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Die Aisne wand sich träge durch ein weites Tal, das von niedrigen, bewaldeten Hügeln eingerahmt wurde. Es war Frühling, und die frischen Blätter leuchteten in hellem Grün. Langes Wassergras schwankte in der Strömung einer Flussschleife, in der die Stadt Soissons lag.
Soissons besaß eine Stadtmauer, eine Kathedrale und eine Burg. Die Burg war zur Festung ausgebaut und schützte die Flandernstraße, die nördlich an Paris vorbeiführte. Nun war sie vom Feind Frankreichs besetzt. Die Garnison führte das gezackte rote Kreuz von Burgund, und über der Burg wehte die bunte Flagge des Herzogs von Burgund, auf deren in Viertel eingeteilten Feldern sich blaue und gelbe Schrägstreifen mit den Lilien im königlichen Wappen Frankreichs abwechselten, während sich in der Mitte ein aufsteigender Löwe erhob.
Der aufsteigende Löwe kämpfte mit den französischen Lilien, aber Nicholas Hook verstand von alldem nicht das Geringste. «Du musst es auch nicht verstehen», hatte ihm Henry von Calais in London erklärt, «schließlich ist es ja nicht deine verdammte Angelegenheit. Die verdammten Franzosen fallen gegenseitig übereinander her, mehr musst du nicht wissen, und eine der beiden Parteien bezahlt uns fürs Kämpfen, und ich werbe Bogenschützen an, und ich schicke sie zum Töten dorthin, wo auch immer sie gebraucht werden. Kannst du mit dem Bogen umgehen?»
«Ja, das kann ich.»
«Das werden wir uns einmal ansehen, nicht wahr?»
Nicholas Hook konnte wahrhaftig mit dem Bogen umgehen, und so war er nach Soissons gekommen, unter die Flagge mit den Streifen, dem Löwen und den Lilien. Er hatte keine Vorstellung davon, wo Burgund lag, er wusste nur, dass es dort einen Herzog namens Johann Ohnefurcht gab und dass dieser Herzog der Cousin des französischen Königs war.
«Und er ist nicht ganz richtig im Kopf, dieser König von Frankreich», hatte Henry von Calais Hook erklärt. «Er ist so toll wie ein Iltis mit Bluthusten. Der dumme Bastard glaubt, aus Glas zu bestehen. Er hat schon Angst, in tausend Stücke zu zerbrechen, wenn ihn jemand bloß ganz zart anfasst. Die Wahrheit ist, dass er eine Kohlrübe als Hirn hat und dass er gegen den Herzog kämpft, und der ist kein bisschen verrückt. Der hat nämlich ein Hirn als Hirn.»
«Und warum kämpfen sie gegeneinander?», hatte Hook gefragt.
«Woher in Gottes Namen soll ich das wissen? Es kümmert mich auch nicht. Was mich kümmert, mein Sohn, ist, dass der Herzog Geld von den Bankhäusern bekommt. Hier.» Er hatte ein paar Silbermünzen auf den Tisch des Gasthauses geworfen. Früher an diesem Tag war Hook auf das Spitalfeld gegangen, das vor einem Stadttor Londons namens Bishop's Gate lag, und hatte sechzehn Pfeile auf einen mit Stroh ausgestopften Sack geschossen, der hundertfünfzig Schritte entfernt an einem toten Baum hing. Er hatte die Pfeile in schneller Folge fliegen lassen, sodass ein Mann kaum Zeit gehabt hätte, zwischen den einzelnen Pfeilen bis fünf zu zählen, und zwölf seiner Pfeile waren in dem Sack stecken geblieben, während ihn die anderen vier gestreift hatten. «Du kannst bleiben», hatte Henry von Calais geknurrt, nachdem ihm von dieser Meisterleistung berichtet worden war.
Das Silber war weg, bevor Hook London überhaupt verlassen hatte. Er war noch nie so einsam oder so weit von seinem Heimatdorf entfernt gewesen, und bald hatte er seine Münzen für Ale, Wirtshausdirnen und ein Paar hoher Stiefel ausgegeben, die schon lange vor seiner Ankunft in Soissons auseinandergefallen waren. Auf dieser Reise hatte er zum ersten Mal das Meer gesehen und kaum seinen Augen getraut. Oft versuchte er sich den Anblick wieder ins Gedächtnis zu rufen. Er stellte sich einen See vor, nur dass dieser See kein Ende hatte und es mehr Wellen als in jedem Gewässer gab, das er kannte. Er war mit zwölf anderen Bogenschützen gereist, und in Calais waren zwölf Feldkämpfer dazugestoßen, die burgundische Wappenröcke trugen. Hook erinnerte sich, dass er geglaubt hatte, es müssten Engländer sein, denn die gelben Lilien auf ihren Überwürfen sahen genauso aus wie die Lilien, die er bei den Männern des Königs in London gesehen hatte, doch diese Feldkämpfer hatten eine seltsame Sprache gesprochen, die weder Hook noch seine Gefährten verstanden. Danach waren sie den ganzen Weg bis nach Soissons zu Fuß gegangen, weil es kein Geld für das Pferd gab, das jeder Bogenschütze in England von seinem Lord erwartete. Zwei von Pferden gezogene Karren hatten ihren Marsch begleitet und waren mit zusätzlichen Bogenstangen und riesigen, klappernden Pfeilbündeln beladen worden.
Sie waren ein seltsamer Trupp. Manche der Bogenschützen waren alte Männer, einige hinkten aufgrund früherer Verletzungen, und die meisten waren Trunkenbolde.
«Ich muss hier den Bodensatz zusammenkratzen», hatte Henry von Calais vor ihrer Abreise aus England zu Hook gesagt, «du aber siehst noch frisch und gesund aus, mein Junge. Also - was hast du verbrochen?»
«Verbrochen?»
«Du bist hier, oder nicht? Bist du ein Geächteter?»
Hook nickte. «Ich glaube schon.»
«Du glaubst schon! Entweder bist du es oder nicht. Also, was hast du verbrochen?»
«Ich habe einen Priester geschlagen.»
«Das hast du getan?» Henry, ein kräftiger Mann mit herber, verschlossener Miene und kahlem Kopf, beäugte Hook einen Moment lang interessiert und zuckte dann mit den Schultern. «Sei heutzutage lieber vorsichtig, wenn es um die Kirche geht, Junge. Die schwarzen Krähen haben Geschmack am Menschenverbrennen gefunden. Der König auch. Harter Hund, unser Henry. Hast du ihn jemals gesehen?»
«Ein Mal», sagte Hook.
«Hast du die Narbe in seinem Gesicht gesehen? Hat einen Pfeil abbekommen, ist durch die Wange in den Kopf gefahren, und er ist nicht dran gestorben! Seitdem ist er davon überzeugt, dass der liebe Gott sein bester Freund ist, und nun hat er sich vorgenommen, Gottes Feinde zu verbrennen. Also, morgen hilfst du Pfeile aus dem Tower zu holen, und dann segelst du nach Calais.»
Und so war Nicholas Hook, Geächteter und Bogenschütze, nach Soissons gereist, wo er das gezackte rote Kreuz von Burgund auf dem Wappenrock trug und auf der hohen Stadtmauer Wache hielt. Er gehörte zu einer englischen Einheit, die der Herzog von Burgund angeheuert hatte und die unter dem Befehl eines herablassenden Feldkämpfers namens Sir Roger Pallaire stand. Hook bekam Pallaire selten zu Gesicht. Er nahm seine Befehle stattdessen von einem Centenar entgegen, der Smithson hieß und die meiste Zeit in dem Gasthaus L'Oie zubrachte - die Gans.
«Sie hassen uns alle», hatte Smithson seine neuen Männer begrüßt, «also geht bei Dunkelheit nicht allein durch die Stadt. Es sei denn, ihr wollt ein Messer im Rücken haben.»
Die Besatzung war burgundisch, doch die Bürger von Soissons waren ihrem geistesschwachen König Charles VI. von Frankreich treu ergeben. Hook verstand auch nach drei
Monaten in der Festungsstadt noch nicht, weshalb die Burgunder und die Franzosen sich so sehr verabscheuten, denn für ihn waren sie ununterscheidbar. Sie sprachen dieselbe Sprache, und außerdem, so hatte er gehört, war der Herzog von Burgund nicht nur der Cousin des närrischen Königs, sondern auch noch der Schwiegervater des französischen Dauphins. «Familienstreitigkeiten, Junge», hatte ihm John Wilkinson erklärt, «etwas Schlimmeres gibt es nicht.»
Wilkinson war ein alter Mann von wenigstens vierzig Jahren, der für die englischen Bogenschützen der Garnison als Bogenschnitzer, Befiederer und Pfeilmacher arbeitete. Er lebte bei der Oie in einem Stallgebäude, wo seine Feilen, Sägen, Abziehmesser, Meißel und Dexel säuberlich nebeneinander an der Wand hingen. Er hatte bei Smithson um einen Gehilfen nachgefragt, und Hook, der jüngste Neuankömmling, war dafür ausgesucht worden. «Wenigstens kennst du dich aus», hatte Wilkinson Hook knurrend zugestanden, «sonst kommt hier fast nur Gelump an. Männer und Waffen, alles Gelump. Sie nennen sich Bogenschützen, aber die Hälfte von ihnen trifft kein Fass auf fünfzig Schritt. Und was Sir Roger angeht», der alte Mann spie auf den Boden, «der ist nur wegen des Geldes hier. Hat zu Hause alles verloren. Ich habe mir sagen lassen, dass er Schulden von über fünfhundert Pfund hat! Fünfhundert Pfund! Kannst du dir so etwas auch nur vorstellen?» Wilkinson nahm einen Pfeil in die Hand und schüttelte seinen Graukopf. «Und wir müssen mit diesem Gelump kämpfen.»
«Die Pfeile schickt der König», sagte Hook abwehrend. Er hatte geholfen, die Bündel aus den unterirdischen Gewölben des Towers zu tragen.
Wilkinson grinste. «Was der König getan hat, Gott beschütze seine Seele, ist, ein paar Pfeile aus der Regentschaft des alten Königs Edward hervorzukramen. Ich weiß, was ich tue, hat er sich gesagt, ich verkaufe diese nutzlosen Pfeile nach Burgund!» Wilkinson warf Hook den Pfeil zu. «Sieh ihn dir an!»
Der Eschenpfeil war länger als Hooks Arm. Und er war krumm. «Krumm», sagte Hook.
«Gekrümmt wie ein Bischof! Mit dem kann man nicht schießen! Da schießt man um die Ecke!»
In Wilkinsons Stall war es heiß. Der alte Mann hatte in einem runden Ziegelofen ein Feuer entzündet, über dem ein Wasserkessel dampfte. Er nahm Hook den gekrümmten Pfeil aus der Hand und legte ihn zusammen mit einem Dutzend anderen auf den Wasserkessel. Anschließend breitete er vorsichtig eine dicke Lage gefalteten Stoffs über die Eschenschäfte und beschwerte die Stofflagen mit einem Stein. «Ich dämpfe sie, Junge», erklärte Wilkinson, «ich beschwere sie, und wenn ich Glück habe, kann ich sie gerade ziehen. Nebenbei fällt bei dem ganzen Dampf die Befiederung ab. Aber die Hälfte ist ja ohnehin nicht befiedert.»
Über einer Kohlenpfanne hing ein zweiter, kleinerer Kessel, aus dem der Gestank von Hufleim aufstieg. Wilkinson benutzte diesen Leim, um die Gänsefedern an die Pfeile zu kleben. «Und Seide haben wir auch keine», murrte er, «also muss ich Sehnen verwenden.» Mit den Sehnen wurden die geschlitzten Federkiele an das Pfeilende gebunden, um die Haftstärke des Leims zu erhöhen. «Aber Sehnen taugen nichts», beschwerte sich Wilkinson, «sie trocknen aus, schrumpfen und werden spröde. Ich habe Sir Roger gesagt, dass wir Seidenzwirn brauchen, aber er versteht nichts davon. Er denkt, ein Pfeil ist bloß ein Pfeil, aber das stimmt nicht.» Er verknotete eine Sehne und drehte den Pfeil dann in den Händen, um die Kerbe zu begutachten, in der beim Abschuss des Pfeils die Sehne liegen würde. Diese Kerbe nannte man Nocke. Sie war durch eine Hornscheibe verstärkt, die verhinderte, dass der Zug der Bogensehne den Schaft des Pfeils spaltete. Das Horn widerstand Wilkinsons prüfendem Geruckel, und er grunzte in widerstrebender Befriedigung, bevor er den nächsten Pfeil aus der Lederhalte-rung nahm. Zwei Lederscheiben mit gezahnten Rändern hielten jeweils zwei Dutzend Pfeile fest, sodass die empfindliche Befiederung aus Gänsefedern beim Transport keinen Schaden nahm. «Federn und. Horn, Esche und Seide, Stahl und Firnis», sagte Wilkinson bedächtig. «Dein Bogen kann so gut sein, wie er will, und dein Bogenschütze auch - aber wenn dir Federn und Esche und Horn und Seide und Stahl und Firnis fehlen, könntest du genauso gut gegen den Feind antreten, indem du ihn anspuckst. Schon mal einen Mann getötet, Hook?»
«Ja.»
Wilkinson entging der streitlustige Ton nicht, und er grinste. «War es Mord? Oder war es in der Schlacht? Hast du schon mal einen Mann in einer Schlacht getötet?»
«Nein», gab Hook zu.
«Schon mal einen Mann mit deinem Bogen getötet?»
«Einen, einen Wilderer.»
«Hatte er auf dich geschossen?»
«Nein.»
«Dann bist du kein Bogenschütze. Töte einen Mann in der Schlacht, Hook, und du kannst dich Bogenschütze nennen. Wie hast du deinen letzten Mann umgebracht?»
«Ich habe ihn erhängt.»
«Und warum hast du das getan?»
«Weil er ein Häretiker war», erklärte Hook.
Wilkinson fuhr sich mit der Hand durch das lichter werdende graue Haar. Er war mager wie ein Wiesel und hatte einen schwermütigen Ausdruck in seinen klugen Augen, die Hook jetzt grimmig anblickten. «Du hast einen Häretiker gehängt?», fragte er. «Denen ist wohl das Feuerholz ausgegangen in England, was? Und wann hat diese Ruhmestat stattgefunden?»
«Vergangenen Winter.»
«Es war ein Lollarde, oder?», fragte Wilkinson und grinste höhnisch, als Hook nickte. «Du hast also einen Mann gehängt, weil er sich mit der Kirche über ein Stück Brot gestritten hat? , sagt der Herr. Der Herr sagt nichts davon, dass Er ein Stück totes Brot auf dem Abendmahlsteller eines Priesters ist, oder etwa doch? Er hat nicht gesagt: , oder etwa doch? Nein, Er hat gesagt, dass Er das lebendige Brot ist, mein Sohn, aber du wusstest zweifellos besser als Er, was du zu tun hast.»
Hook nahm die Herausforderung in Wilkinsons Worten wahr, doch er fühlte sich außerstande, etwas darauf zu erwidern. Er hatte sich nie viel um die Religion oder um Gott gekümmert, jedenfalls nicht, bevor er diese Stimme in seinem Kopf gehört hatte, und inzwischen fragte er sich manchmal, ob es diese Stimme überhaupt wirklich gegeben hatte. Er erinnerte sich an das Mädchen im Stall des Londoner Wirtshauses, daran, wie sie ihre Augen flehentlich auf ihn gerichtet hatte, und daran, wie er sie ihm Stich gelassen hatte. Er erinnerte sich an den beißenden Gestank brennenden Fleisches, an den Rauch, der vom leichten Wind über die Lilien und Leoparden des englischen Wappens gewirbelt worden war. Und er erinnerte sich an das Gesicht des jungen Königs, dieses vernarbte, unerbittliche Gesicht.
«Aus dem hier», sagte Wilkinson und nahm einen Pfeil mit einer verzogenen Spitze in die Hand, «können wir einen richtigen Todesengel machen. Damit lassen wir ein paar adlige Seelen zur Hölle fahren.» Er legte den Pfeil auf einen Hackklotz und wählte ein Messer aus, dessen Schärfe er mit dem Daumennagel prüfte. Dann schnitt er mit einer schnellen Bewegung das oberste Stück des Pfeils ab und warf es Hook zu. «Mach dich nützlich, Junge, und hol die Ahlspitze raus.»
Der Pfeilkopf bestand aus einem schmalen Stück Stahl, das etwas länger war als Hooks Mittelfinger. Es war ein Dreikant, der zur Spitze hin scharf geschliffen war. Widerhaken gab es keine. Die Ahlspitze war schwerer als die meisten anderen Pfeilköpfe. Wenn sie aus geringer Entfernung mit einem der großen Kriegsbögen verschossen wurde, die nur ein Mann mit den Kräften eines Herkules spannen konnte, bohrte sie sich auch in die beste Panzerrüstung. Dieser Pfeilkopf war ein Rittertöter, und Hook ruckte daran herum, bis der Leim in dem Holzschaft nachgab und sich die Ahlspitze löste.
«Nein.»
Wilkinson saß über den Pfeilschaft gebeugt Er benutzte eine kleine Säge, deren Blatt kaum länger als sein kleiner Finger war, um in die abgeschnittene Seite des Pfeils eine keilförmige Kerbe zu schneiden. «Weißt du, wie sie diese Spitzen härten?», fragte er. «Sie machen es so», sagte Wilkinson und hielt beim Sprechen die Augen auf seine Arbeit gerichtet, «sie werfen Knochen ins Feuer, wenn sie das Eisen machen. Knochen, Junge, Knochen. Trockene Knochen, tote Knochen. Und? Warum sollten tote Knochen in der brennenden Kohle Eisen in Stahl verwandeln?»
«Ich weiß nicht.»
«Und ich genauso wenig, aber es geschieht. Knochen und Kohle», sagte Wilkinson. Er hielt den eingekerbten Pfeil hoch, blies ein bisschen Sägestaub von der Schnittfläche und nickte zufrieden. «Ich kannte einen Burschen in Kent, der Menschenknochen benutzt hat. Er glaubte, dass man mit einem Kinderschädel den besten Stahl machen kann, und vielleicht hatte er ja recht. Der Bastard hat sie immer auf den Friedhöfen ausgegraben, in Stücke gehauen und sie in seinem Schmiedefeuer verbrannt. Kinderschädel und Kohle! Dieser Kerl war wirklich durch und durch verkommen, aber seine Pfeile konnten töten. Und wie sie töten konnten! Sie haben die Rüstungen nicht durchschlagen, sie sind hineingefahren wie in Schweineschmalz!» Wilkinson hatte einen kurzen Holzschaft aus Eiche herausgesucht, während er sprach. Ein Ende war schon keilförmig beschnitzt und passte in die Kerbe, die er in den abgeschnittenen Eschenschaft gesägt hatte. «Sieh dir das an», sagte er stolz, «es passt haargenau. Ich mache diese Arbeit wirklich schon zu lange!» Er ließ sich von Hook die Ahlspitze reichen und stülpte ihre Aufsatztülle über das andere Ende des Eichenschaftes. «Ich leime alles zusammen», sagte er, «und dann kannst du jemanden damit töten.» Er drehte den Pfeil bewundernd in der Hand. «Glaub mir, Junge», fuhr der alte Mann grimmig fort, «bald wirst du mit dem Töten anfangen.»
«Werde ich das?»
Wilkinson lachte kurz und ohne jede Belustigung auf. «Der König von Frankreich mag vielleicht nicht ganz richtig im Kopf sein, aber er wird dem Herzog von Burgund bestimmt nicht Soissons überlassen. Dafür sind wir viel zu nahe bei Paris! Die Männer des Königs werden schon bald hier sein, und wenn sie in die Festung kommen, bringst du dich am besten um. Die Franzosen mögen die Engländer nicht, und englische Bogenschützen hassen sie, und wenn sie dich gefangen nehmen, mein Junge, dann gnade dir Gott, bis du endlich tot bist.» Er sah Hook an. «Ich meine es ernst, Hook. Besser, man schneidet sich die Kehle durch, als sich von einem Franzosen erwischen zu lassen.»
«Wenn sie kommen, werden wir sie zurückschlagen», sagte Hook.
«Ja, mit Sicherheit, oder etwa doch nicht?», fragte Wilkinson mit einem rauen Lachen. «Bete, dass die Armee des Herzogs zuerst ankommt, denn wenn die Franzosen kommen, mein Junge, sitzen wir in Soissons in der Falle wie die Ratten im Butterfass.»
Also stand Hook jeden Morgen über dem Tor auf der Stadtmauer und ließ seinen Blick über die Straße schweifen, die entlang der Aisne Richtung Compiégne führte. Und noch mehr Zeit verbrachte er damit, in einen Innenhof hinunterzuschauen, der zu einem der vielen Häuser gehörte, die außerhalb der Stadtmauer errichtet worden waren. Es war das Haus eines Färbers, und es stand nahe am Stadtgraben, und jeden Morgen hängte ein rothaariges Mädchen frischgefärbte Stoffe zum Trocknen auf eine lange Leine. Manchmal blickte das Mädchen auf und winkte Hook oder den anderen Bogenschützen zu, die ihr mit Pfiffen antworteten. Eines Tages sah eine ältere Frau das Mädchen winken und schlug es zur Strafe dafür, dass es zu den verhassten fremden Soldaten freundlich gewesen war, hart ins Gesicht. Doch am nächsten Tag schwang der Rotkopf zur Freude seines Publikums erneut den Hintern beim Gehen. Und wenn das Mädchen nicht in Sicht war, hielt Hook auf der Straße nach dem blitzenden Widerschein eines Sonnenstrahls Aussicht, der sich in einer Rüstung brach, und nach dem unvermittelten Auftauchen von flatternden Bannern, die die Ankunft der herzoglichen Truppen ankündigten, oder schlimmer, die Ankunft der feindlichen Armee. Doch die einzigen Soldaten, die er sah, waren Burgunder aus der Garnison von Soissons, die Verpflegung in die Stadt brachten. Manchmal ritten die englischen Bogenschützen mit auf diese Beutezüge, doch sie trafen niemals auf feindliche Männer, es sei denn, man zählte die Leute dazu, deren Korn und Vieh sie stahlen. Das Bauernvolk suchte in den Wäldern Zuflucht, wenn die burgundischen Truppen kamen, doch die Bürger von Soissons konnten sich nicht verstecken, wenn die Soldaten ihre Häuser nach gehorteten Lebensmitteln durchstöberten. Seigneur Enguerrand de Bournonville, der Befehlshaber der Burgunder, erwartete die Ankunft des französischen Gegners im Frühsommer und wollte einer langen Belagerung standhalten, also ließ er Korn und Pökelfleisch in der Kathedrale aufhäufen, um die Besatzer und das Stadtvolk zu ernähren.
