem», rief ich empört, «nannten Sie mir hinterher noch zwei Gründe, weshalb Miss Howard das Verbrechen nicht begangen haben konnte!»

«Das waren zwei sehr stichhaltige Gründe», erwiderte Poirot. «Sie blieben auch für mich lange Zeit ein Stolperstein, bis mir eine wichtige Tatsache einfiel: dass sie und Alfred Inglethorp miteinander verwandt waren. Sie konnte das Verbrechen zwar nicht allein begangen haben, aber damit war nicht ausgeschlossen, dass sie eine Komplizin gewesen sein konnte. Und dann war da noch ihr schrecklich übertriebener Hass! Dahinter verbarg sich das gegenteilige Gefühl. Zwischen den beiden bestand zweifellos schon lange, bevor er nach Styles kam, eine Liebesbeziehung. Schon damals hatten sie ihren teuflischen Plan gefasst — dass er diese reiche, aber ziemlich törichte alte Frau heiraten und sie dazu bringen sollte, ein Testament zu seinen Gunsten abzufassen, und dann wollten sie durch einen sehr schlau geplanten Mord in den Besitz des Geldes kommen. Wenn alles nach Plan gegangen wäre, hätten sie England wahrscheinlich verlassen und vom Geld ihres bedauernswerten Opfers gelebt.

Die beiden sind ein sehr gerissenes und skrupelloses Paar. Während sich aller Verdacht gegen ihn richtete, sollte sie in aller Ruhe ein völlig anderes denouement vorbereiten. Sie kommt von Middlington mit all den belastenden Beweisen in der Tasche. Niemand hegt einen Verdacht gegen sie. Ihr Kommen und Gehen im Haus bleibt unbeobachtet, und sie versteckt das Strychnin und die Brille in Johns Zimmer. Sie bringt den Bart auf den Dachboden. Sie sorgt dafür, dass alles früher oder später entdeckt wird.»

«Ich sehe nicht ein, warum sie John die Schuld in die Schuhe schieben wollten. Es wäre doch viel einfacher gewesen, wenn sie Lawrence das Verbrechen angehängt hätten.»

«Ach, das war doch der pure Zufall. Alle Beweise gegen ihn kamen rein zufällig zustande. Eigentlich muss das für die beiden Intriganten äußerst ärgerlich gewesen sein.»

«Er verhielt sich ungeschickt», bemerkte ich nachdenklich.

«Ja. Der Grund dafür ist Ihnen natürlich klar?»

«Nein.»

«Hatten Sie nicht gemerkt, dass er Mademoiselle Cyn-thia für die Täterin hielt?»

«Nein!» Ich war höchst erstaunt. «Unmöglich!»

«Überhaupt nicht. Ich wäre fast demselben Verdacht aufgesessen. Deshalb habe ich Mr. Wells diese erste Frage wegen des Testaments gestellt. Dann gab es da noch die von ihr zubereiteten Schlafpulver und ihre raffinierten Verkleidungen als Mann, von denen Dorcas uns erzählte. Gegen sie existierten mehr Verdachtsmomente als gegen irgendwen sonst.»

«Poirot, Sie scherzen!»

«Nein. Soll ich Ihnen verraten, warum Monsieur Lawrence blass wurde, als er das Zimmer seiner Mutter in der fraglichen Nacht zuerst betrat? Weil seine Mutter dalag, offensichtlich vergiftet, während er über ihre Schulter hinweg sah, dass die Tür zu Mademoiselle Cynthias Zimmer nicht verriegelt war.»

«Aber er behauptete doch, sie sei verriegelt gewesen!»

«Eben drum», sagte Poirot trocken. «Und genau das bestätigte meinen Verdacht, dass dem nicht so war. Er schützte Mademoiselle Cynthia.»

«Aber warum sollte er das tun?»

«Weil er sie liebt.»

Ich lachte.

«In diesem Punkt irren Sie sich aber, Poirot! Ich weiß zufällig, dass er sie nicht nur nicht liebt, sondern ganz im Gegenteil absolut nicht ausstehen kann.»

«Wer hat Ihnen das gesagt, mon ami?»

«Cynthia selbst.»

«Lapauvrepetite! Und — war sie darüber sehr traurig?»

