Kapitel 2

Rimini.

Ein kilometerlanger, weißer Strand mit oftmals zehn Reihen Liegestühlen und Sonnenschirmen hintereinander, abgegrenzt von einem blauen, salzigen Meer und einer Kette weißer oder bunter Hotelpaläste. Dazwischen schreiende Kinder, Hunderte Kofferradios, flirtende Paare, Eisverkäufer, schwarzlockige Jünglinge in knappen Badehosen und mit goldenen Madonnenmedaillons auf der Brust, Pullover- und Seidenstoff-Verkäufer. Bootsvermieter und schreiende Bademeister. Dazu der Geruch von Sonnenöl und Parfüm, von Schweiß und trocknenden Stoffen - sogar der Duft von Reibekuchen, die ein tüchtiger, italienischer Geschäftsmann auf einem hochrädrigen Wagen bäckt und vor den Liegestühlen herschiebt, denn so viele Deutsche liegen hier und braten in der Sonne. Für sie ist der Duft von Reibekuchen wie für einen Bulgaren der Duft roter Rosen.

Und die Sonne brennt vom wolkenlosen Himmel, das blaue Meer glitzert . es ist wirklich so wie auf den Postkarten und Prospekten oder - wie Ludwig Thoma einmal schrieb - so >wahnsinnig italie-nisch<.

Die dreitägige Fahrt war ohne Zwischenfälle verlaufen. Erika hatte Marion Gronau und Frank Hellberg wie gute, alte Bekannte begrüßt, ohne jegliche zweideutige Bemerkungen. Sie wirkte jugendlich, hatte sich etwas geschminkt, die Haare hochgesteckt und mit einem flotten, hellroten Chiffontuch verknotet. Sie trug ein weißblau gestreiftes Kleid im sogenannten Segel-Look, hohe, weiße Pumps und zwang Karl Haußmann direkt, auf ihre Beine zu sehen. Überhaupt war Haußmann sehr erstaunt darüber, wie gut Erika aussah. Und als sie neben Marion stand und ihr das Gepäck verstauen half, stellte er fest, daß Erikas Beine sogar noch schlanker und schöner waren als die Marions. Das verwirrte ihn maßlos.

In der ersten Nacht, in Basel, war er ohne Aufforderung, von sich aus, zärtlich zu seiner Frau und lag dann noch lange wach. Der Zwiespalt, in den er gekommen war, machte ihn unsicher. Zwei Zimmer weiter lag Marion Gronau, und sie trug ein teerosenfarbiges BabyDoll-Nachthemd, das er selbst gekauft hatte.

Es war zum Kotzen! sagte er sich in dieser Nacht und wälzte sich auf die Seite, um Erika nicht immer anzusehen, die ihm plötzlich so jung vorkam wie vor fünfundzwanzig Jahren. Ich fahre doch nach Rimini, um mir Marion zu erobern, aber nicht, um mich in meine eigene Frau zu verlieben. So was Blödes!

Aber auch in der zweiten Nacht, in Como, nahm er Erika in seine Arme, aber dieses Mal aus Ärger und Opposition, denn Marion und Hellberg waren im Comer See schwimmen gewesen und hatten ihn nicht mitgenommen.

Als sie endlich in Rimini waren, stellte Erika fest, daß Marion Gronau auf dem gleichen Flur wohnte. Ihr Zimmer lag günstig, gleich neben dem Aufzug und der Treppe. Um so ungünstiger lag die >Pen-sione Luigi<. Bis zum >Palma< waren es gut zwanzig Minuten Fußweg - weit genug, um telefonische Warnungen in Empfang zu nehmen, wenn Frank Hellberg die Pension verließ.

»Ein Wetterchen«, sagte Karl Haußmann und dehnte sich vor dem offenen Fenster. »Was, Rika? Ein Wetterchen! Das treibt den ganzen Schimmel aus den Knochen. Du sollst sehen, wie wohl du dich in Kürze fühlst.«

Karl Haußmann hatte alles durchorganisiert. Am hoteleigenen Badestrand hatte er zwei Kabinen und vier Liegestühle mit großen Sonnenschirmen reservieren lassen, ferner eine breite Luftmatratze, mit der man auf dem Wasser treiben konnte, und einen aufblasbaren Riesenball. Dazu eine Schwimmweste, denn er wollte Marion Gronau durch ein weites Hinausschwimmen ins Meer zeigen, wie mutig und sportlich auch ein Mann mit fünfzig Jahren noch sein kann.

Am dritten Tag in Rimini kam es zu einem Zusammenstoß.

Erika war vom Hotel aus etwas später zum Strand gegangen. Sie suchte ihren Mann, fand ihn nicht und sah auch Marion Gronau nicht im Liegestuhl. Frank Hellberg war noch nicht da; er kam immer erst gegen 10 Uhr vormittags.

Eine heiße Angst kroch in Erika hoch. Sie wollte sich zwingen, sich in den Liegestuhl zu legen und zu warten, an nichts Unrechtes zu glauben, sich selbst zu belügen ... aber sie hatte nicht die Kraft dazu. Sie lief zu den Kabinen.

