Kapitel 10

Die beiden Wagen quälten sich durch Staub und aufwirbelnde Steine die bergige Straße hinauf. Die Felsen links und rechts waren fast kahl, von der Sonne ausgeglüht. Vereinzelt sah man Dächer, Ansammlungen grauer, aus Felsgestein gebauter Häuser - Dörfer, zu denen nur enge Pfade führten. Man fragte sich, wovon diese Menschen dort lebten, ob sie Steine aßen und aus hartem Gras Kuchen backten. So öde war das Land, so steinig und hart der Boden, daß man verstand, warum die Frauen in schwarzen Kleidern gingen. Sie trauerten darum, daß sie lebten.

Nach drei Stunden Fahrt hielt der schwere Rolls Lord Rockpourths zum viertenmal. Aber diesmal war es nicht der Durst, sondern der Chauffeur stieg aus dem Wagen, nahm die Mütze ab und sagte in steifer, britischer Art:

»Mylord, eine Panne. Ich glaube, ein Zylinder fällt aus.«

Haußmann bremste scharf, denn der Wagen Lord Rockpourths war unmittelbar hinter einer Kurve stehengeblieben, und um ein Haar wäre Haußmann aufgeprallt.

»Kreuzdonnerwetter!« schrie er. »Was ist denn? Wenn das so weitergeht, sind wir erst Weihnachten in Sarajewo!«

»Karli.«, sagte Erika sanft und legte beruhigend ihre Hand auf seinen Arm. Seit einer Stunde verfiel sie zusehends. So jung und frisch sie bei der Abfahrt am Morgen von Dubrovnik ausgesehen hatte, so erschreckend alt wirkte sie jetzt. Sie lag halb auf den Hintersitzen, hatte das Kleid geöffnet, ihre Haut wirkte fahl und grau, und der seidige Glanz ihrer rotbraunen Haare war verschwunden. Stumpf und leblos war das Haar.

»Reg dich nicht auf«, sagte sie mit mühsam fester Stimme. »Er ist doch schwer krank.«

»Was geht mich der Lord an?« rief Haußmann und drückte mehrmals auf die Hupe. »Dich bringe ich nach Sarajewo, nicht ihn! Um dich geht es, verdammt noch mal!« Er beugte sich über die Lehne und streichelte Erika über das graue Gesicht. »Wie geht es dir denn, Rika? Wieder Schmerzen?«

»Ein wenig.« Sie lächelte krampfhaft und nickte ihm zu. »Aber es geht schon. Man kann sie ertragen. Ich nehme gleich eine Tablette.«

Marion stieg aus dem großen Rolls und kam auf Haußmanns Mercedes zu. Ihr wiegender Gang war aufreizend und provozierend. Neben dem Rolls verhandelten der junge Lord und der Chauffeur.

»Sie sollten Ihrem Patienten einen Schlauch ansetzen, wenn er dauernd Durst hat!« rief Haußmann aus dem heruntergekurbelten Fenster. »Himmel, wann sollen wir denn in Sarajewo sein?«

»Heute nicht mehr.« Marion hob die schönen Schultern. »Ein Zylinder ist kaputt! Der Wagen läuft nicht mehr.«

»So ein Blödsinn! Hat acht Zylinder. Auf sieben Pötten läuft der Kahn immer noch 100!« Haußmann stieg aus seinem Wagen und knallte die Tür zu. »Sollen wir hier Steinchen sammeln und Backebacke-Kuchen spielen?«

»Der Chauffeur sagte, wenn er weiterfährt, überlastet er die anderen Zylinder so stark, daß am Ende der ganze Motor kaputt ist. Ein Rolls sei nicht für solche Straßen gebaut.« »Es ist zum Heulen!« Haußmann ließ Marion stehen und lief zu dem jungen Lord. Er kam an, als der Chauffeur gerade zum letztenmal dargelegt hatte, daß er ein Auto, das er seit zehn Jahren wie einen eigenen Sohn pflegte, nicht zuschanden fahre.

»Es hat gar keinen Sinn, weiter darüber zu reden, Sir«, sagte der junge Lord Robert. »Der Wagen muß abgeschleppt werden. Die nächste Stadt ist Mostar. Dort werden wir vielleicht ein Fahrzeug bekommen, das meinen Onkel weitertransportiert nach Sarajewo. Und wenn's ein Lastwagen ist.«

»Robert!« tönte eine zitternde Stimme aus dem Rolls. »Zum Teufel! Robert!«

»Er wacht immer zur unrichtigen Zeit auf«, sagte der junge Lord seufzend. »Ja, Onkel James?«

»Umladen!«

»Wohin?«

»In den Wagen von Mr. Haußmann. Ich hinten, die gnädige Frau vorn.«

»Aber Onkel James.«

»Ruhe! Ihr bleibt hier stehen und seht, wie ihr weiterkommt! Soll ich im Straßengraben verrecken? Das könnte euch so passen. Wie einen räudigen Hund mich sterben lassen. Ha! Umladen, sage ich!«

Der junge Lord sah Haußmann achselzuckend an. Er trat ein paar Schritte vom Wagen weg und winkte Haußmann, zu ihm zu kommen.

»Was sollen wir machen?« sagte er leise. »Ich kann Ihnen doch unmöglich Onkel James allein mitgeben. Parker und ich, wir kommen schon weiter. Aber Miß Marion? Doch das ist typisch mein Onkel. Er kennt keine Rücksichten.«

»Eines ist klar: Wir können nicht hier stehenbleiben«, sagte Haußmann laut. Er bezwang sich, nicht zu brüllen, obwohl ihm danach zumute war. »Ich muß nach Sarajewo. Meiner Frau geht es wieder schlechter. Sie hat Schmerzen. Sie muß sofort in ärztliche Behandlung. Ich kann es mir nicht leisten, auch nicht für Ihre lächerlichen 10.000 Pfund, das Leben meiner Frau zu gefährden, nur weil Ihr Onkel einen Dickkopf hat.«

»Wenn nichts geschieht, das wissen Sie, schiebt er mir die Schuld zu und enterbt mich. Das Testament tragen Sie ja in der Brusttasche.«

»Wenn Sie wollen, zerreiße ich es und werfe es die Schlucht hinunter!« schrie Haußmann.

»Das ändert gar nichts.« Der junge Lord hob die Schultern. »Wir haben nun einmal eine Aufgabe übernommen, und es ist die Pflicht eines Gentleman, sie zu Ende zu führen. Ich nehme an, Sir, Sie sind ein Gentleman!«

Haußmann hatte eine unhöfliche, ja unschickliche Bemerkung auf den Lippen, aber er schluckte sie hinunter.

»Gut. Was soll geschehen?« fragte er heiser.

»Wir laden Onkel James wirklich um, und Sie fahren ihn nach Sarajewo. Parker, Miß Marion und ich werden uns bis Mostar durchschlagen und mit dem nächsten Gefährt nachkommen. Ich nehme an, daß auf dieser Straße mehr als zwei Autos am Tage fahren.«

»Bitte!« Haußmann hob resignierend die Schultern. »Laden wir um. Mir ist schon alles Wurscht. Wenn es nur schnell geht.«

Und es ging verhältnismäßig schnell. Parker, der Chauffeur, der junge Lord, Haußmann und Marion trugen Lord Rockpourth in Haußmanns Mercedes, betteten ihn auf die Hintersitze, stopften den Raum zur Rückenlehne der Vordersitze mit Kissen und Koffern aus, damit der Lord nicht herunterrollte in den Kurven oder beim scharfen Bremsen herumgeschleudert wurde, und dann saß Haußmann wieder hinter dem Steuer, fuhr mit verbissenem Gesicht an und reagierte nicht auf das Winken der Zurückbleibenden.

»Das war eine gute Idee«, sagte hinter ihm Lord Rockpourth und kicherte heiser. »Jetzt schwitzt der Junge Blut, denn er weiß nicht, was wir alles besprechen werden.«

Zehn Minuten später fiel er wieder in Lethargie. Erika stieß ihren Mann sachte an. »Er ist wieder starr«, flüsterte sie.

»Gott sei Dank, dann schweigt er wenigstens«, antwortete Karl böse.

Mit hoher Geschwindigkeit raste er die Bergstraße entlang und rauschte hupend um die engen Kurven.

Kurz vor Mostar stieß Erika einen so grellen Schrei aus, daß Hauß-mann zusammenzuckte und der Wagen fast geschleudert wäre. Erika krümmte sich vor Schmerzen, preßte die Hände auf den Leib, und ihr Gesicht war ein einziger, verzweifelter Aufschrei.

»Mein Leib!« stöhnte sie. »Karl... mein Leib ... ich sterbe ... o Karl, ich sterbe. Jetzt ist etwas gerissen . da drinnen . ich sterbe.«

Haußmann überliefes eiskalt. Er umklammerte das Lenkrad und stieß den Fuß auf dem Gaspedal ganz durch. Wie ein Irrer raste er über die Straße, die Hand auf der Hupe.

