Kapitel 9

Nach drei Stunden Fahrt, immer in nordöstlicher Richtung, klopfte es wieder am Sprachrohr. Julius Scheible meldete sich.

»Noch für eine halbe Stunde Brennstoff.« rief er. »Kein Land in Sicht?«

»Nichts!« Frank Hellberg wandte sich an Juanita Escorbal, die die Jacht seit Stunden auf gleichem Kurs hielt. Ein bewunderungswürdiges Mädchen, dachte er. Im Ruderhaus glüht die Sonne, und sie steht da, starrt über das blaue, flimmernde Meer und auf den Kompaß und scheint Nerven wie Stahl zu haben. Wie hoffnungslos, wie verzweifelt war sie noch vor wenigen Stunden in ihrem Luxusgefängnis!

Die anderen Mädchen lagen unter dem Sonnensegel und ruhten sich aus. Claudia war unter Deck gegangen, in die kühlere Kabine. Sie hatte wieder einen Hustenanfall bekommen, und ihr schmaler, zerbrechlicher Körper wurde hin und her geschüttelt.

Ich liebe sie, dachte Hellberg. Bei Gott, wenn man sie retten könnte, wenn es wirklich ein Mittel gäbe, diese Krankheit zu besiegen. Wir müssen nach Sarajewo kommen! Wir müssen!

»Hat außer Foramente noch einer eine Ahnung, wie man den Standort bestimmt?« rief Hellberg hinunter in den Maschinenraum. Julius Scheible antwortete sofort.

»Nee! Keiner! Das machte ihn ja für Saluzzo so unentbehrlich.« Scheible hustete. »Wenn wir Land sehen, wie wird das überhaupt?«

»Wie ich es dir gesagt habe. Du kannst hingehen, wohin du willst. Die Mädchen werden sich bei der nächsten Behörde melden, und Saluzzo mit den anderen Gaunern kommt hinter Schloß und Riegel.«

»Ich habe keinen Pfennig Geld.«

»Bevor wir landen, wirst du genug bekommen, um dich irgendwohin durchzuschlagen. Ich verspreche es dir, Julius.«

»Dann seht mal zu, daß ihr Land bekommt!«

Frank Hellberg steckte den Stöpsel auf das Sprachrohr und begab sich nach unten zum Krankenraum. Er schloß die Tür aufund wurde von einem Knurren und unverständlichen Schimpfen empfangen. In den Fesseln bäumten sich Saluzzo und Foramente auf und versuchten, die Knebel von den Mündern zu drücken.

Hellberg wandte sich zuerst an Saluzzo. Er band das Tuch von dem wutverzerrten Gesicht und setzte sich neben dem Gefesselten auf einen Schemel.

»Sie Idiot!« keuchte Saluzzo. »Sie Phantast! Nun kommen Sie sich als der Herr der Lage vor. Aber einmal werden Sie ja anlegen müssen, und es gibt niemanden an der Küste, der Saluzzo und sein Schiff nicht kennt. Was glauben Sie, was man mit Ihnen machen wird?«

»Sparen wir uns alle Schimpfereien, Saluzzo.« Hellberg sah hinüber zu Foramente, der jetzt still lag und ihnen zuhörte, obgleich er kein Deutsch verstand. Der I. Steward schlief; die Versuche, sich aus den Schnüren zu befreien, hatten ihn ermüdet. »Wir fahren seit drei Stunden übers Meer, ohne Orientierung, nur nach Kompaß. Wir wissen nicht, wo wir sind.«

»In der Hölle!« schrie Saluzzo.

»Vielleicht. Aber Sie braten mit, das ist es. In einer halben Stunde ist der Brennstoff verbraucht, dann treiben wir hier herum, und wenn wir abseits einer befahrenen Gegend sind, können wir verhungern und verdursten. Es ist Ihnen doch klar, daß aller Wasser-und Eßvorrat erst unter den Mädchen verteilt wird, ehe Sie drankommen. Helfen Sie uns also nicht, werden Sie zuerst verhungern.«

Saluzzo schwieg und starrte an die weiße, lackierte Decke. Er über-legte. Was Hellberg sagte, war nicht widerlegbar. Aber aus einer verzweifelten Lage kann man Kapital schlagen.

»Was wollen Sie, Hellberg?« fragte Saluzzo, wieder völlig ruhig, ja überlegen.

»Sagen Sie Foramente, daß ich ihn gleich losbinde und mit an Deck, zum Ruder, nehme. Er soll den Standort bestimmen und dann auf einen Kurs gehen, der uns in Landnähe bringt. Ob es noch reicht, weiß ich nicht. Auf jeden Fall soll er in ein Gebiet fahren, wo wir gesehen werden können.«

Saluzzo hob den Kopf. Hellberg tippte ihn auf die Schulter, bevor Saluzzo anfing, zu sprechen.

»Noch eins: Sagen Sie Foramente keinen Blödsinn! Ich habe mir erzählen lassen, daß Verdursten noch schrecklicher ist als Verhungern. Sie alle bekommen den nächsten Tropfen Wasser erst, wenn Foramente bewiesen hat, daß er das Schiff auf richtigen Kurs gebracht hat.«

»Sie sind ein eiskalter Bursche, Hellberg.« Saluzzo sah hinüber zu Foramente. Und dann sprudelten italienische Worte zwischen den beiden Männern, eine Flut von schnellen Sätzen, in denen Hellberg keinen Sinn sah. »Es ist gut«, sagte Saluzzo nach diesem Feuerwerk von Worten. »Sie können Foramente mitnehmen. Ich habe ihm genaue Anweisungen gegeben.«

»Wir wollen es sehen, Saluzzo.«

Hellberg beugte sich über Luigi Foramente, löste die Fesseln und wartete dann, die Pistole in der Hand, bis sich der schlanke, schwarzgelockte Kapitän gestreckt und die Glieder gerieben hatte. Als Fo-ramente zur Tür ging, trat Hellberg zur Seite, ließ ihn auf den Gang gehen, schloß dann die Tür des Sanitätsraumes wieder ab und winkte mit der Pistole nach oben.

Auf der Brücke sah Foramente mit einem schiefen Lächeln Juanita Escorbal an und warf einen kurzen Blick auf den Kreiselkompaß.

»Die Richtung stimmt!« sagte Juanita hart. »Vor uns ist entweder die griechische oder die jugoslawische Küste.«

Stumm nahm Foramente aus einem Holzkasten einen Sextanten, trat hinaus auf die Treppe und schoß die Sonne an. Schon immer war es Hellberg ein Rätsel gewesen, wie man mit diesem Gerät den genauen Standpunkt aufdem Meer berechnen konnte. Aufdem Gymnasium hatte man es zu erklären versucht, aber nie hatte er es begriffen. Nun sah er, wie Foramente auf dem Halbkreisbogen des Gerätes eine Zahl ablas, zurückging zur Seekarte und mit einem Bleistift ein kleines Kreuz machte.

»Prego.«, sagte er voll Spott zu Hellberg und zeigte auf das Kreuz. Auch Juanita ließ das Steuerrad los und trat heran.

»Wie weit bis zur Küste?« fragte sie.

»Bis Ulcinj, das liegt am nächsten, noch 4 Stunden.«

»Und Treibstoff für eine halbe Stunde!«

Foramente hob die Schultern. Über sein Playboy-Gesicht lief ein ironisches Lächeln. »Ist es meine Schuld? Aber wenn Sie Kurs auf die Küste halten - ich richte Ihnen den Kurs ein - können wir in ein Gebiet kommen, wo uns jugoslawische Thunfischfänger sehen.«

»Bitte.«

Juanita beobachtete den Kompaß, als Foramente ein paar Drehungen am Steuerrad machte und dann die weiße, schnelle Jacht gegen die Sonne laufen ließ.

»Das ist es!« sagte er und trat zurück, die Hände auf dem Rücken. Dann sah er Hellberg an, mit der Frage in den Augen, was nun weiter geschehen sollte.

»Kommen Sie mit!« sagte Hellberg und winkte, da Foramente ihn doch nicht verstand. Er führte ihn zum Bug, wo Saluzzo immer seine Speisetafel aufgeschlagen hatte, und zeigte auf einen Teller mit Früchten, Weißbrot und Butter. Daneben stand ein großes Glas Orangensaft.