Dort sah sie ihren Mann, wie er gerade aus einer der Kabinen kam. Aber nicht allein. Marion Gronau folgte ihm und sie sah sehr erhitzt aus.

»Guten Morgen«, sagte Marion, sah Erika etwas scheu an und lief hinunter zum Strand, ohne sich umzudrehen. Wie Flucht sah es aus. Karl Haußmann hielt den aufgeblasenen Ball vor seine Brust und pfiff verlegen vor sich hin.

»Konnte sich Fräulein Gronau nicht allein anziehen?« fragte Erika spitz. »Oder klemmte ein Reißverschluß?«

Haußmann ließ den Ball fallen und holte Atem. »Bitte, nicht solche Töne, Erika!« rief er empört. »Ich habe nur den Ball aufgeblasen.«

»In der engen Kabine?«

»Da lag der Blasebalg.«

»Man kann ihn auch hinaustragen.«

»Man kann, kann, kann! Sag' einmal, was soll das Trara? Willst du uns mit deiner dämlichen, grundlosen Eifersucht den Urlaub verderben? Wenn das so weitergeht, schicke ich Fräulein Gronau nach Hause!«

»Das wäre allerdings eine Lösung.«

»Und Hellberg? Wie stehe ich denn da? Soll ich sagen, meine Frau verdächtigt Ihre Braut? Bin ich ein Waschlappen? Willst du mich unmöglich machen?« Er gab dem Luftball einen Tritt, so daß er weit über den Strand bis zu den Liegestühlen flog. »Ein schöner Urlaub wird das! Eine herrliche Erholung! Man sollte sich jetzt in eine Pinte setzen und sich vollsaufen.«

Erika antwortete nicht mehr. Sie wandte sich ab, ließ den wütenden Karl Haußmann stehen und ging langsam zurück zu ihrem Sonnenschirm. Niemand sah, daß sie weinte, ganz leise vor sich hin weinte. Sie hatte den Kopf gesenkt, als suche sie im Gehen etwas im Sand. Dann, als sie im Liegestuhl lag, deckte sie ein Handtuch über ihr Gesicht und weinte unter diesem Schutz weiter.

Ich habe geglaubt, nach Basel und Como würde alles besser, dachte sie, würde alles wieder so wie einst. Aber sie ist stärker, dieses blonde Aas. Sie hat etwas, das ich nie bieten kann: ihre Jugend. Ich werde immer, immer verlieren.

Karl Haußmann atmete auf, als Erika wegging zu den Sonnenschirmen. Eine dumme Situation, das sah er ein. Fünf Minuten später, und es wäre alles normal gewesen. Man mußte Erika beruhigen, um den Urlaub mit Marion zu retten. In der Strandstraße von Rimini hatte er ein Juweliergeschäft gesehen. Ein Armband, dachte er. Ja, ein Armband werde ich Erika kaufen. Ein goldziseliertes Armband, das sie sich schon immer gewünscht hat; von jetzt ab muß man verdammt vorsichtig sein.

Er ging nicht zum Strand, sondern zur Freiluftbar, bestellte sich ein Cassata-Eis und wartete, bis Frank Hellberg kam. In seinem Schutz ging er zu den Liegestühlen und benahm sich so, als sei nichts geschehen.

Nach dem Mittagessen kaufte er Erika das goldene Armband.

Sie bedankte sich, schloß es in ihren Reiseschmuckkoffer und beschloß, es nie zu tragen.

Am Abend, Karl hatte sich gerade umgezogen, denn abends speiste man im >Palma< im Gesellschaftsanzug, erlebte Haußmann zum erstenmal eine jener >Unpäßlichkeiten< seiner Frau, die er bisher -wenn sie davon erzählte - immer nur mit den Worten »Das sind die Wechseljahre« abgetan hatte.

Entsetzt, völlig hilflos, außer Fassung sah er, wie Erika sich vor dem Frisierspiegel plötzlich vorbeugte, beide Hände gegen den Leib preßte und laut aufstöhnte. Ehe Karl helfen konnte, hatte sie sich die drei Schritte bis zum Bett geschleppt, warf sich dort auf den Rücken, zog die Beine an und wimmerte vor Schmerzen. Ihr schönes Gesicht war verzerrt, von gelblicher Blässe überzogen und mit kaltem Schweiß bedeckt.

»Mein Gott.«, stammelte Karl Haußmann. »Mein Gott, was ist denn, Rika? Was hast du? So sag' doch was! Rika!«

Er lief zu ihr, setzte sich auf das Bett, wischte ihr den Schweiß vom Gesicht und vom Hals, nahm ihre verkrampften Hände und versuchte, sie vom Leib zu heben, auf den sie sie gepreßt hatte.

»Laß mich«, keuchte sie. »Laß mich, geh'! Es ist gleich vorbei . es ist . gar nichts. Ich . ich.« Sie wälzte sich auf die Seite, weinte in die Kissen und stammelte unverständliche Worte.

