Kapitel 8

Frank Hellberg schloß die erste Zelle auf und sah kurz hinein. Ein kleiner, fensterloser Raum, erleuchtet durch Deckenlampen. Ein Bett, ein Schrank, ein Waschbecken, ein Tisch und ein Stuhl. Auf dem Boden ein Webteppich. Eine Zelle, die ganz den Eindruck eines Gefängnisses machte. Am Tisch saß ein blondes, blasses Mädchen mit verweinten Augen.

»Gehen Sie an Deck!« riefHellberg und liefweiter. Er mußte schnell handeln, ehe die anderen Matrosen aufmerksam wurden und sich zum Widerstand zusammenrotteten.

Die zweite Zelle. Ebenso eingerichtet wie die erste. Auf dem Bett ein schwarzhaariges Mädchen, das ihn erschrocken anstarrte.

»Gehen Sie an Deck!«

Und weiter. Dritte Zelle, vierte Zelle, fünfte Zelle. Überall junge, kaum dem Kindesalter entwachsene Mädchen.

Die Luxuskabine Juanitas.

Juanita saß vor einem Radio und hörte leise Musik. Sie sprang auf, als Frank die Tür aufriß.

»Sie haben es erreicht?« riefsie und warfdie Arme hoch wie zum Jubel.

»An Deck! Schnell!«

Frank rannte zurück. Die Zellen auf der anderen Seite des Ganges waren leer, aber er schloß sie alle auf, um niemanden zu vergessen. Dann rannte er an den Mädchen vorbei, die ihn festhalten wollten, die Fragen hatten, die ängstlich in den Türen ihrer Gefängnisse standen und nicht wußten, was geschehen war, kletterte zum oberen Kabinengang und hetzte zum Zimmer Claudias.

»Du lebst?!« schrie sie auf, als er die Tür aufriß, und breitete die Arme aus. »Frank ... du lebst. Was ist denn ge.?«

»An Deck!« rief Frank und rannte weiter. Bevor er die Tür zur Kommandobrücke erreichte, holte er aus der Tasche eine der Pistolen, die er Luigi Foramente und dem Steward abgenommen hatte, und schlich die kleine Treppe hinauf zum Ruderhaus. Dort lehnte der von Foramente mit der Aufsicht über das Steuerrad beauftragte Matrose ahnungslos und lässig an den Holmen und kaute Tabak. Die Sonne flutete durch die großen Fenster und beschien das Gesicht des jungen Seemannes. Er hatte die Augen geschlossen. Er sonnte sich. Das Schiff lief ja allein, und das Meer war weit. Anstoßen konnte man nirgendwo.

Frank Hellberg war mit einem leisen Satz durch die angelehnte Tür im Ruderhaus und hinter dem Matrosen.

Er drückte ihm den Lauf der Pistole in den Rücken und schlug mit der linken Hand auf die Schulter des Mannes. Der Matrose stieß einen glucksenden Schrei aus, aber dann schwieg er, denn den kleinen Druck in seinem Rücken konnte er genau deuten.

»Nach Dubrovnik!« sagte Hellberg kalt. »Navigare Dubrovnik! Avanti.«

Es war ein schauderhaftes Italienisch, aber der Matrose verstand es. Er schüttelte langsam den Kopf.

»Nix Dubrovnik«, sagte er heiser vor Angst. »Isch nix navigare. Nix weiß. Nix capito navigare.«

Frank Hellberg atmete tief auf. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht. Er spürte, wie er am ganzen Körper zu zittern begann.

Die Verständigung im Primitiven klappte vorzüglich. Der Matrose wußte selbst nicht, wo sie sich befanden, wohin sie fuhren. Das wußten nur Saluzzo und sein Kapitän Luigi Foramente.

Frank Hellberg drückte den Pistolenlauf tiefer in den Rücken des Matrosen. Gehorsam ließ er das Steuerrad los und stellte sich, die Hände im Nacken gefaltet, mit dem Gesicht an die Scheibe.

»Bene, bene!« sagte Hellberg gepreßt. Er trat an das Ruder, blickte auf den für ihn völlig sinnlosen Kreiselkompaß und den glitzernden, wandernden Finger des Radarstrahles auf dem Schirm. Dann drehte er an dem Steuerrad so lange, bis die schnelle, weiße Jacht einen weiten Bogen fuhr und Hellberg meinte, das Schiff gedreht zu haben, so daß es nun dorthin zurückkehren würde, von wo sie gekommen waren. Zurück nach Italien.

Hellberg warf einen Blick über das unendliche Meer. Nach allen Himmelsrichtungen sah es gleich aus, eine herrliche Bläue, die an den Himmel stieß. Nach der Sonne sich zu orientieren, war im Augenblick nicht möglich; sie stand direkt über ihnen.

Mit schäumendem Kiel raste die weiße Jacht durchs Meer. Unten im Maschinenraum schien man nicht bemerkt zu haben, daß die Richtung sich völlig geändert hatte. Hellberg umklammerte das Ruder und sah hinunter auf Deck, ob sich dort etwas rührte. Die Pistole lag schußbereit auf dem Kreiselkompaßgehäuse. Aus dem

Kabinengang kam Juanita Escorbal. Sie hatte einen Spitzenschal um die Schultern geworfen und rannte nun die Treppe zum Ruderhaus hinauf. Claudia folgte ihr, und dann stürzten die anderen Mädchen an Deck. Sie hatten in den Händen, was sie gerade gefunden hatten: Eisenstangen, eine Axt, ein Stück dickes Drahtseil, eine Holzstange.

»Wohin fahren wir?« rief Juanita schon auf der Treppe zur Kommandobrücke.

»Ich weiß es nicht.« Frank Hellberg zeigte mit einer weiten Handbewegung über das Meer. »Ich habe noch nie ein Schiff gesteuert. Aber irgendwie werden wir schon ankommen.«

»Lassen Sie mich, Frank.« Juanita beugte sich über den Kreiselkompaß. »Mein Bruder hatte eine Jacht, Sie wissen es ja. Ich habe manches von ihm gelernt. Geben Sie mir das Ruder. Kümmern Sie sich um die andere Besatzung. Die Leute im Maschinenraum und in den Mannschaftskojen haben wir eingeschlossen. Aber zwei Stewards sind noch in der Kombüse.«

Hellberg ließ das Ruder los und rannte die Treppe hinunter an Deck. Und zum Beweis, daß der Kampf erst begonnen hatte, schwiegen plötzlich alle Maschinen. Rauschend bohrte sich der Kiel noch einmal durch das blaue Wasser, dann glitt die weiße Jacht lautlos auf dem spiegelnden Meer. Die Männer im Maschinenraum streikten. Von der Kombüse rannten die beiden Stewards herbei.

Frank Hellberg zog die Pistole und ging hinter dem Ruderhaus in Deckung.

»Stop!« schrie Hellberg. »Hands up!« Das war ein Ausdruck, den jeder verstand, ob Italiener oder Kroate. Die Stewards blieben stehen, sprangen dann zur Seite und nahmen Deckung hinter der aufgeklappten Tür des Kabinenganges. Auf der Brücke stand Juanita Escorbal und unterhielt sich durch das Sprachrohr mit dem Maschinisten im Maschinenraum.

»Ich würde raten«, sagte sie ruhig, aber mit großem Nachdruck, »daß ihr die Maschinen wieder laufen laßt. Es hat doch keinen Sinn, toter Mann zu spielen. Wollt ihr hier herumtreiben, bis ihr ver-hungert?«

»Verdammtes Weibsbild!« Der Maschinist spuckte in das Sprachrohr. Ohnmächtiger Zorn war es, und Juanita lachte laut. »Ich zerschlage alle elektrischen Verteiler.«

»Und dann? Willst du über Bord zu den Haien, du Idiot?« Juanita steckte den Pfropfen auf das Sprachrohr und blickte hinunter auf das Deck.

Dort hatte sich in wenigen Minuten alles verändert. Frank Hellberg und Claudia standen noch immer im Schutz des Ruderhauses und starrten sprachlos auf die Szene vor sich.