Foramente zögerte, doch dann stürzte er sich heißhungrig wie ein eingesperrtes Raubtier auf das Brot, legte die Butter darauf, aß mit würgendem Schlucken und trank mit einem Schluck das halbe, große Glas leer.

Einen Augenblick nur war Hellberg unvorsichtig, und Foramen-te nutzte es sofort aus. Aus dem Kabinengang kam Claudia, und

Hellberg drehte sich halb herum und sah ihr entgegen. Er wollte ihr zuwinken, aber ihr Aufschrei warnte ihn.

»Frank!« schrie sie. »Hinter dir.«

Hellberg warf sich herum. Ein brennender Schmerz durchfuhr seinen linken Arm, er fühlte, wie Blut über seine Hand rann, aber geistesgegenwärtig schlug er mit der rechten Faust gleichzeitig auf den Körper ein, der sich ihm entgegenwarf.

Foramente taumelte zurück. Das Messer, mit dem er gerade noch das Weißbrot bestrichen hatte, blitzte in seiner Hand und war rot vom Blut Franks.

Hellberg schnellte vor. Wieder hieb er auf Foramente ein, traf ihn am Kinn, doch die Stichwunde in seinem Arm schmerzte so höllisch, daß es ihm schwarz vor Augen wurde und er zu taumeln begann.

Foramente duckte sich. Wie ein Tiger vor dem Sprung war er, das Messer mit der blanken Klinge von sich gestreckt. Hellberg hob den rechten Arm zur Abwehr, der linke hing an ihm herunter, und um seine Füße bildete sich eine breite Blutlache.

In diesem Augenblick fiel ein Schuß. Foramente ließ das Messer fallen, sein Gesicht nahm einen erstaunten Ausdruck an, dann knickte er in den Knien ein und rollte auf die Seite über das Deck bis an den Tisch.

Hellberg lehnte sich keuchend gegen eine Stange des Sonnensegels. Das Blut rann aus seinem Arm über Hose und Schuhe. Claudia lief auf ihn zu, die Pistole in der Hand, und vom Kiel, wo sie sich gesonnt hatten, rannten kreischend die anderen Mädchen zu ihnen.

»Ist es schlimm?« rief sie und hob Franks schlaffen Arm hoch. »O Liebster, Liebster ... er hätte dich getötet.« Sie riß sich die Bluse vom Körper und drückte sie auf die Wunde, während die anderen Mädchen einen Kreis um sie bildeten und entsetzt auf Foramente starrten.

Hellberg atmete tief auf. Der Schwächeanfall ging vorüber, die sich drehenden Nebel lichteten sich. Er nahm Claudia die Pistole aus den weißen Fingern und steckte sie ein.

»Ist er tot?« fragte er.

»Ich weiß es nicht. Aber du lebst! Du lebst! O Gott, er wollte dich von hinten erstechen!« Sie klammerte sich an ihm fest und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust.

Foramente rührte sich. Er stöhnte auf, rollte sich auf den Rücken und tastete mit der Linken nach seiner rechten Schulter. Dort war in der Uniform ein kleines Loch, mehr sah man nicht.

»Sag den Mädchen, sie sollen ihn verbinden und in irgendeine Kabine einsperren«, sagte Hellberg. Er stützte sich auf Claudia, als er gehen wollte, und als er das viele Blut aufden Planken sah, wußte er, daß er eine Menge Blut verloren hatte. Mit weichen Beinen ging er unter Deck, legte sich auf ein Bett, und Claudia wusch ihm die große Fleischwunde aus und verband sie mit ein paar Handtüchern.

»Gib mir den Schlüssel zum Sanitätsraum, Liebster«, sagte sie mehrmals. »Dort ist alles, was du brauchst.«

Hellberg schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Die Mädchen würden Saluzzo zerreißen. Ich könnte sie nicht daran hindern. Ich will kein indirekter Mörder werden.«

Nach knapp einer dreiviertel Stunde blubberten die Maschinen merkwürdig, dann schwiegen sie. Julius Scheible pochte an das Sprachrohr.

»Aus!« sagte er, als sich Juanita Escorbal meldete. »Der letzte Tropfen ist weg. Ich komme jetzt raufund sonne mich. Daraufhabe ich wochenlang gewartet. Ist das Wasser schön warm?«

Juanita steckte den Stöpsel ohne Antwort auf den Trichter und verließ die Brücke. Ihre Aufgabe war erfüllt. Nun lag es ganz in des Schicksals Hand, ob man sie aufdem Meer entdeckte oder ob man sie eines Tages als vertrocknete Tote von einem Geisterschiff holte.

Bis zum Abend trieben sie auf der leichten Dünung dahin, ohne daß sie am Horizont ein Segel oder die Aufbauten eines Schiffes entdeckten. Ganz weit sahen sie einmal, im Abendrot, ein kreisendes

Flugzeug ... der Pilot mußte auch das weiße Schiff sehen, aber er hielt es sicherlich für eine der Luxusjachten, die auf dem Meer ankern oder langsam von Küste zu Küste ziehen.

Als die Dunkelheit über das Meer glitt, schoß Juanita die erste Notrakete in den Himmel.

Hellberg war neben ihr auf der Brücke. Er hatte, als er die Schwäche überwunden hatte, aus dem Sanitätsraum Verbandszeug geholt und Tabletten gegen die Schmerzen. Nun lag Foramente mit einem Schulterschuß und leicht fiebernd in der Kabine Claudias, und auch Hellberg spürte, daß sein Kopf zu summen begann und sein Körper glühte.

Nach einer halben Stunde schoß Juanita die zweite Rakete in den Nachthimmel. Blutrot hing die Feuerkugel an einem kleinen Fallschirm und pendelte langsam ins Meer zurück.

Hellberg suchte mit dem Nachtglas den Horizont ab.

Keine Antwort.

Unendlich lag das Meer im fahlen Mondlicht. Julius Scheible, der auf der anderen Seite den Horizont mit dem Fernglas abtastete, putzte sich die Nase und schnaubte.

»Hier sind wir am Arsch der Welt!« sagte er laut. »Kinder, der Foramente hat uns verschaukelt. Wer weiß, wo wir hier rumgondeln?«

»Dort irgendwo muß Ulcinj sein.« Hellberg hielt das Glas mit einer Hand umklammert, die Linke trug er in einer schwarzen Schlinge. »Wir dürfen nicht den Mut verlieren, Julius! Noch ein Ding hoch, los!«

Die dritte Rakete.

Nichts. Stumm und feindlich in seiner nächtlichen Schwärze umgab sie das Meer.

Die vierte Rakete war eine weiße. Eine grelle Leuchtkugel, die an ihrem Fallschirmchen ein paar Minuten in der Luft schwebte und das Meer weit im Umkreis taghell erleuchtete.

Und da geschah es.

Claudia und Juanita stießen gemeinsam einen Schrei aus. Ganz fern, kaum sichtbar, antwortete ihnen eine andere Rakete. Ein weißer Strahl pendelte durch die Nachtluft, wie ein fallender Stern sah es aus, der im Meer versinkt.

»Gerettet!« schrie Claudia und fiel Hellberg um den Hals. »Wir sind gerettet, Liebster!«

Der Jubel der Mädchen, die auf dem Deck angstvoll ausgehalten hatten, antwortete ihnen. Ein Jubel, der hinunterdrang bis zu Sa-luzzo, den Stewards und zu dem bewegungslosen Foramente.

Von jetzt an ging alles schnell, und obgleich es Stunden dauerte, war es allen, als verfliege die Zeit.

Ein Motorfangboot kam auf sie zu, von dem staatlichen jugoslawischen Thunfisch-Kombinat. Mit Megaphon rief man sich zu, aber man verstand sich nicht, denn die Jugoslawen sprachen nur ihr Serbokroatisch und schüttelten bei Italienisch, Französisch und Englisch nur die Köpfe. Soviel sahen sie aber, daß das Schiff bewegungsunfähig war, warfen starke Leinen hinüber und nahmen die Jacht in Schlepp.

Hellberg stieg hinunter in den Sanitätsraum.