Mostar, dachte er dabei. Gleich haben wir Mostar erreicht. Einen Arzt! O Gott, einen Arzt!

Bitte, bitte einen Arzt!

Mit stierem Blick starrte er geradeaus. Der Wagen heulte, Häuser tauchten auf, Pferdefuhrwerke, Bauern mit Traglasten, Frauen, Kinder, Esel, Wohnwagen, Autos, Lastwagen, eine kleine Moschee, ein Minarett . vorbei, vorbei . hupen, Gas geben, hupen.

Aus dem Weg! Aus dem Weg!

Einen Arzt.

Wie ein Irrer raste er in Mostar ein. Neben ihm lag Erika verkrümmt auf dem Sitz, die Hände gegen den Bauch gepreßt, und stöhnte. Ihre bleichen Lippen zitterten, aber der Schmerz war so groß, daß sie nicht mehr schreien konnte. Verkrampft war ihr Gesicht, gelähmt der Mund. Nur der Atem ging durch die Zähne, und an den Lippen wurde er zum hellen Stöhnen.

Ein Polizist in weißer Uniform sprang entsetzt zurück, als er den hupenden, rasenden Wagen sah, der plötzlich bremste und aufihn zuschleuderte.

»Hospital?« schrie Haußmann aus dem Fenster. »Ma femme . malade . pas de morde.« Mein Gott, was kommt es darauf an, ob's richtig ist. Erika stirbt . seht es doch . sie stirbt. »Un docteur.«, schrie Haußmann. »Ou est un docteur?«

Der Polizist wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Dann sah er in den Wagen, blickte auf die verkrümmte, stöhnende Erika und auf den Lord, den er als eine Leiche ansah. Da riß er die Tür auf, drückte Haußmann weg zu seiner Frau, setzte sich selbst ans Steuer und fuhr, genau wie Haußmann hupend und unter Mißachtung aller Regeln, durch das winkelige, alte, von Menschen berstende Mo-star.

Zehn Minuten später rollte Erika auf lautlosen dicken Gummirädern über den langen, weißen Flur des Krankenhauses von Mo-star. Sie war besinnungslos aus dem Wagen gehoben worden, und vier Ärzte hatten sich sofort um sie gekümmert. Ein Oberarzt, der sogar deutsch sprach, hatte nach der ersten Untersuchung, einem Abtasten des geschwollenen Leibes, kurz und knapp seine Anweisungen gegeben und wandte sich nun an Haußmann, der schweiß-überströmt, zitternd und am Ende seiner Kräfte an der Wand lehnte. Der Polizist war unten beim Wagen und sah dem Transport von Lord Rockpourth zu, der zu seiner sprachlosen Verwunderung noch lebte.

»Wir werden Ihre Frau gleich operieren«, sagte der Oberarzt. »OP II ist gerade frei geworden. Sie haben Glück, mein Herr: Das ganze Team mit Professor Kraicic steht bereit. Haben Sie keine Angst, in zehn Minuten ist der Röntgenbefund fertig, und wir wissen, was es ist, obschon ich meiner Diagnose bereits jetzt sicher bin.«

»Ihre Diagnose.« Karl Haußmann schloß die Augen. »Nicht operieren«, sagte er leise. »Es ist ihr Tod ... sie kann ja nicht operiert werden . es ist ja sinnlos . sie . sie ist doch inoperabel.«

»Was ist sie?« fragte der serbische Oberarzt. »Inoperabel? Wieso denn?«

»Sie hat Krebs«, stammelte Haußmann. »Unheilbaren Krebs! Wir wollten zu Dr. Zeijnilagic, nach Sarajewo zu dem HTS!«

»Krebs?« Der Oberarzt drückte das Kinn an. Dann sah er Hauß-mann nachdenklich an und hatte es plötzlich sehr eilig. »Professor Kraicic wird nachher mit Ihnen selbst sprechen. Entschuldigen Sie mich bitte.«

»Werden Sie operieren?« rief Haußmann ihm nach. Er hatte sich von der Wand abgestoßen und lief dem Oberarzt nach.

»Wenn es nötig ist . ja!«

Haußmann blieb stehen. Eine Wand aus Milchglas war vor ihm. Darauf in Schwarz eine Schrift. Er konnte die Worte nicht lesen, aber er wußte, was sie bedeuteten.

Eintritt verboten.

Der OP-Trakt.

Überall ist es so, ob in Gelsenkirchen oder in Mostar.

»Erika.«, sagte er leise, deckte die Hand über die Augen und drückte die Stirn gegen die kalte Glasscheibe. »Erika . verlaß mich nicht . geh' nicht weg. O Gott, mein Gott ... laß sie leben.«

Eine Schwester mit großer, weißer Haube führte ihn weg in ein Zimmer und drückte ihn in einen Sessel aus geflochtenen Kunststoffschnüren. Karl Haußmann merkte es gar nicht; er stierte vor sich hin, hatte die Hände gefaltet und schien darauf zu warten, daß jemand ihn aus seiner Starrheit weckte mit den Worten: »Es ist vorbei ... wir konnten Ihre Frau nicht mehr retten.«

Auf dem Gang war ein Kommen und Gehen. Weiße Kittel wehten an der offenen Tür des kleinen Zimmers vorbei, in dem Hauß-mann hockte. Ein Arzt sah kurz herein, aber er sprach Haußmann nicht an, sondern rannte weiter durch die Milchglastür in den OP-Trakt.

Wie lange Haußmann so dasaß, wußte er nicht. Er hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren. Hätte man ihm gesagt: Sie sitzen zehn Stunden hier, er hätte es ebenso geglaubt wie eine halbe Stunde.

Die Luft wurde stickig im Zimmer. Die Hitze brütete auf den Dächern. Karl Haußmann lief der Schweiß über die Augen und das Gesicht. Aber er wischte ihn nicht ab, er saß nur da, starrte vor sich hin und wartete.

Wartete.

Und büßte ab.

Das Fegefeuer kann nicht grausamer sein, dachte er einmal. Ja, ich habe Erika betrogen . nicht nur mit Marion Gronau. Verdammt, ich gestehe es: Ich habe sie mehrmals betrogen. Mit einer Kellnerin vom Clublokal des Gesangvereins. Mit der Buchhalterin der befreundeten Firma Meyering & Co. und mit einer Platzanweiserin im Kino. Abenteuer waren es, weiter nichts, aber es war Betrug. Es waren Gemeinheiten angesichts der Liebe Erikas und ihres Vertrauens zu mir.

Ich bin ein schlechter Mensch. Ich weiß es. Aber sie hat es nicht verdient, so zu sterben ... auf einem OP-Tisch in Mostar.

Haußmann sprang auf. Er lief aus dem Zimmer und prallte auf dem Flur gegen einen älteren Arzt, der gerade aus der Milchglastür kam.

»Erika!« rief Haußmann, und man sah ihm an, daß er gar nicht wußte, was er rief und was er tat. »Sie dürfen dich doch gar nicht operieren.!«

»Beruhigen Sie sich«, sagte der ältere Arzt in fließendem Deutsch. »Kommen Sie mit, ich habe mit Ihnen zu reden!«

Er nahm Haußmann an der Hand wie ein verirrtes Kind und zog ihn zurück in das kleine Zimmer. Dort ließ er ihn am Fenster stehen, schloß die Tür und knöpfte seinen weißen Kittel auf. »Ich glaube, man sollte Sie gründlicher behandeln als Ihre Frau! In was reden Sie sich da hinein?«

Karl Haußmann wischte sich über das schweißnasse Gesicht. Wie aus einem quälenden Traum erwachte er, und was er bisher wie durch Nebelwände gesehen hatte, wurde klar um ihn. Er wandte sich um, riß das Fenster auf und atmete die einströmende warme Luft ein, als sei sie wundervoller, kühler Gebirgsozon. Dann drehte er sich zurück ins Zimmer und riß sich den Kragen auf.

»Wer sind Sie?« fragte er heiser.

»Kraicic«, sagte er ältere Arzt.

»Professor Kraicic.« Haußmann hob wie flehend beide Hände. »Was ist mit meiner Frau? Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit. Lebt sie noch? Sie haben Sie nicht operiert, nicht wahr? Sie ist doch inoperabel, wie die Ärzte sagen. Kann . kann ich sie sehen.?«

Professor Kraicic griff in die Hosentasche, holte eine Packung Orientzigaretten heraus und hielt sie Haußmann hin. Karl schüttelte den Kopf. Der Professor steckte sich eine der goldgelben Zigaret-ten an.