Die befreiten Mädchen waren, ohne auf die Pistolen der Stewards zu achten, mit lautem Geschrei auf die Männer gestürzt. Mit Knüppeln und Fäusten hieben sie auf die Stewards ein, die vor soviel weiblichem Mut eine Sekunde lang sprachlos waren. Das war ihr Unglück. Vier, fünf Mädchenkörper fielen über sie her, die Pistolen wurden ihnen aus den Händen geschlagen, sie stürzten auf die Planken, und es half kein Umsichschlagen und kein Treten: Wie Katzen hingen die Mädchen an ihnen und hieben mit ihren kleinen Fäusten auf die zuckenden Männerkörper.

Knapp fünf Minuten dauerte der Kampf, dann lagen die Stewards besinnungslos und halb ausgezogen auf Deck. Wie die Furien rannten die Mädchen dann wieder in das Innere des Schiffes; das Schlagen der eisernen Türen und Schotten hörte man bis zur Brücke.

»Der arme Maschinist«, sagte Frank Hellberg und legte den Arm um Claudia. »Ein Glück, daß ich das Krankenzimmer abgeschlossen habe. Sie würden Saluzzo zerreißen wie Raubtiere.«

»Und mit Recht! Mit Recht!« Claudias Augen flammten. Aller Haß einer Frau lag in ihnen. Sie zitterte vor verhaltener Wut und Rache. »Was willst du mit ihm tun, Frank?«

»Der Polizei übergeben.«

»Der Polizei! Ha!« Claudia lachte laut und bitter auf. »Von Ancona bis Taranto gibt es keinen Polizeichef, der nicht mit Saluzzo auf du und du steht! O Liebster, du kennst nicht die Macht des Geldes in Italien.«

»Du, Juanita und die Mädchen sind Zeugen genug, um ihn ins Zuchthaus zu bringen.«

»Ein guter Anwalt wird beweisen, daß die Mädchen freiwillig an Bord gekommen sind. Um etwas zu erleben! Oh, du kennst das alles nicht. Du bist so ehrlich und ahnungslos. Und wenn es ganz hart für Saluzzo wird, stellt er eine Kaution von einer Million Lire -was ist für ihn eine Million! - und geht ins Ausland. Du wirst ihn nie durch Gerechtigkeit besiegen können! Für Saluzzo gibt es keine Gesetze.« Wieder flammten die schönen, schwarzen Augen Claudias auf. »Man sollte ihn töten.«, sagte sie leise.

»Claudia!« rief Hellberg entsetzt.

»Solange er lebt, ist er gefährlich.«

»Mein Gott, wie groß kann der Haß einer Frau sein.« Hellberg schüttelte den Kopf und zog Claudia mit zu den beiden halbentkleideten Körpern der Stewards. Einer von ihnen bewegte sich stöhnend und rollte sich auf die Seite. Sein Gesicht war unförmig angeschwollen und färbte sich bläulich.

Claudia ließ einen Eimer an einem Tau ins Meer - es waren die Eimer, die zum Deckwaschen benutzt wurden - und schüttete das Wasser über die Körper der Ohnmächtigen. Im Inneren des Schiffes schien die Hölle los zu sein, die Planken zitterten vom Türenschlagen, ein einzelner Schuß fiel. Auf der Brücke stand Juanita am Sprachrohr und lauschte nach unten. Der Maschinist hatte sich im Maschinenraum eingeschlossen und drohte, jedem, der die Tür aufsprengen würde und hereinkäme, den Schädel einzuschlagen. Mit einem Schraubenschlüssel, schrie er, und einem stählernen Hammer.

Die beiden Stewards erhoben sich taumelnd. An Gegenwehr dachten sie nicht mehr, ihr Widerstand war zerbrochen. Willenlos ließen sie sich von Hellberg und Claudia zur oberen Barkombüse führen und einschließen. Das Schiff war nun in Hellbergs Hand, aber es trieb, leicht schaukelnd, aufdem leuchtenden blauen Wasser der Adria, mit schweigenden Motoren.

Hellberg kletterte wieder die Treppe zur Brücke hinauf und trat neben Juanita. »Was gibt es unten?« fragte er.

»Der Maschinist kommt sich sehr stark vor.« Juanita deckte die Hand über das Sprachrohr. »Er flucht wie ein Fischweib.«

»Versuchen wir es noch einmal. Vielleicht nimmt er Vernunft an. Ohne ihn treiben wir hier wie ein Stück lackiertes Holz. Und ich möchte nicht, daß den Mädchen wirklich die Köpfe eingeschlagen werden, wenn sie die Tür aufbrechen.«

Hellberg trat an das Sprachrohr und klopfte dagegen. Von unten antwortete ein wütendes Hämmern.

»Hallo!« sagte Hellberg. Er winkte Claudia. »Du mußt dolmetschen. Sag ihm, daß es keinen Sinn hat, Widerstand zu leisten. Er ist der einzige der Besatzung, der sich noch wehrt. Sag es ihm.«

Claudia beugte sich über das Sprachrohr, und eine Flut italienischer Worte sprudelte in den Maschinenraum. Dann trat sie zurück, und Hellberg preßte das Ohr an die trompetenähnliche Sprechmuschel.

Von unten tönte laut die Stimme des Maschinisten. Und er sagte deutlich auf deutsch: »Leckt mich am Arsch!«

»Ach nee!« Hellberg schrie in das Sprachrohr und klopfte dabei gegen das blanke Messing. »Auch das noch. Mensch, ein Deutscher! Mach die Luke auf, du Idiot, und stell' die Maschinen wieder an!«

Im Maschinenraum war es einen Augenblick still. Der Maschinist schien ebenso verblüfft zu sein wie Hellberg. Aber dann hatte auch er den Schock überwunden und klopfte gegen das Rohr.

»Hallo.«

»Wo kommst du her?«

»Aus Düsseldorf.«

»Und was machst du auf dem Kahn?«

»Das erzähle ich dir alles nachher. Stell' erst die Maschinen an, Junge.«

»Geschissen, Kumpel! Was ist oben los? Was machen die brüllenden Weiber vor meinem Schott?«

»Das Kommando des Schiffes habe ich übernommen! Nun frag' nicht so - laß die Motoren rauschen.« »Klingt wie im Kino! Wo ist der Chef?«

»Saluzzo schläft im Krankenraum, zusammen mit Foramente. Ein bißchen Äther auf die Nase.«

»Ihr habt wohl alle 'ne Meise unterm Hirn?! Glaubt ihr, ich mache das Spielchen mit?«

»Hör' mal zu, du dämlicher Hund!« Hellberg drückte den Mund an die Sprechtrompete. »Ich komme gleich 'runter und wir unterhalten uns. Die Mädchen schicke ich an Deck, denn wenn die dich in die Finger bekommen, zerreißen sie dich. Die beiden Stewards sehen jetzt schon aus wie aufgegangene Hefeklöße! Und unterdessen drückst du aufs Knöpfchen und läßt den Kahn wieder fahren.«

»Einen Dreck werde ich! Ich will mit dem Chef reden!«

»Wie kann ein einzelner Mensch so dämlich sein!« Hellberg klopfte wieder gegen das Messingrohr. »Willst du in deinem Maschinenraum verhungern?«

»Hier halte ich es sechs Wochen aus!« Der Mann im Maschinenraum lachte grob. »Aber ihr da oben! Ihr bratet wie Spiegeleier! Ohne mich seid ihr armselige Pinkler.«

»Wir können dich rausholen, du Idiot.«

»Kommt nur, wenn ihr unbedingt eingeschlagene Hirne haben wollt!«

Hellberg steckte den Pfropfen wieder auf das Sprachrohr und wandte sich um. Juanita und Claudia standen wartend neben Kreiselkompaß und Ruder.

»Es hat so keinen Sinn«, sagte Hellberg. »Ich muß hinunter zu ihm.«

»Er wird dich umbringen!« schrie Claudia auf.