»Das . das habe ich ja nie erlebt, Rika«, sagte Haußmann und tastete nach ihrer zuckenden Schulter. »Hast du das schon öfter so gehabt? Warum hast du mir das nie richtig erzählt? So etwas verschweigt man doch nicht. Du bist doch meine Frau, Rika. Ich schwöre dir, ich habe das wirklich nicht gewußt.« Er stand auf, lief im Zimmer hin und her und kam sich wie geohrfeigt vor. Sie ist krank, dachte er dabei. Rika ist schwer krank, und nie hat sie etwas gesagt. Und wenn sie etwas sagte, habe ich sie ausgeschimpft. Ich war ein Barbar. Verdammt noch mal.

Er zuckte zusammen, als das Telefon läutete.

Marion war am Apparat. Sie rief aus der Hotelhalle an.

»Wo bleibst du, mein Bärchen?« fragte sie. »Ich habe einen bombigen Hunger.«

»Essen Sie allein!« sagte Karl Haußmann grob. »Und stören Sie uns bitte nicht mehr!« Er warf den Hörer zurück, ohne die Antwort abzuwarten.

»Na warte, mein Vögelchen«, sagte unten in der Halle Marion Gronau und legte auf. »So geht das nicht mit mir! Ich bin kein Stück Dreck!« Wütend ging sie in den Speisesaal an den reservierten Tisch und bestellte sich das beste Essen, das auf der Karte stand.

Oben, auf Zimmer 112, rannte Karl Haußmann noch immer herum, tauchte Handtücher in kaltes Wasser, wrang sie aus, trug sie zu Erika und warf sie in die Ecke, als seine Frau den Kopf schüttelte. Er setzte sich neben sie, hilflos wie ein kleiner, geschlagener Junge, und wartete, bis der krampfhafte Schmerz nachließ und Erika sich erschöpft ausstreckte.

»Geh' essen«, sagte sie, als sie wieder sprechen konnte. »Sie wartet doch auf dich.«

Es war Karl Haußmann, als bekäme er die zweite Ohrfeige. Er senkte den Kopf, tastete nach Erikas Hand und hielt sie fest. Eine schlaffe, weiße, kraftlose Hand.

»Sie wird warten, bis sie grün ist«, sagte er rauh. »Wir werden erst alles tun, daß du gesund wirst. Ich rufe jetzt einen Arzt.«

»Nein, keinen Arzt. Bitte, keinen Arzt.« Erika versuchte, ihren Mann am Rock festzuhalten, aber er war schon aufgesprungen und ging zum Telefon. »Keinen Arzt!« rief sie verzweifelt. »Ich habe doch nichts! Ich habe mir doch nur gestern den Magen verdorben an den fetten Oliven. Ruf keinen Arzt. Karl. Bitte!«

»Auch ein verdorbener Magen braucht einen Arzt«, sagte Hauß-mann. Er ließ sich jetzt nicht mehr abhalten. Er rief die Rezeption an, bat um einen guten Arzt auf Zimmer 112 und bestellte eine Tasse Pfefferminztee. »Der ist gut bei verdorbenem Magen«, sagte er, als Erika den Kopf schüttelte. »Meine Mutter kochte ihn auch immer.«

Es dauerte nicht lange, bis es klopfte. Ein junger, schwarzhaari-ger, eleganter Mann trat ein, eine flache Tasche in der Hand, und stellte sich vor.

»Dr. Borgoporte.« Er sprach ein gutes Deutsch, und später stellte sich heraus, daß er drei Semester in Erlangen studiert hatte.

»Meine Frau«, sagte Karl Haußmann. »Der Magen oder der Bauch. Sie klagt schon seit längerer Zeit darüber. Eben hatte sie einen Anfall, wie einen Krampf.«

»Mein Mann übertreibt maßlos.« Erika lag tief atmend auf dem Bett und versuchte zu lächeln. »Es ist nur eine Magenverstimmung, Doktor. Die fremde Ernährung, die Umgewöhnung.«

»Wir wollen sehen.« Dr. Enrico Borgoporte setzte sich neben Erika auf das Bett, schob das Hemd hinauf und tastete ihren schmalen Leib ab. Dort, wo auch Erika den vermeintlichen Kloß gespürt haben wollte, blieben seine Hände liegen und drückten vorsichtig den Bauch in kleinen Quadraten ab. Seinem Gesicht war nicht anzumerken, was er in diesen Augenblicken dachte. Er tastete höher, zum Magen, palpierte die Rippen, ließ Erika sich herumdrehen und hörte Lunge und Atmung ab. Aber sie wußte, daß er dies nur zu Ablenkung tat und daß seine Diagnose längst feststand.

»So ist gar nichts zu sehen«, sagte Dr. Borgoporte. »Einige Hautverschiebungen, eine leicht gespannte Bauchdecke. Ich schlage vor, Sie fahren mit mir in die Praxis, und ich mache einige Röntgenaufnahmen. Ich habe eine moderne Einrichtung, es dauert nicht länger als eine halbe Stunde.«

Er lügt, dachte Erika und beobachtete Dr. Borgoporte, wie er sich die Hände wusch. Er weiß genau, was in meinem Leib wächst und wächst und mir eines Tages das Leben abdrückt. Gut, lassen wir ihn die Röntgenaufnahmen machen. Ob er Karl dann die Wahrheit sagt?

Und was geschieht dann?