Nick Hook half, die Nahrungsmittel in der Kathedrale zu verstauen, in der es bald wie in einer Kornkammer roch, auch wenn sich in diesen schweren Geruch immer ein Hauch von gebeiztem Leder mischte. Soissons war für seine Schuster, Sattler und Gerber berühmt. Die Gerbergruben lagen südlich der Stadt, und wenn ein warmer Wind wehte, trieb er den stechenden Gestank des Urins, in das die Häute eingeweicht wurden, als faulige Wolke über die Häuser. Hook ging oft in der Kathedrale umher, betrachtete die bemalten Wände oder den Altar, der reich mit Silber, Gold und Email verziert und mit kunstvoll bestickten Stoffen aus Seide und Leinen geschmückt war. Er war noch nie zuvor in einer Kathedrale gewesen. Ihre schiere Größe, die Schatten hoch oben unter dem Dach, die stummen Mauersteine - all das vermittelte ihm das unbestimmte Gefühl, dass es im Leben mehr geben musste als einen Bogen, einen Pfeil und die Muskeln, um sie zu benutzen. Er wusste nicht, was dieses Etwas sein mochte, doch dass es existierte, war ihm seit jenem Tag in London klar, an dem die Stimme in seinem Kopf erklungen war. Eines Tages kniete er unbeholfen vor einer Statue der Jungfrau Maria nieder und bat sie um Vergebung für sein Versagen in London. Er blickte empor in ihr melancholisches Antlitz, und er glaubte, dass ihre Augen, die mit blauer und weißer Farbe zum Strahlen gebracht worden waren, tadelnd auf ihn herabsahen. Sprich zu mir, betete er, doch er vernahm keine Stimme in seinem Kopf. Keine Vergebung für Sarahs Tod, dachte er. Er hatte Gott enttäuscht. Er war verflucht.
«Glaubst du vielleicht, sie kann dir helfen?», unterbrach eine säuerliche Stimme seine Gebete. Hook wandte sich um. John Wilkinson stand hinter ihm.
«Wenn sie es nicht kann», sagte Hook, «wer soll es dann können?»
«Ihr Sohn?», schlug Wilkinson bissig vor. Der alte Mann sah sich verstohlen um. Ein halbes Dutzend Priester las an den Seitenaltären die Messe, doch sonst waren nur Nonnen in der Kathedrale, die unter den strengen Augen von Priestern durch das weite Kirchenschiff huschten. «Die armen Mädchen», sagte Wilkinson.
«Arm?»
«Denkst du etwa, sie wollten Nonnen werden? Ihre Eltern haben sie ins Kloster gesteckt, damit sie keine Schwierigkeiten machen. Das sind Bastardkinder der Reichen, mein Junge, und sie wurden eingesperrt, damit sie keine eigenen Bastarde in die Welt setzen können. Komm, ich will dir etwas zeigen.» Er wartete keine Antwort ab, sondern stapfte zum Hochaltar, der sich goldschimmernd unter dem erstaunlichen Gewölbe erhob, das am östlichen Ende des Gebäudes auf einem Säulenhalbrund ruhte. Wilkinson kniete neben dem Altar nieder und senkte ehrfurchtsvoll den Kopf. «Sieh dir die Kästchen an, Junge», befahl er Hook.
Hook stieg zu dem Altar hinauf, auf dem rechts und links neben einem goldenen Kruzifix silberne und goldene Kästchen standen. Die meisten von ihnen hatten vorne eine Scheibe aus Kristall. Durch die Verzerrungen dieses Fensters erkannte Hook Lederstücke. «Was ist das?», fragte er.
«Schuhe», sagte Wilkinson, den Kopf immer noch gesenkt mit gedämpfter Stimme.
«Schuhe?»
«So etwas zieht man an die Füße, Hook, damit einem der Dreck nicht zwischen den Zehen hängen bleibt.»
Das Leder wirkte alt, dunkel und ausgedörrt. In einem der Reliquiare lag ein Schuh, der so stark geschrumpft war, dass Hook glaubte, es müsse sich um einen Kinderschuh handeln. «Warum Schuhe?», fragte er.
«Hast du schon einmal von Sankt Crispin und Sankt Crispinian gehört?»
«Nein.»
«Das sind die Schutzheiligen der Schuster und der anderen Handwerker, die mit Leder arbeiten. Sie haben diese Schuhe gemacht, jedenfalls sagt man so, und sie haben hier gelebt und sind vermutlich hier getötet worden. Sie sind als Märtyrer gestorben, mein Junge, wie dieser alte Mann, den du in London getötet hast.»
«Er war ein...»
«Häretiker, ich weiß. Das hast du erzählt. Aber jeder Märtyrer wurde getötet, weil jemand Mächtigeres nicht mit seinen Glaubensüberzeugungen einverstanden war. Christus am Kreuz, mein Junge, Jesus selbst ist als Häretiker gekreuzigt worden! Was glaubst du denn, warum zum Teufel sie Ihn dort angenagelt haben? Hast du auch Frauen getötet?»
«Nein», sagte Hook und wand sich unbehaglich.
«Aber es sind auch Frauen gestorben?», fragte Wilkinson und sah Hook an. Er las die Antwort in seinen Augen und verzog das Gesicht. «Oh, ich bin sicher, dass Gott an diesem Tagwerk allergrößte Freude hatte!» Der alte Mann schüttelte angewidert den Kopf, bevor er in den Beutel griff, der an seinem Gürtel hing. Er nahm etwas heraus, was Hook für eine Handvoll Münzen hielt, und ließ sie in das große Kupfergefäß fallen, das neben dem Altar stand, um die Gaben der Pilger aufzunehmen. Ein Priester hatte die beiden englischen Bogenschützen misstrauisch beäugt, doch er entspannte sich sichtlich bei dem Geräusch von Metall, das in dem Kupfergefäß auf anderes Metall traf. «Pfeilspitzen», erklärte Wilkinson mit einem Grinsen. «Alte, verrostete Breitköpfe, die zu nichts mehr zu gebrauchen sind. Also, warum kniest du dich zum Beten nicht lieber vor Crispin und Crispinian?»
Hook zögerte. Gott, da war er sicher, würde gesehen haben, dass Wilkinson wertlose Pfeilspitzen statt Münzen in das Gefäß geworfen hatte. Die Bedrohung durch das Höllenfeuer schien ihm mit einem Mal sehr gegenwärtig, und so zog Hook eilig ein paar Münzen aus seinem eigenen Beutel und ließ sie in das Kupfergefäß fallen. «Guter Junge», sagte Wilkinson, «der Bischof wird sich sehr darüber freuen. Damit kann er sich ein Ale kaufen, oder?»
«Warum soll ich zu Crispin und Crispinian beten?», fragte Hook.
«Weil sie die Ortsheiligen sind, mein Junge. Es ist ihre Aufgabe, den Betenden von Soissons zuzuhören, folglich sind sie die besten Heiligen, zu denen man hier beten kann.»
Also ging Hook auf die Knie und betete vor Sankt Crispin und Sankt Crispinian um die Vergebung der Sünde, die er in London begangen hatte, und er betete darum, dass sie ihn in dieser ihrer Stadt vor einem Schicksal als Märtyrer bewahren und ihn unbeschadet wieder nach England heimkehren lassen würden. Das Gebet schien ihm nicht so kraftvoll wie jenes, das er an die Muttergottes gerichtet hatte, doch es ergab Sinn, denn dies war ihre Stadt, und sie würden sicherlich mit besonderer Aufmerksamkeit über die Menschen wachen, die in Soissons zu ihnen beteten.
«Ich bin hier fertig, Junge», verkündete Wilkinson knapp. Er steckte etwas in seine Tasche, und Hook bemerkte, dass vorne aus dem seidenen Altartuch, das bis auf den Boden hing, ein erhebliches Stück grob herausgetrennt worden war. Ein Grinsen glitt über das Gesicht des alten Mannes. «Seide, mein Junge, Seide. Ich brauche Seide für die Pfeile, also habe ich mir welche gestohlen.»
«Von Gott?»
«Wenn Gott ein paar Fädchen Seide nicht verschmerzen kann, dann ist Er in ernsthaften Schwierigkeiten. Und du solltest dich darüber freuen. Du willst doch Franzosen töten, oder, Hook? Bete, dass ich genügend Seidenfäden habe, um deine Pfeile zu umwickeln.»
Doch Hook hatte keine Gelegenheit mehr zum Beten.
***
In der Garnison hatten alle gewusst, dass sie kommen würden. Die Nachricht von der Unterwerfung Compiègnes, einer weiteren Stadt, die von den burgundischen Truppen besetzt worden war, hatte Soissons erreicht, und nun war Soissons die einzige Festung, die dem französischen Vormarsch nach Flandern, wo die Hauptarmee der Burgunder lag, noch entgegenstand. Der Bericht sagte, dass die französischen Truppen von Osten an der Aisne entlang vorrückten.
Und dann waren sie, an einem strahlenden Sommermorgen, mit einem Mal da.
Hook beobachtete ihre Ankunft von den westlich gelegenen Befestigungsanlagen aus. Zuerst kamen Reiter. Sie trugen Rüstungen und helle Wappenröcke, und einige von ihnen galoppierten so nahe an die Stadt heran, als wollten sie die Bogenschützen auf der Stadtmauer zum Schuss herausfordern. Einige Armbrustschützen ließen Bolzen auf sie herabschnellen, doch kein Reiter und kein Pferd wurde getroffen. «Spart eure Pfeile auf», befahl Smithson, der Centenar, seinen englischen Bogenschützen. Er schnippte mit dem Finger in Richtung der Bogensehne, die Hook schon gespannt hielt. «Nicht, Kerl», sagte er. «Kein Pfeil soll verschwendet werden.» Der Centenar war aus seiner Stammwirtschaft, der Oie, gekommen und sah mit zusammengekniffenen Augen zu den herumgaloppierenden Reitern hinüber. Deren Rufe waren auf den Wällen nicht zu verstehen, wo die Männer die burgundische Fahne neben der Fahne des Garnisonskommandeurs Seigneur de Bournonville flattern ließen. Auch einiges Stadtvolk war auf die Wälle gekommen und beobachtete die Reiter. «Seht euch die Bastarde an», knurrte Smithson und machte eine Geste in Richtung der Stadtbewohner, «die würden uns am liebsten an den Feind verraten. Wir hätten sie bis auf den letzten Mann umbringen sollen. Wir hätten ihnen ihre verdammten Franzosenkehlen durchschneiden sollen.» Er spie aus. «Heute wird nichts weiter passieren. Da kann ich ebenso gut ein Ale trinken, solange es noch welches gibt.» Mit schweren Schritten ging er davon und ließ Hook zusammen mit einem halben Dutzend anderer englischer Bogenschützen auf dem Wall stehen.
Den ganzen Tag über kamen immer mehr Franzosen, die meisten zu Fuß, und sie verteilten sich rund um Soissons und fällten Bäume auf den niedrigen Hügeln südlich der Stadt. Auf der freigewordenen Fläche wurden Zelte errichtet, und neben den Zelten wehten die leuchtenden Flaggen des französischen Adels im Wind, ein Meer aus roten, blauen, goldenen und silbernen Fahnen. Lastboote kamen den Fluss herauf, vorangetrieben mit riesigen Stakhölzern. Sie brachten vier Mangonellen, große, wuchtige Geräte, mit denen Felsbrocken gegen die Stadtmauern geschleudert werden konnten. Nur eines der gewaltigen Katapulte wurde an diesem Tag an Land gehievt, und Enguerrand de Bournonville, der glaubte, er könne es in den Fluss stürzen lassen, führte einen Ausfall von zweihundert berittenen Feldkämpfern vom Westtor aus an. Doch die Franzosen hatten mit dem Angriff gerechnet und schickten den Burgundern doppelt so viele Reiter entgegen. Beide Seiten standen sich mit erhobenen Lanzen gegenüber, und nach einer Weile zogen sich die Burgunder, verfolgt von den Spottrufen der Franzosen, wieder zurück. Am Nachmittag breiteten sich dichte Rauchwolken aus, als die Franzosen die Häuser außerhalb der Stadtmauer von Soissons niederbrannten. Hook sah, wie das rothaarige Mädchen mit einem Bündel auf das neuerrichtete französische Feldlager zulief. Keiner der Flüchtlinge bat um Einlass in die Stadt, alle liefen zur feindlichen Seite über. Im dichten Qualm wandte sich das Mädchen noch einmal um und winkte den Bogenschützen zum Abschied zu. Dann tauchten die ersten feindlichen Armbrustschützen auf, jeder von ihnen begleitet von einem Gefährten mit einer Pavese, einem Schild, der groß genug war, dass ein Mann hinter ihm Schutz suchen konnte, um nach einem Bolzenschuss die Armbrust mühsam neu zu spannen. Die schweren Bolzengeschosse schlugen in die Stadtmauer ein oder zischten darüber hinweg, um irgendwo dahinter niederzugehen.
Dann, als langsam die Sonne hinter dem gewaltigen Katapult am Ufer des Flusses zu sinken begann, erklang eine Trompete. Dreimal wurde sie geblasen, die Töne erhoben sich klar und deutlich in die rauchverhangene Luft, und als der letzte Ton verklungen war, hatten die Armbrustschützen aufgehört zu schießen. Eine Funkenwolke stieg auf, als ein Strohdach in ein brennendes Haus stürzte, und der Qualm wälzte sich über die Straße nach Compiègne, auf der Hook zwei Reiter auftauchen sah.
Keiner der beiden trug eine Rüstung. Beide waren stattdessen in buntleuchtende Wappenröcke gekleidet. Ihre einzige Waffe waren schlanke weiße Stäbe, die sie erhoben hielten, während sich ihre Pferde mit vorsichtigem Tritt über die tiefen Furchen auf der Straße bewegten. Seigneur de Bournonville musste sie erwartet haben, denn das Westtor wurde geöffnet, und der Stadtkommandant ritt den beiden mit einem einzigen Begleiter entgegen.
«Herolde», sagte Jack Dancy. Dancy stammte aus Herefordshire und war ein paar Jahre jünger als Hook. Er hatte sich zum Dienst unter der burgundischen Flagge gemeldet, weil er zu Hause beim Stehlen erwischt worden war. «Ich konnte mir aussuchen, ob ich mich gleich dort aufknüpfen lassen oder hier in der Schlacht sterben wollte», hatte er Hook eines Abends erzählt. «Was diese Herolde vorhaben», sagte er jetzt, «ist, uns zu sagen, dass wir aufgeben sollen, und ich hoffe, wir tun es.»
«Damit uns die Franzosen gefangen nehmen können?»
«Nein, nein. Er ist ein guter Mann.» Dancy nickte in de Bournonvilles Richtung. «Er wird dafür sorgen, dass wir sicher sind. Wenn wir aufgeben, lassen sie uns abziehen.»
«Und wohin?»
«Wo immer sie uns hinschicken», sagte Dancy unbestimmt.
Die Herolde, denen in geringer Entfernung zwei Flaggenträger und ein Trompeter gefolgt waren, hatten ihre Pferde nicht weit vom Stadttor bei de Bournonville halten lassen. Hook beobachtete, wie sich die Männer in ihren Sätteln voreinander verneigten. Es war das erste Mal, dass er Herolde zu Gesicht bekam, aber er wusste, dass sie niemals angegriffen werden durften. Ein Herold war ein Beobachter, ein Mann, der für seinen Herrn Kundschaft einholte und berichtete, was er gesehen hatte, und der Herold eines Feindes musste mit Respekt behandelt werden. Herolde sprachen im Namen ihrer Herren, und diese Männer sprachen für den König von Frankreich, denn die eine ihrer Fahnen war das Banner des französischen Königshauses, ein großes Rechteck aus blauer Seide, das drei goldene Lilien schmückten. Die andere Fahne war purpurfarben mit einem weißen Kreuz, und Dancy erklärte Hook, dass es sich dabei um das Banner von Sankt Denis handelte, der Frankreichs Schutzpatron war. Hook fragte sich, ob Denis im Himmel über größeren Einfluss verfügte als Crispin und Crispinian. Trugen sie Gott ihre Fälle vor, überlegte er weiter, wie zwei Bittsteller vor einem Hausgericht? Unwillkürlich berührte er das hölzerne Kreuz, das um seinen Hals hing.
Die Männer sprachen kurz miteinander, dann verneigten sie sich erneut, und die königlichen Herolde wendeten ihre Pferde und ritten davon. Seigneur de Bournonville sah ihnen einen Moment lang nach und ließ sein eigenes Pferd dann ebenfalls umdrehen. Er galoppierte zurück zur Stadt, zügelte sein Pferd am brennenden Haus des Färbers und erhob die Stimme, um etwas zur Stadtmauer hinaufzurufen. Er sprach Französisch, das Hook noch kaum verstand, doch dann fügte er einige Worte auf Englisch hinzu. «Wir kämpfen! Wir werden den Franzosen diese Festung nicht überlassen! Wir kämpfen, und wir werden sie besiegen!»
Betretenes Schweigen war die Antwort. Sowohl die Burgunder als auch die Engländer blieben ihrem Befehlshaber das Echo auf seine trotzige Widerstandserklärung schuldig. Dancy seufzte, und dann sirrte ein Armbrustbolzen über sie hinweg und schlug klappernd auf der Straße auf. De Bournonville hatte eine Reaktion seiner Männer auf der Stadtmauer erwartet, doch als keine kam, gab er seinem Pferd die Sporen und ritt in die Stadt. Hook hörte die riesigen Scharniere des Tores kreischen, den Knall, als die schweren Torflügel zusammenschlugen, und den dumpfen Schlag, mit dem der Sperrbalken in seine Halterungen fiel.
Vor der Sonne lag nun ein Schleier. Ihre hellen rotgoldenen Strahlen drangen durch die abziehenden Rauchwolken. Ein Trupp feindlicher Reiter ritt an der Stadtmauer entlang. Es waren Feldkämpfer mit Rüstungen und Helmen. Einer von ihnen, der auf einem großen schwarzen Pferd saß, rührte ein merkwürdiges Banner. Es war kein Wappen darauf, es war nur eine schmales hellrotes Banner, ein sich wellender Streifen Seidenblut, durch den die dunstigen Sonnenstrahlen schimmerten, und dennoch Schlugen die Männer auf dem Wall bei seinem Anblick das Kreuz.
«Die Orifiamme», murmelte Dancy.
«Oriflamme?»
«Die französische Kriegsfahne», sagte Dancy. Er berührte seine Zunge mit dem Mittelfinger und bekreuzigte sich noch einmal. «Es bedeutet, dass keine Gefangenen gemacht werden», fuhr er düster fort. «Es bedeutet, dass sie uns alle töten wollen.» Er machte einen Schritt rückwärts und fiel zu Boden.
Einen Herzschlag lang verstand Hook nicht, was passiert war. Dann glaubte er, Dancy müsse gestolpert sein, und streckte unwillkürlich die Hand aus, um ihm aufzuhelfen. Und erst in diesem Augenblick sah er den mit Lederstreifen befiederten Armbrustbolzen, der aus Dancys Stirn ragte. Blut war kaum zu sehen. Ein paar Tropfen waren auf Dancys Gesicht gespritzt, doch abgesehen davon wirkte es ganz friedlich. Hook ließ sich auf ein Knie nieder und starrte den dicken Schaft des Bolzens an. Kaum eine Handbreit ragte aus dem Schädel, die übrige Länge hatte sich tief in das Gehirn des Mannes aus Herefordshire gebohrt, und Dancy war ohne einen Laut gestorben. Nur der Bolzen hatte ein Geräusch wie eine Fleischeraxt gemacht, als er sein Ziel getroffen hatte. «Jack?», fragte Hook leise.
«Spar dir den Atem, Nick», sagte einer der anderen Bogenschützen, «der verhandelt jetzt schon mit dem Teufel.»
Hook stand auf und drehte sich um. Später wusste er kaum noch, was passiert oder gar, warum es passiert war. Jack Dancy war ja nicht einmal ein enger Freund von ihm gewesen. Hook hatte in Soissons keine Freunde, außer vielleicht John Wilkinson. Doch plötzlich flammte in ihm die Wut auf. Dancy war ein Engländer, und in Soissons fühlten sich die Engländer von der Seite, für die sie kämpften, ebenso abgelehnt wie vom Feind, und jetzt war Dancy tot, und deshalb zog Hook einen gefirnissten Pfeil aus der weißleinenen Pfeiltasche, die an seiner rechten Seite hing.
Er drehte sich um, senkte den Bogen quer vor sich, legte den Pfeil über die Mitte und hakte den Pfeilschaft mit dem linken Daumen fest. Dann schwang er den Langbogen in die Senkrechte, während er mit der Rechten das befiederte Pfeilende erfasste und es mit der Sehne zurückzog.
«Wir sollen nicht schießen», sagte einer der anderen Bogenschützen.
«Verschwende keinen Pfeil!», fiel ein anderer ein.
Die Sehne rieb an Hooks rechtem Ohr. Seine Augen glitten über den rauchgeschwängerten Grund vor der Stadt und fanden einen Armbrustschützen, der hinter einer Pavese hervortrat, die mit gekreuzten Äxten bemalt war.
«Du kannst nicht so weit schießen wie sie», ermahnte ihn der erste Bogenschütze.
Doch Hook war von Kindesbeinen an mit dem Bogen vertraut. Er hatte seine Kräfte so lange gestählt, bis er die Sehnen der größten Kriegsbogen spannen konnte, und er hatte gelernt, dass man nicht mit dem Auge zielte, sondern mit dem Geist. Er erkannte sein Ziel, und dann zwang er dem Pfeil seinen Willen auf, und die Hände richteten unbewusst den Bogen aus. Der Armbrustschütze hob indes seine schwere Waffe. Zwei Bolzen schwirrten an Hooks Kopf vorbei durch die Abendluft.
Er bemerkte sie nicht einmal. Es war wie der Moment im Unterholz, wenn sich das Reh einen Augenblick lang zwischen dem Laub gezeigt hatte und der Pfeil abschnellte, ohne dass der Schütze überhaupt wusste, dass er die Sehne freigegeben hatte. «Die ganze Kunst liegt zwischen deinen Ohren, mein Junge», hatte ihm ein Dorfbewohner vor Jahren erklärt, «einzig und allein zwischen deinen Ohren. Du zielst nicht mit dem Bogen. Du denkst einfach nur daran, wohin der Pfeil fliegen soll, und dorthin fliegt er.» Hook ließ die Sehne los.
«Du verdammter Narr», sagte ein Bogenschütze, und Hook sah die weißen Gänsefedern durch die raucherfüllte Luft zucken und den Pfeil schneller niederfahren als einen zuschlagenden Falken. Stahlbewehrter, seidenbezwirnter, eschengeschnitzter, weißbefiederter Tod schwang sich durch die Abendstille.
«Gütiger Gott», murmelte der erste Bogenschütze.
Der Armbrustschütze starb keinen so leichten Tod wie Dancy. Hooks Pfeil durchbohrte seine Kehle. Der Mann schnellte herum, und die Armbrust löste sich selbst aus, sodass der Bolzen ziellos in die Höhe schoss, während der Mann rücklings hinstürzte, zuckte und sich mit beiden Händen an die Kehle griff, wo der Schmerz wie flüssiges Feuer brannte. Über ihm hatte sich der Himmel nun rot gefärbt, blutrot vom Widerschein der Feuer und den lodernden Farben des Sonnenuntergangs.
Das, dachte Hook, war ein guter Pfeil. Mit geradem Schaft und ordentlich mit Federn besetzt, die alle aus demselben Gänseflügel gerupft worden waren. Treu war er seiner Bahn gefolgt. Er war dahin geflogen, wo Hook ihn hingezwungen hatte, und er hatte einen Mann im Krieg getötet. Nun endlich war Hook ein echter Bogenschütze.
***
Am zweiten Abend der Belagerung dachte Hook, das Ende der Welt sei gekommen.
Es war ein klarer, warmer Abend kurz vor der Dämmerung. Der Fluss wand sich träge zwischen seinen blumenbestandenen Ufern hin, an denen Weiden und Erlen wuchsen. Schlaff hingen die französischen Banner über den Zelten. Immer noch stieg Rauch von den niedergebrannten Häusern auf und verlor sich weit oben im wolkenlosen Himmel. In weiten, eiligen Bögen jagten Mauersegler und Schwalben auf der Jagd nach Mücken um die Stadtmauer.