»Das glaube ich kaum.« Hellberg steckte die Pistole ein und schüttelte den Kopf, als er sah, wie Claudia mitgehen wollte. »Nein. Bleib hier, Liebling. Sprich mit den Mädchen, beruhige sie, räumt das Schiff aufund verhindere, daß sie die Stewards vollends ausziehen und sich wie Hyänen benehmen.« Er wandte sich an Juanita, die vor einer Seekarte stand, die an der Wand hinter dem Ruder hing. »Wenn wir das Schiff wieder flottbekommen - wohin fahren wir dann?«

Juanita hob die Schultern. »Ich weiß gar nicht, wo wir sind. Seekarten lesen, Ortsbestimmungen mit dem Sextanten . das konnte mein Bruder. Ich werde nach Kompaß fahren. Immer zurück nach Norden und dann nach Osten. Ich nehme an, daß wir näher an der jugoslawischen oder griechischen Küste sind als an der italienischen. Das erste Stück Land, das ich sehe, steuere ich an.«

Hellberg stieg hinunter zum Maschinenraum. Vor der von innen zugeknebelten Schott-Türe standen die Mädchen mit ihren Knüppeln und Eisenstangen. Aller aufgestauter Haß lag in ihren Augen und Bewegungen, es waren wirklich wilde Katzen, die da an den Wänden lehnten und auf ihr Opfer lauerten.

Hellberg blieb auf der untersten Treppenstufe stehen und sah sie einzeln an. Jedes dieser Mädchen war eine Schönheit, aber die Tage in den engen Zellen und der Rausch der plötzlich in ihre Hände gelegten Rache verzerrten ihre ebenmäßigen, hübschen Gesichter. Die wirren, zerwühlten Haare sahen dazu aus wie eine Mähne, und reißende Löwinnen waren sie nun auch.

»An Deck!« sagte Hellberg und zeigte die eiserne Treppe hinauf. »Geht an Deck! Alle!«

Die Mädchen zögerten, sahen sich an. Widerstand wollte aufkommen. Aber Hellberg trat zur Seite und zeigte wieder nach oben.

»Hinauf!« brüllte er.

Langsam stiegen die Mädchen hinauf, bis auf eine, eine braunlockige, üppige Frau. Sie war diejenige, die eine Eisenstange als Waffe in der Hand hielt.

»Na?« sagte Hellberg. »Keine Lust?«

»Wo ist Saluzzo?« fragte das Mädchen auf französisch. Hellberg schüttelte den Kopf.

»Gehen Sie hinauf, Mademoiselle«, sagte er in ihrer Sprache. »Rache ist ein billiges und scheußliches Vergnügen.«

»Ich lebe seit zwei Monaten auf dem Schiff, Monsieur!« Die Finger um die Eisenstange verkrampften sich. Die Knöchel wurden weiß. »In Marseille hat er mich an Bord genommen. Ich war Verkäuferin bei Mireille S. A., einer Schiffsausstattung. Ich sollte Tischdecken abliefern. Aus dieser Lieferung wurden zwei Monate. Neunmal hat er mich vergewaltigt, dieser Teufel. Beim zehntenmal habe ich ihm in die Kehle gebissen, da hat er mich in Ruhe gelassen. Aber jeden Tag, genau um 20 Uhr, ist einer seiner Handlanger gekommen und mußte mir zehn Schläge aufs Gesäß geben. Mit einer Kamelpeitsche. Zwei Monate lang . jeden Abend.« Das Mädchen atmete tief auf. Es war ein erschütterndes Seufzen. »Wo ist Saluzzo, Monsieur?«

»Er wird seiner gerechten Strafe nicht entgehen.« Hellberg hatte einen Augenblick mit dem Gedanken gespielt, dem Mädchen zu sagen, wo Saluzzo war, und ihr den Schlüssel zum Krankenzimmer zu geben. Aber dann schämte er sich, ebenfalls an eine so billige Rache zu denken.

»Bitte gehen Sie hinauf, Mademoiselle«, sagte er erschüttert und doch beruhigend. »Oben ist Sonne und Freiheit. Sie sollten sie genießen . nach diesen zwei Monaten.«

Das Mädchen nickte schwach. Dann stieg auch sie die eiserne Treppe hinauf und warf oben die Tür zu.

Frank Hellberg trat an das Schott und klopfte gegen das Metall.

»Mach auf, Junge!« rief er laut. »Wir sind allein! Die Mädchen sind an Deck.«

»Bestimmt?« tönte es dumpf hinter der dichten Tür.

»Ehrenwort.«

»Ich habe einen Hammer in der Hand, Kumpel! Zehn Pfund schwer. Da zerplatzt eine Hirnschale wie ein Ei!«

»Red' keine Romane - mach' auf!«

Und die Schott-Türe knirschte von innen und schob sich langsam auf.

Die >MS Budva< trieb wie eine riesige, weiße Nußschale auf dem Meer und wartete auf die Hilfe aus Dubrovnik. An Deck sonnten sich die Passagiere, spielten auf dem Spieldeck oder saßen im Restaurant und an der Bar und tranken eisgekühlte Säfte oder deutsches Bier.

Unter Deck aber näherte sich die gefährliche Situation ihrem Hö-hepunkt. Uve Frerik, der Irre, hatte seine Jacke ausgezogen und das Messer an der Handfläche gewetzt. Erika Haußmann saß in einem der Sessel, zusammengekuschelt wie ein frierendes Hündchen. Hinter sich an der Bordwand hörte sie ganz leise ein Kratzen und Schaben. Dort wurde mit dem Anstreicherbrett der Matrose Zentimeter um Zentimeter hinabgelassen. Es mußte so leise geschehen, daß der Irre nichts hörte. Vor der Tür verhandelten noch immer Karl Haußmann und der I. Offizier mit ihm, lenkten ihn ab und erzählten ihm, daß der Doktor bereit sei, sich einem Zweikampf zu stellen.

»Es ist ganz klar.«, flüsterte Dr. Mihailovic dem I. Offizier zu. Alle Benommenheit war von ihm gewichen. Zum erstenmal sah der I. Offizier den Arzt völlig nüchtern. »Er hat Hirnmetastasen. Schrecklich ist das. Bei dem einen erzeugen sie Irrsinn, bei anderen Dumpfheit oder einen Dämmerschlaf - es kommt darauf an, welche Hirnzentren sie abdrücken und angreifen. Da kann man gar nichts machen, gar nichts . Morphium . und warten, bis er stirbt.«

»Schon gut, Doktor.« Der I. Offizier starrte gegen die Mahagonitür. »Aber erst müssen wir ihn haben. Glauben Sie, daß er die Frau tötet, wenn wir die Tür aufbrechen?«

»Ganz sicher!« Dr. Mihailovic nickte wie eine Puppe mit Spiralhals. »Solch ein Kranker glaubt ja, im Recht zu sein. Er hat ja kein Gefühl mehr für seine Tat.«

Karl Haußmann war am Ende seiner Kräfte. Er lehnte an der glatten Holztür, hatte die Hände gegen die Füllung gedrückt, der Schweiß lief ihm über Augen und Gesicht in den aufgerissenen Hemdkragen.

»Rika ... wie geht es dir.«, rief er mit letzter Kraft, die seiner Stimme noch etwas Festigkeit gab. »Wo bist du, Rika?«

»Ich sitze im Sessel, Karl.« Weit weg war ihre Stimme wie hinter zehn Türen. Haußmann stöhnte auf. Von innen klopfte es an die Tür. Der Irre.

»Ihrer verehrten Gattin geht es vorzüglich«, sagte Uve Frerik. »Ein wenig blaß sieht sie aus, aber wer erlebt auch schon eine solche historische Stunde? Man darf ergriffen sein, wenn ein Jahrhundert sich verändert. - Wo ist Dr. Mihailovic?«

Der Arzt zuckte bei seinem Namen auf und winkte stumm mit beiden Händen ab.

»Wir erwarten ihn jede Minute.« Haußmann streichelte die Tür, als sei sie das Gesicht seiner Frau. »Aber überlegen Sie bitte, was Sie tun.«

»Überlegen?« Uve Frerik lachte laut. »Die großen Männer der Geschichte handelten aus Intuition. Denken Sie an Alexander und den Gordischen Knoten. Denken Sie an Caesar, als Cleopatra aus dem Teppich rollte. Denken Sie an Napoleon bei der Kaiserkrönung: Die Krone nahm er dem Papst aus der Hand und setzte sie sich selber auf. Das sind Männer! Ihnen gehörte die Welt. Sie sind Vorbild. Aber keiner wagte sich an die Vernichtung der Ärzte. Das ist die größte Tat der Geschichte. Ich werde sie vollziehen.«

Der I. Offizier bekam durch einen Matrosen eine Meldung.