Mehr getragen, als selbst gehend, verließ Erika am Arm der beiden Männer das Hotel und fuhr in die Praxis Dr. Borgoportes. Dort mußte sie sich auf einen Röntgentisch legen, die Fotoplatten wurden ihr untergeschoben, und dann wurde ihr Leib geröntgt, in drei Ebenen - von oben, von der Seite und vom Rücken aus.

»Schon fertig!« sagte Dr. Borgoporte heiter, bevor er mit den Platten in die Dunkelkammer ging. »Wie fühlen Sie sich, Signora?«

»Besser.«

»Ich gebe Ihnen nachher ein Kreislaufmittel mit und Dragees, die Sie einnehmen, wenn wieder solche Krämpfe auftreten sollten.«

Spät am Abend schlich sich Karl Haußmann aus seinem Zimmer und eilte über den schwach beleuchteten Flur zum Zimmer Marions. Erika schlief fest. Die Tropfen, die sie gegen Schmerzen eingenommen hatte, wirkten wie ein starkes Schlafmittel. Haußmann rief sie ein paarmal laut an, und als sie nicht reagierte, war es für ihn gefahrlos, zu Marion zu schleichen.

»Was willst du hier?« fragte Marion Gronau schnippisch, als sie auf wiederholtes Klopfen öffnete und Haußmann hereinließ. »Wenn du glaubst, du könntest mich behandeln wie ein käufliches Püppchen... Auf dein Geld pfeife ich! Was war eigentlich los? Hat dir deine Frau wieder den Kopf heiß gemacht? Ich habe große Lust, abzureisen und mit Frank auf eigene Kosten Urlaub zu machen. Aber dann ist alles aus, mein Lieber.«

Karl Haußmann setzte sich schwer und stierte auf den Orientvorleger vor Marions Bett. Sie hatte sich bereits ausgezogen, und durch den dünnen Perlonstoff ihres Nachthemdes sah er ihre aufreizende Gestalt. Sie schämte sich gar nicht, sondern ging vor ihm her zum Nachttisch, holte sich eine Zigarette und zündete sie an.

»Meine Frau ist krank«, sage Haußmann dumpf.

»Krank? Wieso?« Marion starrte Haußmann ehrlich verblüfft an. »Sie war doch nie krank.«

»Sie hat es keinem gesagt. Jetzt weiß ich es. Ich habe vorhin einen Anfall miterlebt. Der Arzt hat uns mitgenommen und Erika geröntgt.«

Durch Marion lief ein deutliches Zittern. Sie zog ein paarmal an der Zigarette und zerdrückte sie dann mit nervösen Fingern.

»Ist . ist sie sehr krank?« fragte sie leise.

»Ich weiß es nicht. Morgen früh erfahre ich es. Dr. Borgoporte hat mir versprochen, ganz ehrlich zu sein.«

»Kann sie so krank sein, daß sie bald stirbt?«

»Was redest du da!« rief Karl Haußmann und sprang auf. »Wer denkt denn daran?«

»Ich, mein Bärchen! Wir könnten dann nämlich heiraten ... wie du es dir immer erträumt hast.«

Karl Haußmann nagte an der Unterlippe. Plötzlich war es ihm, als zöge man ihn durch eiskaltes Wasser. Erika tot, dachte er. Das ist undenkbar. Auf einmal ist das undenkbar. Scheiden lassen, ja, das hätte ich. Aber nun ist sie krank und sie kann sterben, wie Marion es so widerlich grob und deutlich sagt. Und da ist es plötzlich etwas anderes. Da denkt man an die vergangenen sechsundzwanzig Jahre, an die Kinder, die sie geboren hat, an den Aufbau der Fabrik, an dem sie mitgeholfen hat, an tausend Kleinigkeiten des Lebens, die man völlig vergessen hatte. Zum Beispiel vor sechs Jahren. Da hatte er eine Lungenentzündung. Vier Tage lag er mit hohem Fieber in der Krisis, und vier Tage und vier Nächte lang hatte Erika neben ihm gesessen bis zum Umfallen und Wache gehalten. So etwas vergißt man schnell, aber es kommt wieder, o ja, es kommt zurück in solchen Augenblicken wie jetzt, wo man glaubt, sich für immer trennen zu müssen. Sechsundzwanzig Jahre, ein halbes Menschenleben - und so soll es nun enden? Karl Haußmann wandte sich ab und ging zur Tür.

»Wohin willst du denn?« fragte Marion und ließ sich auf das Bett gleiten. Für sie war die Zukunft nun klar, und für diese Zukunft hieß es, Opfer zu bringen.

»Ich muß zu Erika«, sagte Haußmann heiser.

»Aber die schläft doch.«

»Ja. Aber ich muß zu ihr.«

»Hast du dir für Rimini nicht etwas vorgenommen, Bärchen?«

Haußmann blickte sich um. Etwas wie Abscheu kam in ihm hoch, wie Ekel beim Anblick einer kriechenden Schlange. Er sah die Nacktheit unter dem dünnen Schleierstoff und die fragenden Augen in dem süßlichen Puppengesicht. Und plötzlich wußte er auch, daß man nicht Karl Haußmann meinte, sondern sein Vermögen, sein

Haus, seine Fabrik. Erika starb vielleicht, und die Nachfolgerin bot sich an wie eine Hure.