»Ihre Frau wird gerade operiert«, sagte er. »Oberarzt Dr. Dravo macht es allein mit drei Assistenten. Ich brauchte nicht einzugreifen. So etwas ist Routine.«

»Natürlich, natürlich.«, stotterte Haußmann hilflos. »Routine. Es sterben ja so viele.«

»Wer redet hier von Sterben?« Professor Kraicic setzte sich und sah Haußmann ein wenig reserviert an. »Woher kommen Sie?«

»Aus Gelsenkirchen, Herr Professor. Eine Industriestadt in Deutschland . Ruhrgebiet.«

»Ich kenne Deutschland. Ich habe als kriegsgefangener Militärarzt vier Jahre lang in Duisburg gearbeitet.«

»Ach so«, sagte Haußmann. »Jaja, der Krieg.«

Erika ist nicht tot, dachte er dabei. Sie ist noch nicht tot.

»Wer hat Ihre Frau dort untersucht?« fragte Professor Kraicic.

»Unser Hausarzt.«

»Mit Röntgenkontrolle?«

»Ich weiß nicht.« Haußmann sah zu Boden. Er schämte sich. Nie hatte er sich um die Krankheit seiner Frau gekümmert. »Deine Nerven«, hatte er immer gesagt. Oder: »Nun fang bitte nicht wieder an, hysterisch zu werden!« Er hatte sie nie gefragt, was der Arzt festgestellt hatte. Und hätte sie es ihm gesagt, würde er sicherlich geantwortet haben: »Diese Ärzte! Gnädige Frau hinten, gnädige Frau vorn, und dann 100,- DM für die Beratung. So was kennt man. Was dir fehlt, ist Arbeit. Du hast zuviel Langeweile. Früher, als wir von morgens sieben bis in die Nacht arbeiteten, da hattest du keine Zeit für Wehwehchen.«

»Ich weiß es nicht«, sagte Haußmann leise. »Erika sprach nie darüber.«

»Und wer hat die Krebsdiagnose gestellt?«

»Dr. Borgoporte in Rimini und Dr. Tezza in Capistrello.«

»Mit Röntgen?«

»Ja. Ich habe die Aufnahmen selbst gesehen.« Haußmanns Stimme zitterte. »Die dicke Verschattung im Leib . die . die Krebsgeschwulst.«

»Ach!« Professor Kraicic zerdrückte die halb gerauchte Zigarette. »Und was wurde getan?«

»Dr. Borgoporte riet mir, sofort nach Hause zu fahren, in eine gute Klinik. Zur Kontroll-Diagnose. Er hält Erikas Geschwulst für inoperabel.«

»Und warum sind Sie nicht gefahren?«

»Ich hörte von diesem Dr. Tezza.«, sagte Haußmann, und wieder schämte er sich. »Er . er galt als eine Art Wunderdoktor.«

»Und Sie haben daran geglaubt?«

»Würden Sie nicht an Wunder glauben, wenn Ihnen jemand sagt, die normale Medizin ist am Ende ihres Wissens?« rief Haußmann verzweifelt.

»Nein!« Professor Kraicic sagte es ganz hart. »In der Medizin gibt es kein Ende. Täglich entwickelt sie sich weiter. Aber ohne Wunder. Durch Wissen und Können.«

»Darauf hoffte ich ja!« stöhnte Haußmann.

»Dieser Tezza war ein Schwindler, nehme ich an?«

»Ja. Ein Erzgauner. Gott sei Dank merkten wir das zeitig.«

»Und dann hörten Sie von unserem Kollegen Dr. Zeijnilagic in Sarajewo. Von seinem HTS. Und es gab für Sie nur eins: Hin nach Sarajewo. Wie die Kühe, die einem Leitstier nachtrotten, und wenn's in den Abgrund geht.«

Haußmann nickte müde. Er wurde von Professor Kraicic seelisch zerpflückt, moralisch so ausgezogen, daß er sich wirklich wie nackt und angespuckt vorkam.

»In allen Zeitungen stand, daß dieses HTS große Heilerfolge hat. Warum fahren Tausende nach Sarajewo?«

»Warum zogen Millionen singend in den Krieg? Es ist das alte Rätsel, Herr Haußmann: Glaube an unbewiesene Dinge und Massenwahn.«

»Sie glauben nicht an das HTS?«

»Es ist noch nichts bewiesen! Es liegen keine klinischen Berichte vor, keine Forschungsreihen über Jahre hinweg, man hat ein paar

Spontanheilungen in der Hand, aber in der Medizin ist man bei diesen Spontanheilungen sehr kritisch.«

»Dann ist also auch Dr. Zeijnilagic ein Schwindler?« stotterte Hauß-mann.

»Aber nein! Nein! Kollege Zeijnilagic ist ein ernsthafter Arzt und Forscher, der in jahrelanger Arbeit sein HTS entwickelt hat und ohne staatliche oder kommerzielle Hilfe, nur mit seinem eigenen Geld, einen Traum der Menschheit Wahrheit werden lassen will: den Sieg über den Krebs. Ob ihm das mit seinem HTS gelungen ist, wer weiß es? Das ist eben das Problem: Wir wissen es noch nicht. Wir hoffen wie Millionen Kranke. Aber in der Medizin gilt keine Hoffnung. Medizin ist eine exakte Wissenschaft. Experimente gehören in das Labor, die Arbeit am Menschen verlangt Realitäten. Das ist ein großer, menschlich verständlicher Fehler Dr. Zeijnilagics: Er ist zu früh an die Öffentlichkeit getreten. Jetzt haben wir die Aufregung der ganzen Welt über uns; die Kranken - wie Sie - pilgern nach Sarajewo, als sei es das Mekka der Medizin, und dabei ist es nur ein kleiner Brunnen, an dem man sich erfrischen kann.«

»Das sagen Sie alles so schön, Herr Professor.« Karl Haußmann sah aus dem Fenster. Jenseits der Mauer, die das Krankenhaus von der Straße abschirmte, brauste der Verkehr Mostars. Alte Busse, Autos, Eselskarren, Handwagen, ein Gewimmel von Menschen mit roten, runden Käppchen aufden Köpfen. Ein Hauch von Orient. Jetzt blickte er den Arzt an:

»Man hat Ihnen noch nicht gesagt, daß Ihre Frau inoperabel ist.«

»Nein!« erwiderte Professor Kraicic und hob seine schmalen langen Hände: »Meine Frau starb vor drei Jahren an einem Mammakarzinom.«

»Verzeihung.«, sagte Haußmann leise. Und er kam sich zum drittenmal elend und beschämt vor.

Der Professor erhob sich. »Kommen Sie bitte mit«, sagte er. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Sie gingen zusammen durch die große Milchglastür, auf der Eintritt verboten stand. Aufdem gekachelten Gang der OP-Station war es still und kühl. Ein Klimagerät arbeitete lautlos. Über einer Doppeltür mit Gummidichtungen brannte einsam ein kleines rotes Lämpchen.

Ruhe! Operation.

Erika.

Haußmann blieb stehen und starrte hinauf zu der kleinen roten Birne.

Verzeih' mir, dachte er. Verzeih' mir alles, Rika. Nun ist es zu spät für uns, ein völlig anderes Leben zu beginnen, aber du sollst wissen, wie leid mir alles tut.

»Kommen Sie!« sagte Professor Kraicic sanft. Haußmann blieb stehen, rührte sich nicht.

»Was machen sie jetzt mit Erika?« fragte der dumpf.

»Sie operieren. Wenn alles glatt verläuft, ist Dr. Dravo jetzt dabei, die Bauchhöhle auszuräumen.«

»Die Bauchhöhle.« Haußmann schwindelte es. Er lehnte sich gegen die gekachelte Wand und schloß die Augen. Wie ein rasender Kreisel kam er sich vor. »Aber es ist doch sinnlos, Herr Professor.«

Er wußte später nicht, wie er weitergegangen und in das Zimmer gekommen war. Plötzlich stand er vor einer matt schimmernden Leuchtwand, in die man drei große Röntgenbilder geschoben hatte. Die Bauchhöhle Erikas, von drei Seiten fotografiert, und in ihr, ganz deutlich zu sehen, die große, fast runde Verschattung. Ein Klumpen wie aus Wasser, von einem Ballon umgeben. Das große Auge des Todes.

Haußmann nickte. Sein Herz schmerzte, als sei es in Fetzen gerissen.

»Ja«, sagte er langsam. »So ist es. So war es auch auf dem Bild von Dr. Borgoporte.«

»Diese Aufnahmen in drei Ebenen haben uns veranlaßt, sofort zu operieren«, sagte Professor Kraicic und knipste das Licht der Leuchtwand wieder aus. »In drei Wochen können Sie Ihre Frau zur Erholung ans Meer mitnehmen. Nach Hvar oder Krk.«

Haußmann schluckte. Dann wurden ihm die Beine weich, er setzte sich, und in seinem Kopf brummte es wie ein riesiger Hummelschwarm.

»In . drei . Wochen.«, stotterte er. »Gesund.?«

»Ja.«

»Durch Operation?«

»Ja.«

»Dann . dann ist es kein Krebs?«

Ein Aufschrei war es. Ein Schrei, der hell durch den großen Raum gellte.