»Das Anstrichbrett ist nur noch einen halben Meter von der Luke entfernt«, flüsterte er Haußmann ins Ohr. »Jetzt wird es kritisch. Der Irre darf nicht zum Fenster sehen. Reden Sie ... reden Sie ... nur noch fünf Minuten.«

Und Karl Haußmann redete. Was er sprach, er wußte es später nicht mehr zu sagen. Ohne Unterbrechung redete er aufden Irren ein, entwickelte eine Philosophie der Macht, die Uve Frerik hinter der Tür entzückte, denn ein paarmal rief er »Bravo! Bravo!« und klatschte in die Hände wie ein spielendes Kind.

Mit flatternden Augen starrte Haußmann den I. Offizier an.

»Ich kann nicht mehr«, stammelte er. »Ich werde selbst noch verrückt.«

»Sprechen Sie weiter!« flüsterte der I. Offizier. »Er darf sich nicht umdrehen.«

Und Haußmann redete.

Über Napoleon und Alexander den Großen. Über Bismarck und Kaiser Wilhelm II. Sinnloses Zeug, über das der irre Uve Frerik lachte wie über herrliche Witze.

In der Kabine saß Erika immer noch mit angezogenen Beinen im

Sessel. Das Kratzen an der Bordwand hatte aufgehört. Ein Gesicht erschien draußen am Bullauge. Dann eine Hand, die Erika zuwinkte und Zeichen gab, sich in den Sessel zu ducken. Der Lauf eines Gewehres schob sich an die Scheibe, das runde Loch der Mündung starrte ins Zimmer.

Erika Haußmann zog den Kopf in die Schulter und ließ sich tief in den Sessel rutschen. Uve Frerik stand mit dem Rücken zu ihr, das Messer in der rechten Hand, in der linken den ausgezogenen Rock, den er von sich hielt wie ein Torero seine Cappa. Er hatte eine erregte Diskussion mit Karl Haußmann über Hannibals Elefantenzug über die Alpen.

Der Matrose vor dem Bullauge zielte auf den rechten Arm. Alles lag jetzt an einem treffsicheren Schuß. Ging der erste Schuß daneben, war Erika Haußmann in höchster Lebensgefahr.

Der Matrose wartete, bis der Irre mit dem ganzen Rücken zu ihm stand. Dann drückte er ab.

Der Schuß war kaum zu hören, er zerflatterte draußen im Seewind. Glas splitterte, und Uve Frerik wurde wie von einer riesigen Faust gegen die Tür geschleudert. Er brüllte auf, das Messer entfiel seiner Hand, Blut rann aus seiner rechten Schulter. Mit einem Satz sprang Erika aus dem Sessel und riß einen Stuhl hoch, um sich zu wehren, falls der Irre sich auf sie werfen würde.

Aber dazu kam es nicht. Fast gleichzeitig mit dem Aufschrei Fre-riks zersplitterte die Mahagonitür unter ein paar gewaltigen Axthieben, und Karl Haußmann und der I. Offizier stürzten ins Zimmer.

»Karl!« schrie Erika auf und ließ den Stuhl fallen. »O Karl.« Dann sank sie in sich zusammen, und Haußmann konnte sie gerade noch auffangen und zum Bett tragen.

»Rika!« stammelte er. »Es ist ja alles gut. Alles ist vorbei. Rika.« Er küßte sie und streichelte ihr bleiches Gesicht und wußte in dieser Stunde, daß ein Leben ohne sie für ihn sinnlos gewesen wäre.

Der I. Offizier und zwei Matrosen kümmerten sich um Uve Fre-rik. Er stand an der Wand, das Blut lief an ihm herunter, aber er lächelte und hob stolz den Kopf, als ihn die Männer packten und festhielten.

»Tun Sie Ihre Pflicht, meine Herren«, sagte er laut und mit fester Stimme, der man nichts von dem Schmerz anmerkte, der von der zerschossenen Schulter durch seinen ganzen Körper zuckte. »Auch Kaiser Maximilian ging erhobenen Hauptes zur Exekution! Es lebe der freie Geist!«

Mit stolzer Haltung ließ er sich abführen und beachtete Dr. Mi-hailovic mit keinem Blick, als er an ihm vorbeiging. Man brachte ihn in einen Verschlag des Laderaumes II, wo ein Matrose notdürftig die Einschußwunde verband. Dr. Mihailovic weigerte sich, das zu tun.

Karl Haußmann richtete sich vom Bett auf, als er Marions Stimme in der Kabine hörte. Sie hatte oben auf dem Spieldeck nichts von dem Drama unter Deck gehört. Erst als der Schuß fiel, war sie die Treppe hinuntergerannt und sah die Ansammlung der Menschen vor der zersplitterten Tür.

»Was ist geschehen?« rief sie. »Mein Gott. Karl. Bärchen. Was ist mit deiner Frau? Wer hat geschossen?«

Dann sah sie das zersplitterte Bullauge und davor den Matrosen auf seinem pendelnden Anstrichbrett. Sie preßte die Hände gegen den Mund und sah sich entsetzt um.

»Es ist nichts geschehen«, sagte Haußmann und führte Marion zur Tür zurück. An der Blutlache auf der Erde stockte sie, ein Zittern lief über ihren Körper. »Gar nichts! Spiel weiter Kricket oder tanze Twist, schließlich sollte es eine Vergnügungsreise sein.«

»Bärchen.«, stammelte Marion mit weiten Augen.

»Bitte geh -«, sagte Haußmann rauh.

»Was habe ich dir getan?«

»Nichts! Und das ist gut so.«

»Was . was ist denn hier geschehen? Was ist mit deiner Frau?«

»Sie schläft. Laß ihr die Ruhe. Geh an Deck und amüsiere dich.«

Er drängte Marion auf den Flur und sah den I. Offizier an, der etwas verlegen allein noch im Flur stand. Die Menschenmenge hatte sich zerstreut. Die Nachricht von dem Geschehen unter Deck verbreitete sich nun über das ganze Schiff und wurde zur willkommenen Urlaubssensation. Der Matrose wurde wieder hochgezogen. Er wurde an der Reling empfangen wie ein siegreicher Weltmeister im Boxen.

»Kann man die Tür ersetzen?« fragte Haußmann.

»Der Bordschreiner wird sofort ein paar Bretter davornageln.« Der I. Offizier kaute an der Unterlippe. »Noch eins, mein Herr.«

»Bitte?«

»Ich hatte mich unhöflich benommen. Bitte, verzeihen Sie.«

Mit einem Ruck wandte sich der I. Offizier ab und verließ schnellen Schrittes den Gang. Marion folgte ihm mit gesenktem Kopf. Wie geprügelt kam sie sich vor, und sie erlitt es stumm wie eine Buße für die Monate, die hinter ihr lagen.

Karl Haußmann trat in die Kabine zurück und hängte eine Decke vor die zersplitterte Tür. Dann setzte er sich neben Erika auf das Bett, nahm ihre kalten Hände zwischen seine Hände und wartete, bis sie aus der Ohnmacht erwachte.

Eine Stunde später erhängte sich Uve Frerik in seinem Verschlag mit einem in Streifen zerrissenen Hemd.

Und Dr. Mihailovic stellte sachlich den Tod durch Ersticken fest. Er roch schon wieder nach gutem, altem Slibowitz.

In Dubrovnik war man zunächst nicht erstaunt, daß die >MS Bud-va< nicht pünktlich um 8 Uhr morgens in den Hafen einlief. Die Abfahrt aus Bari war gemeldet, die Nacht war ruhig und fast windstill, also gar kein Anlaß, sich Gedanken zu machen. Der Hafenkommandant und der Geschäftsführer der Linie telefonierten nur kurz miteinander und versicherten sich gegenseitig, daß alles normal sei.

»Die >Budva< ist ein alter Kahn, Genosse Mirko«, sagte der staatliche Reederei-Sekretär. »Wir müssen mit Verspätungen rechnen. Die Reparaturen an der >Sveti Stefan< werden noch zwei Tage dauern, dann läuft wieder alles normal.«

»Natürlich, Genosse«, sagte der Hafenkommandant. »Ein alter Gaul springt über keine Zäune mehr.«

Nachdenklich wurde man erst, als gegen 10 Uhr noch immer keine >MS Budva< am Horizont erschien und auch kein Funkspruch kam, obgleich man seit einer halben Stunde das Schiff anrief.

