In den Tagen bis zur gerichtlichen Voruntersuchung war Poirot ungemein aktiv. Zweimal saß er mit Mr. Wells hinter verschlossenen Türen. Er unternahm auch lange Spaziergänge über Land. Ich war ziemlich gekränkt, dass er mich nicht in sein Vertrauen zog — umso mehr, als ich nicht die leiseste Ahnung hatte, was er im Schilde führte.
Mir kam der Gedanke, dass er vielleicht Erkundigungen auf Raikes' Farm einzog, und als ich ihn dann am Mittwochabend nicht zu Hause antraf, machte ich einen Spaziergang über die Felder in der Hoffnung, ihn zu treffen. Aber weit und breit war nichts von ihm zu sehen und ich wollte nicht allein zu der Farm gehen. Auf dem Rückweg begegnete ich einem alten Bauern, der mich durchtrieben von der Seite ansah.
«Sie sind doch von Styles?», fragte er.
«Ja, ich bin auf der Suche nach einem Freund. Ich dachte, er wäre hier entlang gegangen.»
«Ein kleiner Kerl? Der beim Reden mit den Händen fuchtelt? Einer von den Belgiern aus dem Dorf?»
«Ja», antwortete ich eifrig. «Ist er hier gewesen?»
«Doch ja, der war hier, jawohl. Und mehr als einmal. Ein Freund von Ihnen, ja? Ach, ihr feinen Herrn vom Schloss, ihr seid mir schon welche!» Und dann blickte er mich wieder äußerst pfiffig an.
«Warum? Kommen die Herren vom Gutshof denn öfter hierher?», fragte ich beiläufig. Er zwinkerte mir wissend zu.
«Einer, Mister. Aber ich nenne keinen Namen, nein. Und ein sehr großzügiger Herr dazu! Na, den sollten Sie mal erleben, Sir, jawohl!»
Ich ging rasch davon. Evelyn Howard hatte also Recht gehabt, und ich verspürte einen heftigen Widerwillen angesichts von Alfred Inglethorps großzügigem Umgang mit dem Geld seiner Frau. War etwa das reizvolle zigeunerhafte Gesicht die Ursache des Verbrechens oder war die Haupttriebfeder das Geld? Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.
In einem Punkt erschien Poirot seltsam eigensinnig. Er erwähnte ein- oder zweimal mir gegenüber, dass seiner Meinung nach Dorcas sich beim Zeitpunkt des Streits geirrt haben musste. Er fragte sie wiederholt, ob es nicht halb fünf statt vier Uhr gewesen sei, als sie die Stimmen hörte.
Aber Dorcas hielt an ihrer Aussage fest. Zwischen dem Streit und 5 Uhr, als sie Mrs. Inglethorp den Tee brachte, sei bestimmt eine Stunde oder mehr vergangen.
Die gerichtliche Voruntersuchung fand am Freitag im dörflichen Gasthof statt. Poirot und ich saßen nebeneinander, wir sollten nicht als Zeugen vernommen werden.
Die Präliminarien wurden erledigt. Die Geschworenen besichtigten die Leiche und John Cavendish identifizierte sie.
Bei der anschließenden Befragung schilderte er, wie er in den frühen Morgenstunden aufgewacht war und unter welchen Umständen seine Mutter gestorben war.
Als Nächstes kamen die medizinischen Gutachten dran. Es herrschte atemloses Schweigen und alle Augen waren auf den berühmten Londoner Spezialisten gerichtet, der als eine der bedeutendsten Kapazitäten auf dem Gebiet der Toxikologie galt.
In wenigen kurzen Worten fasste Dr. Bauerstein das Ergebnis der Autopsie zusammen. Wenn man die medizinischen und technischen Fachausdrücke beiseite ließ, ergaben die Tatsachen, dass Mrs. Inglethorp an einer Strychninvergiftung gestorben war. In Anbetracht der gefundenen Mengen musste sie mindestens drei Viertel Gran Strychnin eingenommen haben, wahrscheinlich aber ein Gran oder sogar mehr.