Nicholas Hook lehnte an der Brustwehr. Seinen unbespannten Bogen neben sich, dachte er an England, an das Herrenhaus, an die Felder hinter der langgestreckten Scheune, auf denen nun bald das Gras gemäht werden würde. Hasen würden im hohen Wiesengras sitzen, Forellen durch den Fluss schnellen, und im Zwielicht würden die Lerchen singen. Er dachte an den verfallenden Viehstall auf dem Feld, das Shortmead genannt wurde, den Stall mit dem einbrechenden Strohdach, über das ein Vorhang aus Geißblatt hing, hinter dem sich William Snoballs junge Frau Neil mit ihm zu heimlichen, leidenschaftlichen Liebesstunden getroffen hatte. Er fragte sich, wer wohl im Dreiknöpfewald das Niederholz auf Stock setzte, und wie immer, wenn er an diesen Wald dachte, fragte er sich auch, wie er zu seinem Namen gekommen war. Das Gasthaus im Dorf hieß ebenfalls Drei Knöpfe, doch niemand wusste, weshalb, nicht einmal Lord Slayton, der manchmal an seinen Krücken hereinhinkte und mit ein paar Silbermünzen auf der Küchendurchreiche sämtliche Gäste zu einem Ale einlud. Dann dachte Hook an die bösartigen, allgegenwärtigen Perrills. Er konnte nicht mehr nach Hause, niemals mehr, denn er war ein Geächteter. Die Perrills konnten ihn töten und wären keine Mörder, nicht einmal Totschläger, denn einen Geächteten schützte kein Gesetz. Dann fiel ihm das Fenster in dem Stall in London ein. Gott hatte gewollt, dass er das Lollardenmädchen durch dieses Fenster rettete, doch er hatte versagt. Damit war es für immer von dem himmlischen Licht abgeschnitten, das hinter diesem Fenster geleuchtet hatte, davon war er überzeugt. Sarah. Er murmelte ihren Namen oft, so als könne die Wiederholung ihm Vergebung bringen.
Der abendliche Friede ging in donnerndem Getöse unter.
Doch zuerst war da Licht. Schwarzes Licht, dachte Hook später, ein Strahl schwarzen Lichts, schwarzflammendes Licht, das wie die Zunge einer Höllenschlange aus einem Erdwall leckte, den die Franzosen nahe bei einem ihrer unheimlichen Katapulte aufgeschüttet hatten. Diese Zunge aus grausigem Feuer schnellte nur einen kurzen Moment empor, bevor sie von einer Wolke aus plötzlich emporquellendem, dichtem schwarzem Rauch ausgelöscht wurde. Und dann kam der Knall, ein ohrenbetäubender Schlag, der selbst den Himmel zu erschüttern schien und dem ein weiteres, beinahe ebenso lautes Krachen folgte, mit dem etwas die Stadtmauer traf.
Die Mauer bebte. Hooks Bogen fiel klappernd auf die Steine. Vögel schrien und flogen vor dem Feuer, dem Rauch und dem nachhallenden Poltern davon. Die Sonne war verschwunden, verhüllt von der schwarzen Rauchwolke, und einen Moment lang konnte Hook nichts anderes denken, als dass sich die Erde aufgetan haben und das Höllenfeuer aus den Tiefen herausgeschlagen sein müsse.
«Allmächtiger!», stieß ein Bogenschütze schaudernd hervor.
«Ich habe mich schon gefragt, wann das passieren würde», bemerkte ein anderer voller Abscheu. «Eine Kanone», erklärte er dem ersten, «hast du noch nie eine Kanone gesehen?»
«Noch nie.»
«Dann lernst du sie jetzt kennen», sagte der zweite Mann grimmig.
Auch Hook hatte noch nie eine Kanone gesehen, und er zuckte zusammen, als eine weitere abgefeuert wurde und ihr schmutziger Rauch in den Sommerhimmel stieg. Am nächsten Tag verstärkten vier weitere Kanonen den Angriff. Die sechs französischen Kanonen richteten weitaus mehr Schaden an als die vier riesigen hölzernen Katapulte. Sie waren nicht zielgenau, die gezackten Felsbrocken verfehlten die Stadtmauer oft und stürzten innerhalb der Stadt in Häuser, die sofort anfingen zu brennen, weil sich die Küchenfeuer ausbreiteten. Dennoch fraßen sich die Kanonensteine stetig in die Stadtmauer, die ohnehin in schlechtem Zustand war. Schon nach zwei Tagen war das äußere Mauerwerk ins übelriechende Wasser des Befestigungsgrabens gerutscht, und die Geschützführer erweiterten die Bresche mit immer neuen Schüssen, während die Burgunder hinter dem zusammengestürzten Stück der Stadtmauer einen halbrunden Schutzwall errichteten.
Jede der Kanonen wurde dreimal am Tag abgefeuert, die Schüsse kamen so regelmäßig, wie die Glocke eines Klosters die Mönche zum Gebet ruft. Die Burgunder hatten ihre eigene Kanone, die auf der südlichen Seite aufgestellt worden war, weil man mit dem Angriff der Franzosen von der Straße nach Paris gerechnet hatte. Es dauerte zwei Tage, um das Geschütz zur westlichen Befestigung zu bringen, wo es aufs Dach des Torturms gehievt wurde. Hook war von dem Kanonenrohr fasziniert. Es war doppelt so lang wie sein Bogen und rund wie ein Alekrug. Das Rohr und seine Verbindungsstücke bestanden aus schwarzem, schartigem Eisen und lagen auf einem niedrigen Holzkarren. Die Geschützmänner waren Holländer, die sich viel Zeit nahmen, die feindlichen Geschütze zu beobachten, bevor sie das Rohr auf eine der französischen Kanonen richteten. Dann machten sie sich umständlich daran, die Kanone zu laden. Sie schöpften Schießpulver mit einer langstieligen Kelle in das Rohr und drückten es mit einem stoffumwickelten Stampfer zusammen. Als Nächstes wurde weiche Lehmerde in einem niedrigen Holzbottich angerührt und auf das Schießpulver gedrückt. Während er trocknete, setzten sich die Geschützmänner zusammen, um eine Runde Würfel zu spielen. Die Kanonenkugel, ein zu einer groben Kugel gehauener Steinbrocken, lag neben dem Rohr, bis der Anführer, ein beleibter Mann mit einem gegabelten Bart, entschied, dass der Lehm trocken genug wäre. Erst dann wurde der Stein in den langen Lauf geschoben. Ein Holzkeil folgte und wurde festgeklopft, um den rundlichen Stein dicht bei dem Lehm und dem Schießpulver zu halten. Ein Priester sprenkelte Weihwasser über die Kanone und sprach ein Gebet, während die Holländer ein letztes Mal mit langen Hebeln die Ausrichtung des Rohrs verbesserten.
«Zurück, Junge», sagte der Befehlshabende Smithson zu Hook. Der Centenar hatte sich herbeigelassen, die Oie zu verlassen, um sich anzusehen, wie die Holländer ihr Geschütz abfeuerten. Etwa zwei Dutzend weitere Männer waren dazugekommen, unter ihnen auch Seigneur de Bournonville, der die Geschützleute mit Rufen anfeuerte. Keiner der Zuschauer stand in der Nähe der Kanone, sie verhielten sich im Gegenteil, als sei das schwarze Rohr ein wildes Tier, dem mit Vorsicht begegnet werden müsse. «Guten Morgen, Sir Roger», sagte Smithson und verbeugte sich in Richtung des großen, mageren Mannes. Doch Sir Roger, der Befehlshaber der englischen Einheiten, beachtete den Gruß nicht. Er hatte ein schmales Gesicht mit einer Habichtsnase, eingefallene Wangen, dunkles Haar und trug in der Gesellschaft seiner Bogenschützen immer eine Miene zur Schau, als dünsteten sie Latrinengestank aus.
Der beleibte Holländer wartete, bis der Priester sein Gebet beendet hatte. Dann steckte er einen nackten Federkiel in ein kleines Loch, das in das Ende der Kanone gebohrt worden war. Anschließend benutzte er einen Kupfertrichter, um den Kiel mit Schießpulver zu füllen, sah ein letztes Mal am Lauf des Rohres entlang, trat dann an die Seite des Laufs und streckte die Hand nach einer langen, brennenden Kerze aus. Der Priester, der als Einziger mit den Geschützleuten in der Nähe der Kanone stehengeblieben war, machte das Kreuzeszeichen und sprach einen schnellen Segen. Dann führte der Anführer der Geschützleute die Flamme an den pulvergefüllten Kiel.
Die Kanone explodierte.
Statt die Steinkugel pfeifend in die französische Belagerungszone zu schicken, verschwand die Kanone in einem Durcheinander von Rauch, umherfliegendem Metall und zerfetztem Fleisch. Die fünf Geschützleute und der Priester waren augenblicklich tot, verwandelten sich in blutroten Sprühnebel und Fragmente aus Muskeln und Fett. Ein Feldkämpfer schrie auf und brach zusammen, als ein heißes Stück Metall seinen Bauch aufschlitzte. Sir Roger, der neben dem Mann gestanden hatte, trat eilig von ihm weg und betrachtete angewidert das Blut, das auf seinen Wappenrock gespritzt war. Das Wappen zeigte drei Habichte auf einem grünen Feld. «Heute Abend nach Sonnenuntergang, Smithson», sprach Sir Roger durch den nach Blut stinkenden Rauch, der sich über die Brustwehr wälzte, «werdet Ihr Euch mit mir in der Kirche Saint-Antoine-Le-Petit treffen. Ihr und Eure gesamte Kompanie.»
«Ja, Herr, ja», sagte Smithson schwach, «gewiss, Sir Roger.» Der Truppenführer starrte die zerstörte Kanone an. Die ersten zehn Fuß des Rohrs waren zerborsten und aufgerissen, der hintere Teil bestand nur noch aus einem qualmenden, metallischen Zackenrelief. Der Teil eines Verbindungsreifens und eine Männerhand lagen vor Hooks Füßen. Die Geschützleute, die für viel Geld angeworben worden waren, erinnerten ihn an ausgeweidete Schlachthauskadaver. Während sich Seigneur de Bournonville, dessen Wappenrock mit Blut und Fleischstückchen besudelt war, bekreuzigte, klangen von der französischen Belagerungslinie Spott- und Hohnrufe herüber.
«Wir müssen uns auf den Angriff vorbereiten», sagte Sir Roger, offensichtlich wenig beeindruckt von der grauenvollen Szene, die sich soeben vor seinen Augen abgespielt hatte.
«Sehr gut, Sir», sagte Smithson. Der Centenar wischte eine glibbrige Masse von seinem Gürtel. «Ein verdammtes Holländergehirn», murmelte er angewidert und schnippte etwas davon Sir Roger hinterher, der sich inzwischen umgedreht hatte und davonging.
Sir Roger und drei Feldkämpfer, die sein Wappen mit den drei Habichten trugen, trafen sich mit den englischen und walisischen Bogenschützen der Garnison von Soissons kurz nach Sonnenuntergang in der Kirche Saint-Antoine-Le-Petit. Sir Rogers Wappenrock war gewaschen worden, dennoch waren die Blutflecken auf dem grünen Leinen noch schwach zu erkennen. Er stand vor dem Altar, auf den das Licht flackernder Binsenlämpchen von den Säulen fiel, und immer noch trug er die distanzierte Miene eines Mannes zur Schau, dem die Gesellschaft, in der er sich befand, echte Qualen bereitete. «Eure Aufgabe», sagte er ohne jede Einleitung, sobald sich die neunundachtzig Bogenschützen auf dem Boden des Kirchenschiffs niedergelassen hatten, «wird es
sein, die Bresche zu verteidigen. Ich kann nicht sagen, wann der Feind angreifen wird, aber ich kann euch versichern, dass es bald geschieht. Ich vertraue darauf, dass ihr jeden derartigen Angriff abwehrt.»
«Das werden wir, Sir!», warf Smithson ein. «Verlasst Euch darauf!»
Bei dieser Bemerkung überlief ein Zucken Sir Rogers langes Gesicht. In der englischen Truppe gingen Gerüchte darüber um, dass er sich von italienischen Bankhäusern Geld geliehen hatte, weil er fest damit gerechnet hatte, von einem Onkel ein Landgut vererbt zu bekommen. Doch dann war das Gut an einen Cousin gegangen, und nun schuldete Sir Roger den gnadenlosen Lombarden ein Vermögen. Die einzige Hoffnung, die er hatte, seine Schuld zu begleichen, war, einen reichen französischen Ritter gefangen zu nehmen und gegen Lösegeld wieder freizulassen. Und das war vermutlich auch der einzige Grund, aus dem er in die Dienste des Herzogs von Burgund getreten war. «Für den Fall», sagte er, «dass es euch nicht gelingen sollte, den Feind aus der Stadt herauszuhalten, werdet ihr euch hier sammeln, in dieser Kirche.» Diese Worte lösten leises Gemurmel unter den Bogenschützen aus. Für den Fall, dass sie die Bresche nicht verteidigen konnten und die neue Befestigung dahinter verloren, hatten sie damit gerechnet, sich in die Festung zurückzuziehen.
«Sir Roger?» Smithsons Frage kam zögernd.
«Ich habe nicht um Fragen gebeten», sagte Sir Roger.
«Gestattet dennoch,'Sir Roger», beharrte Smithson mit unterwürfiger Stimme, «aber wären wir nicht in der Festung sicherer?»
«Ihr werdet euch hier in dieser Kirche sammeln!», sagte Sir Roger nachdrücklich.
«Warum nicht in der Festung?», fragte der Bogenschütze neben Hook streitlustig.
Sir Roger hielt inne und ließ seinen Blick auf der Suche nach demjenigen, der gesprochen hatte, durch das dämmrige Kirchenschiff schweifen. Er konnte ihn nicht entdecken. «Den Stadtleuten», sagte er schließlich, «sind wir verhasst. Wenn ihr versucht, die Festung zu erreichen, metzeln sie euch in den Straßen nieder. Diese Kirche steht viel näher an der Bresche, also kommt hierher.» Er unterbrach sich kurz. «Ich werde mich bemühen, eine Waffenruhe für euch auszuhandeln.»
Eine unbehagliche Stille trat ein. Sir Rogers Erklärung ergab Sinn. Die Bogenschützen wussten, dass sie von den meisten Bewohnern Soissons gehasst wurden. Es waren Franzosen, sie unterstützten ihren König und hassten die Burgunder, aber die Engländer hassten sie noch mehr, daher war es nur allzu wahrscheinlich, dass sie versuchen würden, die Bogenschützen auf ihrem Rückzug in die Festung anzugreifen. «Eine Waffenruhe», sagte Smithson zweifelnd.
«Frankreich liegt mit den Burgundern im Streit», sagte Sir Roger, «nicht mit uns.»
«Und werdet auch Ihr hierherkommen, Sir Roger?», rief einer der Bogenschützen.
«Gewiss», sagte Sir Roger. Er wartete, doch keiner äußerte sich mehr. «Kämpft gut», sagte er schließlich kühl, «und denkt daran, dass ihr Engländer seid!»
«Waliser!», riefen ein paar Männer. Sir Roger zuckte bei diesen Rufen sichtbar zusammen, und dann ging er ohne ein weiteres Wort an der Spitze seiner drei Feldkämpfer aus der Kirche. Ein Proteststurm erhob sich, als er verschwunden war. Die Kirche Saint-Antoine-Le-Petit war aus Stein erbaut und leicht zu verteidigen, dennoch war sie nicht annähernd so sicher wie die Festung, auch wenn es zutraf, dass die Festung am anderen Ende der Stadt lag. Hook fragte sich, wie schwierig es werden würde, diese Zuflucht zu erreichen, wenn die Städter die Straßen blockierten
und die französischen Feldkämpfer durch die Lücken in der Stadtmauer drangen. Er sah zu einem Wandgemälde empor, das Männer, Frauen und Kinder zeigte, wie sie in die Hölle hinabstürzten. Auch Priester und sogar Bischöfe waren unter den verdammten Seelen, die in einer wilden Kaskade in einen Feuersee fielen, wo sie von schwarzen Teufeln mit lüsternen Mienen und dreizackigen Aalspeeren erwartet wurden. «Du wirst dich in die Hölle wünschen, wenn die Franzosen dich erwischen», sagte Smithson, der bemerkt hatte, wohin Hook sah. «Ihr würdet alle um die Freuden der Hölle betteln, wenn diese französischen Bastarde euch kriegen. Also denkt daran! Wir kämpfen an der Befestigung hinter der Bresche, und falls es wirklich beschissen läuft, kommen wir hierher.»
«Aber warum hierher?», rief ein Mann.
«Weil Sir Roger weiß, was er tut», sagte Smithson und klang dabei alles andere als überzeugt, «und wenn ihr hier eine Liebste habt», fuhr er mit einem schmutzigen Grinsen fort, «dann sorgt dafür, dass die kleine Süße mit euch kommt.» Er schob seine massigen Lenden vor und zurück. «Wir wollen doch nicht, dass die halbe französische Armee über unsere Liebsten herfällt, oder?»
Am nächsten Morgen hielt Hook wie jeden Morgen bei den niedrigen bewaldeten Hügeln hinter der Aisne nach den burgundischen Truppen Ausschau, die der belagerten Garnison zu Hilfe kommen sollten. Doch sie kamen nicht. Die großen Kanonensteine schwirrten über die verkohlten Ruinen der verbrannten Häuser, schlugen in die zerfallende Stadtmauer ein, Staubwolken erhoben sich, sanken auf den Fluss nieder und zogen mit ihm wie große graue Flecken auf dem Wasser Richtung Meer. Hook stand jeden Morgen in der Dämmerung auf und ging in die Kathedrale, wo er niederkniete und betete. Er war davor gewarnt worden, allein durch die Stadt zu gehen, doch die Einwohner von Soissons ließen ihn in Ruhe. Vielleicht waren sie von seiner Größe und Kraft eingeschüchtert, vielleicht wussten sie aber auch, dass er der einzige Bogenschütze war, der regelmäßig betete, und tolerierten ihn deshalb. Er hatte damit aufgehört, zu Sankt Crispin und Sankt Crispinian zu beten, weil er vermutete, dass den Heiligen die Stadtbewohner mehr am Herzen lagen, und so betete er stattdessen zur Muttergottes, denn auch seine eigene Mutter hatte Mary geheißen. Er betete zur Heiligen Jungfrau um Vergebung für den Tod des Mädchens in London. An einem dieser Morgen kniete sich ein Priester neben ihn. Hook beachtete ihn nicht.
«Du bist der Engländer, der betet», sagte der Priester auf Englisch und verhaspelte sich sogleich in der ungewohnten Sprache. Hook erwiderte nichts. «Die Leute fragen sich, warum du betest», fuhr der Priester fort und deutete mit dem Kinn auf die Frauen, die vor anderen Statuen und Altären knieten.
Hooks Gefühl sagte ihm, er solle nicht mit dem Mann sprechen, doch der Priester hatte ein freundliches Gesicht und eine sanfte Stimme. «Ich bete einfach bloß», gab er mürrisch zurück.
«Betest du für dich selbst?»
«Ja», gab Hook zu. Er betete, damit Gott ihm vergab und den Fluch von ihm nahm, der nach Hooks Überzeugung sein Leben zerstörte.
«Dann erbitte etwas für jemand anders», lautete der gütige Rat des Priesters. «Gott erhört solche Gebete bereitwilliger, glaube ich, und wenn du für jemand anders betest, dann wird Er deine eigene Bitte ebenfalls erfüllen.» Lächelnd erhob er sich und berührte Hook leicht an der Schulter. «Und bete zu unseren Heiligen, Crispin und Crispinian. Ich vermute, sie sind weniger beschäftigt als die Heilige Jungfrau. Gott behüte dich, Engländer.»
Der Priester ging davon, und Hook beschloss, seinem Rat zu folgen und wieder zu den beiden Ortsheiligen zu beten.
Also ging er zu einem Altar unter einem Gemälde von den beiden Märtyrern und betete für die Seele Sarahs, deren Leben er in London nicht retten konnte. Während er betete, sah er zu dem Bild hinauf. Die beiden Heiligen standen in einem grünen Feld, das mit goldenen Sternen übersät war, auf einem Hügel hoch über einer Stadt mit weißen Mauern. Sie blickten ernst und ein wenig traurig auf Hook nieder. Sie trugen weiße Gewänder, und Crispin stützte sich auf einen Hirtenstab, während Crispinian einen Weidenkorb mit Äpfeln und Birnen in der Hand hielt. Ihre Namen waren unter die Gestalten geschrieben, und Hook, auch wenn er nicht lesen konnte, wusste, welcher Heilige welcher war, weil einer der Namen länger war als der andere. Crispinian war der Freundlichere von beiden. Er hatte ein runderes Gesicht mit blauen Augen und einem angedeuteten Lächeln von großer Güte, während Crispin wesentlich strenger wirkte und sich halb von dem Betrachter abgewandt hatte, so als habe er keine Zeit und sei gerade dabei, den Hügel hinunter in die Stadt zu gehen. Und so gewöhnte sich Hook an, allmorgendlich zu Crispinian zu beten, auch wenn er Crispin dabei nie vergaß. Jedes Mal, wenn er betete, warf er zwei Pennys in den Kupfertopf.
«Man sollte nicht meinen», sagte John Wilkinson eines Abends, «dass du einer bist, der beten geht.»
«Das habe ich auch nie getan», sagte Hook, «bis jetzt.»
«Angst um dein Seelenheil?», fragte der alte Bogenschütze.
Hook zögerte. Er befestigte eine Pfeilbefiederung mit der Seide, die Wilkinson vom Altar der Kathedrale gestohlen hatte. «Ich habe eine Stimme gehört», brachte Hook mit einem Mal heraus.
«Eine Stimme?», fragte Wilkinson. Hook schwieg. «Gottes Stimme?», fragte der Alte nach.
«Es war in London», sagte Hook.
Er kam sich närrisch vor bei diesem Geständnis, doch Wilkinson nahm ihn ernst. Er starrte Hook lange an, dann nickte er unvermittelt. «Du bist ein glücklicher Mann, Nicholas Hook.»
«Bin ich das?»
«Wenn Gott zu dir gesprochen hat, dann muss Er eine Aufgabe für dich haben. Das bedeutet, dass du diese Belagerung überleben könntest.»
«Wenn es wirklich Gott war, der zu mir gesprochen hat», gab Hook verlegen zurück.
«Warum sollte Er es nicht getan haben? Er muss zu den Menschen sprechen, weil die Kirche Seinem Wort nicht folgt.»
«Tut sie das nicht?»
Wilkinson spuckte aus. «Der Kirche, mein Junge, geht es um Geld. Nur um Geld. Die Priester sollten Hirten sein, nicht wahr? Sie sollten sich um die Herde kümmern, aber sie sitzen alle nur in den Herrenhäusern, stopfen sich mit Leckereien voll und überlassen ihre Schäfchen sich selbst.» Er deutete mit dem Pfeil, an dem er gerade arbeitete, auf Hook. «Und wenn die Franzosen in die Stadt einbrechen, Hook, dann geh nicht zur Antoine-Le-Petit! Geh zur Festung.»
«Sir Roger ...», setzte Hook an.
«Will unseren Tod!», sagte Wilkinson voller Wut.
«Warum sollte er das wollen?»