»Verstehen Sie das?« fragte der Reederei-Sekretär nervös. Er saß bei dem Hafenkommandanten im Zimmer und sah mit einem starken Feldstecher über das blau flimmernde Meer. »Aus Bari ist uns bestätigt worden, daß die >Budva< pünktlich abgelegt hat. Sie muß etwas an der Funkanlage haben, denn niemand antwortet.«

»Es ist eine blöde Situation, Genosse.« Der Hafenkommandant sah auf seine drei Telefone und die vielen Knöpfe, die ihn mit den verschiedensten Dienststellen verbanden. Ein Druck aufeinen dieser Knöpfe, und ein wohlgeordneter Apparat lief an: Auslaufen von kleinen, schnellen Motorbooten, Alarm bei der Flugstaffel, Alarm beim Kommandeur der Seeflugzeuge, Einsatz einer Funksuchmeldung an alle Schiffe auf dem Adriatischen Meer. »Geben wir Alarm, und die mistige >Budva< taucht da hinten am Horizont auf, sind wir blamiert. Geben wir keinen Alarm, und es ist wirklich etwas passiert, sind wir ebenfalls blamiert. Ich sage es ja . eine blöde Situation!«

Man wartete bis 10.30 Uhr, suchte den Horizont ab und fragte mit harmlos klingenden Worten ein aus Brindisi kommendes Frachtschiff, ob es der >MS Budva< begegnet sei.

»Nein!« funkte das Schiff zurück. »Nicht gesehen.«

Der staatliche Reederei-Sekretär wurde rot und begann kalt zu schwitzen. »Geben wir Alarm, Genosse«, sagte er mit belegter Stimme. »Ich bin verantwortlich für die Schiffe. Man wird mir in Belgrad die Hose ausziehen, wenn ich nichts tue. Geben Sie Alarm, Genosse. Zunächst nur die Flugstaffel. Der Mistkahn muß Havarie haben. Wer weiß, wo er herumschwimmt. Sinken kann er nicht, bei diesem Wetter. O Gott, es lohnt sich nicht, ein paar tausend Dinare zu verdienen, wenn man dafür weiße Haare bekommt.«

Der Hafenkommandant wartete noch bis 11 Uhr, dann rief er den Militärflugplatz Zelenika an. Drei Aufklärer starteten sofort, überflogen Dubrovnik und drehten dann auf das Meer ab.

»Diese Aufregungen!« sagte der Reederei-Sekretär. »Ist es ein Wunder, Genosse, wenn ich magenkrank bin?«

Um 11.12 Uhr begann der Telegraf zu ticken. Der Hafenkommandant und der staatliche Reederei-Sekretär sahen wie gebannt auf den Streifen, der aus dem Telegrafen rasselte.

»Die >Budva<.«, stöhnte der Sekretär. »Jetzt funkt das Miststück, wo die Flugzeuge unterwegs sind.«

»Sie haben Maschinenschaden.« Der Hafenkommandant riß den Morsestreifen ab und las die Funkmeldung. »Eine Turbinenwelle gebrochen. Treiben auf dem Meer. Haben versucht, den Schaden selbst zu reparieren. Bitten um Abschlepp.«

Der Kopf des Reederei-Sekretärs war rot wie ein Winterapfel. »Warum erst jetzt?« schrie er. »Warum melden sie es nicht gleich, Genosse? Den Kapitän lasse ich strafversetzen. Ins Zuchthaus kommt er. Ein Abschleppschiff.Vor heute abend können sie gar nicht in Dubrovnik sein. Diese Blamage! In allen Zeitungen wird es stehen. Und dazu mein Name. Mit dem Kopf an die Wand sollte man rennen!«

Er rannte hinaus, hinüber zur Sprechfunkanlage. Nach zehn Minuten war er wieder da, ein wenig bedrückt und mit einem zerknitterten Gesicht. Der Hafenkommandant hatte unterdessen Verbindung mit den Suchflugzeugen. Er saß, Kopfhörer um die Ohren, an einem Schaltpult und regulierte den Ton.

»Sie überfliegen die >Budva<«, sagte er, als der Sekretär eintrat. »Sie treibt ungefähr auf der Mitte der Strecke. Alles scheint wohlauf. Die Beobachter melden, daß auf einem Deck Kricket gespielt wird, und auf dem anderen Deck tanzen sie. Tolle Stimmung, Genosse!«

»Sie tanzen! Alles in Ordnung.« Der Sekretär fiel auf einen Stuhl und wischte sich den perlenden Schweiß vom Gesicht. »Ich habe mit dem Kapitän gesprochen, der Teufel zerreiße ihn! Eine Schießerei hat's gegeben, einen Irren, der sich erhängt hat, und zwei Tote durch Krebs. Die Maschine ist völlig hinüber, ein Hauptkabel durchgebrannt, und das Schiff manövrierunfähig.«

»Das reicht, Genosse!« Der Hafenkommandant nahm die Kopfhörer ab und legte sie neben sich. »Mit dieser Liste sind Sie rehabilitiert. Das ist eine Ansammlung von höherer Gewalt, die zwingend ist.«

»Ich habe es schon nach Belgrad gemeldet.« Der Reederei-Sekretär sah traurig über das in der Sonne herrlich leuchtende blaue Meer. »Zwei Schlepper sind unterwegs zur >Budva<. Sie, Genosse Mirko, werden gleich Befehle vom Kommandanten in Mostar bekommen. Bevor die Passagiere an Land dürfen, soll eine genaue Untersuchung der Vorfälle stattfinden. Die >Budva< soll außerhalb des Hafens ankern. Miliz wird an Bord gehen. Man wird einen gewaltigen Wirbel machen.«

»Und die Kranken an Bord, die nach Sarajewo wollen?«

»Weiß ich es?« Der Sekretär hob hilflos die Schultern. »Ordnung ist alles! Und Befehle soll man nicht überdenken. Oder sind Sie anderer Ansicht, Genosse?«

»Nein!« Der Hafenkommandant setzte den Kopfhörer wieder auf. »Ich werde erst einmal dafür sorgen, daß Särge und ein Lastwagen am Hafen sind, wenn die >Budva< einläuft. Und die Genossen vom Leichenkeller des Krankenhauses müssen auch Bescheid wissen.« Der Hafenkommandant lehnte sich zurück und sah an die weißgetünchte Decke. »Wann hört dieser Blödsinn eigentlich auf, in Sarajewo auf Wunder zu warten.?«

Der Maschinist Julius Scheible war ein untersetzter, blonder, etwas bulliger Mann mit dicken Muskeln an den Armen und einer plattgedrückten Nase. Er hatte das Haar kurz geschnitten wie ein Igel, und die Hände, die den schweren Hammer umklammert hielten, waren voll Öl und Maschinenfett.

Er stand in dem offenen Schott, sah hinaus auf den Gang und hob den Hammer, als Frank Hellberg einen Schritt nach vorn machte.

»Stehenbleiben, Freundchen!« sagte Julius Scheible. »Sonst knallt's aufs Hirn!«

»Laß die großen Sprüche, Junge.« Hellberg lehnte sich an die eiserne Gangwand. »Leg' das Hämmerchen weg und spiel' keinen Samson! Du siehst, die Weiber sind weg, und wir zwei können uns wohl vernünftig unterhalten, was?«

»Wer sind Sie?« fragte Scheible und ließ den Hammer sinken.

»Frank Hellberg. Ich bin Journalist.«

»Auch das noch!« Scheible verzog das Boxergesicht. »Zwei Typen gibt's, die ich nicht mag: Politiker und Journalisten. Die einen machen Mist, und die anderen drucken ihn auch noch ab.«

Frank Hellberg lachte. »Schlechte Erfahrungen mit beiden gemacht?« fragte er dann.

»Sehr schlechte.« Julius Scheible setzte sich auf den erhöhten Rand der Schottentür. Den Hammer legte er abwehrbereit auf seine Knie. »Sie haben den Chef kaltgestellt?«

»Ja. Wundert Sie das?«

»Nein.«

»Sie wissen, was auf dem Schiff los ist?«

»Natürlich.«

»Mensch, wollen Sie auch ins Zuchthaus?«

»Ich habe mich nur um die Maschinen gekümmert . das sind mildernde Umstände. Und im übrigen ist das hier alles Scheiße. Glauben Sie, ich hocke hier freiwillig unter der Meeresoberfläche?«

Frank Hellberg sah den Mann mit der eingeschlagenen Nase erstaunt an.