»Nein!« sagte Professor Kraicic fest. »Es war kein Krebs!«

»Aber . das Röntgenbild.«

»Es zeigt ein subseröses Myom an der Oberfläche des Uterus. Myome sind kein Anlaß zur Panik. Sie sind selten bösartig und entwickeln sich nur vereinzelt zu Sarkomen. Ihre Gutartigkeit steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer gefährlichen Demonstration. Starke, wehenartige Schmerzen, Druckerscheinungen auf die Nachbarorgane, unregelmäßige Blutungen . das alles können auch Anzeichen eines Karzinoms sein. Nur: Bei einer histologischen Untersuchung und ein wenig Kenntnis vom Röntgenbildlesen erkennt man ein Myom sofort.« Professor Kraicic lächelte, als er Haußmanns entgeistertes Gesicht sah. »Ja, so ist das. Nehmen wir an, Sie hätten ohne Zwischenfälle Sarajewo erreicht, man hätte Ihnen das HTS gegeben, Ihre Frau hätte die Kapseln genommen und das Myom - Myome tun das gern! - wäre nach einiger Zeit verschwunden, was vor allem in der Menopause sich vollzieht, denn dieses Muskelknotenwachstum ist an die ovarielle Funktion geknüpft: Was wäre dann gewesen? Ein neues Wunder einer Wundermedizin HTS! Unheilbarer Krebs besiegt! Inoperable Frau gerettet! Die Zeitungen hätten sich überschlagen. Und was war es in Wahrheit? Ein gutartiger Tumor, dessen Entstehung zwar bis heute nicht geklärt ist, der aber alle Schrecken verloren hat.« Professor Kraicic lachte befreit. »Sehen Sie . so entstehen Wunder.«

Haußmann nickte. Noch glaubte er nicht, was er da hörte. Noch war alles so erschreckend einfach, so lächerlich normal. Es war wie das Erwachen aus einem Alptraum, in den man sich hineingewühlt hatte, und nun erwacht man und sieht, daß die Sonne scheint und die Blumen blühen.

»Erika ist gar nicht todkrank?« sagte er kaum hörbar.

»Nein.« Professor Kraicic schüttelte energisch den Kopf. »Um alle späteren Komplikationen zu vermeiden, eben die Bildung eines Karzinoms, machte Dr. Dravo jetzt eine abdominale Uterusexstirpation. Kinder wollen Sie ja nicht mehr.«

»Nein, nein«, stammelte Haußmann. »Unsere Kinder sind schon groß . erwachsen.«

»Dann sehe ich keinerlei Anlaß zur Sorge.« Der Professor ging auf Karl zu und klopfte ihm freundschaftlich und ermutigend auf die Schulter. Nichts ist für einen Mann tröstender als solch ein Schulterklopfen. »Ihre Frau wird wieder völlig gesund, und ich wünsche Ihnen, daß Sie beide über hundert Jahre alt werden ... übrigens bei uns in den Bergen gar keine Seltenheit.«

Während im OP ein gut eingearbeitetes Ärzteteam unter Leitung von Oberarzt Dr. Dravo das Myom entfernte, bemühten sich zwei Ärzte um die lebende Mumie, die in einem kleinen Zimmer neben der Aufnahme auf der Trage lag, mit wachen Augen alles aufnahm, sich aber weder rühren noch sprechen konnte.

Ratlos standen die Ärzte um das mit Haut überzogene Gerippe, bis Professor Kraicic kam. Karl Haußmann begleitete ihn. Er wollte der Enge des Zimmers und dem Warten entfliehen und hing sich an den Professor wie eine Klette.

»Wen haben Sie da mitgebracht?« fragte Kraicic. »Will der auch zu Dr. Zeijnilagic?«

»Ja. Es ist Lord James Rockpourth. Seit Jahren fährt er zu allen Krebsärzten der Welt. Was daraus geworden ist, sehen Sie. Sarajewo und das HTS sollen seine letzte Station sein.«

Haußmann sah in den Augen des Lords Zorn aufglimmen, aber der Mund verschloß jeden Ton, den er so gern sagen wollte.

Professor Kraicic beugte sich über den Mumienkopf, schob die unteren Lieder herunter, sah Lord Rockpourth tief in die wütenden

Augen und nickte.

»Zimmer 2a«, sagte er. »Lassen Sie eine Calcium-EnzymInfusion vorbereiten. Ich komme gleich.«

Man rollte den starren Lord Rockpourth aus dem Zimmer und deckte ihm ein Handtuch über den Kopf, damit Besucher, die das Krankenhaus betraten, nicht sofort durch diesen Anblick geschockt würden.

»Erzählen Sie mir von dem Lord«, sagte Professor Kraicic und steckte sich wieder eine Zigarette an.

»Da kann ich wenig erzählen.« Haußmann hob die Schultern. »Wir lernten uns auf dem Schiff kennen, und auf einmal hatte ich ihn im Gefolge. Sein Wagen hat eine Panne. Chauffeur, sein Neffe Robert und meine Sekretärin werden bald nachkommen.«

»Sehr gut. Mir scheint nämlich, daß der Lord nichts anderes ist als das Opfer einer falschen Ernährung. Vor allem fehlt ihm in hohem Maße Calcium. Seine Starrheiten sind ausgeprägte Pseudo-Tetanien. Ein Wunder, daß der Mann noch lebt. Er muß das Herz eines Bullen haben.« Der Professor sah Haußmann plötzlich mit schräg geneigtem Kopf an. »Sie reisen mit Ihrer Sekretärin?« fragte er etwas gedehnt.

»Ja.« Haußmann starrte an Kraicic vorbei gegen die Wand. Er fühlte, wie er rot wurde, und das ärgerte ihn maßlos.

»Hm.« Der Professor rauchte einen tiefen Zug. »Ich möchte es noch einmal sagen, Herr Haußmann: Ihre Frau wird gesund. Wir verstehen uns?«

»Ja«, sagte Haußmann ganz leise.

Und er schämte sich zum viertenmal.

Der erste Helfer, der bei dem großen Rolls hielt und die drei Wartenden befreite, war ein Ochsenfuhrwerk. Neffe Robert und der Chauffeur hatten den Wagen etwas von der Kurve weggerollt. Nun saßen sie alle im spärlichen, harten, von der unbarmherzigen Sonne vergilbten Gras, aßen Melonen Scheiben, die ihnen das Hotel in einem Verpflegungspäckchen mitgegeben hatte, tranken kalten Tee aus einer Thermosflasche und lauschten auf ein rettendes Motorengeräusch.

Marion Gronau faßte das Ganze als eine willkommene, romantische Unterbrechung der langweiligen Reise auf. Sie lag im Gras, das Kleid war an ihren schönen Schenkeln emporgerutscht, und sie machte keinerlei Anstalten, es wieder herunterzuziehen. Im Gegenteil: Sie öffnete noch zwei Knöpfe des blusenartigen Oberteils auf, und der junge Lord hatte die Auswahl, was er mehr bewundern sollte -die weißen, langen Beine oder denn prallen Brustansatz.

»Was wollen Sie einmal werden, Bob?« fragte sie und räkelte sich. »Sie haben studiert?«

»Ja, Miß Marion. Soziologie.«

»Das ist doch so etwas wie Politik.«

»Gesellschaftslehre.«

»Und was wollen Sie damit anfangen?«

»Ich werde einmal einen Platz im Oberhaus bekommen, Miß Marion. Außerdem werde ich die Güter meiner Familie verwalten und Golf spielen.«

»Ist das auch ein Beruf?« fragte Marion anzüglich.

»Natürlich! Englands ökonomischer Blick wird beim Golfspiel trainiert. In den Pausen werden die Geschäfte abgeschlossen.«

»Und wenn Ihr Onkel James Sie wirklich enterbt?«

Neffe Robert lächelte mokant. »Ich bin sein einziger Erbe. Wer die englische Familientradition kennt, hat vor solchen Drohungen keine Angst.«

»Sie werden also einmal sehr reich sein?«

»Reich sein ist relativ.« Robert Rockpourth warf sich neben Marion in das harte, staubige Gras. »Ein Mann, der an einem schottischen See sitzt und angelt, kann reicher sein als ein Bankier in der City; denn allein die Zeit, dort zu sitzen und zu angeln, muß durch Reichtum erworben sein! Und dabei kann es ein Streckenwärter der Bahn sein. Verstehen Sie?«

»Nein«, sagte Marion ehrlich.

»Macht nichts.« Robert lächelte in den weißblauen Sommerhimmel. »Die meisten Menschen glauben, Reichtum sei es, Kisten voll Geld zählen zu können.«

»Genau so denke ich auch.«

Die Hitze war einschläfernd. Marion dehnte sich, eine wohlige Müdigkeit überkam sie, und sie fühlte, wie sie langsam wegglitt in den Schlaf. Doch bevor sie ganz versank, wurde sie wieder hellwach, denn über ihr wurde es dunkel, ein Schatten fiel auf sie, und dann spürte sie einen Kuß, schüchtern und doch voll Begehren.