«Ist es möglich, dass sie das Gift aus Versehen geschluckt hat?», fragte der Untersuchungsrichter.
«Das halte ich für höchst unwahrscheinlich. Strychnin wird nicht für Haushaltszwecke verwendet wie andere Gifte, und man kann es nur mit besonderer Genehmigung kaufen.»
«Haben Ihre Untersuchungen darüber Aufschluss gebracht, wie das Gift verabreicht wurde?»
«Nein.»
«Soweit ich weiß, sind Sie vor Dr. Wilkins in Styles angekommen?»
«Das stimmt. Das Auto begegnete mir vor dem Parktor und ich eilte dann so schnell zum Haus, wie ich konnte.»
«Wären Sie so freundlich und berichten uns, was anschließend geschah?»
«Ich betrat Mrs. Inglethorps Zimmer. Sie befand sich gerade in einem starrkrampfähnlichen Zustand. Sie drehte sich zu mir um und keuchte:
«Hätte sich das Strychnin in dem Kaffee befinden können, der ihr von ihrem Mann gebracht wurde?»
«Möglicherweise, aber Strychnin wirkt ziemlich schnell. Die Wirkung zeigt sich ein bis zwei Stunden nach der Einnahme. Unter bestimmten Bedingungen setzt sie erst später ein, doch in diesem Fall trifft keine davon zu. Ich nehme an, dass Mrs. Inglethorp ihren Kaffee nach dem Essen so gegen acht Uhr trank. Doch die Symptome zeigten sich erst in den frühen Morgenstunden, das weist darauf hin, dass das Gift erst sehr viel später am Abend eingenommen wurde.»
«Mrs. Inglethorp hatte die Angewohnheit, um Mitternacht eine Tasse Kakao zu trinken. Könnte er das Strychnin enthalten haben?»
«Nein, ich habe selbst eine Probe des Kakaorests in dem Topf untersucht. Er enthielt kein Strychnin.»
Ich hörte Poirot neben mir leise lachen.
«Woher wussten Sie das?», flüsterte ich.
«Hören Sie zu.»
«Ich würde sagen», fuhr der Arzt fort, «dass jedes andere Ergebnis mich auch sehr überrascht hätte.»
«Warum?»
«Einfach deshalb, weil Strychnin einen außergewöhnlich bitteren Geschmack hat. Man kann es noch in einer Lösung von eins zu siebzigtausend herausschmecken, und es kann nur durch einen sehr starken Geschmack überdeckt werden. Kakao würde dazu nicht ausreichen.»
Einer der Geschworenen wollte wissen, ob das Gleiche auch für Kaffee zuträfe.
«Nein. Kaffee hat selbst einen sehr bitteren Geschmack, der den von Strychnin wahrscheinlich überdecken würde.»
«Dann halten Sie es für wahrscheinlicher, dass das Gift im Kaffee war, die Wirkung sich aber aus irgendeinem unbekannten Grund verzögerte?»
«Ja. Da die Tasse jedoch völlig zertrümmert wurde, konnten wir den Inhalt nicht mehr analysieren.»
Damit war Dr. Bauersteins Aussage beendet. Dr. Wil-kins stimmte ihm in allen wesentlichen Punkten zu. Als er zu der Möglichkeit eines Selbstmords befragt wurde, wies er das gänzlich von sich. Die Verstorbene litt zwar an einem schwachen Herzen, aber ansonsten erfreute sie sich bester Gesundheit und befand sich in einer heiteren, ausgeglichenen Gemütsverfassung. Sie wäre die Letzte gewesen, die sich das Leben genommen hätte.
Lawrence Cavendish wurde als Nächster aufgerufen. Seine Aussage war ziemlich unwichtig, es handelte sich eigentlich nur um eine Wiederholung dessen, was sein Bruder gesagt hatte. Als er gerade den Zeugenstand verlassen wollte, hielt er inne und fragte: «Dürfte ich vielleicht einen Vorschlag machen?»
Er sah bittend zu dem Untersuchungsrichter hinüber, der schnell erwiderte: «Gewiss, Mr. Cavendish, wir sind ja hier, um die Wahrheit herauszufinden, und begrüßen alles, das uns hierbei weiterhilft.»