«Weil er kein Geld, aber einen Buckel voller Schulden hat, Junge, also ist er für jeden Mann mit einem wohlgefüllten Beutel käuflich. Außerdem ist er kein richtiger Engländer. Seine Familie ist mit den Normannen nach England gekommen, und er hasst dich und mich, weil wir Sachsen sind und weil er bis zum Hals voll normannischem Dreck steckt. Du gehst zur Festung, hörst du, Junge? Merk dir das.»
Die nächsten Nächte waren stockdunkel und die Sichel des abnehmenden Mondes blitzte wie die schmale Klinge eines Halsabschneiders. Seigneur de Bournonville fürchtete einen nächtlichen Angriff und ließ Hunde im Brachland bei den niedergebrannten Häusern anketten. Wenn die Hunde anschlugen, sagte er, sollte die Alarmglocke am Westtor geläutet werden. Und die Hunde schlugen an, und die Glocke wurde geläutet, doch kein Franzose griff die Bresche in der Stadtmauer an. Stattdessen katapultierten die Belagerer, als das erste Morgengrauen über dem Fluss schimmerte, die Hundekadaver in die Stadt. Sie hatten die Tiere kastriert und ihnen die Kehlen aufgeschlitzt, um den trotzigen Verteidigern zu zeigen, welches Schicksal sie erwartete.
Das Fest von Sankt Abdus ging vorüber, und keine Hilfstruppen waren erschienen, und dann kam und ging das Fest von Sankt Possidius, und am nächsten Tag war das Fest der sieben heiligen Jungfrauen, und Hook betete zu jeder einzelnen von ihnen, und als der nächste Tag anbrach, sandte er eine Bitte zu Sankt Dustan, denn es war der Festtag dieses Engländers, und am Tag darauf betete er zu Sankt Ethelbert, der einst in England König gewesen war, und die ganze Zeit hindurch betete er auch zu Crispinian und Crispin, bat um ihren Schutz. Am nächsten Tag, zum Fest von Sankt Hospitius, erhielt er seine Antwort.
An diesem Tag nämlich griffen die Franzosen, die zu ihrem Sankt Denis gebetet hatten, Soissons an.
*
***
*****
***
*
Das Erste, was Hook von dem Angriff mitbekam, war das aufgeregte, wilde Durcheinander der Kirchenglocken.
Es war dunkel, und einen Moment lang war er vollkommen verwirrt. Er schlief auf einer Strohschütte hinten in John Wilkinsons Werkstatt und wachte zu lodernden Flammen auf, weil der alte Mann Holz in die Kohlenpfanne geworfen hatte, um für Licht zu sorgen. «Lieg nicht nun wie eine trächtige Sau, Junge», sagte Wilkonson. «Sie sind da.»
«Heilige Maria Muttergottes!» Wie Eiswasser schwappte der Schrecken durch Hooks Glieder.
«Ich ahne, dass sie uns jetzt nicht helfen wird», sagte Wilkinson. Er zog sein Kettenhemd über und musste kämpfen, um das schwere Gliedertuch über seinen Kopf zu ziehen. «An der Tür steht eine Pfeiltasche», fuhr er fort, die Stimme durch das Hemd gedämpft, «lauter kerzengerade Pfeile. Die habe ich für dich aufgehoben. Los, Junge, bring ein paar von den Bastarden um.»
«Was ist mit Euch?», fragte Hook. Er zog seine Stiefel an. Es waren neue Stiefel von einem guten Schuster in Soissons.
«Ich hole dich ein! Spann deinen Bogen, Junge, und geh los!»
Hook legte seinen Schwertgürtel an, bespannte seinen Bogen, griff sich seine Pfeiltasche, nahm auch die zweite neben der Tür und rannte in den Hof des Gasthauses. Er hörte Rufe und Schreie, doch von wo sie kamen, konnte er nicht ausmachen. Bogenschützen eilten durch den Hof, und er folgte ihnen, ohne nachzudenken, zu der neuen Befestigung hinter der Bresche. Die Kirchenglocken erfüllten den Nachthimmel mit dröhnenden Schlägen. Hunde bellten und jaulten in der Dunkelheit.
Hook besaß keine Rüstung bis auf einen alten Helm, den ihm Wilkinson gegeben hatte und der auf seinem Kopf saß wie eine umgedrehte Schüssel. Er trug eine gepolsterte Jacke, die vielleicht einen leichten Schwerthieb mildern konnte, doch das war auch schon alles. Andere Bogenschützen hatten kurze Kettenhemden und gut sitzende Helme, und darüber trugen sie alle den burgundischen Wappenrock mit dem gezackten roten Kreuz. Hook sah, wie sie an der neuen Befestigung Aufstellung nahmen. Sie bestand aus übereinandergestapelten Weidenkörben, die mit Erde gefüllt waren. Keiner der Bogenschützen hatte die Sehne gespannt, stattdessen schauten sie gebannt in Richtung der Bresche, wo es plötzlich hell wurde, als burgundische Bewaffnete Pechfackeln in die Lücke warfen.
Etwa fünfzig Kämpfer standen an der neuen Befestigung, doch in der Bresche erschien kein einziger Feind. Dennoch läuteten die Glocken mit aller Macht weiter. Hook drehte sich um und entdeckte über den Dächern im Süden der Stadt einen Schimmer, einen Schimmer, der grell über den Turm der Kathedrale zuckte und bewies, dass irgendwo in der Nähe des Pariser Tores Gebäude in Flammen standen. Griffen die Franzosen dort an? Den Befehl am Pariser Tor führte Sir Roger Pallaire, und es wurde von englischen Truppen verteidigt. Hook fragte sich nicht zum ersten Mal, warum Sir Roger die englischen Bogenschützen nicht in diese Verteidigungsgruppe aufgenommen hatte.
Stattdessen warteten die Bogenschützen an der Bresche im Westen, in der immer noch kein Feind auftauchte. Smithson, der Centenar, war unruhig. Immerzu befingerte er die schwere Silberkette, die seinen Rang bezeichnete, und sah abwechselnd zu dem Widerschein des Feuers im Süden und dann wieder zur Bresche hinüber. «Teufelsschiss», sagte er zu niemandem im Besonderen.
«Was geht da vor?», fragte einer der Bogenschützen.
«Woher soll ich das wissen, verdammt?», knurrte Smithson.
«Ich glaube, sie sind schon in der Stadt», sagte John Wilkinson gelassen. Er hatte ein Dutzend Bündel zusätzlicher Pfeile mitgebracht, die er nun hinter den Bogenschützen auf den Boden fallen ließ. Schreie klangen aus dem Inneren der Stadt zu ihnen, und ein Trupp burgundischer Armbrustschützen rannte an Hook vorbei. Sie verließen die Bresche, um am Pariser Tor zu kämpfen. Ein paar Feldkämpfer folgten ihnen.
«Wenn sie in der Stadt sind», sagte Smithson unsicher, «dann sollten wir in die Kirche gehen.»
«Nicht in die Festung?», fragte ein Mann drängend.
«Ich denke, wir gehen in die Kirche», sagte Smithson, «wie es Sir Roger gesagt hat. Er ist adlig, oder nicht? Er muss wissen, was er tut.»
«Genau, und der Papst legt Eier», bemerkte Wilkinson dazu.
«Jetzt?», fragte ein Mann. «Gehen wir jetzt gleich?» Doch Smithson antwortete nicht. Er zupfte nur an seiner Silberkette und ließ seinen Blick von rechts nach links wandern.
Hook starrte unverwandt die Bresche an. Sein Herz schlug wie rasend, sein Atem ging flach, und sein rechtes Bein zitterte. «Gott», betete er, «lieber Jesus, beschütze mich.» Doch er fand keinen Trost in dem Gebet. Alles, woran er denken konnte, war, dass der Feind es nach Soissons hereingeschafft hatte, oder Soissons angriff, und dass er nicht wusste, was vor sich ging. Er fühlte sich hilflos und verletzlich. Der Klang der Kirchenglocken hallte unablässig in seinem Kopf und brachte ihn ganz durcheinander. Die breite Bresche in der
Stadtmauer war bis auf das letzte Licht der abbrennenden Fackeln dunkel, doch dann sah Hook andere Lichter, die sich dort bewegten. Gleitende, silbergraue Lichter, Lichter wie Rauch im Mondlicht oder wie die Geister, die am Vorabend von Allerheiligen auf die Erde kamen. Sie waren schön; hauchdünn und durchscheinend wanderten sie durch die Dunkelheit. Er blickte unverwandt hin, fragte sich, woraus diese schimmernden Umrisse bestanden, und dann verwandelten sich die silbergrauen Schemen in rote, und ihm wurde mit einem Schreck bewusst, dass die wandernden Formen Männer waren. Er sah das Licht der ausgehenden Fackeln, das sich auf ihren Rüstungen spiegelte. «Sergeant!», rief er.
«Was ist?», schnappte Smithson.
«Die Bastarde sind da!», schrie Hook.
Und so war es.
Die Bastarde kamen durch die Bresche in der Stadtmauer. Ihre Metallpanzer waren spiegelnd blank gescheuert, sodass sie das Licht zurückwarfen, und sie rückten unter einem blauen Banner vor, auf dem goldene Lilien blühten. Ihre Visiere waren geschlossen, und ihre langen Schwerter blitzten im Fackelschein. Sie wirkten nicht länger durchscheinend, sondern wie Männer aus brennendem Metall, Phantome aus einem Höllentraum, der Tod, der durch die Dunkelheit nach Soissons kam. Hook konnte sie nicht zählen, so viele waren es.
«Oh, gottverdammt», sagte Smithson entsetzt. «Haltet sie auf!»
Hook tat, was ihm befohlen wurde. Er trat hinter die Befestigung, zog einen Pfeil aus der Leinentasche und legte ihn auf den Schaft seines Bogens. Seine Angst war mit einem Mal verschwunden, oder vielleicht war sie auch nur verdrängt worden von der sicheren Gewissheit, was getan werden musste. Hook musste die Bogensehne spannen.
Die meisten erwachsenen Männer auf dem Höhepunkt ihrer Kräfte waren nicht in der Lage, die Sehne eines Kriegsbogens bis zu ihrem Ohr zurückzuziehen. Die meisten Kämpfer, Feldkämpfer, auch wenn sie vom Krieg und durch ständige Übung am Schwert gestählt waren, konnten die Hanfsehne nur halb so weit spannen, doch bei Hook wirkte es völlig mühelos. Sein Arm zuckte zurück, seine Augen suchten nach einem Ziel für die helle Pfeilspitze, und es kostete ihn keinen weiteren Gedanken, den Pfeil abschnellen zu lassen. Er griff schon nach dem zweiten Pfeil, während der erste, eine Ahlspitze mit schwerem Schaft, einen Brustpanzer aus schimmerndem Stahl durchschlug und den Mann gegen den französischen Standartenträger taumeln ließ.
Und erneut ließ Hook einen Pfeil abschnellen, ohne zu denken, nur erfüllt von dem Befehl, diesen Angriff zurückzuschlagen. Er schoss Pfeil auf Pfeil ab. Er zog die Sehne zu seinem rechten Ohr und war sich der winzigen Bewegungen seiner linken Hand nicht bewusst, mit denen er die weißbefiederten Pfeile zu ihrem kurzen Flug ins Ziel ausrichtete. Er war sich des Todes nicht bewusst, den er brachte, oder der Verletzungen oder der Pfeile, die wirkungslos an einer Rüstung abglitten. Die meisten aber waren nicht wirkungslos. Die schmalköpfigen Ahlspitzen-Pfeile bohrten sich auf diese kurze Entfernung mühelos durch die dünnen Rüstungen, und Hook hatte mehr Kraft als die meisten anderen Bogenschützen, die mehr Kraft als die meisten anderen Männer hatten, und sein Bogen war schwer. John Wilkinson hatte bei seiner ersten Begegnung mit Hook versucht, den Bogen des jüngeren Mannes zu spannen, und war mit der Sehne nur bis zu seinem Kinn gekommen. Er hatte Hook einen anerkennenden Blick zugeworfen, und jetzt schickte dieser lange Bogen mit dem schweren Schaft aus dem Stamm einer Eibe, die im fernen Savoyen gewachsen war, den Tod durch die glockendröhnende Dunkelheit. Hook aber sah nur den Feind, der durch die Bresche kam, in der flackernd die Fackeln brannten, er bemerkte die Massen von Männern nicht, die beidseits der Bresche über die Stadtmauer fluteten und schon versuchten, die Befestigung aus Weidenkörben niederzureißen. Dann stürzte ein Teil dieser Befestigung zusammen, und als Hook bei dem Geräusch herumfuhr, erkannte er, dass er der einzige Bogenschütze an der Befestigung war. Durch die Bresche, ungeachtet der Toten, die dort lagen, und der Verwundeten, die dort auf dem Boden krochen, stürmten immer mehr brüllende Männer. Die Nacht war erhellt vom Fackellicht, flammend rot, raucherfüllt, und hallte von Kriegsrufen wider. Da wurde Hook bewusst, dass ihm John Wilkinson zugerufen hatte, er solle weglaufen, doch im Eifer des Gefechts war dieser Ruf nicht bis zu seinem Verstand vorgedrungen.
Jetzt aber verstand er. Hook ergriff seine Pfeiltasche und rannte los.
Männer brüllten hinter ihm, als die Befestigung aus Weidenkörben endgültig einstürzte, und die Franzosen schwärmten über ihre Reste in die Stadt.
Plötzlich verstand Hook, wie sich der Hirsch fühlt, wenn die Hunde in jedem Gebüsch stöbern und die Männer durchs Unterholz streifen und die Pfeile durchs Blätterdach schlagen. Er hatte sich oft gefragt, ob ein Tier wusste, was der Tod war. Sie kannten die Angst, und sie kannten den Widerstand, doch kannten sie die überwältigende Panik? Wussten sie, dass die letzten Augenblicke des Lebens gekommen waren, wenn sich die Jäger nähern und das Herz rast und der Verstand nicht aus noch ein weiß? Diese Panik empfand Hook jetzt und rannte. Zuerst lief er einfach nur fort. Die Glocken dröhnten immer noch, Hunde bellten, Männer brüllten Kriegsrufe, und Hörner wurden geblasen. Er rannte auf einen kleinen Platz, ein Geviert, auf dem gewöhnlich die Lederhändler ihre Häute anboten und der still und verlassen dalag, doch dann hörte er das Geräusch einer Armbrust, die ausgelöst wurde, und begriff, dass sich die Leute hinter verrammelten Türen in ihren Häusern versteckten. Polternder Lärm verriet, wo Soldaten diese verrammelten Türen eintraten. Geh zur Festung, dachte er und rannte in die Richtung, doch als er um eine Ecke kam, sah er, wie sich auf dem weiten Platz vor der Kathedrale Männer drängten, deren unbekannte Wappenröcke von den Fackeln beleuchtet wurden, die sie trugen, und er zog sich wieder zurück wie ein Hirsch, der vor den Hunden Deckung sucht. Hook beschloss, zur Kirche von Saint-Antoine-Le-Petit zu gehen, und rannte eine Gasse hinunter, bog in eine andere ab, lief über den ungeschützten Platz vor dem größten Nonnenkloster der Stadt, dann wandte er sich zu der Straße, in der das Wirtshaus Oie lag. Dort sah er noch mehr Männer in fremden Uniformen, und diese Männer versperrten ihm den Weg zur Kirche. Sie entdeckten ihn, Rufe wurden laut, und die Rufe verwandelten sich in triumphierendes Gebrüll, während sie auf ihn zustürmten, und Hook, verzweifelt wie ein todgeweihtes Tier, lief in eine Gasse, kletterte auf die Mauer, mit der die Gasse plötzlich endete, sprang auf der anderen Seite in einen kleinen, nach Jauche stinkenden Hof, stieg über eine zweite Mauer, und dort, während von allen Seiten Rufe zu ihm drangen und er vor Angst zitterte, sank er in einer dunklen Ecke zusammen und erwartete sein Ende.
Ein gehetzter Hirsch verhielt sich ebenso. Wenn er keinen Ausweg sah, erstarrte er und wartete bebend auf den Tod, dessen unausweichliches Kommen er spürte. Und jetzt zitterte Hook. Besser, du bringst dich selber um, hatte John Wilkinson gesagt, als dich von den Franzosen schnappen zu lassen. Also tastete Hook nach seinem Messer, doch er konnte es nicht ziehen. Er konnte sich nicht umbringen, und so wartete er darauf, dass man ihn umbrachte.
Dann wurde ihm bewusst, dass seine Verfolger die Jagd offenbar aufgegeben hatten. Es gab in Soissons so viel Beute zu machen und so viele Menschen zu töten, dass sie sich um einen einzelnen Flüchtigen nicht allzu sehr mühten. Hook, der allmählich wieder klarer denken konnte, stellte fest, dass er für den Moment eine Zuflucht gefunden hatte. Er war in einen der Hinterhöfe der Oie geraten, in dem Bierfässer ausgewaschen und instand gesetzt wurden. Plötzlich wurde eine rückwärtige Tür des Gasthauses geöffnet, und eine lodernde Fackel beleuchtete die Arbeitsböcke und Dauben und Fässer. Ein Mann ließ seinen Blick durch den Hof schweifen, machte eine gelangweilte Bemerkung und ging ins Gasthaus zurück, in dem eine Frau aufschrie.
Hook blieb, wo er war. Er wagte nicht, sich zu rühren. Durch die Stadt hallten nun Frauenschreie, heiseres Männerlachen und das Weinen von Kindern. Eine Katze strich an ihm vorbei. Die Kirchenglocken läuteten schon lange nicht mehr. Er wusste, dass er nicht bleiben konnte, wo er war. In der Morgendämmerung würde man ihn entdecken. O Gott, o Gott, o Gott, betete er, ohne zu wissen, dass er betete. Bleibe bei mir, jetzt und in der Stunde meines Todes. Er zitterte. Hufgeklapper drang von der anderen Seite der Hofmauer zu ihm, ein Mann lachte. Eine Frau wimmerte. Wolken jagten am Mond vorbei. Aus irgendeinem Grund dachte Hook an die Dachse auf dem Beggar's Hill, und dieser Gedanke an zu Hause beruhigte ihn.
Er stand auf. Würde er es vielleicht schaffen, die Kirche zu erreichen? Sie war näher als die Festung, und Sir Roger hatte versprochen, sich für das Leben der Bogenschützen einzusetzen, und selbst wenn diese Hoffnung gering war, fiel Hook nichts Besseres ein. Also zog er sich an der Hofmauer hoch und spähte auf die andere Seite. Nebenan lagen die Stallungen der Oie. Kein Geräusch drang von dort herüber, also stieg er auf die Mauer. Von dort aus konnte er auf das Dach des Stalles klettern, das unter seinem Gewicht leicht nachgab, doch er rutschte weiter bis zum First, schob sich nach vorn, bis er den anderen Giebel erreicht hatte, und ließ sich in die dunkle Gasse hinab. Er bewegte sich leise und langsam, bis er einen Blick um die Ecke der Gasse auf die Kirche werfen konnte.
Er erkannte, dass es hier keinen Ausweg gab.
Die Kirche von Saint-Antoine-Le-Petit wurde vom Feind bewacht. Auf dem Platz vor dem Kirchenportal waren mehr als dreißig Bewaffnete und ein Dutzend Armbrustschützen, alle in Wappenröcken, die Hook noch nie gesehen hatte. Wenn Smithson und die Bogenschützen in der Kirche waren, dann waren sie für den Moment in Sicherheit, denn sie konnten die Kirchentür verteidigen, doch es war Hook klar, dass der Feind dort stand, um die Bogenschützen an der Flucht aus der Kirche zu hindern. Ebenso würden sie jeden Bogenschützen daran hindern, sich der Kirche zu nähern. Er überlegte, ob er versuchen sollte, zum Portal zu laufen, doch dann wurde ihm bewusst, dass die Tür vermutlich versperrt war und er, während er dagegen hämmerte, von den Armbrustschützen als Zielscheibe benutzt werden würde.
Der Feind bewachte nicht nur einfach die Kirche. Die Männer hatten Fässer aus einem Wirtshaus geholt und tranken, und sie hatten zwei Mädchen bis auf die Haut ausgezogen und sie mit gespreizten Beinen über die Fässer gebunden, und jetzt zogen die Männer der Reihe nach ihre Kettenhemden hoch und taten den Mädchen Gewalt an. Sie gaben längst keinen Laut mehr von sich, als hätten sie keine Stimme und keine Tränen mehr. Überall in der Stadt schrien Frauen, und ihre Schreie trafen Hooks Gewissen wie eine Pfeilspitze, die über Schiefer kratzt, und vielleicht war das der Grund dafür, dass er sich nicht bewegte, sondern an der Ecke stehenblieb wie ein Tier, das keine Zuflucht hat. Hook fragte sich, ob die Mädchen tot waren, so still lagen sie, doch dann drehte das eine den Kopf, und Hook dachte an Sarah und zuckte schuldbewusst zusammen. Das Mädchen war kaum älter als zwölf oder dreizehn Jahre und starrte abwesend ins Dunkel, während der Mann auf ihr grunzend in sie stieß.
Dann öffnete sich eine Tür zur Gasse, und ein Lichtstrom ergoss sich über Hook. Als er sich umwandte, sah er einen Feldkämpfer in den Schlamm stolpern. Der Mann trug einen Wappenrock mit einer silbernen Weizengarbe auf einem grünen Feld. Er fiel auf die Knie und übergab sich, während ein zweiter Mann in der gleichen Uniform zur Tür kam und lachte. Es war dieser zweite Mann, der Hook bemerkte und den langen Kriegsbogen erkannte. Sofort legte er seine Hand auf den Schwertgriff.
Hook reagierte in panischem Schrecken. Er rammte den Bogen gegen den Mann mit dem Schwert. Durch seinen Kopf fuhr ein lautloser Schrei, und er war unfähig zu denken, doch in dem Stoß lag all seine Kraft als Bogenschütze, und die hornverstärkte Kerbe der Bogenspitze bohrte sich in die Kehle des Bewaffneten, noch bevor dieser sein Schwert auch nur halb gezogen hatte. Schwarz spritzte das Blut hervor, und Hook drückte weiter, sodass der Bogen durch Luftröhre und Muskeln, Sehnen und Haut drang, bis er am Türpfosten entlangschabte. Der kniende Mann brüllte, spie dabei Erbrochenes und versuchte Hook zu greifen, der einen hohen, verzweifelten Laut ausstieß, als er den Bogen losließ und sich mit bloßen Händen auf seinen neuen Angreifer stürzte. Er fühlte, wie seine Finger Augäpfel zerdrückten, und der Mann begann zu schreien, und vage wurde Hook bewusst, dass die Vergewaltiger auf ihn zuliefen, und er stolperte durch die Tür, fiel dabei fast über den Mann, der auf dem Boden lag, und versuchte, ihm den Bogen aus der Kehle zu ziehen. Dann rannte Hook durch den Raum, stürmte durch eine weitere Tür, einen Flur hinunter, durch eine dritte Tür, war in einem Hof, noch immer konnte er nichts denken, und er stieg über eine Mauer, über eine zweite Mauer, und hinter ihm waren
Schreie, und überall waren Schreie, und er bestand nur noch aus blankem Entsetzen. Er hatte seinen großen Eibenbogen verloren, und er hatte die Pfeiltasche fallen lassen. Er trug nur noch das Schwert, das zur Ausrüstung jedes Bogenschützen gehörte. Er hatte es nie zuvor benutzt. Er trug immer noch den verschmutzten Wappenrock mit dem gezackten roten Kreuz der Burgunder, und er begann daran zu zerren, um das verräterische Zeichen loszuwerden, während er verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit suchte, nach irgendeiner Fluchtmöglichkeit. Dann kletterte er über eine Steinmauer in eine Gasse, deren Schatten von den überhängenden oberen Stockwerken der Häuser vertieft wurden, sah in all der Dunkelheit eine offene Tür und rannte darauf zu.