»Gute Nacht!« sagte Haußmann rauh und verließ das Zimmer.

»Du edler Spinner!« rief Marion ihm nach. Aber er hörte es nicht, es ging im Zufallen der Tür unter.

Dann ging er den Flur zurück zu seinem Zimmer 112 und war glücklich, daß Erika noch lebte, daß sie tief atmete, daß sich ihr Gesicht im Schlaf entspannt hatte und sogar rote Flecken auf den bleichen Wangen lagen. Vielleicht ist alles nur halb so schlimm, dachte er. Vielleicht zeigt das Röntgenbild, daß alles gefahrlos ist. O Gott, laß es so sein! Laß Erika weiterleben. Laß mir meine Frau ... meine kleine Rika...

In dieser Nacht schlief Haußmann nicht. Er saß am Bett und wachte und achtete auf jeden Atemzug.

Am nächsten Morgen ging er allein zu Dr. Borgoporte. Erika wollte es so, und ihm war es auch lieber.

Die Sprechstundenhilfe ließ ihn sofort in ein Privatzimmer, als Karl Haußmann seinen Namen nannte, und durch die Art, wie sie ihn behandelte, ahnte er, was er zu hören bekommen würde.

»Versuchen Sie keine schönen Umschreibungen, Doktor«, sagte er, als Dr. Borgoporte eintrat und die drei Röntgenaufnahmen auf den Tisch legte. »Ich kann die volle Wahrheit ertragen.«

Und Dr. Borgoporte zeigte ihm die Röntgenaufnahmen, erklärte sie und sagte die Wahrheit.

Erika saß, in einem ihrer neuen, verführerischen Bikinis, am Fenster zum Balkon und sah hinaus aufs Meer, als Karl Haußmann zurückkam. Sie sah wieder jung und heiter aus, wie das blühende Leben, und ihm war es, als würge ihn jemand und schüttele ihn hin und her und schlage ihn mit dem Kopf gegen die Wand. Wie schön sie ist, dachte er und hätte sich dabei zerreißen können. Nie, nie habe ich sie so schön gesehen seit unserer Hochzeitsreise vor sechsundzwanzig Jahren. Wie blind bin ich gewesen, wie gleichgültig, wie verbrecherisch uninteressiert. Und jetzt sehe ich es, jetzt.

»Was sagte der Arzt?« fragte Erika und lehnte sich zurück. Ihr Haar glänzte kupfern in der Sonne. Ihre rot geschminkten Lippen leuchteten. »Hat er die Wahrheit gesagt?«

»Ja, Erika.« Haußmann stützte sich schwer auf den kleinen Frisiertisch. »Du . siehst wundervoll aus, Rika.«

»Es ist Krebs«, sagte Erika mit fester Stimme. »Ich weiß es seit Monaten.«

Karl Haußmann schloß die Augen. Er konnte Erika jetzt nicht ansehen, während er nickte.

»Ja, es ist Krebs.« Seine Stimme schwankte und entglitt ihm.

»Und was nun?« fragte Erika. Sie beugte sich wieder vor und sah hinaus auf das in der Sonne schillernde, leicht bewegte Meer.

»Nun?« Haußmann ballte die Fäuste und drückte sie gegen seine Brust. »Nun werde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um dich zu retten. Himmel und Hölle! Ich glaube daran, daß du wieder gesund wirst, ich glaube fest daran.«

»Willst du das denn ... daß ich gesund werde?« fragte sie. Es klang wie eine übliche Frage. Über Karl Haußmann rann es heiß und dann eiskalt.

»Aber ich liebe dich doch«, stammelte er. »Rika, ich liebe dich. Du darfst mich doch nicht verlassen. Was . soll ich denn ohne dich? Ich bin doch ein Garnichts, wenn du nicht mehr bei mir bist.« Und plötzlich hieb er auf den Tisch und trommelte mit den Fäusten auf die Glasplatte. »Himmel und Hölle werde ich in Bewegung setzen! Du wirst wieder gesund werden, Rika . du wirst es!«

Gesund werden. Als ob sich das einfach erzwingen ließe. Erika Haußmann blickte wehmütig hinaus auf die sonnenüberglänzte Adria. Dann drehte sie sich um zu ihrem Mann. Karl war noch ganz außer sich. Er stampfte mit den Füßen, hämmerte mit den Fäusten auf dem kleinen Frisiertisch herum und beschwor Himmel und Hölle. Wie ein kleiner trotziger Junge, der sich eben niemals fügen will ins Unabänderliche.

»Karl!«, rief Erika mit sanfter Stimme. Er tat ihr leid. Sie hatte mit dieser Diagnose gerechnet - für ihn aber war es ein richtiger Schock gewesen. »Was nützt es, mit dem Schicksal zu hadern.«

Er kam zu ihr, packte sie bei den Armen: »Rika, Rika! So darfst du nicht reden. Was heißt denn Schicksal? Wir werden uns dagegen wehren. Du ahnst nicht, was heute alles möglich ist. Bedenk doch, die moderne Medizin.«

Kopfschüttelnd löste sie sich von ihm.