«Ich hatte da nur so eine Idee», erklärte Lawrence. «Natürlich kann ich mich total irren, aber mir scheint, als könnte der Tod meiner Mutter auch eine natürliche Ursache haben.»
«Was meinen Sie damit, Mr. Cavendish?»
«Meine Mutter nahm zum Zeitpunkt ihres Todes und schon einige Zeit vorher ein Tonikum ein, das Strychnin enthielt.»
«Aha!», sagte der Untersuchungsrichter.
Die Geschworenen sahen interessiert auf.
«Ich glaube, es gab schon Fälle, wo die kumulative Wirkung der Droge nach einiger Zeit zum Tod geführt hat. Wäre es denn nicht auch möglich, dass sie aus Versehen eine Überdosis ihrer Medizin genommen hat?»
«Wir hören zum ersten Mal, dass die Verstorbene zur Zeit ihres Todes ein Medikament einnahm, das Strychnin enthielt. Wir danken Ihnen, Mr. Cavendish.»
Dr. Wilkins wurde erneut aufgerufen und zog diese Theorie ins Lächerliche.
«Was Mr. Cavendish da anführt, ist ganz unmöglich. Jeder Arzt würde Ihnen dasselbe sagen. Strychnin ist in gewissem Sinn ein kumulatives Gift, aber es ist völlig ausgeschlossen, dass es so plötzlich zum Tod führen könnte. Es hätten vorher über einen längeren Zeitraum chronische Symptome auftreten müssen, die mir sofort aufgefallen wären. Diese These ist völlig absurd.»
«Und die zweite Hypothese? Dass Mrs. Inglethorp aus Versehen eine Überdosis genommen haben könnte?»
«Nicht die dreifache, ja, nicht einmal die vierfache Menge hätte zum Tod geführt. Mrs. Inglethorp ließ sich von Mr. Coot, dem Apotheker in Tadminster, immer eine besonders große Dosis zubereiten. Für die Menge Strychnin, die bei der Autopsie gefunden wurde, hätte sie fast die ganze Flasche austrinken müssen.»
«Dann sind Sie also der Ansicht, dass diese Medizin in keiner Weise ihren Tod verursacht haben kann?»
«Ganz recht. Diese Idee ist absurd.»
Derselbe Geschworene, der schon zuvor die Verhandlung unterbrochen hatte, erkundigte sich, ob der Apotheker sich bei der Zubereitung geirrt haben könnte.
«Das kann man natürlich nie ausschließen», erwiderte der Arzt.
Aber als Dorcas als nächste Zeugin aufgerufen wurde, ließ sich auch diese Theorie nicht mehr halten. Die Medizin war nicht erst vor kurzem hergestellt worden, sondern vielmehr hatte Mrs. Inglethorp an ihrem Todestag die letzte Dosis eingenommen.
Damit war diese Medizin als Thema schließlich erschöpft, und der Untersuchungsrichter fuhr mit seiner Befragung fort. Er entlockte Dorcas, dass sie durch das heftige Läuten ihrer Herrin geweckt worden war und anschließend die anderen im Haus geweckt hatte, und wandte sich dann dem Streit des vorangegangenen Nachmittags zu.
Dorcas' Aussage enthielt im Wesentlichen das, was Poi-rot und ich bereits wussten, deshalb werde ich es hier nicht noch einmal wiederholen.
Die nächste Zeugin war Mary Cavendish. Sie stand kerzengerade da und sprach mit tiefer, klarer und völlig beherrschter Stimme. Auf die Frage des Untersuchungsrichters hin berichtete sie, dass ihr Wecker sie wie gewöhnlich um halb fünf geweckt habe und dass sie während des Ankleidens durch ein Geräusch erschreckt worden sei, das sich wie ein schwerer Fall anhörte.
«Das könnte der Tisch neben dem Bett gewesen sein», bemerkte der Untersuchungsrichter.