Die Tür führte zu einem großen Raum, in dem flackernder Laternenschein auf einen toten Mann fiel, der auf einer gepolsterten Holzbank lag. Das Blut des Mannes war auf die Steinplatten gelaufen, mit denen der Fußboden ausgelegt war. Eine Tapisserie hing an der Wand, es gab ein paar Schränke und einen langen Tisch mit einem Abakus und Pergamentblättern, die auf einen Dorn gespießt waren. Hook vermutete, dass der tote Mann ein Händler gewesen war. In einer Ecke führte eine Leiter in ein oberes Stockwerk. Hook stieg schnell hinauf und fand sich in einem verputzten Zimmer wieder, in dem ein Holzbett mit einer Strohmatratze und Wolldecken stand. Eine zweite Leiter führte zum Speicher, und er kletterte hinauf, zog die Leiter hoch und verfluchte sich selbst, weil er nicht das Gleiche mit der ersten Leiter getan hatte. Jetzt war es zu spät. Er wagte es nicht, noch einmal ins Haus hinunterzusteigen, und so kauerte er sich in den Fledermauskot unter dem Strohdach. Er zitterte immer noch. Männerrufe klangen aus dem Haus zu ihm empor, und eine Zeitlang glaubte er, er würde entdeckt werden, denn jemand stieg in das Zimmer mit dem Bett, doch der Mann sah sich nur kurz um und verließ den Raum wieder, und die anderen Verfolger gaben auf oder fanden andere Opfer, denn nach einer Weile verklangen ihre aufgeregten Rufe. Das Schreien jedoch hielt an, es wurde sogar lauter, und es schien Hook, als schrie eine ganze Gruppe Frauen direkt vor dem Haus. Er zuckte zusammen. Er dachte an Sarah aus London, an Sir Martin den Priester und an die Männer, die gelangweilt ihre beiden stummen Opfer geschändet hatten.
Das Schreien verwandelte sich in Schluchzen, unterbrochen nur von Männergelächter. Hook zitterte, nicht vor Kälte, sondern vor Angst und Schuldgefühlen, und dann zog er sich wieder tief in die kleine Nische unter den schrägen Dachbalken zurück, denn plötzlich erhellte eine Laterne das Zimmer unter ihm. Das Licht blitzte zwischen den Bodenbrettern des Speichers hindurch, die lose über rohen Balken verlegt waren. Ein Mann war in den Raum gestiegen und rief den Männern unten etwas zu, und dann war das Weinen einer Frau zu hören und das klatschende Geräusch einer Ohrfeige.
«Du bist eine richtige kleine Schönheit», sagte der Mann, und Hook war zu verängstigt, um wahrzunehmen, dass der Mann englisch sprach.
«Non», wimmerte die Frau.
«Viel zu hübsch zum Teilen. Du gehörst mir allein, mein Mädchen.»
Hook spähte durch einen Spalt der Bodendielen. Er sah einen Helm mit breitem Rand, der halb über die Schultern des Mannes ragte, und dann sah er, dass die Frau eine Nonne in einem weißen Gewand war, die sich in eine Ecke des Zimmers gekauert hatte. «Jesus», weinte sie, «Marie, mere de Dieu!» Und das letzte Wort endete in einem Schrei, denn der Mann zog ein Messer. «Non!», rief sie. «Non! Non! Non!» Er schlug sie hart ins Gesicht, um sie zum Schweigen zu bringen, und zog sie vom Boden hoch. Er legte das Messer an ihren Hals und riss es dann abwärts, sodass es ihre Tracht vorne aufschlitzte. Er grub die Klinge tiefer in den Stoff und zerrte ihr trotz aller Gegenwehr das weiße Gewand vom Körper, und dann zerschnitt er ihre Unterkleidung. Er warf ihre zerfetzten Sachen ins Erdgeschoss hinunter und stieß die nackte Frau auf die Strohmatratze, wo sie sich schluchzend zu einer Kugel zusammenrollte.
«Oh, ich bin sicher, dass Gott an diesem Tagwerk allergrößte Freude hatte!», sagte die Stimme, doch es war nichts zu hören, denn sie erklang nur in Hooks Kopf. Es waren die Worte, die John Wilkinson in der Kathedrale zu Hook gesagt hatte, aber die Stimme gehörte nicht dem alten Bogenschützen. Es war eine wohltönendere, tiefere Stimme voller Wärme, und mit einem Mal hatte Hook die Vision eines Mannes in weißen Gewändern vor sich, der lächelnd einen Korb voller Birnen und Äpfel trug. Es war Crispinian, der Heilige, an den er in Soissons die meisten seiner Gebete gerichtet hatte, und jetzt wurden diese Gebete in Hooks Kopf beantwortet, und Crispinian blickte ihn betrübt an, und Hook begriff, dass der Himmel ihm eine Gelegenheit bot, seinen Fehler wiedergutzumachen. Die Nonne in dem Zimmer hatte die Muttergottes angefleht, und die Jungfrau musste mit den Heiligen von Soissons gesprochen haben, die nun zu Hook sprachen. Doch Hook fürchtete sich. Er hörte wieder Stimmen. Er wusste es nicht, aber er kniete. Und das war kein Wunder. Schließlich sprach Gott durch Sankt Crispinian zu ihm.
Nicholas Hook, Geächteter und Bogenschütze, wusste nicht, was er tun sollte, als Gott zu ihm sprach. Er war vor lauter Entsetzen vollkommen erstarrt.
Der Mann im Raum unter ihm warf seinen Helm auf den Boden. Er löste seinen Schwertgürtel und ließ ihn neben sich fallen, dann knurrte er dem Mädchen etwas zu, bevor er sich sein Kettenhemd und den darüberhängenden Wappenrock über den Kopf zog. Hook erkannte durch die Lücke in den Bodenbrettern das Wappen von Sir Roger - drei Habichte auf dem grünen Feld. Was hatte dieses Wappen hier verloren? Es waren die siegreichen Belagerer, nicht die geschlagenen Besatzer, die raubend und plündernd durch die Stadt zogen. Und dennoch - die drei Habichte waren unverkennbar Sir Rogers Wappen.
«Los», sagte Sankt Crispinian.
Hook rührte sich nicht.
«Los!», schnauzte Sankt Crispin in Hooks Kopf. Sankt Crispin war nicht so freundlich wie Crispinian, und Hook zuckte zusammen, als der Heilige ihn anknurrte.
Der Mann, von dem Hook nicht sicher war, ob es sich um Sir Roger selbst oder um einen aus seiner Mannschaft handelte, kämpfte mit dem schweren, ledergefütterten Kettenhemd, das er sich halb über den Kopf gezogen hatte, sodass seine Arme gefangen waren.
«Für Gott!», bat Crispinian mit dringlicher Stimme.
«Tu's einfach, Junge», sagte Crispin barsch.
«Rette deine Seele, Nicholas», kam es sanftmütig von Crispinian.
Und Hook rettete seine Seele.
Er ließ sich durch die Luke im Speicherboden fallen. Er vergaß sein Schwert und zog stattdessen das Messer mit der kräftigen Klinge, mit dem er früher Hirsche ausgeweidet hatte. Er kam direkt hinter dem Mann auf. Der konnte nichts sehen, weil er das Kettenhemd über dem Kopf hatte, doch er hörte den Aufprall und drehte sich mitten in Hooks Klinge hinein um, sodass sie seinen Bauch aufschlitzte. Hook weidete den Mann aus. Die ganze Kraft seines rechten Bogenschützenarms lag in dem Messerhieb, und die Klinge drang tief in den Körper ein. Die Därme glitten aus der Öffnung wie nasse Aale aus einem Sack. Den Schrei des Mannes dämpfte das schwere Hemd, in dem sein Kopf steckte, und er schrie erneut, als ihn eine weiterer Messerhieb traf, ein aufwärtsgerichteter dieses Mal, denn Hook trieb die Klinge tief in den zerfetzten Rumpf des Mannes, um unter den Rippenbögen sein Herz zu durchbohren.
Der Mann stolperte rücklings auf das Bett und war schon tot, bevor sein Körper auf die Strohmatratze traf.
Und Hook, den rechten Arm bis zum Ellbogen bluttriefend, starrte auf sein Opfer hinunter.
Später wurde ihm klar, dass ihm die Matratze das Leben gerettet hatte, denn sie sog das Blut seines Opfers auf, das sonst durch die Bodenbretter getropft wäre und die Männer im unteren Zimmer alarmiert hätte. Es waren zwei dort unten, und beide trugen das Wappen Sir Rogers, doch Hook erkannte, während er zitternd vor Furcht über seinem Opfer stand, dass der Wappenrock des Toten aus feingewebtem Leinen bestand, viel feiner als das Tuch gewöhnlicher Wappenröcke. Er bewegte sich von der Luke im Boden weg. Unten plünderten die beiden Männer einen Vorratsschrank und hatten nicht bemerkt, dass über ihren Köpfen gerade einer von ihnen getötet worden war.
Das Kettenhemd des toten Mannes war eng geknüpft, glänzend poliert und mit Schnallen zur Befestigung von Rüstungsteilen besetzt. Hook ging in die Hocke, zog dem Toten das Kettenhemd über den Kopf und sah, dass er Sir Roger Pallaire getötet hatte. Sir Roger, angeblich aufsehen der Burgunder, war am Leben gelassen worden, um rauben und vergewaltigen zu können, was bedeutete, dass er heimlich mit den Franzosen verbündet gewesen war. Während Hook diesen unglaublichen Verrat noch zu fassen versuchte, starrte ihn das nackte Mädchen mit weit aufgerissenen Augen an. Sie schien außer sich vor Schrecken, und Hook befürchtete, dass sie anfangen würde zu schreien. Also legte er den Zeigefinger auf seine Lippen, doch sie schüttelte den Kopf und begann, leise, verzweifelte Töne auszustoßen, halb war es Stöhnen, halb Keuchen. Hook runzelte zuerst böse die Stirn, doch dann verstand er, dass Stille verdächtiger wäre als Laute der Qual. Das war klug von ihr, dachte Hook. Er nickte ihr zu und schnitt den blutgetränkten Beutel von Sir Rogers Gürtel. Dann zog er Sir Rogers Wappenrock vom Kettenhemd herunter und warf ihn zusammen mit dem Beutel in den Speicher hinauf. Er griff über sich und fasste nach einem der Balken. Er zog sich nach oben und streckte dem Mädchen seinen rechten Arm entgegen.
Doch die junge Frau wandte sich ab, und Hook zischte ihr zu, sie solle mit ihm kommen. Aber das Mädchen hatte etwas anderes im Sinn: Es spuckte Sir Rogers Leiche einmal an, und dann noch ein zweites Mal, bevor es Hook seine Hand reichte. Er zog es mit derselben Leichtigkeit zu sich hinauf, mit der er die Bogensehne spannte. Er deutete zu dem Wappenrock und dem Beutel hinüber, und die Nonne raffte beides zusammen, bevor sie ihm durch den Speicher folgte. Hook drückte die dünne Flechtwand ein, die den Speicher von dem des Nachbarhauses trennte, und sie stiegen durch die Öffnung hinüber. Der Schein der Laterne erreichte sie schon lange nicht mehr, und Hook tastete sich vorsichtig weiter. Er ging bis zum Ende der Speicherreihe und war nun drei Häuser von dem Haus entfernt, in dem er Sir Roger getötet hatte. Er winkte das Mädchen zu sich und bedeutete ihm, sich an die Giebelwand zu setzen. Und dann, langsam und so leise wie möglich, zog er das Dachstroh herunter.
Dafür brauchte er etwa eine Stunde. Er zog nicht nur das Stroh herunter, sondern löste auch ein paar der Dachsparren, die an den Firstbalken genagelt waren. Als er fertig war, fand er, dass es aussah, als sei das Dach eingestürzt. Zusammen mit dem Mädchen kroch er unter das Stroh und kauerte sich darin zusammen. Er hatte ihnen ein Versteck gebaut.
Nun konnte er nur noch warten. Manchmal sagte das Mädchen etwas, doch Hook hatte während seiner Zeit in Soissons nur wenig Französisch gelernt und verstand die Worte kaum. Nach einer Weile lehnte sich die junge Frau an ihn und schlief ein, wenn auch ihr Schlaf manchmal von einem Wimmern unterbrochen wurde, worauf Hook unbeholfen versuchte, sie zu beruhigen. Sie trug Sir Rogers Wappenrock, der immer noch feucht von Blut war. Hook schnürte den Beutel auf und fand Münzen, goldene und silberne, vermutlich der Lohn des Verrats.
Grau kam die Morgendämmerung. Sir Rogers ausgeweideter Körper wurde erst vor Sonnenaufgang entdeckt. Schreiend und zeternd hörte Hook Männer die Häuserreihe unter ihm durchsuchen, doch sein Versteck war gut, und niemand dachte daran, in dem Haufen aus Stroh und Holz herumzustöbern. Das Mädchen wachte auf, und Hook legte ihm einen Finger auf die Lippen. Zitternd schmiegte es sich an ihn. Hook hatte immer noch Angst, doch diese Angst hatte sich mit Ergebung vermischt, und irgendwie hatte ihm die Anwesenheit des Mädchens auch Hoffnung gegeben, die er in der Nacht zuvor nicht gehabt hatte. Aber vielleicht, so dachte er, beschützten ihn auch die Zwillingsheiligen von Soissons. Er bekreuzigte sich und sandte ein Dankgebet an Crispin und Crispinian. Sie schwiegen jetzt, doch er hatte getan, was sie ihm befohlen hatten. Hook überlegte, ob es Crispinian gewesen war, der in London zu ihm gesprochen hatte. Das war nicht sehr wahrscheinlich, aber wer sollte es sonst gewesen sein? Gott? Doch dann schien ihm diese Frage plötzlich nicht mehr so wichtig, denn es wurde ihm bewusst, dass er in Soissons getan hatte, was ihm in London nicht gelungen war. Hoffnung flackerte in ihm auf, die Hoffnung auf Erlösung und das Überleben. Es war nur eine schwache Hoffnung, so kraftlos wie eine Kerzenflamme im Wind, aber sie war da.
Vor dem Morgengrauen war es in der Stadt leiser geworden, doch als die Sonne über der Kathedrale aufging, hob der Lärm wieder an. Schreie waren zu hören und Stöhnen und Rufe. Durch die Lücke, die er in das Strohdach gerissen hatte, konnte Hook auf den kleinen Platz vor der Kirche
Saint-Antoine-Le-Petit hinuntersehen. Die beiden Mädchen, die man über die Fässer gebunden hatte, waren verschwunden, die Armbrustschützen jedoch und die anderen Bewaffneten waren noch da. Ein gestromter Hund schnupperte an der Leiche einer Nonne, um deren Kopf sich eine Blutlache ausgebreitet hatte. Ihre Tracht war ihr über die Hüfte hochgezerrt worden. Ein Krieger ritt über den Platz. Vor seinem Sattel lag ein nacktes Mädchen quer über dem Pferd, dem er mit beiden Händen auf den Hintern schlug, als spiele er eine Trommel. Ein paar Männer sahen zu ihm herüber und lachten.
Hook wartete ab. Er musste sich unbedingt erleichtern, doch er wagte es nicht, sein Versteck zu verlassen. Also pinkelte er sich in die Kniehose, und die junge Frau roch es und zog eine Grimasse. Doch einen Moment später musste sie selbst. Sie begann leise zu weinen, und Hook nahm sie in die Arme, bis ihre Tränen versiegt waren. Sie murmelte ihm etwas zu, und er murmelte ihr etwas zu, und keiner von ihnen verstand die Worte des anderen, aber sie fühlten sich dennoch getröstet.
Dann wurde Hufschlag laut, und Hook fuhr herum, um durch eine Lücke im Stroh zu spähen. Unten auf dem Platz waren mindestens zwanzig Reiter vor der Kirche angekommen. Ein Mann hielt ein Banner mit goldenen Lilien auf einem blauen Feld, das von einem roten Rand mit weißen Tupfen eingefasst war. Die Reiter trugen Rüstungen, wenn auch keine Helme, und ihnen folgten, ebenfalls in Rüstungen, weitere Feldkämpfer zu Fuß.
Einer der neu eingetroffenen Reiter war mit einem Wappenrock angetan, der drei Habichte auf einem grünen Feld zeigte, und so wusste Hook, dass er ein Engländer sein musste, der in Sir Rogers Diensten gestanden hatte. Dieser Mann gab seinem Pferd die Sporen, ritt bis dicht vor die Kirche, beugte sich aus dem Sattel und pochte mit einer kurzen Lanze an die
Tür. Dazu rief er etwas, doch Hook war zu weit entfernt, um es zu verstehen. Es mussten jedoch beruhigende Worte gewesen sein, denn kurz darauf wurde die Kirchentür etwas aufgezogen, und Sergeant Smithson spähte heraus.
Die beiden Männer sprachen miteinander. Dann kehrte Smithson in die Kirche zurück, und lange Zeit geschah nichts weiter. Hook beobachtete den Platz und fragte sich, was hier vorging. Dann schwang die Kirchentür erneut auf, und die englischen Bogenschützen traten einer nach dem anderen argwöhnisch in die Sonne. Offenbar hatte Sir Roger sein Wort gehalten, und Hook, der von dem verwüsteten Dachgiebel aus zusah, überlegte, ob er es bis zu den Bogenschützen schaffen könnte, die sich jetzt vor dem Pferd des Engländers versammelten. Nur John Wilkinson hielt sich nahe an der Kirche so weit wie möglich im Hintergrund. Sir Roger musste erreicht haben, dass die Bogenschützen verschont blieben, denn die Franzosen schienen sie willkommen zu heißen. Smithsons Männer stapelten ihre Bögen, Pfeiltaschen und Schwerter bei der Kirchentür auf und knieten sich dann einer nach dem anderen vor einen Reiter, dessen Hengst auffällig mit einem Überwurf aus dem blauen Tuch mit den goldenen Lilien herausgeputzt war. Der Reiter trug eine schmale goldene Krone und eine strahlend polierte Rüstung, und er hob die Hand in einer Geste, die wie ein wohlmeinender Segen wirkte.
Wenn ich es bis auf die Straße schaffe, dachte Hook, dann könnte ich laufen und mich meinen Leuten anschließen. «Nein», flüsterte Sankt Crispinian in Hooks Kopf. Hook fuhr zusammen. Das Mädchen klammerte sich an ihn.
«Nein?», flüsterte Hook vernehmlich.
«Nein», wiederholte Sankt Crispinian nachdrücklich.
Das Mädchen fragte etwas, und Hook beruhigte sie. «Ich habe nicht mit dir gesprochen, Kleine», flüsterte er.
Der blaugoldene Reiter hielt ein paar Augenblicke lang seine Faust im Kettenhandschuh in die Höhe gereckt. Dann ließ er seine Hand fallen.
Und das Massaker begann.
Die Reiter sprangen von den Pferden, zogen ihre Schwerter und griffen die knienden Bogenschützen an. Die ersten starben schnell, denn sie waren vollkommen überrascht. Den anderen blieb genügend Zeit, um ihr kurzes Messer zu ziehen und sich zu wehren. Aber die Franzosen trugen schwere Rüstungen und hatten die längeren Klingen und drangen von allen Seiten auf die Bogenschützen ein. Sir Rogers Männer sahen ungerührt zu. John Wilkinson griff sich ein Schwert von dem Haufen neben der Kirchentür, doch ein Feldkämpfer rammte ihm einen Kurzspeer in den Körper, und ein zweiter Franzose hieb ihm mit dem Schwert die Kehle durch, sodass Wilkinsons Blut bis hinauf an den steinernen Torbogen der Kirche spritzte, in den Engel und Fische eingemeißelt waren. Manche der Bogenschützen wurden lebend festgehalten, niedergeknüppelt und von grinsenden Bewaffneten in Schach gehalten.
Der Mann mit der goldenen Krone ließ sein Pferd umdrehen und ritt davon, gefolgt von seinem Standartenträger, seinem Junker, seinem Knappen und seinem berittenen Gefolge. Der Engländer mit dem Wappen der drei Habichte ritt mit ihnen. Er wandte sich nicht nach den überlebenden Bogenschützen um, die laut um Gnade flehten. Es gab keine Gnade.
Die Franzosen hatten ein gutes Gedächtnis für ihre Niederlagen, und sie hassten die Männer, die mit dem Langbogen in den Krieg zogen. Bei Crecy waren die Franzosen in der Überzahl gewesen und hatten die Engländer eingekesselt. Die Franzosen waren in das flache Tal vorgestoßen, um die Welt von den schamlosen Eindringlingen zu befreien, doch es waren die Bogenschützen gewesen, die sie dennoch geschlagen hatten, indem sie den weißbefiederten Tod durch die Lüfte geschickt und mit ihren langspitzigen Pfeilen die edlen französischen Ritter niedergemacht hatten. Dann, bei Poitiers, hatten die Bogenschützen das französische Reiterheer auseinandergerissen, und am Abend dieses Tages war der König von Frankreich ein Kriegsgefangener gewesen. All diese Kränkungen nagten an den Franzosen, und deshalb gab es keine Gnade.
Hook und das Mädchen hörten zu. Noch etwa dreißig oder vierzig Bogenschützen waren am Leben, und zuerst hackten ihnen die Franzosen zwei Finger von der rechten Hand, damit sie nie mehr eine Bogensehne würden spannen können. Ein dicker, übers ganze Gesicht grinsende Franzose schlug die Finger mit Hammer und Meißel ab. Einige der Bogenschützen ertrugen den Schmerz schweigend, während sich andere wild wehrten und zu dem Fass gezerrt werden mussten, auf dem ihnen die Finger auseinandergespreizt wurden. Hook glaubte, die Vergeltung habe damit ein Ende, doch sie hatte erst begonnen. Die Franzosen wollten mehr als Finger. Sie wollten Qual und Tod.
Ein großer Mann sah vom Sattel seines Pferdes aus dem Sterben der Bogenschützen zu. Sein langes schwarzes Haar fiel bis über die Platten seiner Schulterrüstung, und Hook, der wahre Adleraugen hatte, sah deutlich die wohlgeformten Züge des sonnenverbrannten Gesichts. Der Mann besaß eine scharfgeschnittene Nase, einen breiten Mund, und auf seinem hervortretenden Kinn lag der Schatten von Bartstoppeln. Über seiner Rüstung trug er einen hellen Wappenrock, der eine goldene Sonne zeigte, von der züngelnde Strahlen ausgingen, und über der Sonne thronte ein Adlerkopf. Die junge Frau sah den Mann nicht. Sie hatte ihr Gesicht in Hooks Arme vergraben. Sie hörte die Schreie, doch sie wollte nicht hinsehen. Sie wimmerte jedes Mal, wenn ein Mann unter den Folterungen aufschrie, mit denen sich die Franzosen rächten.