»Sagen Sie bloß noch, Sie seien auch von Saluzzo entführt worden.«

»Nicht gerade.« Julius Scheible wischte sich die Nase mit dem Handrücken. »Das ist eine lange Geschichte, lieber Journalist.« Er grinste. Das Wort tat ihm gut. »Ich bin in Stuttgart geboren, in Berlin aufgewachsen, in Köln in die Fürsorge gekommen und in Flensburg zum erstenmal in den Knast. Beim Militär habe ich mehr im Bau gesessen als in der Kaserne, im Krieg habe ich Partisanen ausgeräuchert, nach dem Krieg kam mir ein Schupo auf dem Schwarzmarkt in die Quere, den habe ich krankenhausreif geschlagen. Dann ab über den Rhein nach Kehl. Meldebüro der Fremdenlegion. Angenommen. Marseille. Sidi-bel-Abbes in Algerien, Indochina, zurück in die Wüste nach Ghardaia, Flucht nach Tunis, in Abwesenheit in Frankreich zum Tode verurteilt. Und in Tunis heuert mich Saluz-zo als Maschinist an, erfährt, wer und was ich bin, zeigt mir das Todesurteil und sagt: Mein Lieber, wenn du nicht klein wie ein Mäus-lein bist, liefere ich dich an die Franzosen aus.« Julius Scheible leckte sich über die Lippen. »Na, mein kluger, studierter Junge . was hättest du getan? Tanzen, wie Saluzzo flötet, oder sich in Frankreich erschießen lassen? Mir ist es seitdem Wurscht, was oben an Deck passiert . wenn man nur mich hier unten in Ruhe läßt!«

»Das ist ein Roman für sich«, sagte Hellberg leise.

»Blas was auf deinen Mistroman! Was habt ihr mit dem Chef und seiner Bande vor?«

»Ich will sie der Polizei abliefern. Aber dazu mußt du erst den Kahn laufen lassen.«

»Welcher Polizei?«

»Irgendeiner.«

»Die Welt ist tatsächlich voller Idioten! Könnt ihr Saluzzo was nachweisen? Ein Schiff voller Weiber? Ist das ein Beweis? Der kann beweisen, daß er jeden Tag massenweise Kaviar frißt und dadurch überpotent ist! Da kannste gar nichts machen!« Julius Scheible wiegte den schweren Hammer in seinen öligen Händen. »Das Ganze ist mir zu unsicher. Am sichersten ist, ich gehe hinauf und hämmere dem Boß das Hirn auf.«

»Nein!« sagte Hellberg hart. »Keinen Mord!«

»Dann leck' mich!« schrie Scheible und erhob sich. »Sieh zu, wie du den Kahn zum Laufen bekommst.«

Frank Hellberg zog die Pistole aus der Tasche, aber sie machte gar keinen Eindruck auf Scheible. Er lachte breit und schüttelte den dicken Kopf.

»Junge, spiel' keinen Film ab! Knall doch! Dann fall' ich um, und ihr könnt hundertprozentig auf diesem Kahn verdorren wie Bratäpfel. Ohne Julius fährt nichts.« Er drehte sich um und ließ den Hammer in seiner Hand pendeln. »Gib den Chef her, und in fünf Minuten rauscht ihr durchs blaue Meer.«

»Nein!« sagte Hellberg noch einmal. »Solange ich es verhindern kann, geschieht auf dem Schiff keine Untat mehr.«

»Dann balsamiere dich ein mit deiner Humanität!« schrie Julius Scheible und warf die Schottentür hinter sich zu. Der Knebelverschluß knirschte. Hellberg hörte noch, wie Scheible den Hammer in eine Ecke warfund dann wegging zu den schweigenden Maschinen.

Langsam stieg Hellberg die Treppe wieder hinauf, wo die Mädchen unter Leitung Claudias dabei waren, das Deck aufzuräumen. Durch das Fenster der kleinen Barküche starrten die beiden Stewards auf Hellberg und warteten anscheinend auf das Wunder, Saluzzo kommen zu sehen.

»Wir müssen die Nerven behalten«, sagte Hellberg oben auf der Brücke und setzte sich erschöpft neben Juanita. »Vielleicht denkt er jetzt nach und sieht ein, daß es besser ist zu fahren, als hier zu verfaulen.«

»Wir könnten die Nacht abwarten und Leuchtkugeln schießen. Vielleicht sieht uns einer. Auf jedem Schiff sind solche Notpistolen.«

»Und wenn wir weit ab von allen Schiffsrouten sind? Wenn wir mit diesen Signalen nur die >Geschäftsfreunde< Saluzzos anlocken?«

Juanita hob die schönen Schultern. »Das kann sein. Aber wissen Sie einen anderen Rat?«

Als ob die Frage so laut gewesen wäre, daß man sie bis in den letzten Schiffswinkel hätte hören können, klopfte es wie zur Antwort an dem Sprachrohr. Julius Scheible meldete sich.

»Hören Sie!« sagte er, als Hellberg sich über den Trichter beugte und »Was wollen Sie noch?« hinunterrief. »Ich habe eine Frage.«

»Dann machen Sie schnell, denn ich habe die Absicht, mit Sa-luzzo zu verhandeln.«

»Sind Sie verrückt?« »Nein, aber auch nicht lebensmüde. Wenn Saluzzo uns zusichert, uns an Land zu bringen, lasse ich ihn frei.«

»Das ist doch ein Witz!« schrie Julius Scheible.

»Mein vollster Ernst.«

»Ich habe einen anderen Vorschlag.«

»Ich höre.«

»Ich lasse die Maschinen wieder an. Und Sie geben mir Ihr Ehrenwort, mich ohne weitere Fragen laufenzulassen, wenn wir irgendwo anlegen.«

»Ehrenwort von einem verhaßten Journalisten?«

»Lassen wir den Blödsinn, Hellberg. Sie wissen, wie's gemeint war. Also, wie ist's?«

Hellberg zögerte, dann sagte er: »Gut, Julius. Wenn wir glücklich landen, können Sie abhauen wie ein Hase aus der offenen Falle.«

»Danke! Ich revidiere mein Urteil: Journalisten sind auch Menschen.«

Sekunden später ging ein Zittern durch den Leib der weißen Jacht. Die Motoren dröhnten auf, die beiden Schrauben wühlten das blaue Wasser zu weißer Gischt auf. Einen Ruck gab es, und dann schnitt der schlanke Kiel in die sanften Wellen.

»Wir fahren!« schrie Juanita und stürzte zum Ruder. »Wir fahren!« Sie fiel Hellberg um den Hals und küßte ihn wild. »Wir fahren.«

Über das Deck scholl vielstimmiger Jubel. Die Mädchen umarmten sich und tanzten umeinander. Claudia rannte die Brücke hinauf und fiel in die ausgebreiteten Arme Franks.

»Wir sind gerettet, Liebling!« rief sie. »Wir fahren zurück ins Leben!«

»Und wir werden ab jetzt für immer . für immer zusammenbleiben. Ich liebe dich, Claudia.«

»Und du bist meine ganze Welt, Frank!«

Die schöne, weiße, stolze Jacht rauschte durch das blaue Meer. Juanita lenkte sie nach dem Kreiselkompaß, fuhr einen weiten Bogen und nahm Kurs nach Nordosten.

Delphine jagten neben ihnen her, sprangen aus dem Wasser, und die Sonne ließ ihre nassen Leiber wie blankes Silber leuchten. Auf dem Deck sangen und tanzten noch immer die Mädchen.

»So, das wäre geschafft«, sagte Hellberg und löste sich aus den Armen Claudias. »Jetzt müssen wir uns um Saluzzo und die anderen Burschen kümmern. Ich nehme an, daß ihnen der Ätherrausch schwer im Magen liegt.«

Am Sprachrohr klopfte es wieder. Hellberg nahm den Stopfen ab und klopfte zurück.

»Danke, Julius! Was gibt's?« rief er in den Maschinenraum hinunter.