»Meinen Glückwunsch, Hellberg«, empfing ihn Saluzzo. Seine Stimme war rauh, die Lippen waren aufgesprungen, er litt einen entsetzlichen Durst. Hellberg nahm ein Glas, füllte es mit Wasser und gab Saluzzo und dem Steward zu trinken. Gierig schlürften sie das Wasser; es war das köstlichste Getränk, das sie je getrunken hatten.

»Wir sind im Schlepp, Saluzzo«, sagte Hellberg, nachdem er ihnen den brennendsten Durst gestillt hatte. »Wir werden wahrscheinlich nach Ulcinj abgeschleppt. Haben Sie dort auch Freunde?«

»Überall.« Saluzzo lächelte schwach. »In Ulcinj kenne ich den staatlichen Fischereidirektor, Sofie Urbangic. Er wird für mich gut aussagen und alles als einen Irrtum hinstellen.«

»Aber die Mädchen sind frei, das ist die Hauptsache. Einmal wird die Gerechtigkeit auch Sie ergreifen!«

»Das hoffen viele!« Saluzzo lauschte auf das Tuckern des Fischerbootes, das die Jacht an den Trossen hatte. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Hellberg: Spielen wir die Komödie elegant zu Ende.

Sie binden mich los und meine anderen Männer auch, wir laufen wie gute Freunde in Ulcinj ein, die Mädchen können frei über sich verfügen - und alles ist vergessen!«

»Danke, Saluzzo.« Hellberg erhob sich und schüttelte den Kopf. »Jetzt weiß ich, daß Sie Angst haben. Sie haben in Ulcinj gar keine Freunde.«

Es war gegen Morgen, als sie den kleinen Hafen der jugoslawischen Fischerstadt erreichten. Der Hafenkommandant, durch Funk bereits unterrichtet, stand an der Mole, neben sich zehn Mann Miliz mit Maschinenpistolen. Man nahm es sehr genau in Ulcinj. Das fremde Schiff hatte keine Landeerlaubnis, und merkwürdig war es auch, daß abseits der normalen Wasserstraßen eine italienische Jacht treibt.

»Das habe ich gern«, sagte Julius Scheible neben Hellberg und sah hinüber zu den Milizsoldaten. »Von Uniformen habe ich die Schnauze voll. Wieder Verhöre, wieder in 'ner Zelle, und dann abgeschoben werden. Nee! Ich mache mich selbständig. Wie ist das, du wolltest mir Geld geben.«

»Hier, Julius.« Hellberg holte aus der Brieftasche ein paar Geldscheine. Scheible rollte sie zusammen, steckte sie in die Hosentasche und beugte sich dann an der dem Land abgewandten Seite über Bord.

»Mach's gut, Junge«, sagte er. »Und grüß' mir die Heimat. Sie vermißt mich zwar nicht, aber manchmal ich sie. Das Leben ist eben beschissen, wenn man einmal aufder Scheiße ausgerutscht ist. Ahoi, Junge und denk' mal an mich.«

Mit einem Kopfsprung sprang er über Bord und tauchte im schwarzen, öligen Hafenwasser unter. Das letzte, was Hellberg von ihm sah, war sein breites Gesicht, als er noch einmal auftauchte, tief Luft holte und dann wie ein Fisch wegschwamm.

Der Hafenkommandant empfing Hellberg und die Mädchen mit sichtbarer Verblüffung. Er sprach sogar französisch, und es war für Hellberg leicht, sich mit ihm zu unterhalten. In kurzen Worten schilderte er die Erlebnisse, und der Hafenkommandant verfiel in eine totale Sprachlosigkeit. Er brauchte eine ziemliche Zeit, ehe er den

Kopf schüttelte.

»Das ist ja unglaublich, Monsieur«, sagte er. »So etwas gibt es ja gar nicht.«

»Ich bringe Ihnen die Beweise. Ich weiß, daß es eine Dokumentation der UNO gibt, die sich mit dem modernen Menschenhandel befaßt, ein grauenhaftes Dokument, das überall auf Zweifel stößt, weil es einfach unglaublich ist. Ich habe es nun erlebt, und es bleibt Ihnen vorbehalten, der Weltöffentlichkeit diese Sensation zu bieten.«

»Wir werden sehen.« Der Hafenkommandant von Ulcinj war vorsichtig. »Wir werden ein Protokoll aufnehmen, genaue Untersuchungen führen, und selbstverständlich muß ich die Staatsanwaltschaft in Titograd benachrichtigen, denn das ist ja ein internationaler Fall! Monsieur -« Er machte eine kleine, höfliche Verbeugung vor Hellberg und vor Claudia. »Mademoiselle . ich muß Sie alle bis zur Klärung des haarsträubenden Falles in Haft nehmen!«

Hellberg wollte protestieren, aber es hatte keinen Sinn. Die Mädchen, Saluzzo, die Stewards, Juanita Escorbal wurden mit ihnen unter strenger Bewachung der Miliz von der Jacht geholt, der fiebernde Foramente wurde auf einer Trage in das Krankenhaus von Ulcinj gefahren. In drei Jeeps kam nun auch der Polizeikommandant mit einer schnell gebildeten Sonderkommission angerast, denn der Hafenkommandant hatte aufgeregt gemeldet, daß es sich hier um diplomatische Verwicklungen handeln könnte.

Als die Morgensonne wieder das Meer vergoldete, saßen Hellberg und Claudia in einem Zimmer des Hotels >Skutari<, dem besten Haus von Ulcinj. Neben ihnen im Zimmer wohnten Saluzzo und die Stewards, ihnen gegenüber auf der anderen Flurseite in drei Zimmern die Mädchen und Juanita Escorbal. Vor jeder Tür stand ein Posten der Miliz mit Maschinenpistole. Es war eine Idee des Polizeikommandanten. »Wir können sie nicht wie Verbrecher behandeln, Genosse«, hatte er zum Hafenkommandanten gesagt. »Angenommen, es ist alles wahr. Das kann Schwierigkeiten geben. Man muß sie behandeln wie Gäste, bis die Genossen aus Titograd entscheiden, was geschieht.«

Claudia saß am Fenster und sah über den kleinen, schmutzigen Hafen und das leuchtende Meer. An der Mole lag die weiße Jacht. Neben der Brücke standen zwei Soldaten und rauchten.

»Nun sind wir in Jugoslawien, Frank«, sagte sie leise und legte den Kopf müde auf die Arme. »Und wir sind Sarajewo ferner als zuvor.«

»Abwarten, Kleines.« Hellberg ging im Zimmer hin und her. Er rauchte hastig und suchte einen Ausweg aus ihrer Lage. »Uns ist der Sprung über das Meer geglückt. Und es sollte schon der Satan unser Feind sein, wenn es nicht gelänge, auch Sarajewo zu erreichen!«

Das klang mutig, aber nicht sehr hoffnungsvoll. Denn nicht auf den Satan kam es jetzt an, sondern auf die jugoslawischen Behörden und Kommissare, die bereits von Titograd aus unterwegs nach Ulcinj waren.

Die >MS Budva< lief in den herrlichen, neuen Hafen von Dubrovnik ein wie ein Luxusvergnügungsschiff.Die trutzige Burg der Altstadt leuchtete mit roten Quadern in der Abendsonne, am Quai der Neustadt glänzten die Fenster der Hotelpaläste, im Jachthafen gingen die Lichter auf den vielen, kleinen Motorbooten an, und vom Hotel >Petka< klang Musik über das Wasser bis hinüber zur >MS Bud-va<. Die grünen Hänge hinauf zogen sich die Villen und weißgetünchten Häuser, am Ende des Hafens ankerten Schiffe der jugoslawischen Kriegsmarine, die Fassade des großen Kaufhauses >Min-ceta< blitzte mit ihren Fenstern, und in den Gärten über der Steilküste wiegten sich Pinien, Apfelsinenbäume, Palmen und Zitronenbäume im Wind, der vom Meer kühlend über die schönste Stadt Jugoslawiens strich.