»Machen wir uns doch nichts vor! Die einen operieren und bestrahlen. Die anderen versuchen es mit Milchsäure oder mit Diät. Jedes Jahr taucht irgendein Wundermittel auf und verschwindet wieder in der Versenkung.« Sie hob die Stimme. »Aber jedes Jahr steigt die Zahl der Krebsfälle, und die Ärzte sind sich noch nicht einmal darüber einig, ob Krebs eine lokale oder eine allgemeine Erkrankung des Körpers ist.«

Karl Haußmann schluckte ein paarmal. Er begriff: Sie hatte es vorher gewußt und schon darüber nachgelesen.

»Mein Gott, Rika. Warum hast du mir denn nie einen Ton davon gesagt? Warum hast du bloß so lange geschwiegen?«

»Habe ich das?«

Sie sagte es mit einem kleinen Lächeln. Ohne Bitterkeit. Verzeihend. Karl Haußmann nagte verlegen an seiner Unterlippe. Stimmt, dachte er, sie hat gar nicht geschwiegen. Er war immer zu müde gewesen, wenn er aus dem Büro kam, um sie anzuhören. Zu sehr mit sich selber beschäftigt. Er hatte seine Ruhe haben wollen und keine Lust verspürt, die >ewigen Klagelieder< anzuhören. »Schwindelig?« hatte er einmal geknurrt. »Das macht die Langeweile.« Und dann war er in die Wohnhalle gegangen, hatte seine Stereoanlage eingeschaltet und sich Wagner angehört. >Winterstürme wichen dem Wonnemond.< Und statt an Rika zu denken, hatte er von Marion Gronau geträumt.

»Du hättest Genaueres sagen müssen, Rika«, versuchte er sich zu rechtfertigen. Aber in seinen Augen standen Schuldbewußtsein und Reue.

Erika umarmte ihn. Sie gab ihm einen Kuß, der Karl erschaudern und an Abschied denken ließ. Als ob sie ihm entrissen werden sollte, so hielt er sie fest.

»Rika, Rika!«

Er atmete den Duft ihres Haares, das wie Kupfer schimmerte. Er spürte die Sonnenwärme ihres Körpers, und er konnte einfach nicht glauben, was ihm der Arzt eröffnet hatte.

»Rika«, stammelte er, »die Diagnose ist falsch. Sie muß falsch sein.«

»Und der Schatten auf dem Röntgenbild?«

»Was weiß ich?« Er begann wieder umherzurennen. »Was ein Arzt sagt, genügt mir nicht! Wir werden drei, vier oder auch zehn Ärzte konsultieren. Wir gehen zu den größten Kapazitäten, Rika. Ich reise mit dir um die ganze Welt.«

Erika Haußmann konnte nicht verhindern, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen. Das letztemal hat er sich so liebevoll um mich gesorgt, als unser Junge zur Welt kam, dachte sie. Unser Junge, der jetzt schon studiert.

Karl sah nicht, daß sie weinte.

»Am besten ist, wir fahren morgen nach Deutschland«, meinte er. »Nicht erst nach Haus, sondern gleich zur Universität nach Heidelberg.«

Erika schaute durchs Fenster nach draußen. Er sollte ihr Gesicht nicht sehen.

»Operieren lasse ich mich nicht«, sagte sie, obwohl er davon noch gar nicht geredet hatte. Aber er hatte daran gedacht. Seine Bestürzung verriet es.

»Warum denn nicht?«

»Und wenn es zu spät ist?«

»Unsinn! Wer sagt das? Wir müssen jede Chance wahrnehmen, Rika!«

»Operieren lasse ich mich nicht. Ich will so von dir gehen, wie du mich kennst. Nicht mit einem zerschnittenen Leib.«

Da war es wieder mit seiner Geduld zu Ende. Er brüllte los:

»Du sollst nicht von mir gehen, verdammt noch mal!« Und dann leiser: »Los, fang ruhig schon an, die Koffer zu packen. Ich rede in-zwischen mit den anderen. Die beiden können ja hierbleiben. Ich zahle ihnen die Rückfahrt mit der Bahn, damit sie keinen Schaden haben.«

»Nein.«

Sie kam und zog ihn zum Fenster.

»Siehst du, wie herrlich blau das Meer ist. Und dieser Blütenduft, diese seidige Luft. Laß uns bleiben, Karl. Laß mich diese vier Wochen genießen.«

Sie breitete die Arme aus und atmete tief.

»Laß uns ein Boot mieten, Karl. Bei einem Fischer. Dann rudern wir weit hinaus. Mitten in diesem blauen Wasser möchte ich schwimmen.«

Karl starrte sie an. So kannte er sie überhaupt nicht.

»Rika, ich liebe dich«, sagte er leise.

»Da, das Boot mit dem orangefarbenen Segel. Mit so einem möchte ich fahren.«

Haußmann riß sie vom Fenster weg. Er preßte sie in seine Arme. Mein Gott, wie blind war ich all die letzten Jahre, dachte er.

Später ging Karl Haußmann zum Strand hinunter. Allein. Erika blieb im Zimmer. Sie lag in einem Liegestuhl am Fenster und dachte über die vergangene Stunde nach.

Habe ich nun gesiegt? fragte sie sich.