»Wo sind wir?« fragte Julius Scheible.

»Wenn ich das wüßte! Warum? Irgendwo auf dem schönen Mittelmeer.«

»Alles Scheiße mit Soße!« schrie Scheible zurück. »Sieh mal auf die Kontrolluhr! Wir haben nur noch für fünfStunden Brennstoff.«

»Verdammt!« sagte Hellberg leise.

»Und wenn ihr immer mit voller Kraft fahrt, reicht's nur drei Stunden.«

»Und dann, Julius?«

»Dann können wir ein Damenkaffeekränzchen aufmachen und warten, bis uns ein Mann vom Jungferndasein erlöst.«

Hellberg trat vom Sprachrohr zurück. Ihm war gar nicht zum Lachen zumute. Stumm starrte er über das sonnenglänzende Meer. Noch drei Stunden Brennstoff. Und dann?

Der Weg zurück ins Leben endete wieder im Nichts.

Über der >MS Budva< kreisten die drei Aufklärungsflugzeuge der jugoslawischen Luftflotte. Die Menschen auf den Decks winkten ihnen zu, mit Händen, Taschentüchern und Handtüchern. Die Bordkapelle spielte Tanzmusik. Der I. Ingenieur hatte eine glorreiche Idee gehabt: Er ließ mit drei dicken Schläuchen Wasser aus dem Meer in das Schwimmbecken pumpen. Die ersten Männer und Frauen in Badeanzügen warteten schon am Rand, bis das Becken wenigstens nabelhoch gefüllt war. Ein fröhliches Leben war auf dem Schiff. Man genoß den sonnendurchtränkten Zwangsaufenthalt auf dem Meer wie ein überraschendes Geschenk.

Nur unter Deck, in den Kabinen der Schwerkranken, machte man sich Sorgen. Bei ihnen ging es um jeden Tag, ja um jede Stunde. Sie waren nicht mehr zu heilen, jeder sah es, aber sie klammerten sich mit einer erschütternden Kraft an den Glauben, in Sarajewo würde die Wunderdroge HTS sie von den Bahren lösen und sie das Gehen wieder lehren.

Erika Haußmann hatte die große, nervliche Belastung der letzten Stunde überstanden. Die Tür hatte man mit Brettern notdürftig abgedichtet, vor das zerschossene Bullauge hatte man eine Pappscheibe genagelt. Nun war es dunkel im Zimmer, und man mußte den ganzen Tag über das Licht brennen lassen.

Karl Haußmann hatte sich gewaschen, und auch Erika hatte sich umgezogen und ein neues Kleid genommen, als es an die Bretter der zerschlagenen Tür klopfte. Haußmann öffnete sie einen Spalt und sah draußen den jungen Engländer von nebenan stehen, den Begleiter der lebenden Mumie, des Greises, der nicht sterben konnte und wollte und dessen Herz stärker war als sein übriger Körper.

»Verzeihen Sie, mein Herr«, sagte er in einem fließenden, fast akzentfreien Deutsch, wie man es auf englischen Colleges lernt, »wenn ich Sie trotz der vergangenen Ereignisse auch noch belästige, aber mein Onkel, Lord James William Rockpourth, möchte mit Ihnen sprechen. Wenn Sie ein paar Minuten Zeit übrig hätten ... mein Onkel wünscht die Unterhaltung, und wenn Sie meinen Onkel kennen würden, sähen Sie ein, daß alle Gegenargumente vergeudete Zeit sind. Ist es Ihnen möglich, Sir?«

»Aber ja ... ja.«, sagte Karl Haußmann verwirrt. »Ich weiß nicht. Was soll ich. Ihr Onkel. Lord Rock.« Er dachte an den Mann auf der Trage, das Gesicht, ein pergamentüberzogener Totenschädel.

»Mein Onkel ist aus seiner Agonie erwacht. Das geht seit zwei Monaten so. Soviel ich hören konnte, geht es ihm um sein Testament.

Um einen Letzten Willen. Er hat bisher genau siebzehn Letzte Willen ausgedrückt.« Der elegante, junge Engländer lächelte verzeihend. »Wenn Sie es möglich machen könnten, Sir.«

»Natürlich. Ja.« Karl Haußmann zog seine Jacke an und kontrollierte noch einmal den Sitz seiner Krawatte. »Ich komme selbstverständlich.«

»Ich gehe mit«, sagte Erika hinter Karl. »Ich habe Angst davor, noch einmal allein zu sein.«

»Bitte!« Der junge Engländer trat höflich zur Seite. »Mein Onkel ist von dem Schuß durch das Fenster aus der Agonie erwacht. Er hat wie ein heilender Schock gewirkt. Er wird sich freuen, Sie kennenzulernen, Mrs. Haußmann.«

Karl Haußmann nickte verwirrt. Er faßte Erika unter, und sie gingen hinüber zur Nachbarkabine.

Als der junge Engländer die Klinke herunterdrücken wollte, flog die Tür von innen auf, und Dr. Mihailovic stürzte in den Gang. Er hatte eine noch volle Injektionsspritze in der Hand und war betrunken. Aus der Kabine tönte die fluchende Greisenstimme des lebenden Toten.

»Umbringen wollen Sie mich!« schrie der alte Engländer. »Aber ich lebe! Ha! Ich lebe weiter! Und ich werde in Sarajewo die Pillen schlucken, pfundweise, jawohl.«

Dr. Mihailovic sah Haußmann, den Neffen des Tobenden und Erika aus wäßrigen Augen an. Sein Mund zitterte, als wolle er weinen. Dann zuckte er mit den Schultern, steckte die Spritze einfach in seine Jackentasche und rannte weiter, hinauf an Deck.

Der junge Engländer lächelte mokant.

»Sie sehen, Sir, wie munter mein Onkel ist. Darf ich bitten einzutreten!«

Lord James William Rockpourth saß in seinem Bett, gestützt von einem Berg zerknüllter Kissen. Sein Totenschädel mit der pergamentenen Haut saß auf einem erschreckend dünnen, faltigen Hals. Darunter begann ein dicker Morgenmantel, der den schon mumienähnlichen Körper ganz einhüllte. Der Lord winkte mit beiden

Händen, als er Haußmann und Erika sah, und zeigte auf zwei Sessel, die neben dem Bett standen.

»Kommen Sie bitte näher«, sagte er mit dem gleichen, gepflegten Deutsch, das auch sein Neffe sprach. »Und du gehst hinaus, Robert.«

»Onkel James.«

»Hinaus« brüllte der Greis.

Robert hob die Schultern und sah Haußmann vielsagend an. Er wandte sich ab, aber an der Tür blieb er noch stehen.

»Ich darf dich daran erinnern, Onkel James, daß die Herrschaften zu dem gleichen Zweck auf dem Schiff wie.«

»Hinaus!« schrie Lord Rockpourth und wedelte mit den Skeletthänden.

»Ich warte vor der Tür«, sagte der Neffe Robert leise beim Hinausgehen, »es kann sein, daß er in fünf Minuten wieder in Agonie fällt. Rufen Sie mich dann bitte, Sir.«

»Natürlich, natürlich.«, stotterte Haußmann verwirrt. Dann griff er nach hinten, nahm die kalte Hand Erikas und ging zu den angebotenen Sesseln ans Bett.

Lord Rockpourth musterte Haußmann mit grauen, ungemein lebendigen Augen, die gar nicht zur Verfassung seines Körpers paßten. Es waren die Augen eines Mannes, der zeit seines Lebens nur befohlen hatte.

»Ich hörte, Sie sind Deutscher?« sagte er und nickte dabei Erika zu.

»Ja, mein Herr.« Haußmann dachte krampfhaft darüber nach, wie man einen Lord anredet. Mylord, das kannte er. Aber da er sich nicht sicher war, ob es hierher paßte, unterließ er es.

»Nennen Sie mich James«, sagte Lord Rockpourth.

»Aber ich kann doch nicht.« Haußmann warf einen Seitenblick auf Erika.