In die Passagiere war nun Unruhe gekommen. Die Ausschiffung stand kurz bevor, nach der unplanmäßigen Freude eines Sonnentages auf See kam nun der Alltag, der Ernst der Reise wieder. Weiter nach Sarajewo, weg vom Schiff der Hoffnung zum Zug oder Bus der Hoffnung oder mit dem eigenen Wagen auf die Straße durch den Karst der Herzegowina, durch ein ödes, heißes, feindliches Land.

Die Koffer wurden an Deck getragen, die Planen von den vertäuten Wagen gezogen, die Kräne schwenkten bereits ein. Die Passagiere standen an der Reling und sahen hinüber auf die in der Abendsonne wie brennende Stadt, ein Anblick, den sie nie vergessen würden in seiner wilden Schönheit.

Unter Deck schrie Lord Rockpourth wieder herum. Er war, allen Erwartungen zum Trotz, nicht wieder in Agonie gefallen, sondern kommandierte seine Ausschiffung selbst. Er rief nach Karl Hauß-mann, der aber oben neben seinem Wagen stand und dem Kranführer 1.000 Dinare in die Hand drückte, damit er den Wagen als ersten an Land setzte. So eine Sprache ist international, auch in einem kommunistischen Land, und der Kranführer nickte und tippte mit dem Zeigefinger an die Mütze.

Zuerst aber gab es eine Stockung. Kurz vor der Mole blieb die >MS Budva< liegen, und ein Polizeiboot kam längsseits. Vier Offiziere kletterten an Strickleitern an Bord und wurden vom Kapitän empfangen. Es war eine frostige Begrüßung, aber man hatte auch keinen Bruderkuß erwartet.

Der I. Offizier war es, der Karl Haußmann von seinem Wagen wegholte zum Verhör. Die >Budva< durfte nicht eher anlegen, bis man die Vorfälle an Bord geklärt hatte. Eine Art >Quarantäne< war über sie verfügt worden.

In seiner Kabine tobte Lord Rockpourth. Er verlangte ein Blitzgespräch mit dem britischen Botschafter in Belgrad und beschimpfte den Polizeioffizier wild, weil dieser nur den Kopf schüttelte.

Karl und Erika Haußmann saßen unterdessen vor einem Polizeihauptmann und machten über einen Dolmetscher, der ein miserables Deutsch sprach, ihre Aussagen über den Irren Uve Frerik. Dann war auch dies alles aufgeschrieben worden, die >Budva< konnte anlegen, das Fallreep wurde heruntergelassen, und als erstes kamen drei Särge an Bord und verschwanden mit ihren Trägern unter Deck. Die Zollbeamten folgten, die Paßkontrolle, merkwürdigerweise auch ein paar Soldaten unter der Führung eines Leutnants. Sie verhafteten den Kapitän der >Budva<, aber keiner bemerkte es, denn der Drang, an Land zu kommen, war jetzt so groß, daß niemand mehr einen Blick für seine Umwelt hatte.

In Dubrovnik!

Die zweite Station auf dem Weg nach Sarajewo. Zu den Wunderpillen HTS des Dr. Zeijnilagic! Zum wiedergeschenkten Leben!

Dubrovnik.

Der Hafen der Freude, die Stadt im Grünen, der Stolz der Küste. Aber in diesen Wochen Ankerplatz des Elends und Station zitternder Hoffnung.

Karl Haußmann stand neben seinem Wagen, der eben vom Kran auf die Mole geschwenkt war, und kam sich glücklich vor. Er sah Erika im Strom der anderen Passagiere über das Fallreep von Bord gehen, vorbei an den grüßenden Offizieren der >Budva< und den Zoll-und Paßbeamten. Oben, auf der Treppe der Brücke und des Kapitänhauses, saß Dr. Mihailovic und weinte. Man hatte ihm eröffnet, daß er seine ärztliche Approbation entzogen bekäme. Nun war er ein vernichteter Mann und beschloß insgeheim, sich mit wissenschaftlicher Gründlichkeit totzusaufen.

Nach der Ausschiffung der Passagiere wurde es ein paar Minuten einsam auf der >Budva<. Dann wurden die drei Särge an Land getragen, in die bereitstehenden Wagen geschoben und weggefahren. Als letzte wurden die Schwerkranken aus dem Schiff gebracht. Auf ihren Tragen, in Decken gehüllt, schwankten sie über die Mole zu den Krankenwagen oder den Privatautos, die mit der >Budva< herübergekommen waren wie Haußmanns Auto. Auch der riesige, graue Rolls von Lord Rockpourth stand da, und erstaunt sah Haußmann, daß sogar ein Chauffeur in Livree am Steuer saß, den er auf dem Schiff gar nicht bemerkt hatte. Zwei Matrosen trugen gerade die Bahre mit dem Lord an Land, und Robert, der Neffe, ging nebenher und schien eine Kanonade von Schimpfworten über sich ergehen zu lassen. Er erkämpfte sich sein Erbe heroisch, das mußte man ihm lassen.

»So!« sagte Lord Rockpourth, als er hinten in dem für seine Bahre umgebauten Rolls lag. Er schien zufrieden zu sein. Man war in

Dubrovnik, er lebte noch, Mr. Haußmann sorgte für die Fahrt nach Sarajewo - es lief alles so, wie es von ihm geplant war. »Jetzt zum Hotel Petka. Ich habe dort sechs Zimmer bestellt. Sie sind meine Gäste, Mrs. und Mr. Haußmann. Morgen früh geht es dann weiter - oder wollten Sie in dieser Nacht noch fahren?«

»Nein, Mylord. Meine Frau ist recht müde.« Haußmann war etwas verlegen. Er hatte gelogen. Allein wäre er vielleicht doch noch ins Land gefahren, so weit wie möglich Sarajewo entgegen. Übernachten konnte man überall, eventuell sogar im Wagen schlafen. Jetzt, wo er in Jugoslawien war, überfiel ihn eine hektische Unruhe. Gast des Lords zu sein, war eine Ehre ... aber was machte man mit Marion Gronau?

Sie war noch nicht an Land gekommen, sie verabschiedete sich anscheinend gründlich von einem der Offiziere der >Budva<. Ein Gedanke, der Haußmann weher tat, als er es sich eingestehen wollte, und gegen den er ankämpfte, denn er hatte sich dazu durchgerungen, die Vergangenheit vollkommen zu begraben.

Er atmete auf, als er Marions leuchtendblonde Haare auf dem Fallreep sah. Leichtfüßig kam sie an Land, ein Steward trug ihre Koffer, und auf halbem Wege blieb sie stehen und winkte zurück, zu einem Mann, den Haußmann nicht sah.

»Na endlich!« sagte er knurrend, als sie neben dem Wagen stand. »Sind die Koffer so schwer zu packen?«

»Ah, Ihre Tochter, Mr. Haußmann?« rief Lord Rockpourth aus seinem Rolls. »Ein schönes Mädchen! Sieht Ihnen ähnlich. Ich hatte leider keine Kinder. Nie Zeit! Immer nur Jagen und Reiten und Reisen. Ich habe nur diesen Nichtsnutz von Robert. Aber das reicht auch.«

Der junge Lord verbeugte sich leicht vor Marion. Und Marion nickte zurück, reckte sich etwas und zeigte, was sie unter dem leichten Sommerkleid hatte, in deutlichen Konturen.

O Himmel, dachte Haußmann. Auch das noch! Marion und der Neffe Robert. Mein Gott, verhindere das.

»Marion Gronau ist meine Sekretärin«, sagte Haußmann laut und abgehackt, um deutlich den Unterschied zwischen sich und Marion klarzumachen. »Ich habe sie zur Betreuung meiner Frau mitgenommen.«

»Leider gab es zu meiner Zeit nicht solche hübschen Sekretärinnen, Mr. Haußmann!« sagte Lord Rockpourth fröhlich. »Robert! Glotz' sie nicht so an! Zu meiner Zeit trugen Sekretärinnen Nik-kelbrillen und rochen nach Mottenpulver. Robert!«

»Onkel James?«

»Wie alt bist du?«

»Vierundzwanzig, Onkel James.«

»Und Sie, Miß Marion?«

»Dreiundzwanzig, Mylord«, sagte Marion und schlug kokett die Augen nieder. Wie eine berührte Mimose sah sie aus.