Ebenso schnell war die Sonne wieder da. Sie hörte ein leises Seufzen und neben sich das Rascheln des trockenen Grases.

»Oh.«, sagte sie mit kindlicher Stimme. Sie breitete die Arme aus und wußte, daß jetzt auch ihr Ausschnitt auseinanderklaffte. Sie drehte den Kopf zur Seite und sah in die blauen Augen von Robert Rockpourth. »Ich habe geträumt. Ein schöner Traum. Ich wurde geküßt.«

»So etwas träumt man manchmal.« Neffe Robert kaute an der Unterlippe. »Das macht die Sonne, Miß Marion.«

»Es war ein Märchenprinz, der mich küßte.« Sie blinzelte zu ihm hin. »Können Sie sich vorstellen, daß ein Prinz eine arme Sekretärin küßt?«

»Nein!« sagte Robert Rockpourth zurückhaltend. »Es gibt gewisse Konventionen, die man nicht durchbrechen sollte.«

»Das dachte ich mir auch!« Marion setzte sich mit einem Ruck auf. Ihr Blick war giftig, aber sie sah nicht den jungen Lord an, sondern das in der Sonne schillernde Auto. Na warte, dachte sie. Du scheinheiliger Patron! Ich werde dich noch dazu bringen, daß du vor meinem Fenster stehst und Steinchen gegen die Scheibe wirfst. Und ich werde nicht aufmachen. Nein! Ich werde dich kochen lassen im eigenen Saft.

Sie knöpfte den Ausschnitt wieder zu, zog den Rock über ihre Knie und setzte sich schicklich hin.

Wenig später bog knarrend der Ochsenkarren um die Kurve. Der Retter.

Man band den Rolls mit einer Leine hinten an den Karren an, der Bauer schrie unartikulierte Laute, drosch aufdie beiden brummenden Ochsen ein, und während der Chauffeur mit saurer Miene hinter dem Steuer saß - man stelle sich das vor: ein Rolls-Chauffeur hinter einem Ochsenkarren! Diese Blamage! -, kletterten Robert und Marion zwischen die Leiterseiten des Karrens und setzten sich auf die obere Stange.

»Es stinkt nach Schweinen«, sagte Robert Rockpourth und hob die Nase. »Ich kenne diesen Geruch ganz genau. Der Bauer hat mit diesem Karren Schweine zum Markt gebracht.«

»Und nun transportiert er uns«, sagte Marion giftig.

»Sie haben Sinn für Humor, Miß Marion«, lächelte Robert. »Das gefällt mir.«

Und er steckte sich eine Zigarette an.

So rückten sie nach einer Stunde glutvoller Zuckelei in Bosinj ein, einem Dorf, in dem die Welt vor 300 Jahren stehengeblieben war.

Aber es gab doch ein Auto in Bosinj. Es gehörte dem Schmied, und für 2.000 Dinare erklärte er sich bereit, nach Sarajewo zu fahren.

Es war später Abend, als sie ankamen. Die vorbestellten Zimmer im Hotel >Europa< waren leer. Von Lord Rockpourth, Karl und Erika Haußmann wußte man nichts. Sie waren noch nicht angekommen. Und keiner wußte auch, wo sie waren.

»Das ist aber merkwürdig«, sagte Robert. »Es gibt doch nur diese Straße nach Sarajewo. Wenn sie auch eine Panne hatten ... wir hätten sie doch einholen müssen. Sie können nicht einfach verschwinden.«

»Vielleicht sind sie in Mostar geblieben?« sagte Marion. In ihren Augen stand ehrliche Sorge. »Wir sind ja durch Mostar gerast wie die Irren. Als ob wir ein Rennen nach Sarajewo gewinnen müßten.«

»Was sollen sie in Mostar?«

»Vielleicht ist etwas passiert? Ihr Onkel.«

Robert nickte. Er ließ durch den Chefportier in den beiden Mo-staer Krankenhäusern anfragen. Nach einer halben Stunde wußte man Bescheid. Robert kam sehr nachdenklich an den Tisch in der Hotelhalle zurück, wo Marion wartete.

»Sie sind in Mostar. Mrs. Haußmann ist operiert worden, und mein Onkel hat nach einer Infusion so viel Kraft bekommen, daß er mit dem Oberarzt über schottische Schafzucht diskutiert.«

»Operiert.«, sagte Marion leise. Ihre Augen verdunkelten sich. »Ich dachte, Erika ist nicht mehr zu operieren.?«

»Anscheinend geht es ihr gut.« Der junge Lord lächelte etwas ironisch. »Man spricht sogar davon, daß sie völlig gesund wird.«

In dieser Nacht schlief Marion Gronau nicht eine Minute. Sie saß auf dem Balkon, sah hinunter auf die Straße und hinüber zu den schlanken Minaretts der Moscheen und wußte, daß sie den Kampf um Karl Haußmann und um ein sorgloses Leben endgültig verloren hatte.

In der Nacht klopfte es leise an die Tür.

Frank Hellberg schreckte auf, sprang aus dem Bett und öffnete die Tür einen Spalt. Draußen stand, schüchtern wie ein Kind und mit großen, bettelnden Augen, Claudia Torgiano. Sie hatte die Arme über der Brust gekreuzt und sah erbärmlich hilflos aus.

»Ich kann nicht schlafen, Frank«, sagte sie leise. »Ich habe Angst, so sinnlose, dumme Angst. Kann ich hereinkommen?«

Hellberg öffnete die Tür ganz und zog sie in sein Zimmer. Auf nackten, tapsenden Füßen lief sie zu seinem Bett, warf sich hinein und deckte sich bis zum Hals zu. Ihr kleiner, von den langen, schwarzen Haaren umrahmter Kopf war kaum in den Kissen zu sehen.

»So ist es gut«, sagte sie. »So habe ich keine Angst mehr. Komm Frank, leg' dich zu mir.«

Hellberg atmete tief durch. Dann kam er langsam zum Bett und setzte sich auf die Kante. Claudias Hände waren heiß und feucht, als er sie zwischen seine Finger nahm.

»Du hast Fieber?« fragte er erschrocken.

»Das macht nur die Angst. Ich kann nicht allein sein, Frank. Ich muß bei dir sein. Immer.«

»Zunächst müssen wir vernünftig sein, mein kleiner Liebling.« Er strich ihr über das Haar, und sie nahm seine Hand, drückte sie an ihren Mund und küßte seine Handfläche.

»Komm!« sagte sie leise.

»Wir haben morgen eine anstrengende Reise vor uns.« Es fiel ihm schwer, so zu reagieren. »Du solltest schlafen, Liebste.«

»Du liebst mich nicht, Frank.«

»Ich liebe dich, wie es Worte gar nicht ausdrücken können.«

»Du sagst es bloß. Du willst mich trösten. Du spielst mir etwas vor.« Ihre kleine Stimme zerbrach. »Du ekelst dich vor mir, weil ich Krebs habe.«

»Claudia!« Hellberg riß sie aus den Kissen und preßte sie an sich. »So etwas darfst du nie, nie wieder sagen.«

»Ich habe solche Sehnsucht nach dir«, flüsterte sie. »Und ich habe doch nur noch so wenig Zeit für die Liebe.«

Später lagen sie nebeneinander, aber sie lagen wie Schwester und Bruder. Claudia schlief. Ihr Kopflag aufseinem Oberarm, ihr zierlicher, kindlicher Körper schmiegte sich an ihn. Ein glückliches Lächeln lag auf ihren Lippen. Sie fühlte sich geborgen. Sie war nicht mehr allein auf der Welt. Sie hatte eine Heimat in den Armen Franks.

Sie war so glücklich.

Am nächsten Morgen um 8.30 Uhr standen sie auf dem Bahnsteig des Schmalspurbahnhofes am Zug nach Sarajewo. Sie waren pünktlich gekommen, aber sie kannten die Gepflogenheiten Serbiens nicht. Schon eine Stunde vor der Abfahrt war der Zug von Hunderten von Reisenden gestürmt worden, die wie eine donnernde, brüllende Woge in die Wagen stürzten, kaum daß der Zug hielt. Nun war er bereits überfüllt, in den Gängen stand man eingekeilt, ein Umfallen war unmöglich. Die rauchende, blubbernde und zischende Lok wirkte wie aus dem Museum entliehen, die pufferlosen Wagen waren eine Mischung zwischen Viehwagen und Werkstatt waggons. Aus den heruntergeschobenen Fenstern quoll eine Wolke von Stimmen und Kindergeschrei, getragen vom Duft aus Knoblauch, Schweiß und nicht bestimmbaren Gerüchen.

»O Gott.«, sagte Claudia. Aber es war kein Schreckensruf. Das Glück der vergangenen Nacht hatte sie verwandelt. Für sie war die Welt nun immer voll Sonne; es gab nichts, was ihre innere Freude zerstören konnte. »Wir müssen aufs Dach klettern, Frank.«

Hellberg hielt einen Beamten fest, der an ihm vorbeilief, zeigte ihm die Fahrkarten und wies auf den überfüllten Zug.