«Sie sagte, es sei ihr völlig egal.»

«Dann war ihr das bestimmt nicht gleichgültig», bemerkte Poirot. «So sind sie nun mal — les femmes!»

«Was Sie da über Lawrence sagen, überrascht mich wirklich sehr», sagte ich.

«Aber warum denn? Es war doch ganz offensichtlich. Hat Monsieur Lawrence nicht jedes Mal ein böses Gesicht gemacht, wenn Mademoiselle Cynthia mit seinem Bruder redete und lachte? Er hatte es sich in seinen langen Dickschädel gesetzt, dass Mademoiselle Cynthia in seinen Bruder verliebt sei. Als er in das Zimmer seiner Mutter kam und sah, dass sie anscheinend vergiftet war, hatte er die verrückte Idee, Mademoiselle Cynthia könnte etwas darüber wissen. Er geriet in fürchterliche Verzweiflung. Zuerst zertrat er die Kaffeetasse in tausend winzige Scherben, weil er sich daran erinnerte, dass sie am Abend zuvor mit seiner Mutter nach oben gegangen war und er unbedingt verhindern wollte, dass man den Inhalt analysieren konnte. Deshalb vertrat er auch so heftig die These von der natürlichen Todesursache.»

«Und was war mit der zusätzlichen Kaffeetasse?»

«Ich war mir ziemlich sicher, dass Mrs. Cavendish sie versteckt hatte, aber ich wollte mir Gewissheit verschaffen. Monsieur Lawrence hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich meinte, aber er kam nach einigem Grübeln darauf, dass seine Herzensdame von jedem Verdacht befreit würde, wenn es ihm gelang, noch eine Tasse aufzustöbern. Und darin hatte er völlig Recht.»

«Noch eines. Was meinte Mrs. Inglethorp mit ihren letzten Worten?»

«Das war natürlich eine Anklage gegen ihren Mann.»

«Meine Güte, Poirot», sagte ich und seufzte. «Ich glaube, jetzt haben Sie mir alles erklärt. Ich freue mich, dass die ganze Angelegenheit so glücklich geendet hat. Sogar John und seine Frau sind wieder vereint.»

«Das verdanken sie mir.»

«Wie meinen Sie das?»

«Mein lieber Freund, haben Sie denn nicht gemerkt, dass es einzig und allein die Gerichtsverhandlung war, die sie wieder zusammengebracht hat? Ich war überzeugt, dass John Cavendish seine Frau immer noch liebt und sie ihn ebenfalls. Aber sie hatten sich sehr entfremdet. Der Grund dafür lag in einem Missverständnis: Sie hatte ihn geheiratet, ohne ihn zu lieben. Das wusste er. Er ist auf seine Art ein feinfühliger Mensch und wollte sich ihr nicht aufdrängen. Aber sein Rückzug entfachte ihre Liebe. Beide sind sehr stolz, und ihr Stolz verhinderte jedes Zusammenkommen. Er tröstete sich mit dem Verhältnis mit Mrs. Raikes, und sie ging ganz in der Freundschaft zu Dr. Bauerstein auf. Erinnern Sie sich noch an den Tag von Johns Verhaftung? Als ich mich wegen einer wichtigen Entscheidung quälte?»

«Ja, ich verstand Ihr Dilemma sehr gut.»

«Verzeihen Sie, mein Freund, aber Sie verstanden überhaupt nichts. Ich stand vor der Entscheidung, ob ich John Cavendish jetzt gleich entlasten sollte oder nicht. Ich hätte ihn freibekommen — obwohl das unter Umständen bedeutet hätte, dass die Täter ungestraft davongekommen wären. Sie waren bis zur letzten Sekunde über meine wahren Absichten völlig im Dunkeln — was teilweise zu meinem Erfolg beitrug.» «Wollen Sie damit sagen, dass Sie John die Gerichtsverhandlung hätten ersparen können?»

«Ja, mein Freund. Aber ich entschied mich dann für . Nur eine gemeinsam durchlittene Gefahr konnte diese beiden stolzen Menschen wieder zusammenbringen.»

Ich sah Poirot erstaunt an — mir fehlten die Worte! Diese kolossale Dreistigkeit des kleinen Mannes! Wer außer Poirot hätte an einen Mordprozess als Ehetherapie gedacht!