»Sie sind in Krankenpflege ausgebildet?«

»Ein wenig, Mylord.«

»Oha!« Lord Rockpourth lehnte sich zurück. Sein Mumiengesicht schien zu phosphorisieren. »Stellen Sie mir Miß Marion als Pflegerin zur Verfügung, Mr. Haußmann? Es bleibt sonst alles, wie besprochen. Nur - so nehme ich an - wird es Ihnen recht sein, wenn Miß Marion Sie entlastet und sich um mich alten Mann kümmert.«

»Natürlich, Mylord!« Haußmann sah Marion böse an. Sie lächelte ihm zu, und es war ein triumphierendes Lächeln.

»Zum Hotel Petka!« befahl Lord Rockpourth. Der Chauffeur ließ den Motor des Rolls an. Er flüsterte fast. Ohne Erschütterung fuhr er an. Haußmann trat an seinen Wagen und setzte sich seufzend. Marion verstaute ihre Koffer im Kofferraum.

»Was gab es, Karli?« fragte Erika. Sie sah wieder bleich aus, mit tiefen Ringen um den Augen. Der vergangene Tag war zuviel für sie gewesen.

»Marion Gronau wird den Lord betreuen.« Er sagte es, als müsse er Essig schlucken. »Und die Blicke zu dem jungen Lord Robert gefallen mir gar nicht.«

»Geht es dich noch etwas an, Karli?« fragte Erika leise.

Haußmann schüttelte den Kopf. »Das nicht, Rika! Aber die Fahrt nach Sarajewo wird immer komplizierter, jetzt haben wir auch noch einen sterbenden Lord im Gefolge. Und ich habe mir das alles so einfach vorgestellt, wenn wir erst einmal in Dubrovnik sind.«

»Fertig!« sagte Marion Gronau fröhlich und trat an den Wagen heran. Der Blick des jungen Lords hatte ihr gutgetan. Nun habe ich eine massive Waffe gegen Karl, dachte sie zufrieden. Wenn er nur ein klein wenig noch für mich fühlt, wird er vor Eifersucht zerplatzt sein, bevor wir in Sarajewo sind. Oder er wird mir erklärt haben, daß er mich noch liebt und die Zukunft nicht so dunkel ist, wie er sie jetzt hinstellt. Frank Hellberg ist für mich verloren, ein junger Lord kann nur eine kleine Abwechslung sein, so einer heiratet keine kleine Sekretärin . es bleibt nur noch Karl Haußmann, der alternde Mann, der froh ist, wenn ihn die Jugend anhimmelt und belügt.

»Können wir?« fragte sie und schüttelte die langen, blonden Haare.

»Schon längst! Steigen Sie endlich ein, Marion!« sagte Haußmann grob.

Im Hotel >Petka< wurden sie empfangen wie fremde Fürsten. Vier Boys bemühten sich, die Trage mit dem ungemein lebendigen Lord Rockpourth ins Hotel zu schleppen. Drei Hausdiener kümmerten sich um das Gepäck. Die Zimmer waren groß und sauber, wenn auch für verwöhnte europäische Begriffe einfach eingerichtet. Das schönste an ihnen war der Balkon. Von ihm aus hatte man einen zauberhaften Blick über den Hafen, die Einfahrt, die weißen Jachten und hinüber zu den Hügeln mit den Villen inmitten blühender Gärten.

»Ein Märchen.«, sagte Erika, als sie zurück ins Zimmer trat. Hauß-mann saß auf dem Bett, umgeben von Koffern und Taschen, und schwitzte. Er hatte eine kurze Auseinandersetzung mit Marion gehabt, von der Erika nichts ahnte.

Und das war so gekommen: Die Boys hatten einen Koffer verwechselt, er hatte ihn hinüber in Marions Zimmer getragen und dabei gesehen, wie der junge Lord Robert gerade herauskam und et-was verlegen grüßte.

»Aha!« sagte Haußmann, als er eintrat. Marion saß vor dem Frisierspiegel und kämmte sich die windzerzausten Haare. »War sehr stürmisch, der junge Herr, nicht wahr?«

»Oh, mein Bärchen!« Marion lächelte spöttisch. »Es ist ein Unterschied, ob man 24 oder 50 Jahre alt ist...«

»Man sollte dich rechts und links.«, schrie Haußmann und warf Marions Koffer auf den Boden.

»Bitte!« Marion hielt ihren Kopf Haußmann entgegen. »Schlag' zu! Wenn das alles ist, was du an Männlichkeit zu bieten hast.«

»Es wäre besser, du würdest gleich morgen zurückfahren nach Deutschland!«

»Das geht nicht, Bärchen. Ich bin jetzt auch noch Gast des Lords. Robert - oder sagt man besser Bob? - brachte mir eben die offizielle Einladung. Ich habe natürlich zugesagt.«

»Natürlich!«

»Wo du immer so böse zu mir bist.« Sie zog einen Schmollmund, aber Haußmann wandte sich ab und trat an das Balkonfenster.

»Laß die Albernheiten! Du machst dich über mich lustig. Ich weiß es. Und ich habe es auch verdient. Es war mein Fehler, auf deine körperlichen Vorzüge hereinzufallen und dabei zu übersehen, was für einen Charakter du hast.«

»Fehler radiert man aus«, sagte Marion schnippisch. »Auf der Schreibmaschine - und auch im Leben. Warum bist du eigentlich so wütend, Bärchen?«

»Du benimmst dich unmöglich!«

»Und du? Auf dem Schiff, die ganze Reise über? Als ob ich ein Stück Dreck wäre, das man nicht abschütteln kann. Gut, deine Frau ist schwerkrank, vielleicht unheilbar.«

»Ich bitte dich zum letzten Mal, Marion, nicht so gleichgültig über Erika zu sprechen«, schrie Haußmann und ballte die Fäuste. »26 Jahre lebe ich mit ihr zusammen, sie ist die Mutter meiner Kinder, und wenn ich sie auch betrogen habe: Du, gerade du solltest Achtung vor ihr haben. Ihre Krankheit sollte uns beide erschüttern.« »Du bist ein merkwürdiger Mensch.« Marion Gronau legte den Lippenstift weg und leckte über ihre bemalten Lippen. »Aus dir soll man klug werden. Wen liebst du eigentlich? Erika oder mich?«

Haußmann atmete tief auf. Wie oft hatte er sich diese Frage gestellt und wie oft hatte er vor ihr kapituliert. Darauf gab es keine Antwort. Das war ein Zwiespalt, der nicht erklärt werden konnte.

Über die Stadt senkte sich die Nacht. Rings von den Bergen flimmerten die Lichter wie große Sterne. Als eine breite, silberne Lichtstraße spiegelte sich der Mond im Hafenwasser. Haußmann war nach diesem Gespräch gegangen und hatte das Zimmer verlassen wollen, aber die Stimme Marions hielt ihn noch einmal zurück:

»Kannst du mir darauf keine Antwort geben?«

»Nein!« hatte er laut geantwortet. »So etwas fragt man nicht in unserer Situation.«

Innerlich noch immer ungewöhnlich erregt, saß er jetzt auf dem Bett zwischen den Koffern und Taschen, während Erika von der Märchenstadt Dubrovnik schwärmte.

»Hier möchte ich ein paar Wochen bleiben, Karli«, sagte sie und sah wieder hinaus auf den mondsilbernen Hafen.

»Ich auch. Aber erst nach Sarajewo, Rika! Auf dem Rückweg, wenn die Pillen geholfen haben, können wir so lange hier bleiben, wie du willst.«

Es wurde eine kurze Nacht.

Lord Rockpourth bestand darauf, daß man zusammen speiste. In seinem großen Zimmer hatte man eine Tafel gedeckt, drei Kellner bedienten, und es war alles ganz anders, als man es sich in einem kommunistischen Land dachte. Lord Rockpourth aß nichts; man hatte ihm einen dünnen Haferschleim gemacht, den er durch ein Glasröhrchen schlürfte. In diesem Haferschleim löste Neffe Robert Vitamintabletten auf.

»Ich habe ein Schloß«, sagte der Lord Rockpourth. »Große Ländereien in Schottland und eine Hazienda in Argentinien. Wieviel Rinder habe ich, Robert?«

»17.000, Onkel James«, sagte der junge Lord.