»Nix.« sagte er. »Prego.«

Der Bahnbeamte sah Hellberg und Claudia kurz an. »Italiano?« fragte er zurück.

»No. Allemani.«

»Oh!« Der Beamte grüßte, lächelte breit, hob die Hand und sagte etwas, was Hellberg so verstand, daß er warten solle. Er sah, wie der Beamte mutig - und es gehörte Mut dazu! - einen der besseren Wagen enterte, die an der Tür stehenden Menschen, ganz gleich ob Mann oder Frau, mit den Fäusten zur Seite boxte und unter lautem Geschrei im Inneren des Wagens verschwand. Es war, als habe jemand mit einem Stock in einen Ameisenhaufen gestoßen. In dem Waggon quirlten die Körper durcheinander, eine Frauenstimme schrie hysterisch, durch ein offenes Fenster flog eine Mütze auf den Bahnsteig . dann, nach ungefähr zehn Minuten, erschien der todesmutige Beamte wieder an der Tür, schwitzend, aber mit breitem Lächeln, und winkte mit beiden Armen.

»Wir haben Plätze«, sagte Hellberg ehrlich erstaunt. »Das nennt man echte Gastfreundlichkeit.«

Sie zwängten sich durch die Menschen, kämpften sich an Bäuchen und Brüsten vorbei, aber was Hellberg erwartet hatte, geschah nicht: Niemand schimpfte, niemand wurde handgreiflich, keiner war beleidigt. In einem Abteil waren zwei Plätze am Fenster geräumt. Wer dort vorher gesessen hatte, wußte Hellberg nicht. Er ließ Claudia Platz nehmen und wandte sich dann an die anderen Reisenden, die wie gestapelte Rundhölzer nebeneinander standen.

»Verzeihung«, sagte er. »Das habe ich nicht gewollt. Ich wollte nur mitgenommen werden.«

Die Reisenden grinsten ihn an, nickten, und die vorderen, die sich noch bewegen konnten, winkten ihm zu.

Um 9 Uhr gellte ein Pfiff über den Bahnhof. Der Zug ruckte plötzlich an, die Mauer der Leiber wankte, aber sie konnte nicht fallen, Dampfzischte aus dem Schornstein der kleinen, alten Lok, und dann fuhr der Zug, polternd und rumpelnd, schaukelnd und stöhnend und verließ das Paradies Dubrovnik, um einzutauchen in ein Land, das wild und feindlich war.

Hellberg und Claudia sahen hinaus. Durch Schluchten und über steile Täler, in deren Gründe ein Wildbach rauschte, schwankten die Wagen langsam bergan. Es war ein Eilzug, aber man konnte gemütlich während der Fahrt auf- und abspringen, und ein paar junge Burschen taten es auch, angefeuert von den Rufen der Zuschauenden.

Vor jedem Tunnel pfiff die Lok, dann wurden schnell die Fenster hochgedreht, denn die Tunnels waren eng, und eine Woge von Ruß schlug in dem engen Schlauch über den Wagen zusammen. Kaum wieder im Tageslicht, rasselten die Fenster herunter, denn auch der Gestank innerhalb des Zuges war selbst starken Nerven bei geschlossenen Fenstern zuviel.

Die erste Station. Hellberg merkte sich den Namen nicht, aber fasziniert starrte er aufdie Händler, die am Zug mit lautem Geschrei und wilden Gesten entlangrannten. In Bauchläden boten sie Gebäck und Limonade oder Trinkwasser in Plastikflaschen an, Andenken aus Gips, Bettvorleger, Kopftücher und Glasketten. Ein Mann mit einem Kofferradio stieg ein. Jubel empfing ihn, er mußte sein Gerät sofort anstellen und auf volle Lautstärke drehen. Musik kreischte durch den Gang, jemand sang mit, ein Kind schrie. Im Abteil, in dem Hellberg und Claudia saßen, war auch ein junges Pärchen. Es stand neben der Tür. Und dieses Pärchen begann nun zu tanzen nach der plärrenden Musik. Aber das war kein Tanz mehr, sondern nur mehr ein wildes Aneinanderreiben, und das Mädchen bekam große, glänzende Augen, feuchte Lippen und stieß kleine, spitze Schreie aus.

Weiter. Die Lok keuchte. Steil ging es bergauf, dann über eine Hoch-ebene, über kühn gespannte Brücken, vorbei an silbern glitzernden Talsperren und rauschenden Flüssen.

»Jetzt schwimmen.«, sagte Claudia und lehnte sich schwitzend zurück. Die Luft war zum Schneiden dick, es machte Mühe, tief zu atmen, obgleich das Fenster offen war.

Eine neue Schlucht, Steilhänge, bewachsen mit niedrigem Gestrüpp, das kaum die kahlen Felsen überwucherte. Ein Land, das gegen alles kämpft, gegen Sonne und Regen, gegen Wasser und Fruchtbarkeit, das nur eins kennt: Haß gegen alles, was Leben bringen kann.

Grelle Pfiffe. Ein neuer Tunnel. Fenster hoch. An der Unruhe der erfahrenen Reisenden erkannte Hellberg, daß etwas bevorstand. Man holte Taschenlampen heraus und Feuerzeuge. Also ein langer Tunnel, der längste bisher.

Claudia tastete nach Hellbergs Hand, als sie in den schwarzen Tunnel hineinschwankten. Trotz der geschlossenen Fenster quoll Ruß in die Waggons, wieder schrie das Kind, das Radio brachte jetzt anscheinend Nachrichten, denn eine Stimme sprach monoton dahin, das junge Pärchen küßte sich ungeniert und hielt sich eng umklammert . und dann plötzlich, nach einem lauten Schnaufen und Zucken, hielt der Zug mitten im Tunnel.

Das hatte man erwartet. Im Tunnel ging die Strecke steil bergauf, der Zug war überfüllt, und die kleine, alte Lok streikte nun.

»Was wird nun?« fragte Claudia ängstlich. »Müssen wir alle aussteigen und schieben?«

Hellberg lachte. Jemand, der etwas deutsch konnte, sagte aus dem dunklen Hintergrund im Gang:

»Nix Angst! Nur mehr Feuer machen. Mehr PuffpufflDann weiter!«

Und so war es. An der Lok arbeiteten vier Mann und schippten Kohlenberge in die Kesselfeuerung. Zwischendurch versuchte man, ob genug Dampfdruck vorhanden sei. Dann ruckte der Zug an, krabbelte ein paar Meter vorwärts und stand wieder.

Die Kohlenschipperei ging weiter. Mehr Dampf, Genossen! Mehr Kraft! In ein paar Jahren ist hier die Normalspurbahn. Der Fortschritt. Bewegt die Schaufeln, Leute!

Es dauerte gute zwanzig Minuten, bis es aus der Lok hell zischte. Durch die Menschenmauern ging ein Aufatmen. Gleich geht's los. Zur Sonne, Brüder!

»Es läßt sich nicht ändern, Genossen«, sagte ein älterer Mann, der im Abteil Hellbergs stand und sich am Gepäcknetz festgeklammert hatte. »Zucker habe ich. Ein Spritzchen muß ich haben, genau zur festgsetzten Zeit. Jetzt ist's soweit. Entschuldigt, Bürger, kein schöner Anblick ist's, aber es geht um meine Gesundheit.«

Er sah sich nach allen Seiten um, grinste, holte aus der Tasche ein verchromtes Kästchen, entnahm ihm eine kleine Injektionsspritze, sägte eine Ampulle ab, zog die Spritze aufund drückte die Luft aus der Kanüle. Dann streifte er die Hosenträger ab, knöpfte die Hose auf, zog sie herunter, hob sein Hemd hoch und suchte auf seinem Oberschenkel eine gute Stelle.

Claudia sah schnell weg zur Seite, hinaus in die Schwärze des Tunnels. Das Mädchen mit den feuchten Tanzaugen kicherte blöd, eine Frau, die neben Hellberg saß, hochschwanger, mit dem Leib wie ein prall gefüllter Ballon, deckte sich ein feuchtes Handtuch über das Gesicht.

»So -«, sagte der Mann, als er sich die Spritze mit Insulin gegeben hatte. »Das war nötig. Ich danke euch, Genossen. Man ist ein armer Mensch, wenn man nur durch Spritzen leben kann.«

Die Lok zischte, wie kurz vor einer Explosion, aber die Wagen rollten langsam weiter, wurden schneller und schneller und rumpelten wie Musik. Jubel war in allen Wagen, und als man die Sonne ahnte, als es fahl wurde im Tunnel, sangen sogar einige. Eine Flasche Slibowitz kreiste plötzlich im Abteil. Die Schwangere nahm einen Schluck, das Pärchen, der Zuckerkranke, und auch Hellberg ließ den scharfen Schnaps in sich hineinlaufen, um den Spender nicht zu beleidigen.