«Ich öffnete meine Tür», fuhr Mary fort, «und lauschte. Kurze Zeit später läutete es wild, Dorcas kam heruntergerannt und weckte meinen Mann und wir gingen alle zum Zimmer meiner Schwiegermutter, aber es war abgeschlossen.»
Der Untersuchungsrichter unterbrach sie.
«Ich glaube, wir brauchen Sie zu diesem Punkt nicht weiter zu bemühen. Wir wissen Bescheid über das, was dann geschah. Aber wir wären Ihnen sehr verbunden, wenn Sie uns alles erzählen würden, was Sie von dem Streit am Vortag mitbekommen haben.»
«Ich?»
Ihr Ton war eine Spur arrogant. Sie hob die Hand und glättete ihren Spitzenkragen, und während sie das tat, drehte sie ein wenig den Kopf. Unvermittelt durchzuckte mich der Verdacht: Sie will Zeit gewinnen!
«Ja. Soweit ich weiß, saßen Sie auf der Bank genau vor dem Terrassenfenster und lasen. So war das doch, oder nicht?»
Das war mir neu, und als ich Poirot von der Seite einen Blick zuwarf, schien es mir, als ob ihm das ebenfalls neu war.
Es gab eine kaum merkliche Pause, ein winziges Zögern, bevor sie antwortete:
«Ja, das stimmt.»
«Und das Fenster des Boudoirs stand doch offen, nicht wahr?»
Mit Sicherheit wurde ihr Gesicht eine Spur blasser, als sie antwortete:
«Ja.»
«Dann müssen Sie doch die Stimmen darin gehört haben, besonders da sie in der Hitze des Streits immer lauter wurden. Eigentlich müssen Sie sie da besser gehört haben als in der Halle.»
«Vielleicht.»
«Können Sie uns wiederholen, was Sie von dem Streit mitbekommen haben?»
«Ich kann mich an kein Gespräch erinnern.»
«Wollen Sie damit sagen, dass Sie die Stimmen nicht gehört haben?»
«Oh doch, ich hörte Stimmen, aber ich hörte nicht, was gesagt wurde.» Sie war leicht errötet. «Ich pflege nicht bei Privatgesprächen zu lauschen.»
Der Untersuchungsrichter blieb hartnäckig.
«Sie können sich an überhaupt nichts erinnern? An nichts, Mrs. Cavendish? Nicht an ein einziges Wort oder einen Satz, der Ihnen verraten hätte, dass es sich hier um eine private Unterhaltung drehte?»
Sie schwieg und schien nachzudenken, nach außen hin wirkte sie so ruhig wie immer.
«Ja, ich erinnere mich an etwas, das Mrs. Inglethorp sagte — ich weiß aber nicht mehr genau, was — etwas über einen Skandal zwischen Ehegatten.»
«Aha!» Der Untersuchungsrichter lehnte sich befriedigt zurück. «Das stimmt mit dem überein, was Dorcas hörte. Aber entschuldigen Sie, Mrs. Cavendish — obwohl Sie merkten, dass dies eine private Unterhaltung war, sind Sie nicht weggegangen? Sie blieben da, wo Sie waren?»
Als sie die Augen hob, sah ich Zorn in ihren bernsteinfarbenen Augen aufblitzen. Ich war mir ganz sicher, dass sie in diesem Augenblick den kleinen Rechtsanwalt mitsamt seinen Unterstellungen mit Freuden in tausend Stücke gerissen hätte, aber sie erwiderte immer noch ruhig: «Nein. Ich saß dort sehr bequem. Ich konzentrierte mich auf mein Buch.»
«Und mehr können Sie uns nicht sagen?»
«Das ist alles.»
Die Vernehmung war zu Ende, obwohl ich bezweifelte, dass der Untersuchungsrichter damit gänzlich zufrieden war. Bestimmt dachte er, dass Mrs. Cavendish mehr hätte erzählen können, wenn sie gewollt hätte.
Als Nächste wurde die Verkäuferin Amy Hill aufgerufen. Sie bestätigte, dass sie am Nachmittag des 17. Juli ein Testamentsformular an William Earl, den zweiten Gärtner von Styles, verkauft hatte.