»17.000! Wenn man sich das vorstellt! Diese Berge von Filets und Rumpsteaks! Und was muß ich essen? Haferschleim! So ist das Leben, liebe Freunde! So betrügt einen das Schicksal!«

Es war spät, als die Haußmanns endlich schlafen konnten. Lord Rockpourth verfiel gegen Mitternacht wieder in eine stumme Lethargie, aber er war hellhörig, nahm alles wahr, und seine Adleraugen blitzten vor Leben. Nur die äußere Hülle versagte wieder ihren Dienst. Es war ein schrecklicher Zustand, einem Scheintod gleich, und es gab keinen Arzt der Welt, der dies ändern konnte.

Marion hatte sich schon früher verabschiedet. Sie täuschte Kopfschmerzen vor. Und wieder glomm in Haußmann die Eifersucht. Warum geht sie schon? Wo geht sie hin? Mit wem hat sie sich verabredet? Was geschieht hinter meinem Rücken?

Unruhig wälzte er sich später im Bett hin und her, während Erika - sie hatte zwei Glas eines süßen, schweren Weines getrunken -fest schlief. Wirre Bilder überfielen ihn, er rang im Halbschlafmit hundert Lords, wurde auf Schirmen aufgespießt, in der Themse ertränkt.

Am Morgen weckte ihn Klopfen an der Tür, pünktlich 7 Uhr, wie er es an der Rezeption hinterlassen hatte. Er stand auf und fühlte sich elend wie nach einer gewaltigen Sauftour des Kegelclubs in Gelsenkirchen.

Das Frühstück aufder gläsernen Terrasse war kurz. Der junge Lord Robert erschien, ein wenig bleich, und berichtete, daß Onkel James schon im Wagen liege, steifwie ein Brett, aber bei vollem Bewußtsein.

»Wir sollten sofort fahren«, sagte er. »Sie kennen Onkel James ja jetzt. Jede Verzögerung lastet er mir an.«

Haußmann nickte und würgte den Rest eines Brötchens hinunter. Erika hatte gut geschlafen. Sie sah verblüffend jung aus, und immer wieder fragte sich Haußmann, ob nicht doch alles eine Fehldiagnose sei, denn so wie Erika sah keine unheilbar Krebskranke aus.

Marion Gronau wirkte bezaubernd. Sie hatte sich in der Hotelhalle an einem Verkaufsstand ein goldenes Stirnband erstanden, be-stickt mit roten Rosen. Nun trug sie die Haare aus der Stirn zurückgekämmt, lang über die Schulter fließend, und in ihren blonden Locken glänzte das goldene Band mit den Rosen, als wüchsen die Blüten aus der Pracht ihrer Haare.

»In zehn Minuten sind wir startbereit«, sagte Haußmann.

In der Hotelhalle stand schon alles bereit. Die Rechnung war von Lord Rockpourth bezahlt, sosehr Haußmann auch protestierte. Vor dem Eingang wartete der große Rolls auf Marion, die neben dem starren Lord fahren sollte. Der Direktor des Hotels kümmerte sich selbst um alles, einerseits, um jugoslawische Gastfreundlichkeit zu demonstrieren, andererseits, weil der junge Lord ihm heimlich ein Trinkgeld gegeben hatte, das zwei Monatsgehälter ausmachte.

Dann fuhren die beiden Wagen los, die Küstenstraße entlang Richtung Ploca, wo kurz vor der Stadt die Straße abzweigt nach Mo-star und weiter nach Sarajewo. Durch die dalmatinischen Berge führte dieser Weg und dann später durch ein verkarstetes Land mit Wildbächen und romantisch-schwindeligen Brücken über den Fluß Bos-na.

Noch waren sie alle in einer fröhlichen Stimmung. Die Sonne meinte es gut, nur wenige Wagen begegneten ihnen auf der Straße, meistens uralte Lastwagen, die Obst und Gemüse transportierten, zweimal auch ein klappriger Omnibus, überfüllt und schwankend, mit wehmütig heulendem Motor.

Dreimal hielten sie an, um Lord Rockpourth etwas zu trinken zu geben. Marion übernahm das. Aus einer Schnabeltasse flößte sie kalten Tee zwischen die blassen Lippen des Kranken, und nur an den Augen erkannte man, wie gut es Lord Rockpourth tat und wie dankbar er dafür war.

»Wie lange fahren wir?« fragte beim dritten Halt der junge Lord und bot Haußmann eine Zigarette an.

»Bei diesem Tempo etwa zehn Stunden.« Haußmann sah auf seine Uhr. »Wenn wir Glück haben, können wir gegen 21 Uhr in Sarajewo sein. Jetzt ist es 10.30 Uhr. Aber ich befürchte, daß wir unterwegs übernachten müssen. Ihr Onkel hält es nicht durch.«

»Es ist sein Wille, in einem Tage nach Sarajewo zu kommen.«

»Na, dann Prost!« Haußmann inhalierte die süßliche englische Zigarette. »Dann machen Sie sich darauf gefaßt, daß wir eine halsbrecherische Nachtfahrt über Schluchten und durch verlassene Täler vor uns haben.«

In Ulcinj waren Frank Hellberg und Claudia Torgiano von Experten aus Titograd eingehend verhört worden. Sogar zwei Kommissare der politischen Polizei waren gekommen, denn der Fall Saluzzo weitete sich zu einem in seinen Auswirkungen - bis jetzt noch unbekannten - internationalen Skandal aus. Umberto Saluzzo nämlich, sofort die Lage überblickend, daß er hier keinerlei Chancen mehr besaß, hatte Verbindungen spielen lassen, bohrte einen heißen Pfahl ins Fleisch jugoslawischer Vaterlandsliebe. Er sagte aus, daß einer der Zwischenverkäufen ein gewisser Milan Osijek sei, Mitglied des Volksrates in Belgrad und Präsident der Anwaltskammer in Zagreb. Außerdem ein alter Partisan und Duzfreund von Marschall Tito.

Die Sensation war vollkommen. Ein Telefongespräch, ganz vorsichtig und harmlos, bestätigte, daß ein Milan Osijek tatsächlich im Volksrat saß und ein bekannter Rechtsanwalt war.

»Eine schöne Schweinerei, Genossen«, sagte der verhörende politische Kommissar, als man Saluzzo wieder abgeführt hatte. »Wie soll man jetzt weiter ermitteln, ohne nicht den eigenen Hals in die Schlinge zu legen? Stellen Sie sich vor, Genossen, man muß hingehen zu Marschall Tito und ihm sagen: >Ihr Freund Milan ist ein schönes Früchtchen. Mit Mädchen handelt er!<«

Die anderen Polizeioffiziere schwiegen. Sie konnten es sich nicht vorstellen. So etwas hatte man nicht eingeplant.

»Aber es muß doch etwas geschehen, Genosse!« sagte der Polizeichef von Ulcinj. »Wir haben sie nun mal alle verhaftet. Und sie werden nicht schweigen, sondern protestieren. Vor allem der Deutsche! Ein Journalist ist er. Durch die ganze Presse wird es gehen.« »Man sollte einmal mit dem Deutschen sprechen.« Der politische Kommissar malte nervös Kreise und Winkel auf seine Schreibunterlage. »Was ist eigentlich passiert? Sehen wir es uns genau an, Genossen. Eine Privatjacht hat keinen Brennstoff mehr, wird abgeschleppt, kommt nach Ulcinj ... weiter nichts. Es kann also gar keine Rede sein von illegaler Einwanderung oder dergleichen Blödsinn. Man tankt die Jacht wieder auf, und die fährt davon. Basta!«

»Und die Mädchen?« fragte der Hafenkommandant.