Hook beobachtete genau, was geschah. Er vermutete, dass der Mann mit dem Adler und der Sonne die Qualen und das Töten hätte beenden können, doch er tat nichts. Er saß in seinem Sattel und sah unbewegt zu, wie die Franzosen den überlebenden Bogenschützen sämtliche Kleider auszogen und ihnen dann mit den Spitzen ihrer langen Messer die Augen ausstachen. Die französischen Feldkämpfer verhöhnten ihre blinden Opfer und kratzten mit scharfen Klingen in ihren Augenhöhlen herum. Ein Franzose tat so, als äße er einen Augapfel, und die anderen lachten wild. Der langhaarige Mann lachte nicht, er schaute nur zu, und in seiner Miene regte sich nichts, als die blinden Männer auf die Pflastersteine hinabgezwungen wurden, wo man sie kastrierte. Ihre Schreie hallten durch die Stadt, die von vielen anderen Schreien widerhallte. Erst als der letzte blinde Engländer kastriert worden war, verließ der gutaussehende Mann auf dem Kriegshengst den Platz. Die Bogenschützen wurden liegengelassen, um unter dem Sommerhimmel zu verbluten. Der Tod ließ sich viel Zeit. Hook zitterte, obwohl es warm war. Sankt Crispinian schwieg. Eine nackte Frau, der die Brüste abgeschnitten worden waren, brach mit blutüberströmtem Körper zwischen den sterbenden Bogenschützen zusammen und schluchzte, bis ihr Geheul einem Franzosen zu viel wurde und er ihr beiläufig eine Kampfaxt in den Schädel hieb. Hunde schnupperten an den Sterbenden.
Die Plünderung der Stadt ging den ganzen Tag weiter. Die Kathedrale, die Gemeindekirchen, das Nonnenkloster und die Priorate wurden ausgeraubt. Frauen und Kinder wurden geschändet und wieder geschändet, die Männer wurden ermordet, und Gott wandte Seine Augen von Soissons ab. Seigneur de Bournonville wurde hingerichtet, und er hatte Glück, denn er starb, ohne zuvor gefoltert worden zu sein. Die Festung, die als Zuflucht gegolten hatte, war kampflos gefallen, denn die Franzosen, die durch die Heimtücke Sir
Rogers in die Stadt gekommen waren, hatten ihr Tor weit geöffnet und ihr Fallgatter aufgezogen vorgefunden. Die Burgunder starben, und nur Sir Rogers Männern, die an dem Verrat ihres toten Anführers beteiligt gewesen waren, war das Leben gelassen worden. Die Bürger hatten die burgundische Besatzung gehasst und waren dem König von Frankreich treu ergeben geblieben, doch jetzt, in einem Rausch von Blut, Gewalt und Raub, vergalten ihnen die Franzosen diese Treue mit einem Gemetzel.
«Je suis Melisande», sagte das Mädchen immer wieder, und zuerst verstand Hook nicht, was die junge Frau meinte. Endlich wurde ihm klar, dass sie ihren Namen sagte.
«Melisande?», fragte er.
«Oui.»
«Nicholas.»
«Nicholas», wiederholte sie.
«Einfach Nick», sagte er.
«Eifanick?»
«Nick.»
«Nick.» Sie flüsterten, sie warteten, sie hörten dem Schreien einer Stadt zu, und sie rochen ein Gemisch aus Ale und Blut.
«Ich weiß nicht, wie wir von hier wegkommen sollen», sagte Hook zu Melisande, die ihn nicht verstand. Sie nickte dennoch, und dann schlief sie unter dem Stroh mit dem Kopf auf seiner Schulter ein, und Hook schloss die Augen und betete zu Crispinian. Hilf mir, heimzukommen. Nur dass ein Geächteter kein Zuhause hat, dachte er verzweifelt.
«Du wirst heimkommen», sagte Sankt Crispinian.
Hook erstarrte. Hatte er sich die Stimme nur vorgestellt? Sie hatte echt gewirkt, so echt wie die Schreie, mit denen die Bogenschützen gestorben waren. Dann fragte er sich, wie er aus der Stadt entkommen sollte, denn die Franzosen hatten gewiss an allen Toren Wachen aufgestellt.
«Geh durch die Bresche», schlug Sankt Crispinian liebenswürdig vor.
«Wir gehen durch die Bresche», sagte Hook zu Melisande, doch sie schlief weiter.
Als es Abend wurde, sah Hook Schweine, die anscheinend aus ihren Ställen hinter den Häusern gelassen worden waren, an den Leichen der Bogenschützen fressen wie an einer Festtafel. In Soissons war es inzwischen ruhiger geworden, offenbar hatten sich die Sieger fürs Erste ausreichend an Leibern, Ale und Wein gütlich getan. Der Mond ging auf, doch Gott schickte Wolken, die das silbrige Licht zunächst dämpften und dann ganz verschwinden ließen, und in dieser Dunkelheit tasteten sich Hook und Melisande nach unten auf die stinkende Straße. Es war Mitternacht, und aus den aufgebrochenen Häusern drang das Schnarchen von Männern. An der Bresche stand keine Wache. Melisande, in Sir Rogers blutigen Wappenrock gehüllt, hielt Hooks Hand krampfhaft fest, während sie über die zerschossenen Trümmer der Stadtmauer kletterten. Als sie die Senke durchquerten, in der die üblen Gerüche aus den Gerbergruben aufstiegen, und als sie den Hügel hinauf an dem aufgegebenen Feldlager der Sieger vorbei in den höher gelegenen Wald liefen, in dem es nicht nach Blut stank und in dem keine Leichen verrotteten - Melisande hielt sich an Hook fest.
Soissons war tot.
Hook und Melisande aber lebten.
***
«Die Heiligen sprechen zu mir», erklärte er ihr in der Morgendämmerung. «Jedenfalls tut es Crispinian. Der andere Geselle ist verdrießlicher. Er spricht zwar auch manchmal, aber viel sagt er nicht.»
«Crispinian», wiederholte Melisande und wirkte sehr erfreut darüber, dass sie wenigstens eines seiner Worte verstanden hatte.
«Er scheint sehr gutherzig zu sein», sagte Hook, «und er beschützt mich. Und jetzt beschützt er dich auch, nehme ich an!» Er lächelte sie an, von plötzlicher Zuversicht erfüllt. «Wir müssen dir etwas Ordentliches zum Anziehen besorgen, Mädchen. Du siehst sehr sonderbar aus in diesem Wappenrock.»
Wenn Melisande auch sonderbar aussehen mochte, sie war dennoch bezaubernd. Hook war das nicht aufgefallen, bis die Morgendämmerung im Wald ungezählte Speere aus grüngoldenem Licht zwischen dem Blattwerk und den Ästen hindurch auf ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen warf, das von nachtschwarzem Haar eingerahmt wurde. Sie hatte graue Augen, so hell wie Mondenschein, eine lange Nase und einen eigensinnigen Zug ums Kinn, der, wie Hook noch erfahren sollte, durchaus ihren Charakter widerspiegelte. Sie war bemitleidenswert mager, hatte aber viel Kraft in ihrem sehnigen Körper und verachtete jede Schwäche. Ihr Mund war breit geschnitten, ausdrucksvoll und äußerst gesprächig. Mit der Zeit verstand Hook, dass sie als Novizin in einem Nonnenkloster gelebt hatte, in dem das Reden verboten war, und in den ersten Tagen schien Melisande die Monate erzwungenen Schweigens ausgleichen zu müssen. Er verstand kaum etwas, und dennoch lauschte er ihrem Geplauder verzückt.
Den ersten Tag blieben sie in dem Wald. Von Zeit zu Zeit tauchten Reiter in dem Tal unter den Buchen auf. Sie gehörten zu den Siegern von Soissons, aber sie waren nicht in Kampfkleidung. Einige jagten, andere schienen nur zum Vergnügen zu reiten, und keiner von ihnen hielt die wenigen Flüchtlinge, die es offenkundig aus Soissons heraus geschafft hatten, auf ihrem Weg Richtung Süden auf. Dennoch wollte Hook es nicht auf eine Begegnimg mit den Franzosen ankommen lassen, und so versteckten sie sich bis zum Dunkelwerden im Wald. Er hatte beschlossen, in Richtung
Westen zu gehen, in Richtung England, auch wenn es für einen Geächteten in England ebenso gefährlich war wie in Frankreich. Doch wohin hätte er sich sonst wenden sollen? Sie wanderten bei Nacht unter dem Licht des Mondes. Ihre Nahrung stahlen sie, gewöhnlich war es ein Lamm, das Hook in der Dunkelheit aus der Herde holte. Er fürchtete die Hirtenhunde, aber vielleicht beschützte ihn Sankt Crispin mit seinem Hirtenstab, denn die Hunde schlugen niemals an, wenn Hook einem Tier die Kehle durchschnitt. Er trug den kleinen Körper zurück in den dichten Wald, wo er ein Feuer entzündete, um das Fleisch zu garen.
«Du kannst auch allein gehen», erklärte er Melisande eines Morgens.
«Gehen?», fragte sie stirnrunzelnd. Sie hatte ihn nicht verstanden.
«Wenn du willst. Du kannst gehen!» Er machte eine Geste Richtung Süden und erntete einen finsteren Blick und einen Wortschwall in unverständlichem Französisch. Er nahm an, das sollte bedeuten, dass Melisande bei ihm bleiben wollte. Sie blieb, und ihre Gegenwart war ihm ebenso Trost wie Sorge. Hook war nicht sicher, ob er aus Frankreich herauskommen würde, und wenn es ihm gelang, so war seine Zukunft unsicher. Er betete zu Sankt Crispinian in der Hoffnung, der Märtyrer würde ihm helfen, wenn er erst einmal in England wäre, falls er England erreichte, doch Sankt Crispinian hüllte sich in Schweigen.
Aber er schickte Hook und Melisande einen Priester. Es war der Cure einer Gemeinde am Fluss Oise, und er fand die beiden Flüchtlinge schlafend unter einer umgestürzten Weide in einem dichten Erlengehölz. Er nahm sie mit zu sich nach Hause, wo ihnen seine Frau zu essen gab. Pater Michel war ein verbitterter Griesgram, doch er hatte Mitleid mit ihnen. Er sprach ein bisschen Englisch, das er während seiner Zeit als Kaplan eines französischen Grafen erlernt hatte, der in seinem Herrenhaus einen Engländer gefangen hielt. Seine Erfahrungen in dieser Stellung hatten Pater Michel einen Hass auf alle Obrigkeit eingepflanzt, mochte es nun der König, ein Bischof oder ein Graf sein, und dieser Hass brachte ihn dazu, einem englischen Bogenschützen zu helfen. «Du gehst nach Calais», erklärte er Hook.
«Ich bin ein Geächteter, Pater.»
«Geächtet?» Schließlich verstand der Priester, doch er tat Hooks Bedenken ab. «Proscrit, was? Aber England ist deine Heimat. Ein weites Land, oder? Du gehst nach Hause und hältst dich vom Ort deiner Sünden fern. Was war nochmal deine Sünde?»
«Ich habe einen Priester geschlagen.»
Pater Michel lachte und klopfte Hook auf den Rücken. «Gut gemacht! Ich hoffe, es war ein Bischof.»
«Nur ein Priester.»
«Nächstes Mal schlägst du einen Bischof, ja?»
Hook zahlte für seinen Aufenthalt. Er hackte Feuerholz, räumte Gräben aus und deckte mit Pater Michel einen Kuhstall mit frischem Stroh, während Melisande im Haus beim Kochen, Waschen und Flicken half. «Die Leute aus dem Dorf werden dich nicht verraten, Hook», versicherte der Priester.
«Warum nicht, Pater?»
«Weil sie mich fürchten. Ich kann sie in die Hölle fahren lassen», sagte der Priester grimmig. Er mochte die Gespräche mit Hook, denn so konnte er sein Englisch üben, und eines Tages, als Hook einen Birnbaum hinter dem Haus beschnitt, hörte er aufmerksam zu, als Hook zögernd erzählte, dass er Stimmen höre. Pater Michel bekreuzigte sich. «Es könnte auch die Stimme des Teufels sein, oder?», sagte er.
«Das beunruhigt mich», gab Hook zu.
«Aber ich glaube es nicht», sagte Pater Michel freundlich. «Du schneidest zu viel von diesem Baum weg!»
«Dieser Baum ist in einem grauenvollen Zustand, Pater. Ihr hättet ihn schon letzten Winter beschneiden sollen, aber auch so wird es ihm nicht schaden. Wenn Ihr Birnen haben wollt, könnt Ihr ihn nicht wild wachsen lasen. Vertraut mir. Schneiden und schneiden! Und wenn Ihr denkt, Ihr habt zu viel abgeschnitten, dann schneidet Ihr die gleiche Menge Äste noch einmal!»
«Schneiden und schneiden, was? Wenn ich nächstes Jahr keine Birnen habe, weiß ich, dass du vom Teufel geschickt worden bist.»
«Es ist Sankt Crispinian, der zu mir spricht», sagte Hook, während er einen weiteren Ast stutzte.
«Aber nur, wenn Gott es ihm gestattet», sagte der Priester und bekreuzigte sich erneut, «und das bedeutet, dass Gott zu dir spricht. Ich bin froh, dass kein Heiliger mit mir redet.»
«Darüber seid Ihr froh?»
«Was ist denn mit denjenigen, die Stimmen hören? Entweder sind es selber Heilige, oder sie landen auf dem Scheiterhaufen.»
«Ich bin kein Heiliger», sagte Hook.
«Aber Gott hat dich auserwählt. Er trifft manchmal eine sehr merkwürdige Wahl.» Der Geistliche lachte.
Pere Michel unterhielt sich auch mit Melisande, und so erfuhr Hook mehr über das Mädchen. Melisandes Vater war ein Lord, sagte der Priester, ein Gutsherr, der Seigneur d'Enfer hieß, und ihre Mutter war eine Dienstmagd gewesen. «Also ist deine Melisande auch so ein Bastard von einem Adligen», sagte Pater Michel, «geboren, um ein Leben voller Kummer zu leben.» Ihr adeliger Vater hatte dafür gesorgt, dass Melisande als Novizin in das Nonnenkloster von Soissons kam, um für die Nonnen als Küchenmädchen zu arbeiten. «So verbergen die Lords ihre Sünden», erklärte Pater Michel bitter, «indem sie ihre Bastarde ins Gefängnis stecken.»
«Gefängnis?»
«Sie wollte keine Nonne werden. Kennst du ihren Namen?»
«Melisande.»
«Melisande war eine Königin von Jerusalem», sagte Père Michel lächelnd. «Und diese Melisande liebt dich.» Hook erwiderte nichts.
«Beschütze sie», befahl ihm Père Michel an dem Tag, an dem sie weiterzogen, mit strenger Stimme.
Sie hatten sich verkleidet. Es war schwierig, Hooks Statur zu verbergen, doch Pater Michel gab ihm ein weißes Büßerhemd und eine Aussätzigenklapper, die aus einem hölzernen Handstück bestand, an dem mit Lederbändern zwei kleinere Holzstücke befestigt waren. Melisande, ebenfalls im Büßergewand und das schwarze Haar zottelig und kurz geschnitten, führte ihn nach Nordwesten. Sie waren auf Pilgerschaft, so schien es, und suchten nach Heilung für Hooks Leiden. Sie lebten von den Almosen, die ihnen die Leute zuwarfen. Sie vermieden es, in Hooks Nähe zu kommen, denn er machte seine ansteckende Krankheit durch lautes Klappern kenntlich. Sie bewegten sich mit großer Vorsicht, umgingen größere Siedlungen und schlugen einen weiten Bogen, als sie an den Rauchsäulen der Kochfeuer erkannten, dass sie die Stadt Amiens vor sich hatten. Sie schliefen in den Wäldern, in Kuhställen oder in Heuschobern, und der Regen durchnässte sie, und die Sonne trocknete sie, und eines Tages wurden sie am Ufer des Flusses Canche zum Liebespaar. Danach war Melisande sehr schweigsam, doch sie schmiegte sich an Hook, und er schickte ein Dankgebet zu Sankt Crispinian, der jedoch nicht darauf reagierte.
Am nächsten Tag gingen sie weiter nach Norden. Sie folgten einem Weg, der über ein weites Feld zwischen zwei
Wäldern führte. Im Westen stand halb verborgen hinter Bäumen eine kleine Burg. Sie rasteten am östlichen Rand des Feldes bei der verwitterten Hütte eines Forstmanns, die unter einem dick bemoosten Strohdach fast einzubrechen schien. Gerste wuchs auf dem Feld, die Ähren bogen sich wie Wellen in der Brise, Lerchen tummelten sich über ihnen, und auch ihr an- und abschwellender Gesang erinnerte an Wellen, und Hook und Melisande waren in der Wärme des Spätsommertages halb eingeschlafen.
«Was tut ihr hier?», verlangte eine barsche Stimme zu wissen. Ein reich gekleideter Reiter, der einen Falken mit Kapuze auf dem Handgelenk trug, stand am Rand des Waldes.
Melisande kniete unterwürfig nieder und senkte den Kopf. «Ich bringe meinen Bruder nach Saint-Omer, Herr», sagte sie.
Der Reiter, der ein Herr sein mochte oder auch nicht, bemerkte Hooks Klapper und lenkte sein Pferd ein paar Schritte weiter weg. «Was wollt ihr dort?», fragte er.
«Den Segen von Sankt Audomar erbitten, Herr», antwortete Melisande. Pater Michel hatte ihnen erklärt, dass Saint-Omer nahe bei Calais lag und dass viele Menschen bei Sankt Audomars Grabstätte Heilung suchten. Er hatte ebenfalls gesagt, es sei viel sicherer zu sagen, dass sie nach Saint-Omer unterwegs seien, als zuzugeben, dass sie zu der englischen Enklave um Calais wollten.
«Gott gewähre euch eine sichere Reise», sagte der Reiter widerwillig und warf eine Münze auf die Lauberde.
«Herr?», fragte Melisande.
Der Reiter drehte sich im Sattel um. «Ja?»
«Wo sind wir, Herr? Und wie weit von Saint-Omer?»
«Einen guten Tagesmarsch», sagte der Mann und zügelte sein Pferd, «und was kümmert es dich, wie dieser Ort hier heißt? Du wirst ohnehin noch nie von ihm gehört haben.»
«Nein, Herr», sagte Melisande.
Der Mann ließ einen Herzschlag lang seinen Blick auf ihr ruhen und zuckte dann mit den Achseln. «Diese Burg», sagte er und nickte in Richtung der Zinnen, die über den Bäumen aufragten, «heißt Azincourt. Ich hoffe, dass dein Bruder geheilt wird.» Er gab seinem Pferd die Sporen und ritt in das Gerstenfeld.
Es dauerte noch vier Tage, bis sie das Marschland um Calais erreicht hatten. Sie bewegten sich mit Vorsicht und hüteten sich vor den französischen Wachtrupps, die um Calais Dienst taten. Die Stadt war schon lange in englischer Hand. Es war Abend, als sie zur Brücke von Nieulay kamen, die auf den Damm Richtung Stadt führte. Wächter hielten sie auf. «Ich bin Engländer!», rief Hook, und dann trat er, Melisande an der Hand haltend, zögernd in den Fackelschein, der das Brückentor erhellte.
«Woher kommst du, Kerl?», fragte ein graubärtiger Mann mit einem gut sitzenden Helm.
«Wir kommen aus Soissons», sagte Hook.
«Ihr kommt aus...», der Mann trat einen Schritt vor, um Hook und seine Begleiterin in Augenschein zu nehmen. «Guter Gott. Los, tretet ein.»
Also trat Hook durch das kleine Tor, das in ein größeres eingepasst war, und damit waren er und Melisande in England angekommen, wo er geächtet war.
Doch Sankt Crispinian hatte Wort gehalten. Hook war heimgekommen.
*
***
*****
***
*
Sogar im Sommer war es im Saal der Burg von Calais frostig. Die dicken Steinmauern hielten die Wärme draußen. Deshalb knackte ein großes Feuer im Kamin, und vor der gemauerten Feuerstelle lag ein riesiger Teppich, auf dem sechs Jagdhunde schliefen und zwei gepolsterte Bänke standen. Der übrige Raum war mit großen Steinplatten ausgelegt. Schwerter waren in einem Regal an der Wand aufgereiht, Lanzen mit Eisenspitzen lagen in einem Gestell. Unter den Deckenbalken jagten sich die Sperlinge. Die Fensterläden am westlichen Ende des Saales standen offen, und Hook konnte das endlose Rauschen der See hören.
Der Befehlshaber der Garnison und seine schön gewandete Dame saßen auf einer Polsterbank. Man hatte Hook ihre Namen genannt, doch die Worte waren ihm im selben Moment entglitten, in dem er sie gehört hatte, und so wusste er nicht, wer sie waren. Sechs Bewaffnete standen hinter der Bank, und alle bedachten Hook und Melisande mit zweifelnden, feindseligen Blicken. Ein Priester stand am Rand des Teppichs und blickte auf die beiden Flüchtlinge herab, die auf den Steinplatten des Bodens knieten. «Ich verstehe nicht», sagte der Priester mit einer unangenehmen, näselnden Stimme, «warum du Lord Slaytons Dienste verlassen hast.»
«Weil ich mich geweigert habe, ein Mädchen zu töten, Pater», erklärte Hook.
«Und Lord Slayton wünschte ihren Tod?»
«Sein Priester wünschte ihn, Herr.»
«Sir Gilles Fallobys Sohn», warf der Mann auf der Polsterbank ein, und sein Ton verriet, dass er Sir Martin nicht mochte.
«Also wünschte ein Mann Gottes ihren Tod», der Priester beachtete den Unterton des Garnisonsführers nicht, «aber du wusstest es besser?» Seine Stimme klang böse und bedrohlich.
«Es war nur ein Mädchen», sagte Hook.
«Doch durch die Frauen», erwiderte der Priester giftig, «ist die Sünde in die Welt gekommen.»
Die vornehme Dame legte eine lange, bleiche Hand über den Mund, als müsse sie ein Gähnen verstecken. Auf ihrem Schoß lag ein winziges Hündchen, eine kleine weiße Fellkugel mit kampflustig blitzenden Augen, und sie streichelte seinen Kopf. «Ich langweile mich», sagte sie zu niemandem im Besonderen.
Eine Zeitlang herrschte Schweigen. Einer der großen Hunde wimmerte im Schlaf, und der Garnisonsführer beugte sich vor, um ihm beruhigend auf den Rücken zu klopfen. Der Mann war massig und trug einen schwarzen Bart. Mit einer ungeduldigen Geste deutete er auf Hook. «Fragt ihn nach Soissons, Pater», befahl er.
«Darauf wollte ich noch kommen, Sir William», sagte der Priester.
«Dann kommt schnell darauf», sagte die Frau kühl.
«Bist du geächtet?», fragte der Priester stattdessen, und als der Bogenschütze nicht antwortete, wiederholte er die Frage mit erhobener Stimme. Hook antwortete auch dieses Mal nicht.
«Antworte ihm», knurrte Sir William.
«Ich würde meinen, sein Schweigen ist Erklärung genug», sagte die Dame. «Fragt ihn nach Soissons.»
Der Priester zog bei ihrem Befehlston eine unwillige Miene, gehorchte aber. «Berichte uns, was in Soissons geschehen ist», verlangte er, und Hook erzählte die Geschichte noch einmal. Wie die Franzosen durch das südliche Tor in die Stadt gekommen waren, wie sie geschändet und gemordet hatten und wie die englischen Bogenschützen von Sir Roger Pallaire verraten worden waren.
«Und nur du allein bist entkommen?», fragte der Priester säuerlich.
«Sankt Crispinian hat mir geholfen», sagte Hook.