Habe ich diese Marion Gronau aus seinen Träumen verdrängt? Habe ich wirklich meinen Mann zurückerobert? War das die Liebe wie vor zwanzig Jahren? Oder geschah alles nur in einer Aufwallung seines Mitleids und seines Schuldbewußtseins?

Nur das nicht, dachte sie bang.

Sie erhob sich, trat ans Fenster und blickte hinaus. Sie entdeckte ihren Mann sofort. Er saß neben Herrn Hellberg, dem Verlobten der Gronau. Die blonde Marion war nicht bei ihnen. Wahrscheinlich tummelte sie sich im Wasser - einer der bunten, wimmelnden Punkte im endlosen Blau.

Erika war beruhigt. Sie ließ die Jalousien herunter und versuchte, ein wenig zu schlafen.

Hellberg lag auf dem Bauch im Sand. Er hatte einen Sonnenbrand und blieb deshalb stets im Schatten des bunten Schirms.

»Wie geht es Ihrer Gattin?« fragte er, nachdem er Karl Haußmann begrüßt hatte. »Marion erzählte, sie sei krank.«

»Ja«, antwortete Haußmann, und er bemühte sich, ein möglichst unbeteiligtes Gesicht zu machen.

»Hoffentlich nichts Ernstes«, fuhr Frank Hellberg fort, und als Haußmann schwieg, setzte er in seiner jungenhaft offenen Art hinzu:

»Marion befürchtet, es sei vielleicht etwas Ernstes. Ich wollte Ihnen nur sagen, Herr Haußmann: Wenn ich Ihnen helfen kann.«

»Helfen!«

Karl Haußmann verlor plötzlich wieder die Fassung. »Men-schenskind, helfen! Ich würde alles darum geben, wenn überhaupt nur jemand auf der Welt helfen könnte.« Sein Gesicht wirkte plötzlich ganz verfallen und alt. Unter der beginnenden Bräune war seine Haut fahlgelb.

»Steht es so schlimm, Herr Haußmann?«

Karl sah ihn nicht an. Er malte mit einem Finger im Sand und sagte gequält:

»Ich habe heute morgen mit dem Arzt gesprochen. Er hatte Erika geröntgt. Ganz eindeutige Sache, klarer Fall.« Er konnte nicht weiterreden. Er ließ den Kopf noch tiefer sinken und stöhnte: »Es ist furchtbar, ganz furchtbar.«

Frank Hellberg scheute sich, Haußmann anzuschauen.

Er starrte aufs Wasser, hin zu den badenden, ballspielenden, vor Vergnügen kreischenden Menschen.

»Krebs, nicht wahr?«

»Sie wissen?«

»Ist doch leider heute das Naheliegende.«

Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte Hellberg:

»Natürlich brechen wir den Urlaub sofort ab.«

»Nett von Ihnen«, erwiderte Klaus Haußmann. »Sehr anständig von Ihnen, Frank. Ich darf Sie doch so nennen. Schönen Dank für das entgegenkommende Angebot. Aber genau das will Erika nicht. Sie sagt, sie möchte diese vier Wochen richtig genießen.« Er schluckte, ehe er zögernd hinzusetzte: »Ich glaube, sie vermutet, daß bald ihre letzten glücklichen Stunden vorbei sind.«

»Ist der hiesige Arzt in Ordnung? War es eine klare Diagnose?«

»Ja. Ein Karzinom im Unterbauch. Dr. Borgoporte konnte nicht sagen, ob es noch operabel ist. Er rät aber zum chirurgischen Eingriff. Nur wenn man direkt hineinschaut, läßt sich entscheiden, ob man noch schneiden kann oder einfach wieder zunäht und Gott um ein gnädiges Ende bittet.« Er schlug die Hände vors Gesicht.

»Auch wenn wir hierbleiben, sollten Sie sich nicht auf das Urteil dieses einen italienischen Arztes verlassen.«

»Ganz meine Meinung, Frank. Aber Erika.«

»Vielleicht gibt es hier in der Gegend einen Spezialisten. Wissen Sie was, Herr Haußmann? Ich höre mich mal um. Ich kann einen italienischen Kollegen fragen, mit dem ich mich gestern schon unterhalten habe.«

»Bitten lassen Sie doch.«

Aber Frank Hellberg war nicht mehr zu halten. Er hängte sich ein Handtuch, das er vorher sorgfältig vom Sand befreite, über den verbrannten Rücken und rannte los.

Einige Minuten nachdem ihr Verlobter verschwunden war, kam Marion Gronau aus dem Wasser. Sie lief auf die Liegestühle zu. Drei Meter vor Karl Haußmann blieb sie stehen. Sie schüttelte sich, daß die Tropfen flogen und in der Sonne wie tausend Perlen glitzerten. Dann warf sie die Badekappe in den Sand, hob die Arme zum wolkenlosen Himmel und reckte sich. Ihr blondes Haar leuchtete wie blankes Messing. Ein paar schwarzgelockte Jünglinge blieben staunend stehen.

»Dolce bionda!« riefen sie und: »O mamma mia!«

Marion Gronau beachtete sie nicht. Sie lachte Karl Haußmann an und legte sich in den Liegestuhl, der neben seinem stand.