»Die werden nach Dubrovnik gebracht und mit dem nächsten Schiff nach Bari geschickt. Saluzzo ist italienischer Staatsangehöriger; wenn sie Klagen haben, geht das Italien etwas an, nicht uns. Wozu Verwicklungen, Genossen? Man hätte das in Ulcinj auch selbst überblicken können, ohne Titograd zu belästigen. Wir handeln korrekt, wir schieben die Mädchen in die Heimatländer ab. Was will man mehr?«

»Und der Deutsche mit seiner Braut. Sie wollen nach Sarajewo.«

»Sollen sie!«

»Diese Claudia hat keinen Paß!«

»Dann fährt sie zurück nach Italien mit den anderen. Wozu diese Aufregungen? Es ist doch alles so einfach.«

Es zeigte sich, daß die Kommissare aus Titograd wirklich Fachleute waren. In Gruppen wurden die Inhaftierten aus dem Hotel entlassen. Zuerst Frank Hellberg und Claudia Torgiano.

Man war sehr höflich zu ihnen, entschuldigte sich und sagte dann:

»Sie werden heute noch nach Dubrovnik gebracht und fahren mit dem Fährschiff zurück nach Bari. Ohne Paß geht es leider nicht. Bitte, haben Sie Verständnis dafür.«

Hellberg versuchte gar nicht zu handeln. Dubrovnik, dachte er. Sind wir erst einmal dort, wird es auch leicht sein, nach Sarajewo zu kommen. Die Hauptsache ist, wir sind keine Gefangenen mehr.

Eine Stunde später saßen sie in Begleitung eines Polizisten in Zivil in dem klapprigen Omnibus, der die Küstenstraße entlang fuhr über Bar-Budva-Zelenika nach Dubrovnik. Was mit Saluzzo und seinen Männern geschehen war, hatte man ihm nicht gesagt, auch von den Mädchen und Juanita Escorbal konnte er sich nicht verabschieden. Sie standen noch unter Bewachung und hockten in ihren Hotelzimmern. Aber einen Briefhinterließ Hellberg mit seiner deutschen Adresse und der Bitte, sich zu melden, wenn Juanita wieder Spanien erreicht hatte. Ob sie den Briefjemals bekam, wer wußte es?

Frank Hellberg hörte jedenfalls nie mehr etwas von Juanita Es-corbal. Und auch von Umberto Saluzzo nicht.

Der Bus war überfüllt. Hellberg und Claudia erhielten nur deshalb einen Fensterplatz, weil der begleitende Polizist zwei Bauern einfach von den Sitzen zog und in den Gang stieß. Es gab ein großes Geschrei, der Fahrer kam herangelaufen, einen dicken Schraubenschlüssel in der Faust. Aber dann erkannte er den Polizisten, grinste verlegen, tippte an die Mütze und ging zurück zum Fahrersitz. Vor dem Bus brüllte der Schaffner zwei Frauen in schwarzen Kopftüchern an, weil sie geflochtene Körbe mitnehmen wollten, aus denen gackernd Hühnerköpfe heraussahen. Als der Bus endlich fuhr, saßen alle drin wie in einer Kiste zusammengepreßte Heringe. Es roch nach Knoblauch und Schweiß, gesäuertem Kohl und Slibo-witz.

Fröhlich hupte der Fahrer zum Abschied von Ulcinj, dann ratterte er aus der Fischerstadt, schob die Kappe in den Nacken und konzentrierte sich auf die enge Straße.

Eine Kontrolle der Geschwindigkeit gab es nicht, der Tachometer auf dem Armaturenbrett war kaputt. Auch die anderen Instrumente, ohne Glas, versagten. Doch was tat's? Wenn der Motor spuckte, war es zu schnell, und blieb der Bus stehen, fehlte Benzin - es war eine einfache Regel.

Drei Stunden fuhren sie die Steilküste entlang; über Haarnadelkurven, bei denen sich Claudia ängstlich an Frank klammerte, denn mehr als einmal war es, als stürze der Bus in die Tiefe. Dann kam wieder eine Station, meistens ein Gasthaus in einem der gottverlassenen Dörfer. Fahrer, Schaffner und der Polizist stiegen aus, und wenn sie zurückkamen, roch der Bus noch stärker nach Slibowitz, und die Stimmung stieg.

Eselskarawanen kamen ihnen entgegen. Am Straßenrand kampierten Zigeunerfamilien, mit primitiven Zelten, über dem offenen Feuer Hühner bratend. Vor den Dörfern überholten sie Frauen, die Riesenlasten auf dem Kopf trugen. Ballen und Körbe, Tonkrüge und sogar Kisten.

Vor jeder Serpentine und scharfen Kurve ging ein Zucken des Erschreckens durch die Reisenden: Der Fahrer drückte auf die Preßluftfanfaren und raste schleudernd und mit einem Höllenlärm um die Felsen. Der Polizist neben Hellberg wickelte ein Butterbrot aus und begann zu essen. Salami, die scharf nach Knoblauch roch, und ein Stück Käse, dessen Duft durch den vollen, heißen Wagen zog wie eine klebrige Masse. Irgendwo würgte eine Frau und übergab sich in eine Tüte, die der Schaffner im Laufschritt heranbrachte. Der Polizist grinste und bot auf der Messerspitze Hellberg ein Stück des radikalen Käses an.

»Danke«, sagte Hellberg und schluckte krampfhaft. »Nein, danke.«

Kurz vor der uralten Stadt Kotor mit ihren Befestigungen, den fjordähnlichen Meeresengen und den unheimlich steilen, hohen Bergen ringsum drückte der Fahrer mehrmals auf seine höllische Preßluftfanfare.

Vor ihnen, auf der Straße, lief gemütlich ein Esel. Er sah sich um, wackelte mit den Ohren, hob den Schwanz und lief dann weiter, ohne sich um den Lärm der Hupe zu kümmern.

An den Fenstern klebten die Gesichter der Reisenden, schadenfroh und fröhlich.

»Immer langsam, Freundchen!« rief jemand.

Und ein anderer: »Es ist seine Straße. Kann man's ihm übelnehmen?«

Behutsam fuhr der Bus hinter dem trottenden Esel her. Als das Tier endlich abbog in einen Feldweg, klatschten die Reisenden Beifall, der Bus heulte auf und rasselte die Serpentinen hinunter zur Fähre, die über einen der Fjorde nach Kotor fährt. Aus zwei Fischerbooten war sie zusammengesetzt, und als der voll beladene Bus darauf rollte, sank sie so tief ein, daß das Wasser über die Seiten schwappte.

Claudia umklammerte wieder den Arm Franks.

»Sie sinkt.«, stammelte sie. »Wir werden alle ertrinken!«

Aber nichts geschah. Tuckernd überquerte man die Meerenge, legte auf der Seite von Kotor an, und als sie in die uralte Stadt einfuhren, war es fast ein Triumphzug, denn alle winkten ihnen zu.

Es war später Nachmittag, als sie die letzte Strecke zwischen Her-cegnovi und Dubrovnik befuhren. Noch einmal gab es einen Aufenthalt von einer halben Stunde, weil ein Erdrutsch die Straße verschüttet hatte. Große Felsbrocken lagen auf der Fahrbahn. Kritisch starrte Hellberg die steilen Hänge hinauf. Wenn sich dort wieder ein Teil der Felsen löst, dachte er, sind wir in Sekunden zermalmt und begraben.

Aber auch dieses Hindernis wurde überwunden. Alle stiegen aus, und unter dem Kommando des Polizisten und des dreiviertel betrunkenen und nach Slibowitz weithin duftenden Schaffners schleppte man die Felsbrocken zur Seite und rollte sie einfach ins Tal. Wohin sie stürzten ... wenn kümmerte es? So etwas ist ein Naturereignis. Man muß ihm aus dem Wege gehen.

»Eine schöne Fahrt!« sagte der Polizist, als man durch die ersten Vororte Dubrovniks rollte, vorbei an den stillen Villen in den herrlichen Gärten. »Ist es nicht ein schönes Land, Freunde?«

Hellberg verstand ihn nicht, aber nickte zustimmend, denn zu allem ja zu sagen, war jetzt das beste.

Der Bus hielt mit kreischenden Bremsen vor dem Stadion-Hotel in Dubrovnik. Die Reisenden quollen auf das heiße Pflaster, um den Heck-Kofferraum versammelten sich schimpfende Gruppen, denn das Gepäck wurde einfach auf die Straße geworfen, auch wenn einige schrien: »Vorsicht, Brüder! Glas ist drin! Glas! Gebt doch acht, Genossen!«

Der Polizist sah Hellberg und Claudia aus umflorten Augen an und rülpste. Er war müde, hatte Durst und sehnte sich nach einem gebratenen Hühnchen. Sein Auftrag war klar: Ablieferung der beiden Fremden am Hafen. Hinweis auf das Fährschiff. Rückkehr mit dem Bus am nächsten Morgen. Konnte da noch etwas schiefgehen?