«Oho! Das hat Sankt Crispinian also für dich getan?», fragte der Priester mit hochgezogenen Augenbrauen. «Wie außerordentlich zuvorkommend von ihm.» Von einem der Bewaffneten kam ein Schnauben, als ob er sein Lachen unterdrückte, die anderen starrten einfach nur verachtungsvoll auf den knienden Bogenschützen hinunter. Die Zweifel hingen im großen Saal der Festung wie der Rauch des Holzfeuers, der dem Abzug der weiten Feuerstelle entschlüpft war. Einer der Bewaffneten hielt seinen Blick unentwegt auf Melisande gerichtet. Nun beugte er sich zu seinem Nachbarn und flüsterte ihm etwas zu, was ihn zum Lachen brachte. «Oder haben dich die Franzosen gehen lassen?», fragte der Priester scharf.
«Nein, Herr!», sagte Hook.
«Vielleicht hatten sie ja einen Grund, dich gehen zu lassen!»
«Nein!»
«Sogar ein einfacher Bogenschütze kann Männer zählen», sagte der Priester, «und wenn unser Herr König eine Armee zusammenstellt, dann wollen die Franzosen wissen, wie viele Männer darin kämpfen.»
«Nein, Herr!», wiederholte Hook.
«Also haben sie dich gehen lassen und dich mit einer Hure bestochen, was?»
«Sie ist keine Hure!», widersprach Hook, und die Bewaffneten kicherten.
Melisande hatte geschwiegen. Die hochgewachsenen Männer in den Kettenhemden, der herablassende Priester und die träge Frau, die halb auf der Polsterbank lag, hatten sie eingeschüchtert, doch nun fand Melisande ihre Sprache wieder. Auch wenn sie die Beleidigungen des Priesters nicht verstanden hatte, so hatte sie doch an seinem Tonfall erkannt, was er sagen wollte, und mit einem Mal straffte sie den Rücken und begann schnell und herausfordernd zu sprechen. Sie sprach französisch, und die Worte kamen so schnell aus ihrem Mund, dass Hook nur jedes hundertste davon verstand. Doch alle anderen im Raum verstanden sie, und alle hörten ihr zu. Sie redete voll leidenschaftlicher Entrüstung, und weder der Garnisonsführer noch der Priester unterbrachen sie. Hook wusste, dass sie vom Fall Soissons' erzählte, und nach einer Weile traten ihr Tränen in die Augen und rollten über ihre Wangen, und ihre Stimme wurde laut, als sie dem Priester ihre Geschichte entgegenschleuderte. Dann fehlten ihr die Worte zum Weitersprechen, sie deutete auf Hook, senkte den Kopf und begann zu schluchzen.
Stille machte sich breit. Ein Sergeant in einem Kettenhemd öffnete geräuschvoll die Tür des Saales, sah, dass der Raum nicht leer war, und warf die Tür genauso geräuschvoll wieder zu. Sir William sah Hook an. «Du hast Sir Roger Pallaire ermordet?», fragte er mit rauer Stimme.
«Ich habe ihn getötet, Herr.»
«Eine gute Tat von einem Geächteten», sagte Sir Williams Frau nachdrücklich, «wenn es stimmt, was das Mädchen sagt.»
«Wenn», sagte der Priester.
«Ich glaube ihr», sagte die Frau. Dann erhob sie sich, legte den kleinen Hund in ihre Armbeuge und ging zum Rand des Teppichs, wo sie sich niederbeugte und Melisande am Ellbogen emporzog. Sanft sagte sie etwas auf Französisch zu ihr, dann führte sie Melisande zum Ende des Saales, schob einen Vorhang beiseite und verschwand mit ihr.
Sir William wartete, bis seine Frau den Saal verlassen hatte. Dann stand er auf. «Ich glaube, er sagt die Wahrheit, Pater», verkündete er nachdrücklich.
«Das könnte sein», gab der Priester zu.
«Ich glaube, es ist so», beharrte Sir William.
«Sollen wir ihn prüfen?», schlug der Priester mit kaum verhohlenem Eifer vor.
«Ihr wollt ihn foltern?», fragte Sir William entsetzt.
«Die Wahrheit ist geheiligt, Mylord», sagte der Priester mit einer leichten Verneigung. «Et cognoscetis veritatem», deklamierte er, «et veritas liberdbit vos!» Er bekreuzigte sich. «Ihr werdet die Wahrheit erfahren, Mylord», übersetzte er, «und die Wahrheit wird Euch befreien.»
«Ich bin frei», knurrte der Mann mit dem schwarzen Bart, «und es ist nicht unser Geschäft, die Wahrheit mit der Streckbank aus einem armen Bogenschützen herauszuholen. So etwas sollten wir anderen überlassen.»
«Gewiss, Mylord», sagte der Priester, der seine Enttäuschung kaum verbergen konnte.
«Dann wisst Ihr, wohin er jetzt gehört.»
«Gewiss, Mylord.»
«Also sorgt dafür, dass er dort hinkommt», sagte Sir William, bevor er zu Hook hinüberging und ihn mit einer Geste zum Aufstehen aufforderte. «Hast du einen von ihnen getötet?», wollte er wissen.
«Viele, Mylord», sagte Hook und dachte an die Pfeile, die in die spärlich erhellte Bresche geflogen waren.
«Gut», sagte Sir William unbewegt, «aber du hast auch Sir Roger Pallaire getötet. Das macht dich entweder zum Helden oder zum Mörder.»
«Ich bin nur ein Bogenschütze», sagte Hook eigensinnig.
«Und zwar ein Bogenschütze, dessen Geschichte auf der anderen Seite des Wassers gehört werden muss», sagte Sir William und gab Hook eine Silbermünze. «Uns ist schon viel über Soissons erzählt worden», fuhr er grimmig fort, «aber du bist der Erste, der uns diese Geschichten bestätigt.»
«Wenn er dort war», warf der Priester höhnisch ein.
«Ihr habt das Mädchen gehört», schnauzte Sir William den Priester an, der den Kopf zurückwarf. Sir William wandte sich wieder an Hook. «Erzähle deine Geschichte in England.»
«Ich bin geächtet», sagte Hook unsicher.
«Du wirst tun, was man dir zu tun befiehlt», erwiderte Sir William schroff, «und du gehst nach England.»
Und so wurden Hook und Melisande an Bord eines Schiffes gebracht, das nach England segelte. Dann setzten sie ihren Weg mit einem Boten fort, der Nachrichten nach London zu bringen hatte und Geld für das Ale, das Essen und die Reise besaß. Melisande trug nun geziemende Kleidung, die sie von Lady Bardolf, Sir Williams Frau, bekommen hatte, und sie ritt auf einer kleinen Stute, die der Bote aus den Stallungen der Festung von Dover geholt hatte. Sie hatte sich wund geritten, bis sie in London ankamen, wo sie, nachdem sie die Brücke überquert hatten, ihre Pferde den Stallknechten des Towers übergaben. «Ihr wartet hier», befahl ihnen der Bote. Also suchte sich Hook zusammen mit Melisande in der Ecke des Kuhstalls einen Platz zum Schlafen. Kein Mensch in der riesigen Festung schien zu wissen, warum sie hierher befohlen worden waren.
«Ihr seid keine Gefangenen», erklärte ihnen ein Sergeant der Bogenschützen.
«Aber wir dürfen nicht raus», sagte Hook.
«Nein, ihr dürft nicht raus», räumte der Ventenar ein, «aber Gefangene seid ihr auch nicht.» Er grinste. «Wenn ihr Gefangene wärt, mein Freund, dann würdest du nicht jede Nacht mit der Kleinen hier liegen. Wo ist dein Bogen?»
«In Frankreich verloren.»
«Dann suchen wir dir einen neuen», sagte der Ventenar. Er hieß Venables und hatte für den alten König bei Shrewsbury gekämpft. Dort hatte ihn ein Pfeil ins Bein getroffen, und seitdem hinkte er. Er führte Hook in ein unterirdisches Gewölbe der weitläufigen Festungsanlage, in dem Hunderte neuer Bögen in langen Holzgestellen aufbewahrt wurden. «Such dir einen aus», sagte Venables.
Es war düster in dem Gewölbe, in dem ein Bogenschaft, jeder länger als ein erwachsener Mann, dicht neben dem nächsten stand. Sie waren nicht bespannt, aber mit eingekerbten Hornspitzen versehen, sodass die Sehnen nur noch eingehängt werden mussten. Hook nahm einen Schaft nach dem anderen heraus und fuhr mit der Hand über ihre kräftige Mitte. Die Bögen waren gut gemacht. Manche waren knorrig, wenn der Bogner lieber einen Astknoten hatte stehenlassen, als das Holz zu schwächen, und die meisten fühlten sich leicht fettig an, weil sie mit einer Mischung aus Wachs und Talg bestrichen worden waren. Ein paar der Bögen waren nicht eingestrichen, denn ihr Holz musste noch vollständig austrocknen, aber diese Bögen waren auch noch nicht zur Bespannung fertig gemacht, und Hook würdigte sie keines weiteren Blickes. «Die meisten wurden in Kent gemacht», sagte Venables, «aber ein paar kommen auch aus London. Sie bringen in diesem Teil der Welt keine guten Bogenschützen zustande, mein Junge, aber Bögen schon.»
«Das tun sie», nickte Hook. Er hatte einen der längsten Bogenschäfte aus dem Gestell gezogen. Das Holz verbreiterte sich zur verdickten Mitte hin, die er mit seiner linken Hand umfasste, während er die Beweglichkeit der oberen Hälfte prüfte. Dann brachte er den Bogen zu einem rostigen Gitter, durch das ein paar Sonnenstrahlen fielen.
Der Bogen war vollendet. Die Eibe war in einem südlichen Land geschlagen worden, wo die Sonne heller schien, und dieser Bogen war aus dem Stammholz des Baumes gefertigt. Er war feinporig und hatte keine Astansätze. Hook ließ seine Hand über das Holz gleiten, fühlte seine Verdickung und spürte die winzigen Grate, die das Werkzeug des Bogners hinterlassen hatte, das Abziehmesser, mit dem die Waffe geformt wurde. Der Schaft war neu, denn das Splintholz, das den Rücken des Bogenschaftes bildete, war noch fast weiß. Mit der Zeit, so wusste Hook, würde es die Farbe von Honig annehmen, doch jetzt hatte der Rücken des Bogens, der von ihm abgewandt war, wenn er die Sehne spannte, den gleichen Farbton wie Melisandes Brüste. Der Bauch des Bogens bestand aus dem Kernholz des Stammes und war tiefbraun, so braun wie Melisandes Gesicht, sodass der Bogen aus zwei verschiedenen Holzstreifen gemacht zu sein schien, aus einem nahezu weißen und einem braunen, die eine perfekte Verbindung eingegangen waren. Doch in Wahrheit bestand der Bogenschaft aus einem einzigen Stück wundervoll geglätteten Holzes, das an der Stelle aus dem Stamm geschnitten worden war, an der das Splintholz ins Kernholz überging.
Gott hat den Bogen geschaffen, hatte einmal ein Priester in Hooks Dorfkirche gesagt, genau wie er auch Mann und Frau geschaffen hat. Der durchreisende Priester hatte damit gemeint, dass Gott Kernholz und Splintholz miteinander verheiratet hatte, und es war diese Verbindung, die den großen Kriegsbogen zu einer so tödlichen Waffe werden ließ. Das dunkle Kernholz des Bogenbauchs war steif und unnachgiebig. Es wehrte sich gegen den Versuch, es zu biegen, während sich das helle Splintholz des Bogenrückens leicht in eine Wölbung krümmen ließ, doch genau wie das Kernholz wollte es sich wieder gerade richten, und es besaß eine so große Schnellkraft, dass der Bogen, sobald der Druck abnahm, wieder seine normale Form annahm. So entstand durch den biegsamen Rücken des Bogens Zug und durch den steifen Bogenbauch Druck, und dadurch konnte der Pfeil fliegen.
«Um den zu spannen, brauchst du Kraft», sagte Venables zweifelnd. «Gott weiß, was sich dieser Bogner gedacht hat! Hat wohl gemeint, Goliath braucht vielleicht eines Tages auch mal einen Bogen, was?»
«Er wollte den Schaft nicht kürzen», vermutete Hook, «weil er einfach vollkommen ist.»
«Wenn du ihn spannen kannst, Junge, dann gehört er dir. Nimm dir eine Armschiene», sagte Venables und deutete auf einen Stapel Armschienen aus Horn, «und eine Sehne.» Er zeigte Hook ein Fass mit Schnüren.
Die Sehnen fühlten sich leicht klebrig an, denn der Hanf war mit Hufleim ummantelt worden, um die Schnüre vor Feuchtigkeit zu schützen. Hook suchte sich ein paar lange Schnüre heraus, knüpfte eine Schlinge in das Ende einer Schnur und hakte sie in die eingekerbte Hornspitze am unteren Ende des Bogens ein. Dann bog er den Bogenschaft mit aller Kraft, um die Länge der Sehne abzuschätzen, knüpfte eine Schlinge ins andere Ende, und indem er nochmals alle Kräfte aufbot, krümmte er den Bogen und ließ die neue Schlinge über die obere Bogennocke gleiten. Die Mitte der Sehne, an der die eingekerbte Hornscheibe der Pfeilnocke anliegen würde, war mit zusätzlichen Hanffasern verstärkt worden, um dem Druck standzuhalten.
«Schieß ihn ein», schlug Venables vor. Er war mittleren Alters, stand in den Diensten des Burgvogts am Tower, und er war eine freundliche Seele und verbrachte seine Tage am liebsten, indem er jedem, der ihm zuhören wollte, seine Geschichten von lange vergangenen Schlachten erzählte. Er nahm eine Pfeiltasche mit hinaus auf den Streifen Schlamm und Wiese vor den Unterkünften der Wachleute und ließ sie mit lautem Klappern zu Boden fallen. Hook befestigte den Armschutz an seinem linken Unterarm so, dass der Hornstreifen an der Innenseite des Arms lag, um die Haut vor der peitschenden Reibung der Bogensehne zu schützen. Ein Schrei erhob sich und erstarb. «Das ist Bruder Bailey», erklärte Venables.
«Bruder Bailey?»
«Bruder Bailey ist Benediktiner», sagte Venables, «und der oberste Foltermeister des Königs. Er holt wohl gerade einmal wieder die Wahrheit aus einem armen Bastard heraus.»
«In Calais wollten sie mich auch foltern», sagte Hook.
«Wahrhaftig?»
«Ein Priester wollte es.»
«Die wollen immer nur Leute aufs Streckbett spannen, was? Das habe ich nie verstanden! Sie erzählen dir, dass Gott dich liebt, und dann quälen sie dich fast zu Tode. Wenn sie dich was fragen, Junge, dann sag ihnen die Wahrheit.»
«Das habe ich auch getan.»
«Allerdings hilft das auch nicht immer», gab Venables zu. Noch ein Schrei gellte, und unwillkürlich fuhren die Köpfe in die Richtung. «Der arme Hund hat vermutlich schon längst die Wahrheit gesagt, aber Bruder Bailey geht gerne auf Nummer sicher, so ist das nämlich. Und jetzt stellen wir einmal fest, wie dieser Bogen schießt, oder?»
Hook steckte ein Dutzend Pfeile mit der Spitze vor sich in die Erde. Ein verblasstes und stark zerschossenes Tuch wurde am Ende der Wiese an einem verrottenden Heuhaufen befestigt. Die Entfernung war gering, kaum hundert Schritt, und das Ziel war zweimal so groß wie ein Mann, und Hook hätte dieses einfache Ziel immer treffen können, doch mit dem neuen Bogen würden seine ersten Pfeile sicher in die Irre gehen.
Der Bogen stand unter Spannung, aber jetzt musste Hook ihn lehren, sich zu biegen. Er zog die Sehne zunächst nicht sehr weit nach hinten, sodass der Pfeil kaum sein Ziel erreichte. Dann spannte er etwas weiter, dann noch etwas mehr. Jedes Mal brachte er die Sehne ein bisschen näher an sein Gesicht, doch noch spannte er den Bogen nicht zu seiner vollen Krümmung. Er schoss Pfeil um Pfeil ab. So lernte er die Eigenarten des Bogens kennen, und der Bogen lernte, seinem Druck nachzugeben. Es dauerte eine ganze Stunde, bis Hook die Sehne bis zu seinem Ohr zurückzog und den ersten Pfeil mit der ganzen Kraft des Bogens abschnellen ließ.
Er wusste es nicht, doch er lächelte dabei. Es lag eine Schönheit in alldem, die Schönheit von Eibenholz und Hanf, von Seide und Federn, von Stahl und Esche, von Mensch und Waffe, von schierer Kraft, von der gewaltigen Spannung des Bogens, die, freigegeben von Fingern, die der raue Hanf der Sehne aufgerieben hatte, den Pfeil zischend auf seine Bahn schickte und mit einem dumpfen Geräusch einschlagen ließ. Der letzte Pfeil traf genau in die Mitte des durchlöcherten Ziels und grub sich bis zu den Federn ins Heu. «Das hast du wohl schon mal gemacht», sagte Venables grinsend.
«Das stimmt», pflichtete ihm Hook bei, «aber es ist zu lange her. Mir tun die Finger weh!»
«Sie werden sich schnell wieder daran gewöhnen», sagte Venables, «und falls sie dich nicht foltern und umbringen, dann könntest du vielleicht zu uns kommen! Es ist kein schlechtes Leben hier im Tower. Gutes Essen, sogar viel gutes Essen, und nicht zu viele Dienste.»
«Das würde mir gefallen», sagte Hook abwesend. Seine ganze Aufmerksamkeit lag auf dem Bogen. Er hatte geglaubt, die wochenlange Reise hätte seine Kräfte erlahmen lassen und seine Kunstfertigkeit beeinträchtigt, doch er zog die Sehne immer noch mit Leichtigkeit zurück, ließ sie ohne Zittern los und zielte genau. In seiner Schulter und seinem Rücken spürte er ein Ziehen, und seine zwei Fingerspitzen waren aufgerieben, doch das war schon alles. Und mit einem Mal wurde ihm klar, dass er glücklich war. Dieser Gedanke ließ ihn verharren, und er starrte das Ziel an dem Heuhaufen an, während er nachdachte. Sankt Crispinian hatte ihn an einen Ort voll Sonnenschein geführt, und er hatte ihm Melisande gegeben. Doch dann wurde ihm plötzlich sein Glück sauer, als er sich daran erinnerte, dass er immer noch ein Geächteter war. Wenn Sir Martin oder Lord Slayton entdeckte, dass Nicholas Hook am Leben und in England war, dann würden sie ihr Recht fordern und ihn hängen.
«Lass uns einmal feststellen, wie schnell du bist», schlug Venables vor.
Hook stieß eine weitere Handvoll Pfeile in die Erde und dachte an die Nacht voller Rauch und Schreie, in der die Männer in ihren schimmernden Rüstungen durch die Bresche von Soissons gekommen waren. Ohne zu denken, ohne zu zielen, hatte er einfach den Bogen sein Werk tun lassen. Dieser neue Bogen war stärker, tödlicher, aber genauso schnell. Er dachte nicht nach, ließ einfach den Pfeil abfliegen, nahm den nächsten, legte ihn über den Bogenschaft, hob den Bogen, zog die Sehne zurück und ließ ihn los. Ein Dutzend Pfeile zischten über die Wiese und schlugen einer nach dem anderen ins Ziel. Wenn ein Mann seine Hand über die Markierung in der Mitte gelegt hätte, dann hätte jeder einzelne Pfeil diese Hand getroffen.
«Zwölf», sagte eine fröhliche Stimme hinter ihm, «ein Pfeil für jeden Jünger.» Hook wandte sich um und stand einem Priester gegenüber, der ihm zugesehen hatte. Der Mann hatte ein rundliches, fröhliches Gesicht, das von feinem weißem Haar umrahmt wurde. In einer Hand trug er eine große Ledertasche, und mit der anderen umfasste er Melisandes Ellbogen. «Ihr müsst Master Hook sein!», sagte der Priester. «Natürlich seid Ihr es! Ich bin Pater Ralph. Darf ich es einmal versuchen?» Er legte die Tasche auf den Boden, ließ Melisande los und streckte die Hand nach Hooks Bogen aus. «Erlaubt es mir», bat er, «ich habe oft mit dem Bogen gejagt, als ich jung war.»
Hook überließ ihm den Bogen und sah zu, wie Pater Ralph versuchte, die Sehne zu spannen. Der Priester war kräftig, doch das Wohlleben hatte ihn beleibt werden lassen, und der Bogenschaft begann unter seiner Anstrengung zu zittern, noch bevor er die Sehne eine Handbreit nach hinten gezogen hatte. Pater Ralph schüttelte den Kopf. «Ich bin nicht mehr, was ich einmal war!», sagte er. Dann gab er Hook den Bogen zurück und sah zu, wie dieser augenscheinlich ohne jede Mühe den Bogen krümmte, um die Sehne auszuhängen. «Es ist Zeit, dass wir uns einmal alle miteinander unterhalten», sagte Pater Ralph gutgelaunt. «Euch wünsche ich einen vortrefflichen Tag, Sergeant Venables. Wie geht es Euch?»
«Gut, Pater, sehr gut!», gab Venables grinsend zurück, verbeugte sich leicht und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. «Das Bein schmerzt nicht sehr, Pater, jedenfalls nicht, solange wir keinen Ostwind haben.»
«Dann werde ich Gott darum bitten, Euch nichts als Westwind zu schicken!», sagte Pater Ralph heiter. «Nur eine Brise aus dem Westen! Kommt, Master Hook! Erleuchtet das Dunkel meiner Unwissenheit! Klärt mich auf!»
Der Priester nahm seine Tasche wieder auf und führte Hook und Melisande in einen der Räume, die an die Umfassungsmauer des Towers angebaut waren. In der kleinen Kammer, die mit gehobelten Brettern getäfelt war, standen zwei Stühle und ein Tisch. Pater Ralph beharrte darauf, dass Hook und Melisande die Stühle nahmen. «Setzt euch», sagte er, «setzt euch!» Er selbst fand einen weiteren Stuhl im Nebenraum.
Er wollte den gesamten Verlauf der Schlacht von Soissons hören, und so erzählten Hook und Melisande in einer Mischung aus Englisch und Französisch ihre Geschichte noch einmal. Sie beschrieben den Angriff, die Schändungen und Morde. In seiner Tasche hatte Pater Ralph Pergamentblätter, ein Tintenfass und Federn mitgebracht, und er schrieb, ohne auszusetzen, nur manchmal warf er eine Frage ein. Melisande sprach am meisten, und aus ihrer Stimme klang wilde Empörung, als sie die Nacht der Schrecken von Soissons schilderte. «Berichtet mir von den Nonnen», sagte Pater Ralph, dann ließ er eine wegwerfende Geste folgen, als ob er ein Narr gewesen wäre, und wiederholte die Frage auf Französisch. Melisandes Stimme klang immer aufgebrachter, und sie starrte Pater Ralph bei ihrer Erzählung mit weit aufgerissenen Augen an, bis er sie mit einer Handbewegung um eine Pause bat, damit er ihrem Redeschwall mit seiner Feder folgen konnte.
Draußen wurde Hufschlag laut. Ein paar Augenblicke später hörte man das Geräusch sich kreuzender Schwertklingen. Hook sah während Melisandes Bericht zum Fenster hinaus. Auf dem Platz, an dem er zuvor seine Pfeile verschossen hatte, übten sich Feldkämpfer. Alle trugen volle Rüstungen, von denen jeder Schwerthieb dumpf widerhallte. Ein Mann, der durch seine schwarze Rüstung auffiel, wurde von zwei anderen angegriffen und verteidigte sich mit großem Geschick, wenn Hook auch den Eindruck hatte, dass die beiden Männer nicht alle ihre Kräfte einsetzten. Eine Gruppe anderer Männer sah zu und spendete Beifall. «Et gladius diaboli», las Pater Ralph langsam vor, während er einen Satz zu Ende schrieb, «repletus est sanguine. Gut! Oh, das ist sehr gut!»