Ihr folgten William Earl und Manning und bestätigten, dass sie ein Dokument bezeugt hatten. Manning meinte, es wäre um 4.30 gewesen, William war der Ansicht, es wäre etwas eher gewesen.
Cynthia Murdoch kam als Nächste dran. Sie hatte jedoch wenig zu erzählen. Sie hatte von der Tragödie erst erfahren, als sie durch Mrs. Cavendish geweckt wurde.
«Hörten Sie denn nicht, wie der Tisch umfiel?»
«Nein, ich schlief fest.»
Der Untersuchungsrichter lächelte.
«Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen», bemerkte er. «Vielen Dank, Miss Murdoch, das ist alles.»
«Miss Howard.»
Miss Howard zeigte den Brief vor, den ihr Mrs. Inglethorp am Abend des 17. geschrieben hatte. Poirot und ich kannten ihn natürlich schon. Er hatte nichts zu unserem bereits vorhandenen Wissen um die Tragödie hinzufügen können.
Styles Court Essex 17. Juli
Meine liebe Evelyn,
können wir uns nicht wieder vertragen ? Es fällt mir nicht leicht
%u vergessen, was du gegen meinen lieben Mann gesagt hast, aber ich bin eine alte Frau und habe dich sehr gern.
Mit herzlichen Grüßen Emily Inglethorp.
Der Brief wurde den Geschworenen vorgelegt, die ihn aufmerksam betrachteten.
«Ich fürchte, das hilft uns nicht wesentlich weiter.» Der Untersuchungsrichter seufzte. «Die Ereignisse des Nachmittags werden darin nicht erwähnt.»
«Mir klar wie Kloßbrühe», sagte Miss Howard schroff. «Das zeigt doch sonnenklar, dass meine arme alte Freundin gerade erfahren hatte, dass man sie zum Narren gehalten hatte.»
«Davon steht aber nichts in dem Brief», entgegnete der Untersuchungsrichter.
«Nein, weil Emily nie zugeben konnte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Aber ich kenne sie. Sie wollte, dass ich zurückkommen sollte. Aber sie wollte nicht zugeben, dass ich Recht gehabt hatte. Davor drückte sie sich. Tun die meisten Menschen. Finde das falsch.»
Mr. Wells lächelte, und wie ich bemerkte, auch mehrere der Geschworenen. Miss Howard galt offensichtlich als ein Original.
«Na egal, dieser Quatsch hier ist eine große Zeitverschwendung», fuhr die streitbare Dame fort und sah die Geschworenen verächtlich an. «Reden. reden. reden! Wo wir doch die ganze Zeit genau wissen.»
Der Untersuchungsrichter ahnte, was da kommen sollte, und unterbrach sie eilig: «Danke schön, Miss Howard, das war alles.»
Ich meinte zu sehen, wie er einen Seufzer der Erleichterung ausstieß, als sie sich fügte.
Dann kam die Sensation des Tages. Der Untersuchungsrichter rief Mr. Mace auf, den Verkäufer in der Apotheke.
Das war unser aufgeregter junger Mann mit dem blassen Gesicht. Er beantwortete die Fragen des Untersuchungsrichters und erläuterte, dass er ein ausgebildeter Apotheker sei, aber erst vor kurzem die Stellung in dieser Apotheke angetreten habe, da der ehemalige Verkäufer einberufen worden war.
Nachdem die Formalitäten erledigt waren, kam der Untersuchungsrichter zum eigentlichen Thema.
«Mr. Mace, haben Sie kürzlich jemandem ohne Rezeptvorlage Strychnin verkauft?»
«Ja, Sir.»
«Wann war das?»
«Letzten Montagabend.»
«Montag? Nicht Dienstag?»
«Nein, Sir, es war am Montag, dem 16.»
«Können Sie uns sagen, an wen sie das verkauft haben?»
Jetzt hätte man eine Nadel zu Boden fallen hören können.
«Ja, Sir. Es war Mr. Inglethorp.»