«Ich errate Ihre Gedanken, mon ami.» Poirot lächelte mich an. «Keiner außer Hercule Poirot hätte so etwas gewagt! Sie sollten mich deshalb aber nicht verurteilen! Das Glück eines Paares ist das Wichtigste auf der ganzen Welt.»

Seine Worte riefen mir die Erinnerung an einen noch nicht so lange zurückliegenden Tag wach. Ich dachte an Mary, wie sie blass und erschöpft auf dem Sofa lag und lauschte und lauschte. Sie hörte es unten klingeln und erhob sich. Poirot hatte die Tür geöffnet und beim Anblick ihres verzweifelten Gesichtsausdrucks leicht genickt. «Ja, Madame», hatte er gesagt, «ich habe ihn Ihnen zurückgebracht.» Er war beiseite getreten, und als ich hinausging, hatte ich den Ausdruck in Marys Augen gesehen, als John Cavendish seine Frau in die Arme nahm.

«Vielleicht haben Sie Recht, Poirot», sagte ich leise. «Ja, es ist das Wichtigste von der Welt.»

Plötzlich klopfte jemand an die Tür und Cynthia steckte den Kopf herein.

«Ich — ich wollte nur.»

«Kommen Sie herein», sagte ich und stand auf.

Sie kam herein, aber sie setzte sich nicht.

«Ich — ich wollte Ihnen nur etwas sagen.»

«Ja?»

Cynthia fingerte an einer kleinen Troddel herum und auf einmal brach es aus ihr heraus: «Ihr zwei Schätze!», und dann küsste sie zuerst mich und dann Poirot und rannte wieder aus dem Zimmer.

«Was in aller Welt soll denn das nun heißen?», fragte ich überrascht.

Ein Kuss von Cynthia war zwar sehr nett, aber so in aller Öffentlichkeit verlor diese Geste etwas von ihrem Charme.

«Das bedeutet, sie weiß jetzt, dass Monsieur Lawrence sie nicht so verabscheut, wie sie dachte», erwiderte Poirot gleichmütig.

«Aber...»

«Hier ist er.»

Da kam Lawrence auch schon herein.

«Oh, Monsieur Lawrence!», rief Poirot. «Wir können Ihnen gratulieren, nicht wahr?»

Lawrence lief rot an und lächelte dann verlegen. Ein verliebter Mann ist ein jämmerlicher Anblick. Cynthia hatte wenigstens hübsch ausgesehen.

Ich seufzte.

«Was ist denn, mon ami?»

«Nichts», sagte ich bekümmert. «Es sind wirklich zwei wunderbare Frauen.!»

«Aber keine ist für Sie?», beendete Poirot den Satz. «Machen Sie sich nichts daraus. Wir können ja vielleicht wieder zusammen einen Fall lösen — wer weiß? Und dann.»

Über dieses Buch

The Mysterious Affair at Styles ist das erste veröffentlichte Buch von Agatha Christie und zugleich die Premiere für Hercule Poirot. Der Roman war bereits 1916 geschrieben worden, fand aber erst 1921 einen Verlag, The Bodley Head in London. Das Buch erschien 1959 unter dem Titel «Das fehlende Glied in der Kette» in deutscher Ausgabe beim Scherz Verlag.

Agatha Christie arbeitete 1916 als Krankenpflegerin in einem Krankenhaus in Devon — aus der Apotheke war eine größere Dosis Arsen verschwunden. In der Erinnerung an jenen Vorfall sagt sie später: «.damals dachte ich das erste Mal ernstlich daran, einen Kriminalroman zu schreiben.» Nachdem sie sich über die Personen und die Handlung ihres ersten Romans klar geworden war, tauchte die Frage nach dem Detektiv auf. «Wie wäre es», erinnert sie sich, «wie wäre es mit einem pensionierten Kriminalbeamten? Nur nicht zu jung! Welch großen Fehler habe ich damals begangen! Die Folge ist, dass mein erfundener Detektiv heute schon weit über hundert Jahre alt sein muss.»

Unter Sammlern hat man auf Auktionen für ein gut erhaltenes Exemplar der englischen Erstausgabe schon ohne weiteres 15.000 Euro bezahlt.

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