Er winkte, ging mit staksigen Beinen voraus bis zur nächsten Mole, zeigte hinüber zum Hafen und auf die Schiffe und sagte:

»Italia! Navigare! Prego! Subito.« Dann grüßte er, lächelte Claudia an, machte eine scharfe Kehrtwendung und ging, leicht schwankend, zum Bus zurück.

Auftrag erfüllt! Es lebe der Abend in Dubrovnik.

Sprachlos sah Frank Hellberg ihm nach. Es dauerte lange, bis er begriff, daß nun alles erledigt war, daß sie nicht mehr bewacht wurden, daß sie lediglich den Befehl bekommen hatten, auf das Fährschiff nach Bari zu gehen.

»Wir sind frei, Frank«, sagte Claudia leise. Trotz der Abendhitze war ihre Hand kalt, als sie nach ihm tastete. »Wir sind keine Gefangenen mehr.«

»Komm!« Hellberg faßte sie fest an der Hand. »Weg von hier. Zum Hafen! So schnell wie möglich weg, ehe er es sich anders überlegt oder wieder nüchtern wird.«

Wie Kinder rannten sie die Uferstraße entlang, bis sie den Bus nicht mehr sahen, sondern nur noch die schlanken, weißen Leiber der Jachten und Segelboote und die in der Abendsonne blitzenden Scheiben des Hotels >Petka<. An den Molen der Fährschiffe herrschte reger Betrieb. Ein Ersatzschiff für die >Sveti Stefan< und die >Budva< wurde beladen. Am Quai wartete die lange Wagenreihe auf die Freigabe der Fahrt in den hohen Leib des Schiffes.

»Haußmanns werden längst in Sarajewo sein«, sagte Hellberg. Er saß auf einem Stapel Rundstämme und blickte hinüber zum Hotel Petka. »Wie ich Herrn Haußmann kenne, hat er eine Nachricht hinterlassen. Aber wo? Wir sollten einmal alle Hotels abgehen. Vielleicht haben wir Glück.«

Und sie hatten Glück, schon beim ersten Fragen. Der Chefportier des Hotels Petka, der ein wenig deutsch sprach, begrüßte Hellberg wie einen alten Freund, als dieser seinen Namen nannte und nach Karl Haußmann fragte.

»Ein Brief für Sie, mein Herr!« rief der Chefportier. »Gestern sind die Herrschaften abgefahren. Liebe Menschen, liebe Menschen! So großzügig.«

Hellberg verstand. Er schob einen Zwanzig-Mark-Schein unter einen Hotelprospekt und riß den Brief auf. Der Chefportier schob unterdessen den Prospekt weg, zerknüllte ihn und trug ihn zur Seite. Sauberkeit ist alles!

Hellberg und Claudia setzten sich in die Ledersessel der Hotelhalle und lasen den Brief Haußmanns. Er war kurz, in großer Eile geschrieben.

».wir fahren jetzt gleich nach Sarajewo. In unserer Begleitung ist ein Lord Rockpourth. Wir müssen uns um ihn kümmern. Lord R. hat in Sarajewo Zimmer bestellt. Wir wohnen im Hotel Europa. Werden auch für Sie und Claudia Zimmer reservieren. Lord R. kann anscheinend alles. In größter Eile herzlichst Haußmann.«

Hellberg faltete den Brief zusammen und steckte ihn ein. Dann ging er zurück zur Theke der Rezeption. Der Chefportier glänzte ihn an wie ein Liebhaber seine Geliebte.

»Mein Herr.?«

»Wie kommt man am schnellsten nach Sarajewo?« fragte Hellberg.

»Am schnellsten mit dem Auto, am sichersten mit dem Zug. Ich würde den Zug empfehlen. Abfahrt 8.30 Uhr, Ankunft gegen 21 Uhr . genau weiß man das nicht. Es gibt da viele unvorhergesehene Dinge.«

»Zum Beispiel Erdrutsche.«

»Auch, mein Herr.«

»Ein Esel auf den Schienen.«

»Kommt alles vor.« Der Chefportier grinste breit. »Soll ich zwei Karten besorgen lassen? Auch Geld können Sie bei mir wechseln, mein Herr. Bei mir können Sie alles haben.«

Hellberg nickte. Er gab dem Portier fünfhundert deutsche Mark und wußte, daß er sich bis morgen früh um nichts mehr zu kümmern brauchte. Zwei Zimmer, das Abendessen, das Frühstück, die

Fahrkarten, die eingewechselten Dinare ... alles würde bereit sein.

»Morgen sind wir endlich, endlich in Sarajewo«, sagte er, als er zurück zu Claudia kam, die noch immer in dem Ledersessel saß. Sie sah bleich aus. Die schönen, glänzenden Augen lagen tief in den Höhlen. »Morgen stehen wir vor dem Haus deines Wunderdoktors, mein Liebling, und übermorgen kannst du die ersten Kapseln nehmen.«

»Und ich werde gesund«, sagte Claudia ganz leise und legte das Gesicht auf Franks Hände. So viel Zärtlichkeit und Glaube war in dieser Geste, daß Hellbergs Herz bis zum Halse schlug.

Mein Gott, dachte er, was wird bloß, wenn auch HTS nicht hilft? Wenn dieses Mittel nur eines der vielen Wundermittel ist, die eine gewissenlose Propaganda emporhebt in den Himmel, um dann die Hoffenden in die tiefste Hölle stürzen zu lassen? Rennen wir nicht mit offenen Augen einem Phantom nach? Alle, die sich mit dem Krebsproblem beschäftigen, alle Ärzte in aller Welt sagen: Es gibt kein Allheilmittel gegen den Krebs. Wer das behauptet, ist ein Betrüger. Wie kann es ein Mittel gegen eine Krankheit geben, von der man noch nicht einmal weiß, wie sie entsteht?

»Ich bin müde, Frank«, sagte Claudia leise. »So müde, Liebling. Wenn du nicht bei mir wärst, ich hätte es schon längst aufgegeben.«

Später saß Hellberg auf dem Balkon seines Zimmers und sah hinaus in die warme Nacht und über das Lichtermeer von Dubrovnik. Nebenan schlief Claudia, mit einem Lächeln auf den Lippen, wie ein beschenktes Kind. Vom Chefportier hatte er zwei neue englische Zeitungen bekommen. In beiden stand ein Artikel über das HTS des Dr. Zeijnilagic in Sarajewo.

»Schwindel oder Rettung für Millionen?«

Ȁrzte warnen: Es gibt kein >Wundermittel

»Gutachterkommission fordert: Verbot für HTS!«

Hellberg hatte die Zeitungen auf den Kleiderschrank gelegt, damit Claudia sie nicht fand, wenn sie am Morgen zu ihm kommen würde.

Der Kampf hat begonnen, dachte er. Die Experten zerfleischen sich bereits. Neid und Unwissenheit, Borniertheit und Hochmütigkeit fallen wieder übereinander her. Leidtragende sind die Kranken, denen niemand mehr hilft. Aber wen kümmert das? Das >wissen-schaftliche Gesicht< der Experten ist wichtiger.

Morgen werden auch wir in Sarajewo sein. Wie Hunderte vor uns werden wir am Haus auf der Straße und im Treppenhaus des Dr. Zeijnilagic Schlange stehen und um 20 Kapseln HTS bitten. Auch wenn es ein Verbrechen ist, wie die Gegner schreiben.

Ist Hoffnung ein Verbrechen?

Aus dem Hafen lief das Fährschiff nach Bari aus.

Morgen früh würde es an der Molo Foraneo anlegen, und vierzig, fünfzig Augen würden es anstarren und die Hände falten.

Das Schiff der Hoffnung.

Solange es Hoffnung gibt, ist der Mensch nie allein.

Das Alleinsein aber ist die erste Stufe des Todes.

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