Alles drehte sich gleichzeitig zu Alfred Inglethorp um, der teilnahmslos und starr dasaß. Er zuckte leicht zusammen, als der junge Mann die vernichtenden Worte aussprach. Ich dachte schon, er würde aufstehen, aber er blieb sitzen, und ein bemerkenswert gut gespielter Ausdruck des Erstaunens erschien auf seinem Gesicht.
«Sind Sie sich dessen, was Sie da sagen, auch ganz sicher?», hakte der Untersuchungsrichter streng nach.
«Ganz sicher, Sir.»
«Ist es bei Ihnen üblich, ohne Rezept Strychnin zu verkaufen?»
Der unglückliche junge Mann wäre unter dem missbilligenden Blick des Untersuchungsrichters offensichtlich am liebsten in den Boden versunken.
«Oh nein, Sir — natürlich nicht. Aber da es sich hier um Mr. Inglethorp von Styles handelte, hatte ich keine Bedenken. Er sagte, er müsste einen Hund einschläfern.»
Der junge Mann tat mir Leid. Es war nur menschlich, den Herrschaften vom Gut gefällig zu sein — besonders wenn es zur Folge haben konnte, dass sie in Zukunft nicht mehr bei Coot, sondern in der Dorfapotheke einkaufen würden.
«Ist es nicht üblich, solche Käufe durch eine Unterschrift bestätigen zu lassen?»
«Ja, Sir, Mr. Inglethorp tat das auch.»
«Haben Sie das Buch dabei?»
«Ja, Sir.»
Er zeigte es vor, und nach einer strengen Verwarnung wurde der arme Mr. Mace wieder aus dem Zeugenstand entlassen.
Als Alfred Inglethorp aufgerufen wurde, herrschte atemlose Stille. Ich fragte mich, ob ihm eigentlich klar war, wie eng sich die Schlinge um seinen Hals zuzog.
Der Untersuchungsrichter kam direkt zur Sache.
«Haben Sie am letzten Montag Strychnin gekauft, weil Sie einen Hund vergiften wollten?»
Inglethorp antwortete völlig ruhig: «Nein. Es gibt in Styles keine Hunde außer einem Schäferhund, und der ist kerngesund.»
«Sie streiten also ab, am letzten Montag bei Albert Mace Strychnin gekauft zu haben?»
«Ja.»
«Streiten Sie auch das ab?»
Der Untersuchungsrichter reichte ihm das Buch, in dem Inglethorps Unterschrift stand.
«Natürlich. Die Handschrift ist völlig anders als meine. Ich werde es ihnen beweisen.»
Er holte einen alten Briefumschlag aus seiner Tasche heraus, schrieb seinen Namen darauf und gab ihn den Geschworenen. Die Unterschrift war gänzlich anders als die im Buch.
«Wie erklären Sie sich dann Mr. Mace' Aussage?»
Alfred Inglethorp erwiderte unbewegt: «Mr. Mace muss sich irren.»
Der Untersuchungsrichter zögerte kurz, dann sagte er: «Mr. Inglethorp, würden Sie uns nur der Form halber sagen, wo Sie am Abend des 16. Juli waren?»
«Das weiß ich nicht mehr.»
«Das ist lächerlich, Mr. Inglethorp», sagte der Untersuchungsrichter scharf. «Überlegen Sie bitte.»
Inglethorp schüttelte den Kopf.
«Ich kann es Ihnen nicht sagen. Ich glaube, ich bin spazieren gegangen.»
«In welche Richtung?»
«Das weiß ich wirklich nicht mehr.»
Das Gesicht des Untersuchungsrichters wurde sehr ernst. «Waren Sie mit jemandem zusammen?»
«Nein.»
«Sind Sie während dieses Spaziergangs jemandem begegnet?»
«Nein.»
«Schade», meinte der Untersuchungsrichter trocken. «Sie weigern sich also zu sagen, wo Sie zu der Zeit waren, als Sie nach Mr. Mace' Aussage die Apotheke betraten, um Strychnin zu kaufen?»
«Wenn Sie es so formulieren wollen, ja.»
Poirot zappelte aufgeregt herum.
«Sucre!», murmelte er. «Will dieser Trottel unbedingt verhaftet werden?»