»Deine Frau kommt heute wohl nicht?« fragte sie beiläufig, und als er nicht antwortete, sagte sie: »Verzeihung, oder muß ich Sie zu Ihnen sagen? Wie Sie es gestern am Telefon taten, Herr Direktor.«

»Bitte, Marion, unterlaß solche Albernheiten.«

Sie schwieg ein paar Minuten. Plötzlich sagte sie impulsiv:

»Entschuldige, Karl, es war nicht fair von mir. Auch gestern abend nicht. Ich verstehe, daß du jetzt, da sie krank ist, in erster Linie für deine Frau dasein mußt.«

»Marion, bitte, laß dir erklären.«

Ihr nackter Arm langte herüber, ihre Hand verschloß seinen Mund.

»Bitte erklär mir nichts. Es war mein Fehler, mir von Rimini zu erhoffen, was mir nicht zusteht. Vergessen wir's.«

Sie entzog ihm den Arm. Dann fragte sie behutsam:

»Darf ich mich danach erkundigen, wie es deiner Frau geht?«

»Im Augenblick nicht schlecht.«

»Was fehlt ihr eigentlich?«

Er wollte es nicht sagen. Ihr nicht. Er zögerte zu lange, weil er keine Ausrede parat hatte. Da kam sie ihm zuvor:

»Sie hat Krebs, nicht wahr?«

»Unsinn!« rief er, aber seine Verwirrung strafte ihn Lügen.

»Sie hat Krebs«, konstatierte Marion Gronau. »Ich habe es gestern abend schon geahnt.«

Und nach einer Weile: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid es mir tut.«

In diesem Augenblick tauchte Frank Hellberg wieder auf. Er beugte sich zu Karl Haußmann nieder, wollte ihm etwas ins Ohr flüstern. Aber Haußmann sagte:

»Fräulein Gronau ist bereits im Bilde, Frank. Sie können offen reden.«

Frank Hellberg setzte sich neben Haußmanns Liegestuhl in den Sand.

»Also, einen Krebsspezialisten gibt es hier anscheinend nicht«, begann er. »Aber der italienische Kollege hat mir etwas erzählt, was mich direkt elektrisiert hat. In der Gegend von Rom, da gibt es ein Nest, daß heißt Capistrello.« Er las es von einem Zettel ab, den er in der Hand hielt. »Capistrello beiAvezzano. Dort soll ein Arzt wohnen, der Krebskranke auf völlig individuelle Art heilt.«

»Heilt?« rief Haußmann. »Sagten Sie: heilt?«

»Ja. So heißt es. Mein Kollege hat einen Bericht über seine Heilerfolge geschrieben. Man erzählt sich wahre Wunderdinge über diesen Arzt.« Wieder zog er den Zettel zu Rate. »Dr. Giancarlo Tezza heißt er. Patienten, die in Rollstühlen und auf Tragen ankamen, sollen nach drei oder vier Wochen auf eigenen Beinen gesund und munter die Klinik verlassen haben.«

»Das ist doch Unsinn, Frank.« Karl Haußmann wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. »Das gibt es doch nicht. Wenn ein Arzt das könnte, wüßte es doch die ganze Welt.«

»Ich kann nur weitergeben, was mir der einheimische Kollege versichert hat. Mit Omnibussen strömen die Kranken zu diesem Dr. Tezza. Er soll übrigens nur einer, wenn auch der berühmteste, einer ganzen Anzahl ähnlicher Wunderdoktoren sein.«

»Wenn ich schon >Wunder< höre.«

»Und die Erfolge?«

»Bevor ich nicht mit eigenen Augen.«

Hellberg sprang auf, ganz Feuer und Flamme.

»Genau!« rief er. »Das sollen Sie. Warum nicht probieren, statt hier vier Wochen die Hände in den Schoß zu legen. Und wenn dieser Dr. Tezza weiter nichts versteht, als Ihnen und Ihrer Frau die Hoffnung, den Glauben und den Willen zum Gesundwerden zu stärken.«

»Und was sagen die anderen bekannten Ärzte dazu? Die Professoren?«

»Sie lachen ihn aus. Oder sie beneiden ihn. Aber das ist doch kein Beweis. Semmelweis wurde auch ausgelacht. Und Robert Koch.«

»Sie meinen also.?«

»Ein Versuch kann nicht schaden.«

»Ich werde gleich mit meiner Frau darüber sprechen.« Karl Hauß-mann zog den Bademantel an und lief rasch hinüber zum Hotel.

Hellberg sah ihm nach.

»Wirklich ein netter Mensch, dein Chef. Kann einem leid tun. Daß ihm so etwas passieren muß.«

»Glaubst du etwa an die Wunder deines Dr. Tezza?« fragte Marion Gronau. »Oder wolltest du ihm nur unbedingt was Nettes sagen?«

»Ich verstehe zuwenig davon. Ich bin dafür, nichts unversucht zu lassen. Gerade in diesem ganz besonderen Fall.«

Marion Gronau erschrak.

»Wieso ist dies ein ganz besonderer Fall?« fragte sie, ohne ihn anzusehen.

»Na, du bist gut, Marion«, antwortete Frank Hellberg. Anscheinend völlig arglos. »Wo die Haußmanns so freundlich waren, uns mitzunehmen.«

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