Mostar. Großer Aufenthalt. Die einen stürmten aus dem Zug, die anderen wollten hinein. Wer bisher stand, saß jetzt, denn während der Fahrt hatte man über die Sitzplätze bereits verhandelt. Ein altes Mütterlein in der Ecke, niemand hatte sie bisher gesehen, bekreuzigte sich, als der Zug doch weiterfuhr. Hinaus aus Mostar mit seinen steinigen Gassen und Moscheen. Und ohne zu wissen, wie nahe sie Karl und Erika Haußmann waren, sahen Claudia und Hellberg auch hinüber zu dem langgestreckten Gebäude des Krankenhauses.

»Eine ganz moderne Klinik!« sagte Hellberg sogar. »Wer vermutet das hier?«

Und weiter ging die Fahrt, Güterwagen wurden angekoppelt und auf der nächsten Station wieder stehengelassen, eine zweite Lok drückte den Zug von hinten einen neuen Berghang empor, und dann rappelten sie wieder durch karstiges Land und durch Landstriche, in denen selbst die Füchse weinen.

Claudia war am Ende ihrer Kräfte, zu schlaff, um ohne Hilfe Hellbergs zu gehen, als sie gegen 21.30 Uhr endlich den Bahnhof von Sarajewo erreichten.

Neues Geschrei umgab sie. Eine Menschenmenge stürzte sich auf die Reisenden, als wolle sie sie lynchen. Aber es war nur Hilfsbereitschaft, nur Brüderlichkeit, denn alle, die da angestürmt kamen, hatten etwas anzubieten: eine Taxe, das Tragen des Gepäcks, Hotelzimmer, Privatquartiere, Adressen von Cafes und Weinlokalen, Tanzsälen und Goldschmieden. Ein Schuhputzer baute seinen Schemel auf und hieb die Bürsten gegeneinander wie die Becken einer Militärkapelle. Eine alte Frau schob auf kreischenden Rollen eine Waage heran und schrie, man solle sich wiegen lassen. Zur Gesundheit gehöre es, Genossen. Und Gesundheit ist Volkspflicht.

Die Menschen aus dem Abteil Hellbergs waren freundliche Leute, jeder gab Hellberg und Claudia die Hand wie alten Freunden, man winkte ihnen zu und eilte davon. Und sie alle sahen gleich aus, wie Brüder: rußgeschwärzt im Gesicht, mit schmutzigen Hemden und Händen, wie überzogen mit Schmiere, aber fröhlich und freundlich, denn man hatte Sarajewo wohlbehalten erreicht.

Frank Hellberg führte Claudia durch die ihn umgebenden quirlenden Menschenmassen zu einer Bank. Dort sank sie nieder und legte den Kopf weit in den Nacken, um tief, tief Luft zu holen.

»Ich werde uns ein Quartier besorgen«, sagte Hellberg. »Irgendwo gibt es hier einen Schalter der Fremdenverkehrsorganisation. Ich bin schnell wieder zurück, Liebste.«

Claudia nickte. Schlafen, dachte sie. Ein Bett, die Arme Franks, seine Wärme, seine Geborgenheit, und träumen . nur träumen . schlafen.

Hellberg rannte durch die Halle des kleinen Schmalspurbahnhofes hinaus auf den Vorplatz und hinüber zu dem großen Bahnhof der Normalbahn, in dem die Züge aus dem Norden und Osten hielten. Hier war alles großstädtischer, sauberer, propagandistischer. Hier hingen Fahnen und Spruchbänder, hier herrschte Ordnung und wachte das Auge der Miliz.

Vor einem Zeitungsstand blieb Hellberg stehen. Sein Blick überflog die Zeitungen. Eine deutsche war nicht darunter, aber ein paar englische.

Und dann wurden seine Augen starr, und Blässe ließ sein Gesicht fahl werden. Es war, als fiele es zusammen. Wie hundert Jahre sah er aus.

Eine Schlagzeile.

Der Daily Mirror.

»Das darf nicht wahr sein.«, sagte Hellberg leise. »Das darf einfach nicht wahr sein.«

Er trat näher und nahm die Zeitung aus der Drahtklemme. Die Schlagzeile zitterte in seinen Fingern.

»Nach Gutachten der Spezialisten:

Verbot des Krebs->Wundermittels< HTS.«

Frank Hellberg faltete die Zeitung schnell zusammen, nachdem er den Artikel überflogen hatte. Ein Gremium jugoslawischer Ärzte hatte die Gesundheitsinspektion von Bosnien dazu überredet, das Mittel HTS als unwissenschaftlich und unerprobt< abzulehnen und damit zu verbieten.

»Erst lange Versuchsreihen an Tieren und in Kliniken, Veröffentlichungen in medizinischen Fachblättern und Erfahrungsaustausch ausländischer Kliniken sind die Voraussetzungen für die Entwicklung eines Mittels, das anerkannt werden kann«, schrieb die Zeitung. »Hier aber ist ein Arzt mit völlig unorthodoxen Mitteln vorgegangen und hat Hoffnungen erweckt, die nicht zu realisieren sind!« Aber auch die erste Stellungnahme Dr. Zeijnilagics war abgedruckt. Es war ein trauriger, ein fassungsloser Appell an die Welt, die Hoffnung nicht zu verlieren und den Intrigen der anderen Ärzte nicht mehr zu glauben als ihm: »Ich habe das Präparat HTS für den Menschen entwickelt und nicht für das Tier«, sagte er. »Ich bin kein Scharlatan. Ich habe 15 Jahre an dem Mittel gearbeitet. 3.000 Krebskranke haben es bisher bekommen, und 1.000 sind geheilt oder wesentlich gebessert worden! Man soll doch abwarten, wie die Tumorzellen auf mein Mittel wirken! Warum verurteilen, was man noch nicht kennt?«

Frank Hellberg kam langsam zu der Bank zurück, auf der Claudia wartete. Sie war eingeschlafen, hatte den Kopf auf den rechten Arm gelegt und hockte auf der Bank wie ein kleines, vergessenes, vom Weinen erschöpftes Mädchen.

Hellberg blieb stehen und sah sie mitleidig an.

War alles umsonst? dachte er traurig. Muß sie wirklich sterben, nur weil sich die Ärzte untereinander nicht den Ruhm gönnen? Nur weil ein Mensch es wagte, >unwissenschaftlich< vorzugehen und weil dies als eine Brüskierung der Medizin empfunden wurde, auch wenn er Erfolg hatte. Ist ein Expertenstreit wichtiger als Tausende Menschenleben, die in der Zeit des Streitens zugrunde gehen? Geht es hier nur um die Form, um die Ansicht einzelner und nicht um den kranken Menschen?

Arme Claudia. Nun sind wir am Ziel, aber es ist wie bei einer Wüstenwanderung: Man erreicht den ersehnten, lebensrettenden Brunnen, und er ist leer!

Hellberg beugte sich über Claudia und küßte sie auf den Nacken. Sie fuhr empor, wischte sich die Augen, und ihr mit Ruß und Staub verschmiertes Gesichtchen starrte erschrocken umher. Dann wußte sie wieder, wo sie war, und sah Frank mit einem kindlichen Lächeln an.

»Ich habe geschlafen. Hast du ein Quartier, Frank?«

»Ich habe eine Liste der Hotels und Pensionen gekauft. Fahren wir erst zum Hotel >Beograd<. Ein gutes, nicht so teures Hotel. Ich glaube, daß wir mehr Platz finden, als wir erwartet hatten.«

Er dachte an den zwei Tage alten Artikel in der Daily Mirror und den damit versiegenden Strom der Kranken aus Italien und anderen Ländern.

In einem uralten, klapprigen Taxi fuhren sie zur Princip Straße 9, wo das Hotel Beograd lag, ein schönes Haus mit Terrasse und Sommergarten und einem romantischen Blick auf die Spitzen der Minarette. Halb Sarajewo schien aus Moscheen zu bestehen, und viele der Menschen, an denen sie vorbeifuhren, trugen rote Feze auf den Köpfen und sogar die weiten, orientalischen Pumphosen.

Hellberg hatte recht, man hatte zwei Zimmer frei. Niemand störte sich an dem schmutzigen Aussehen der neuen Gäste. Man wußte: Sie sind mit der Kleinbahn aus Dubrovnik gekommen. Allah hat sie gut geführt - sie leben noch! Und das schöne Mädchen ist sehr krank, das sieht man auch.

»Am besten treffen Sie Dr. Zeijnilagic um die Mittagszeit an«, sagte der Portier hinter der Rezeptionstheke, bevor Hellberg noch ein Wort gesprochen hatte. »Wenn Sie wünschen, melde ich Sie an. Wir haben einen guten Kontakt zu Dr. Zeijnilagic.« Das alles geschah in einem fließenden Englisch, mit großer orientalischer Höflichkeit.