Inglethorp machte in der Tat einen sehr schlechten Eindruck. Sein vergebliches Leugnen hätte nicht einmal ein Kind überzeugt. Der Untersuchungsrichter ging jedoch zum nächsten Punkt über und Poirot seufzte erleichtert auf.
«Am Dienstag Nachmittag hatten Sie einen Streit mit Ihrer Frau?»
«Entschuldigen Sie», unterbrach ihn Alfred Inglethorp, «Sie wurden nicht richtig informiert. Ich habe mich mit meiner lieben Frau nicht gestritten, das ist eine Verleumdung. Ich war den ganzen Nachmittag über nicht im Haus.»
«Gibt es irgendjemanden, der das bezeugen kann?»
«Sie haben mein Wort», sagte Inglethorp hochmütig.
Der Untersuchungsrichter machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten.
«Es gibt zwei Zeuginnen, die beschwören können, dass Sie sich mit Mrs. Inglethorp gestritten haben.»
«Diese Zeuginnen irren sich.»
Ich stand vor einem Rätsel. Der Mann sprach mit solch einer ruhigen Sicherheit, dass es mir schier die Sprache verschlug. Ich sah Poirot an. Er strahlte, was ich überhaupt nicht begriff. War er jetzt endlich doch von Alfred Inglethorps Schuld überzeugt?
Der Untersuchungsrichter fuhr fort: «Mr. Inglethorp, Sie haben die letzten Worte Ihrer sterbenden Frau gehört. Können Sie sie in irgendeiner Weise erklären?»
«Natürlich kann ich das.»
«Ach ja?»
«Das ist doch ganz einfach. Das Zimmer war nur schwach erleuchtet. Dr. Bauerstein hat in etwa meine Größe und Statur und trägt wie ich einen Bart. In dem schwachen Licht und so, wie sie litt, verwechselte ihn meine Frau mit mir.»
«Ah!», machte Poirot. «Nicht schlecht!»
«Glauben Sie, das stimmt?», flüsterte ich.
«Das würde ich nicht sagen. Aber es ist ein wirklich erfinderischer Einfall.»
«Sie hören aus den letzten Worten meiner Frau eine Anklage heraus» — Inglethorp redete weiter —, «doch sie waren ganz im Gegenteil ein Hilferuf an mich.»
Der Untersuchungsrichter dachte kurz nach und sagte dann: «Soweit ich weiß, waren Sie es, Mr. Inglethorp, der an diesem Abend den Kaffee einschenkte und Ihrer Frau brachte?»
«Ich goss ihn ein, das ja. Aber ich brachte ihn ihr nicht. Ich wollte ihn hochbringen, aber man sagte mir, ein Freund sei an der Haustür, deshalb stellte ich die Tasse auf den Tisch in der Halle. Als ich kurz darauf wiederkam, stand sie nicht mehr da.»
Diese Aussage mochte wahr sein oder auch nicht, aber sie schien meiner Ansicht nach Inglethorps Lage nicht zu verbessern.
Jedenfalls hatte er reichlich Zeit gehabt, das Gift hineinzutun.
In diesem Augenblick stieß Poirot mich leicht an und wies auf zwei Männer, die nebeneinander nahe bei der Tür saßen. Der eine war ein kleiner Mann mit Frettchengesicht und der andere war groß und blond.
Ich blickte Poirot fragend an. Er flüsterte mir ins Ohr:
«Wissen Sie, wer der kleine Mann ist?» Ich schüttelte den Kopf. «Das ist Kriminalinspektor James Japp von Scotland Yard Jimmy Japp. Der andere ist auch von Scot-land Yard. Die Dinge geraten in Bewegung, mein Freund.»
Ich sah aufmerksam zu den beiden Männern hinüber. Sie hatten ganz und gar nichts von Polizisten an sich. Ich hätte nie gedacht, dass es sich bei ihnen um Kriminalbeamte handelte.
Ich starrte sie immer noch an, als das Urteil der Geschworenen verlesen wurde: «Vorsätzlicher Mord, der oder die Täter sind unbekannt.»