»Wir sitzen nicht nur im gleichen Schiff, sondern auch im gleichen Boot des Schicksals.« Lord Rockpourth lehnte sich etwas zurück. »Man hat mir gesagt, ich sei unrettbar an Krebs erkrankt. Pan-kreaskrebs, eine gemeine Art des Krebses. Wenn man ihn entdeckt, ist es zu spät. Alle Sprüche von Früherkennung sind Blödsinn. Ich hatte die besten Ärzte, sie haben meinen Bauch jahrelang geröntgt, fotografiert, durchleuchtet. Alles nervös, sagten sie. Sie sind kerngesund, Mylord. Und was bin ich wirklich? Sehen Sie mich an! Ist es denkbar, daß ich einmal zehn Preise im Reitturnier gewonnen habe? Parforcejagden habe ich geritten, wie ein roter Teufel. Nun, wo es zu spät ist, sagen sie die Wahrheit . und heben dumm die Schultern. Aber ich gebe nicht auf, mein Bester. Ein Lord Rockpourth gibt nie auf!Seit einem Jahr fahre ich durch die Welt. Wo ein neues Mittel gegen den Krebs angeboten wird, wo man forscht, wo ein Funken Hoffnung glimmt, bin ich da. Ich habe bisher 200.000 Pfund dafür ausgegeben. Nun geht es nach Sarajewo.« Lord Rockpourth zog den Totenschädel noch weiter in die Kissen hinein. »Glauben Sie an das HTS?«

»Ja«, sagte Haußmann fest. »Wären wir sonst auf dem Schiff?«

»Sie sehen blühend aus, Mrs. Haußmann.« Lord Rockpourth schüttelte den Kopf. »Welcher Idiot hat Ihnen einen Krebs angedichtet?«

»Wir haben die Röntgenbilder gesehen«, sagte Erika ohne Erregung in der Stimme. Für sie war die Krankheit nun eine Tatsache, mit der man fertig werden mußte. Was halfen Klagen und Panik, Angst und Tränen? Sie war noch jung, ihr Körper hatte noch die Kraft, sich gegen die Krankheit zu stemmen, und wenn die Pillen des Dr. Zeijnilagic auch nur eine kleine Wirkung haben würden ... vielleicht genügte das als Initialzündung, um den Tod in ihr zu besiegen. Ganz fest glaubte sie nun daran.

»Es ist lächerlich, aber auch ich glaube an dieses HTS.« Lord Rock-pourth klopfte die Bettdecke um sich flach und strich sich dann über den Mumienkopf. »Ein Vermögen habe ich für Scharlatane und Großsprecher ausgegeben. Ich habe Rote-Beten-Saft gesoffen, habe mich magnetisieren lassen, bin bestrahlt worden und habe Tränke geschluckt, die wie Jauche schmeckten. Von den Pillen, Tabletten, Dragees und Pülverchen wollen wir gar nicht sprechen. In Japan war ich und habe Bambusgraspulver gefressen, und ein französischer Arzt kam zu mir und beschien mir 14 Tage lang meine Bauchdecke mit einer blauen Lampe. Dann schmiß ich ihn 'raus! Ja, und nun ist es soweit, daß meine Verwandtschaft, die sich seit drei Jahren versammelt, um meinen Tod zu sehen und auf ihr Erbe zu warten, mich für einen Verrückten hält, der sein Vermögen zum Fenster hinauswirft. Auch mein Neffe Robert, der elegante Robert, Sie kennen ihn. Mein Lieblingsneffe, aber ein Windhund. So windig, wie ich in der Jugend war - darum mag ich ihn. Ich habe den Verdacht, daß er im Auftrage meiner jüngeren Brüder und vor allem deren Frauen handelt und es verhindern will, daß ich Sarajewo erreiche. Er hetzt mir diesen Dr. Mihailovic auf den Hals, der in seinem Suff noch nicht einmal meine Armvene findet! Und er tut alles, um mir klarzumachen, daß ich zu sterben habe, weil ich reif dazu bin. Ha!« Der Totenschädel begann wild zu schwanken. »Ich lebe noch! Und ich werde weiterleben! Sarajewo, ich spüre es, wird mich retten.«

Lord Rockpourth sah Karl Haußmann und Erika lange an, ehe er weitersprach. Haußmann schwieg. Was sollte man darauf sagen? Ein Sterbender klammert sich an die große Hoffnung. Auch hier war es wieder deutlich: Niemand, außer einem Lungenkranken, glaubt so sehr an eine Gesundung wie ein Krebskranker. Verstohlen sah er zur Seite auf Erika. In ihren Augen las er, daß sie den alten Lord verstand.

»Können wir Ihnen helfen?« fragte Haußmann, obgleich er nicht wußte, wie.

»Ja, Mr. Haußmann. Das können Sie!« Lord Rockpourth sah zur Tür. Seine Stimme wurde etwas gedämpfter. »Zwei Dinge sind es. Zeit meines Lebens war ich von Dienern und Liebedienern umgeben, von Freunden, die mich ausnützten, und von Verwandten, die mir um den Bart strichen. Echte Freunde, wo gibt es die, Mr. Hauß-mann? Ich lernte sie nur einmal kennen: damals, in Südafrika, beim Burenkrieg, wo ich als kleiner Junge von Soldaten befreit wurde und mit ihnen durch die Steppen zog. Seitdem war alles nur ein Nicken vor meinem Reichtum. Sie sind anders, ich sehe es Ihnen an. Ich habe Sie beobachtet, als wir aufs Schiff gingen. Ihre Gattin lag auf einer Trage wie ich; es war ein guter Trick, Mr. Haußmann.«

»Für die Rettung meiner Frau gehe ich in die Hölle!« sagte Haußmann etwas pathetisch. Lord Rockpourth lächelte. Es sah schrecklich aus.

»Brauchen Sie Geld, Mr. Haußmann?«

»Nein!« sagte Haußmann laut. »Ich bin Fabrikant.«

»Würden Sie - zusammen mit meinen Anwälten Gibson & Gibson & Sohn - darauf achten, daß mein Testament vollstreckt wird und daß ich vor allem, falls ich wieder die Besinnung verlieren sollte, nach Sarajewo zu diesem Dr. Zeijnilagic gebracht werde? Auf dem schnellsten Wege. Man kann nämlich nach Sarajewo in ein paar Stunden und in ein paar Tagen fahren. Ich möchte in ein paar Stunden da sein, wenn wir in Dubrovnik landen. Ich setze Ihnen dafür 10.000 Pfund aus, das sind fast 110.000 Deutsche Mark!«

Haußmann dachte an den vor der Kabinentür wartenden Neffen Robert und an alles das, was kommen konnte, wenn er jetzt versprach, dafür zu sorgen. Er wandte sich zu Erika, und sie nickte ihm leicht zu. Tue es, sagte ihr Blick. Wenn ich so hilflos daläge wie er.

»Wie stellen Sie sich das vor, Mylord?« sagte Haußmann ausweichend. »Was sollte ich tun?«

»Ich übergebe Ihnen mein letztes Testament. Sollte ich wider Erwarten doch sterben, so reichen Sie es an Gibson & Gibson & Sohn weiter und sagen Sie unter Eid aus, daß ich es im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte aufgesetzt habe. Man wird es nämlich anfechten. Meine Schwägerinnen sind Aasgeier! Sterbe ich nicht vor Sarajewo, dann begleiten Sie mich zu Dr. Zeijnilagic und beschaffen mir die HTS-Kapseln. Verlassen Sie mich nicht, gehen Sie nicht von meiner Seite!«

»Ich . ich will es versuchen«, sagte Karl Haußmann zögernd nach einem neuen Blick zu Erika. »Wenn Sie Ihren Neffen darüber informieren.«

»Das werde ich!« Lord Rockpourth lächelte wieder, ein grinsender Totenschädel. »Er ist ein lieber Junge, der Robert. Aber seine Mutter, Lady Harriet, die Frau meines jüngsten Bruders . eine Be-stie ist sie. Und er steht ganz unter ihrem Einfluß, das Muttersöhnchen.« Der Greis steckte Haußmann seine Knochenhand entgegen. »Kann ich mich darauf verlassen, Mr. Haußmann? Sie sehen, wie allein ein alter, reicher Mann sein kann, wenn er sterben soll, aber nicht sterben will! Ich wünsche keinem dieses Schicksal.«

Und Karl Haußmann nahm die Hand Lord Rockpourths und drückte sie stumm.

Er übernahm damit eine Aufgabe, deren Schwere er noch nicht ahnte.

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