»Morgen!« sagte Hellberg schnell. Er hatte Angst, der Portier könne etwas von dem Verbot des HTS sagen. »Erst wollen wir uns ausschlafen. Es war eine anstrengende Reise.«

»Ein schönes Land, unser Bosnien, nicht wahr?« sagte der Portier. »Allah hat es gesegnet.«

»Das hat er gewiß«, antwortete Hellberg knapp. Dann fuhren sie in einem engen Fahrstuhl in den zweiten Stock und bekamen zwei kleine, saubere, aber spärlich eingerichtete Zimmer mit Blick aufden Sommergarten und hinüber zu den Moscheen.

Claudia war zu müde, um noch etwas zu essen. Hellberg bestellte für sie eine dicke Melonenscheibe und für sich ein Schaschlik. Sie aßen zusammen in Claudias Zimmer; dann gab Frank ihr einen Kuß, sagte: »Und nun schlaf schön, mein Liebling«, und verließ das Zimmer.

Er wartete eine halbe Stunde, bis er sicher war, daß Claudia schlief, und ging hinunter in die Hotelhalle. Der Portier vermittelte ein Telefongespräch mit Dr. Zeijnilagic, und dann war es Hellberg, der den Atem anhielt, als aus dem Hörer eine kräftige, männliche Stimme tönte und »Guten Abend, Zeijnilagic!« sagte. Auch er sprach englisch.

»Hier ist Frank Hellberg«, sagte Frank und wunderte sich, wie gepreßt plötzlich seine Stimme klang. »Für Sie ist es ein Name wie tausend andere, und auch, wenn ich Ihnen sage, daß meine Begleiterin Lungenkrebs hat und Ihr HTS für sie die letzte Hoffnung ist, wird das nichts Neues für Sie sein. Ich rufe Sie an, Doktor, weil ich deutscher Journalist bin. Nicht ein Journalist, der bedenkenlos hurra schreibt und im nächsten Artikel >Kreuzige ihn<, sondern der die Wahrheit schreiben will, wo so viel Unwahres gedruckt wird.«

»Das hört sich gut an«, sagte die Stimme Dr. Zeijnilagics. »Was wollen Sie wissen?«

»Alles, Doktor.«

»Alles ist sehr viel. Es umfaßt fast 16 Jahre.«

»Heilt Ihr Mittel HTS?«

»Das ist eine Frage, wie etwa: Können Sie Ebbe und Flut regulieren?! - Ich weiß es nicht. Mein HTS ist kein anti-tumoröses Mittel; es beeinflußt lediglich den Krankheitsverlauf günstig. Kommt es dabei zu völligen Ausheilungen, so haben wir Gott zu danken.«

»Das ist eine weite Deutung«, sagte Hellberg.

»Ich weiß.« Die Summe Dr. Zeijnilagics war ganz ruhig. »Kommen Sie zu mir und sehen Sie sich alles an.«

»Sehr gern! Wann paßt es Ihnen?«

»Wenn Sie wollen . sofort.«

»Es ist schon spät.«

»Für die Wahrheit ist es nie zu spät.«

»Sie werden müde sein, Doktor.«

»Ich schlafe seit Jahren wenig. Werden Sie die Kranke mitbringen?«

»Nein. Ich komme allein. Ich habe von dem Verbot gehört.«

»Sehen Sie sich alles an. Ich heiße Sie willkommen.«

Ein Klicken in der Leitung. Dr. Zeijnilagic hatte aufgelegt. Frank Hellberg wischte sich über das Gesicht. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er sah auf seine Uhr. Das Glas war verkratzt, ob im Omnibus oder bei der Zugfahrt, er wußte es nicht.

In 10 Minuten sitze ich dem Mann gegenüber, der vielleicht die Möglichkeit entdeckt hat, die Geißel der Menschheit, den Krebs, ernsthaft zu bekämpfen. Ohne Operation, ohne starke Strahlungen, nur mit ein paar Kapseln eines stark nach Kampfer riechenden Pulvers.

Vielleicht.

Oder ist auch er ein Scharlatan wie dieser Dr. Tezza? Nur noch raffinierter, kälter, skrupelloser?

»Das Taxi wartet, Sir«, sagte der Portier, als Hellberg die Telefonkabine verließ. Dabei lächelte er breit, begleitete Hellberg auf die Straße und nahm mit einer schnellen, gekonnten Handbewegung die 1.000 Dinare an, die Hellberg in der hohlen Hand verborgen hielt. Trinkgelder sind im sozialistischen Land verpönt, aber welcher Mohammedaner lehnt ein Bakschisch ab?

Die Fahrt von der Princip-Straße bis zum Hause Dr. Zeijnilagics war nur kurz. Ein paar Ecken herum, ein paar enge Gassen, dann rollten sie an dem Flüßchen Miljacka entlang über die Obala-Stra-ße, und Hellberg sah, daß der Taxichauffeur in echter orientalischer Art mit ihm ein paar Straßen und Häuserblocks zuviel umfahren hatte, um den Taxenpreis zu erhöhen.

Diese Gegend kenne ich von historischen Bildern her, dachte Hellberg und sah hinaus auf die Brücken über die Miljacka. Hier ganz in der Nähe fielen die Schüsse des Attentäters Princip aufden Erzherzog Franz Ferdinand. Hier begann der 1. Weltkrieg, der rund 9 Millionen Tote kostete. Hier war am 28. Juli 1914 der Teufel los. Ein blutgetränkter Boden.

Mit einem quietschenden Ruck hielt die Taxe.

Das Haus Dr. Zeijnilagics. Dreistöckig. Ein alter Bau mit abblätterndem, braunem Putz. Im Parterre eine Apotheke, um die Ecke herum ein kleiner Friseursalon. Ein Eckhaus mit drei halbrunden Balkonen, Eisengittern und Blumenkästen. Gegenüber eine Bar. Folklore-Musik drang auf die stille Straße. Hinter dem Haus griffen die Minaretts der Moscheen in den Nachthimmel. Hier begann das alte Sarajewo. Das Eingeborenenviertel mit den engen Gassen, den Goldschmiedewerkstätten, Teppichknüpfern und Tondrehern.

»Zweites Etages.«, sagte der Taxichauffeur und grinste. »Deutsch?«

»Ja«, sagte Hellberg und starrte das Haus an. Hier wurde vielleicht eine Entdeckung geboren, die eine Welt verändert, dachte er. In einem ungepflegten dreistöckigen Haus, auf der zweiten Etage in einer kleinbürgerlichen Wohnung.

Hellberg dachte an den weißen Palast Dr. Tezzas in Capistrello, und plötzlich hatte er Vertrauen zu Dr. Zeijnilagic, ohne ihn vorher gesehen zu haben. Hier arbeitet ein Mann nicht um des Geldes willen, empfand er. Hier hat ein Arzt ernsthaft geforscht und nur an den kranken Menschen, nicht an seinen eigenen kranken Geldbeutel gedacht.

Er stieg aus, bezahlte den Chauffeur und blickte zurück zur Prin-cip-Brücke, wo der Mondschein bleich über die Stelle glitt, die zum Schicksal der ganzen Welt geworden war.

»Warten?« fragte der Chauffeur.

»Nein «

»Nachher Tanz? Schönes Mädchen? Weiß Wohnung.«

»Danke.« Hellberg steckte die Hände in die Jackentaschen. Hinter den Gardinen der Wohnung im 2. Stock schimmerte Licht.

Langsam betrat Hellberg das Haus. Die Tür war offen. Als er eintrat, schlug ihm der Geruch von Medizin und Kampfer entgegen. Dazwischen hing der Duft gekochten, gesäuerten Kohles. Im Treppenhaus brannten zwei kleine Lampen. Die Dielen der Stufen waren verwahrlost, vor Jahren einmal gestrichen, vom sommerlichen Straßenstaub wie mit Mehl überzogen.

Wohnt hier ein Genie?

Hellberg dachte an Professor Hahn. Die erste Kernspaltung gelang auf einer Art Küchentisch. Und als er starb, lebte er in einer Dachkammer. Wirkliche Genies leben nicht in Palästen, denn weil sie genial sind, verachtet sie die Welt.

Schritt für Schritt stieg Hellberg die Treppen hinauf. 2. Stock.

Ein Namensschild. >Professor Zeijnilagic Fahrudin<.

Eine elektrische Klingel.

Hellberg hob die Hand. In wenigen Sekunden stand er ihm gegenüber . dem Retter der unheilbar Kranken . oder dem Schwindler, der mit menschlichem Leid jongliert.

War es auch Rettung für Claudia?

Frank Hellberg drückte auf die Klingel. Er schrak zusammen, als er den schnarrenden Laut hörte.

Die Tür öffnete sich. Ein schlankes, schwarzhaariges Mädchen von etwa 13 Jahren mit großen, dunkelbraunen Augen stand in der weiten, düsteren Diele, an deren Wänden eine Reihe alter Stühle standen. Das notdürftige Wartezimmer eines Retters der Menschheit.

»Guten Abend«, sagte das schlanke, glutäugige Mädchen auf englisch und machte einen Knicks. »Ich heiße Meliha. Mein Vater erwartet Sie.«

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