«Ist das Latein, Pater?», fragte Hook.
«So ist es. In der Tat! Latein! Die Sprache Gottes. Oder spricht Er vielleicht hebräisch? Vermutlich ist das wahrscheinlicher und wird wohl im Himmel zu einigen Schwierigkeiten führen, nicht wahr? Werden wir alle Hebräisch lernen müssen? Oder werden wir uns mit einem Mal dieser Sprache wunderbarerweise mächtig finden, wenn wir die himmlischen Auen erreicht haben? Ich habe gesagt, wie das Schwert des Teufels mit Blut gestillt wurde!» Pater Ralph gluckste bei diesem Gedanken in sich hinein, dann bedeutete er Melisande, dass sie fortfahren solle. Seine Feder flog nur so über das Pergament.
Selbstbewusstes Männergelächter drang von der Wiese zu ihnen. Inzwischen kämpften andere Männer und ließen ihre Schwerter in der Sonne blitzen. «Ihr fragt Euch wohl», sagte Pater Ralph, als er eine weitere Seite gefüllt hatte, «warum ich Eure Erzählung ins Lateinische übertrage.»
«Ja, Pater.»
«Damit die gesamte Christenheit erfährt, was für blutrünstige Teufel die Franzosen sind! Wir werden diesen Bericht hundertmal abschreiben lassen und ihn an jeden Bischof, jeden Abt, jeden König und jeden Prinzen in der Christenheit schicken. Sie sollen die Wahrheit über Soissons erfahren! Sie sollen wissen, wie die Franzosen ihr eigenes Volk behandeln! Sie sollen wissen, dass die Wohnstatt des Satans Frankreich ist, nicht wahr?» Er lächelte.
«Ja, der Satan haust dort», ertönte eine herrische Stimme hinter Hook, «und er muss ausgetrieben werden!» Hook fuhr in seinem Stuhl herum und sah, dass der Mann mit der schwarzen Rüstung an der Tür stand. Er hatte seinen Helm abgenommen. Schweiß lief aus seinem braunen Haar, in dem ein Abdruck des Helmfutters zurückgeblieben war. Er war ein junger Mann, und er kam Hook bekannt vor, auch wenn er nicht wusste, woher. Doch dann sah er die tiefe Narbe neben der langen Nase. Beinahe hätte er den Stuhl umgeworfen, als er sich vor seinem König hastig auf die Knie warf. Sein Herz schlug wild, und seine Angst war ebenso groß wie in dem Moment, in dem er an der Bresche von Soissons auf die Angreifer gewartet hatte. Der König. Das war alles, was er denken konnte, vor ihm 6tand der König.
Henry forderte Hook mit einer unwilligen Geste auf, sich zu erheben, doch Hook war viel zu verwirrt, um ihm zu gehorchen. Der König trat hinter den Tisch, um zu lesen, was Pater Ralph geschrieben hatte. «Mein Latein ist nicht, was es sein sollte», sagte er, «aber das Wesentliche ist mir klar genug.»
«Es bestätigt alle Gerüchte, die wir gehört haben», sagte Pater Ralph.
«Sir Roger Pallaire?»
«Von diesem jungen Mann getötet, Sire», sagte Pater Ralph und deutete auf Hook.
«Er war ein Verräter», sagte der König kalt, «unsere Spitzel in Frankreich haben das bestätigt.»
«Jetzt kreischt er im Höllenfeuer», sagte Pater Ralph, «und seine Schreie werden uns bis in alle Ewigkeit in den Ohren klingen.»
«Gut», sagte Henry knapp und blätterte durch die Seiten. «Nonnen? Doch sicher nicht!»
«Doch, Sire», sagte Pater Ralph. «Den Bräuten Christi wurde Gewalt angetan, und sie wurden gemordet. Sie wurden von ihrem Gebet weggezerrt, um den Soldaten zu Lust und Vergnügen zu dienen, Sire. Wir hatten davon gehört, und wir hatten nicht gewagt, es zu glauben, doch diese junge Lady bestätigt es.»
Der König ließ seinen Blick auf Melisande ruhen, die, ebenso wie Hook, auf die Knie gefallen war und, ebenso wie Hook, vor Anspannung zitterte. «Steh auf», sagte der König zu ihr und richtete seinen Blick auf ein Kruzifix an der Wand. Stirnrunzelnd biss er sich auf die Unterlippe. «Warum hat Gott das zugelassen, Pater?», fragte der König nach einer Weile, und aus seiner Stimme klang sowohl Schmerz als auch Erstaunen. «Nonnen. Gott hätte sie behüten sollen, nicht wahr? Er hätte Engel herabsenden sollen, um sie zu beschützen!»
«Vielleicht wollte Gott, dass uns ihr Schicksal zum Zeichen werde», vermutete Pater Ralph.
«Zum Zeichen?»
«Für die Verderbtheit Frankreichs, Sire, und so für die Rechtschaffenheit Eures Anspruchs auf die Krone dieses unglückseligen Reiches.»
«Dann ist meine Aufgabe also, Nonnen zu rächen», sagte Henry.
«Ihr habt zahlreiche Aufgaben, Sire», sagte Pater Ralph bescheiden, «aber diese gehört sicher dazu.»
Henry warf einen Blick auf Hook und Melisande und trommelte mit den Fingern im Kettenhandschuh auf den Tisch. Hook wagte kurz aufzublicken und erkannte die Unruhe auf dem Gesicht des Königs. Das überraschte ihn. Er hatte gedacht, dass ein König über allen Sorgen und über allen Fragen nach Richtig und Falsch stand, doch dieser hier wurde von dem Wunsch gequält, Gottes Willen zu erkennen. «Diese beiden», sagte Henry und sah Hook und Melisande an, «sprechen also die Wahrheit?»
«Das könnte ich schwören, Sire», sagte Pater Ralph nachdrücklich.
Der König ließ seine Augen auf Melisande ruhen, doch seine Miene verriet nichts. Dann ließ er seinen kühlen Blick zu Hook wandern. «Warum hast nur du allein überlebt?», fragte er plötzlich mit schroffer Stimme.
«Ich habe gebetet, Sire», sagte Hook bescheiden.
«Haben die anderen nicht gebetet?», fragte der König scharf.
«Manche schon, Sire.»
«Aber Gott hat eben beschlossen, deine Gebete zu erhören, was?»
«Ich habe zu Sankt Crispinian gebetet, Sire», sagte Hook und hielt inne, bevor er schnell seinen Satz beendete, «und er hat zu mir gesprochen.»
Erneut kehrte Stille ein. Vor dem Fenster krächzte ein Rabe, und das Klingen von Schwertern drang vom Übungsplatz des Towers herüber. Dann streckte der König von England seine Hand im Kettenhandschuh aus und fasste Hook unters Kinn, sodass er dem Bogenschützen in die Augen sehen konnte. «Er hat zu dir gesprochen?», fragte der König.
Hook zögerte. Es fühlte sich an, als schlüge sein Herz direkt in seiner Kehle. Dann beschloss er, die ganze Wahrheit zu sagen, wie unglaubwürdig sie sich auch immer anhören mochte. «Sankt Crispinian, Sire», sagte er, «hat in meinem Kopf zu mir gesprochen.»
Der König starrte Hook an. Pater Ralph öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, doch eine königliche Hand brachte ihn mit einer Geste dazu, den Mund wieder zu schließen, und Henry, König von England, starrte Hook weiter an, sodass ihm die Angst wie eine kalte Schlange das Rückgrat emporkroch. «Es ist warm in diesem Raum», sagte der König mit einem Mal, «du wirst draußen mit mir weitersprechen.»
Einen Moment lang glaubte Hook, der König müsse Pater Ralph gemeint haben, doch es war Hook, den der König wollte, und so trat Nicholas Hook in den nachmittäglichen Sonnenschein und ging neben seinem König her. Henrys Rüstung quietschte leise, als sich die Metallteile an dem eingefetteten Lederfutter darunter rieben. Seine Männer hatten unwillkürlich zu ihm kommen wollen, als er erschienen war, doch er winkte sie fort. «Erzähle mir», sagte Henry, «wie Crispinian zu dir gesprochen hat.»
Hook erzählte, wie ihm die beiden Heiligen erschienen waren und wie beide zu ihm gesprochen hatten, doch dass Crispinian die freundlichere Stimme besaß. Es war verlegen, als er die Unterhaltungen beschrieb, doch Henry nahm seine Worte ernst. Er blieb stehen und sah Hook ins Gesicht. Er war einen halben Kopf kleiner als der Bogenschütze, sodass er aufblicken musste, um Hooks Miene zu deuten, doch offenbar war er zufrieden mit dem, was er erkannte. «Du bist gesegnet», sagte er. «Ich wünschte, die Heiligen würden zu mir sprechen», fuhr er sehnsüchtig fort. «Du bist geschont worden, weil eine Aufgabe für dich vorgesehen ist», fugte er voller Überzeugung hinzu.
«Ich bin nur ein Forstmann», sagte Hook unbehaglich. Einen Moment lang war er versucht, die ganze Wahrheit zu sagen, dass er nämlich ein Geächteter war, doch dann hütete er lieber seine Zunge.
«Nein, du bist ein Bogenschütze», beharrte der König, «und es war in unserem französischen Reich, in dem dir die Heiligen zu Hilfe gekommen sind. Du bist Gottes Werkzeug.»
Hook wusste nicht, was er sagen sollte, und so sagte er nichts.
«Gott hat mir den Thron von England und den Thron von Frankreich vergönnt», sagte der König grimmig, «und wenn es Sein Wille ist, dann werden wir uns den Thron von Frankreich zurückholen.» Seine Faust im Kettenhandschuh ballte sich, «Und wenn wir uns dafür entscheiden», fuhr er fort, «dann will ich Männer haben, die von den Heiligen Frankreichs begünstigt werden. Bist du ein guter Bogenschütze?»
«Ich glaube es, Sire», sagte Hook zurückhaltend.
«Venables!», rief der König, und der Ventenar hinkte eilig über die Wiese herbei und fiel auf die Knie. «Kann er schießen?», fragte Henry.
Venables grinste. «So gut wie keiner, den ich je gesehen habe, Sire. So gut wie der Mann, der Euch den Pfeil ins Gesicht geschossen hat.»
Offenkundig mochte der König Venables, denn er lächelte bei der leichten Anmaßung. Dann tippte er mit seinem eisenumhüllten Finger auf die tiefe Narbe neben seiner Nase. «Wenn er mehr Kraft in den Pfeil gesetzt hätte, Venables, dann hättest du jetzt einen anderen König.»
«Dann hat Gott an diesem Tag ein gutes Werk vollbracht, Sire, indem er Euch bewahrt hat. Gott sei für diese große Gnade gedankt.»
«Amen», sagte Henry. Er schenkte Hook ein knappes Lächeln. «Der Pfeil hat zuvor einen anderen Helm gestreift», erklärte er, «und das hat ihn langsamer gemacht, aber er ist immer noch tief genug eingedrungen.»
«Ihr hättet Euer Visier schließen sollen, Sire», sagte Venables vorwurfsvoll.
«Die Männer sollen das Gesicht eines Prinzen in der Schlacht erkennen», gab Henry voller Überzeugung zurück. Dann richtete er seinen Blick wieder auf Hook. «Wir werden dir einen Herrn finden.»
«Ich bin geächtet, Sire», stieß Hook aus, der die Wahrheit nicht mehr länger verbergen konnte. «Verzeiht mir, Sire.»
«Geächtet?», fragte der König streng. «Für welches Vergehen?»
Hook war wieder auf die Knie gefallen. «Dafür, dass ich einen Priester geschlagen habe, Sire.»
Der König schwieg, und Hook wagte nicht, zu ihm aufzublicken. Zu seiner Überraschung gluckste der König plötzlich in sich hinein. «Es scheint, als habe dir Sankt Crispinian diese schreckliche Verirrung vergeben, wer bin ich also, dich zu verdammen? Und in diesem Reich», Henrys Stimme klang nun härter, «ist ein Mann, was ich sage, dass er ist, und ich sage, dass du ein Bogenschütze bist und dass wir dir einen Herrn finden.» Ohne ein weiteres Wort ging Henry zu seinen Männern, und Hook stieß einen langen, erleichterten Seufzer aus.
Sergeant Venables kam auf die Füße und zuckte zusammen, weil ihm der Schmerz durch die alte Verwundung im Bein fuhr. «Habt ein bisschen geplaudert, was?»
«Ja, Sergeant.»
«Das macht er gern. Sein Vater war nicht so. Sein Vater war meistens ziemlich finster und streng, aber unser Hal ist sich nie zu gut, um ein paar Worte mit gewöhnlichen Kerlen wie dir und mir zu wechseln.» Aus Venables' Stimme klang aufrichtige Zuneigung. «Also sucht er dir einen neuen Herrn?»
«Das hat er gesagt.»
«Tja, dann hoffen wir, es wird nicht Sir John.»
«Sir John?»
«Ein närrischer Bastard ist das», sagte Venables. «Närrisch und übellaunig. Bei Sir John wirst du im Nu fertiggemacht!» Venables kicherte, dann nickte er in Richtung der Gebäude an der Umfassungsmauer. «Pater Ralph will etwas von dir.»
Pater Ralph winkte ihn von der Tür aus zu sich. Hook ging zu ihm, um seine Geschichte zu Ende zu erzählen.
***
«Gott im Himmel, du unfähiger Furz! Kreuzen! Kreuzen! Schwenk es nicht herum wie einen nassen Schwanz! Kreuzen! Dann angreifen!», brüllte Sir John Cornewaille.
Das Schwert fuhr erneut auf ihn zu, streifte Hook an der Seite, und dieses Mal gelang es ihm, es mit seiner eigenen Klinge zu kreuzen, um den Hieb zu parieren, und zugleich stieß er es nach vorne, doch nur, um von Sir John mit einem Schlag seiner Faust im Kettenhandschuh wieder zurückgeschleudert zu werden. «Weiter angreifen», trieb ihn Sir John an, «bedräng mich, wirf mich zu Boden, und dann erledigst du mich!» Stattdessen trat Hook einen Schritt zurück und hob sein Schwert, um den nächsten Schwertstreich Sir Johns abzufälschen. «Was ist los mit dir, verdammt nochmal?», schrie Sir John wütend. «Hast du dir von deiner französischen Hure die Kraft aus dem Körper saugen lassen? Von diesem flachbrüstigen Hungerhaken? Bei Gott, Mann, such dir eine richtige Frau! Goddington!» Sir John sah seinen Centenar an: «Warum machst du dieser verlausten Hure nicht mal die dürren Beine breit und stellst fest, ob ein Kerl dort überhaupt seinen Nagel einschlagen kann!»
Da überkam Hook der Zorn wie eine Welle, die ihn auf Sir Johns Klinge zustürmen ließ, doch der ältere Mann trat nur geschmeidig einen Schritt zur Seite und machte eine kleine
Bewegung mit seinem Schwert, sodass die flache Seite der Klinge auf Hooks Hinterkopf niederfuhr. Hook drehte sich um, holte mit dem Schwert gegen Sir John aus, doch wieder wurde sein Angriff abgewehrt. Sir John trug eine vollständige Rüstung, und doch bewegte er sich so leichtfüßig wie ein Tänzer. Er stieß mit seinem Schwert gegen Hook vor, und nun beherzigte Hook seinen Rat, wehrte den Stoß seitlich ab und warf sich auf seinen Gegner, wollte den älteren Mann mit seiner ganzen Größe und seiner ganzen Körpermasse aus dem Gleichgewicht bringen, und er wusste, dass er Sir John auf den Boden schmettern und ihn dort zu Brei schlagen würde. Doch stattdessen spürte er nur einen dumpfen Schlag auf den Hinterkopf, sein Blick trübte sich, die Welt begann sich zu drehen, und ein zweiter krachender Schlag mit dem schweren Knauf von Sir Johns Schwert schickte ihn mit dem Gesicht voran auf das frühwinterliche Stoppelfeld.
In den nächsten Minuten hörte er nichts von dem, was Sir John sagte. Hooks Kopf schmerzte, und alles um ihn herum wankte, doch als er langsam wieder zu Sinnen kam, verstand er Sir Johns geknurrte Sätze. «Du kannst vor dem Kampf wütend sein! Aber im Kampf hältst du gefälligst dein bisschen Verstand zusammen! Im Kampf ist deine Wut tödlich.» Sir John schubste Hook mit der Stiefelspitze an. «Steh auf. Dein Kettenhemd ist verdreckt. Mach es sauber. Und da ist Rost an deiner Schwertklinge. Ich lasse dich auspeitschen, wenn bei Sonnenuntergang noch etwas davon übrig ist.»
«Er wird dich nicht auspeitschen lassen», sagte Goddington, der Centenar, an diesem Abend zu Hook. «Er schlägt dich, er zieht dir eins mit dem Schwert über, und vielleicht bricht er dir ein paar Knochen, aber nur in einem redlichen Kampf.»
«Ich bin derjenige, der ihm die Knochen brechen wird», sagte Hook rachsüchtig.
Goddington lachte. «Ein Mann, Hook, nur ein einziger Mann hat Sir John in den letzten zehn Jahren zum Kampf herausgefordert. Er hat jedes Turnier in Europa gewonnen. Du kannst ihn nicht schlagen, davon kannst du nicht mal träumen. Er ist ein wahrer Kämpfer.»
«Er ist ein Bastard!», sagte Hook. Sein Hinterkopf war blutverkrustet. Melisande reinigte sein Kettenhemd, und Hook rieb mit einem Stein den Rost von seiner Schwertklinge. Sowohl das Schwert als auch das Kettenhemd hatte ihm Sir John Cornewaille zur Verfügung gestellt.
«Er hat dich nur aufgestachelt, Junge, das hat nichts weiter zu bedeuten», sagte Goddington. «Er beleidigt jeden, aber wenn du sein Mann bist, und das wirst du werden, dann kämpft er für dich. Und er kämpft für deine Frau.»
Am nächsten Tag beobachtete Hook, wie Sir John einen Bogenschützen nach dem anderen zu Boden schickte. Als er an der Reihe war, Sir John gegenüberzutreten, gelang es ihm, ein Dutzend Schläge abzuwehren, bevor er aus dem Gleichgewicht kam, stolperte und niedergeworfen wurde. Mit spöttischer Miene trat Sir John ein paar Schritte zurück, und dieser Spott brachte Hook wieder auf die Füße und trieb ihn zu einem ungezügelten, wilden Angriff mit dem Schwert, den Sir John wie nebenbei zunichtemachte, bevor er Hook erneut zu Fall brachte. «Deine Wut, Hook», knurrte Sir John, «wird dich umbringen, wenn du sie nicht beherrschen kannst, und ein toter Bogenschütze taugt niemandem etwas. Du musst kaltblütig kämpfen, Mann! Kaltblütig und hart! Und gerissen!» Zu Hooks Überraschung streckte er eine Hand aus und zog Hook auf die Füße. «Aber du bist schnell, Hook», sagte Sir John, «du bist schnell. Und das ist gut.»
Sir John musste schon beinahe vierzig Jahre alt sein, aber er war trotzdem immer noch der gefürchtetste Turnierkämpfer in Europa. Er war gedrungen, mit breiter Brust und krummbeinig von all den Jahren im Sattel. Er hatte die hellsten Augen, die Hook je gesehen hatte, und sein Gesicht mit der Nase, die schon einmal gebrochen worden war, zeigte die Narben vieler Kämpfe, mochte er sie nun gegen Aufständische, Franzosen, Wirtshauszänker oder Turniergegner ausgefochten haben. Jetzt, wo ein Krieg mit Frankreich zu erwarten war, stellte er eine Kompanie Bogenschützen auf und eine weitere mit Feldkämpfern. Doch in Sir Johns Augen bestand kein großer Unterschied zwischen seinen Männern. «Wir sind eine einzige Kompanie!», rief er den Bogenschützen zu. «Aus Bogenschützen und Feldkämpfern! Wir kämpfen füreinander! Niemand, der einen von uns verletzt, bleibt ungestraft!» Er wandte sich um und stieß Hook einen metallgeschützten Finger in die Brust. «Du gehörst dazu. Gib ihm seinen Rock, Goddington.»
Peter Goddington brachte Hook einen Wappenrock aus weißem Leinen, das Sir Johns Wappen zeigte: einen steigenden roten Löwen mit einem goldenen Stern auf der Schulter und einer goldenen Krone auf dem Haupt mit den gefletschten Zähnen.
«Willkommen in der Kompanie», sagte Sir John, «und zu deinen neuen Pflichten. Was sind deine neuen Pflichten, Hook?»
«Euch zu dienen, Sir John.»
«Nein! Dafür habe ich Diener! Deine Aufgabe, Hook, ist es, die Welt von jedem zu befreien, der mir nicht passt! Also, was sind deine neuen Pflichten?»
«Die Welt von jedem zu befreien, der Euch nicht passt, Sir John.»
Und darunter schien ein recht großer Teil der Menschheit zu fallen. Sir John Cornewaille liebte seinen König, er verehrte seine nicht mehr junge Frau, die eine Tante des Königs war, er betete die Frauen an, die seine Bastarde austrugen, und er sorgte hingebungsvoll für seine Männer, doch der gesamte Rest der Welt galt ihm als gottverdammter Abschaum, der nichts weiter als den Tod verdiente. Zwar duldete er seine englischen Landsleute, doch die Waliser waren Krautfürze und Zwerge, die Schotten waren dreckige Speichellecker, und die Franzosen waren verschrumpelte Scheißhaufen. «Weißt du, was man mit diesen verschrumpelten Scheißhaufen macht, Hook?»
«Man bringt sie um, Sir John.»
«Man rückt ihnen auf den Pelz und bringt sie um», sagte Sir John. «Du lässt sie deinen Atem riechen, während sie sterben. Du lässt sie dein Grinsen sehen, während du ihnen die Gedärme aus dem Leib schneidest. Du lässt sie leiden, Hook, und dann tötest du sie. Ist das richtig, Pater?»
«Ihr sprecht mit Engelszungen, Sir John», sagte Pater Christopher mit unbewegter Miene. Er war Sir Johns Beichtvater, und er trug, ebenso wie die Kompanie Bogenschützen auf der Wiese, ein Kettenhemd, hohe Stiefel und einen gut sitzenden Helm. Nichts an ihm ließ erkennen, dass er Priester war, sonst hätte er auch nicht in Sir Johns Diensten gestanden. Sir John wollte Soldaten.
«Ihr seid keine Bogenschützen», knurrte Sir John seine Kämpfer auf dem winterlichen Feld an. «Ihr jagt Pfeile los, bis sich die stinkenden Bastarde auf euch stürzen, und dann tötet ihr sie wie andere Feldkämpfer auch! Ihr nützt mir nichts, wenn ihr nur Pfeile abschießen könnt! Ich will euch so nahe bei ihnen kämpfen sehen, dass euch ihre Todesfürze in die Nase steigen! Hast du schon mal einen Mann aus solcher Nähe getötet, dass du ihn hättest küssen können, Hook?»
«Ja, Sir John.»
Sir John grinste. «Dann erzähl mir doch mal von dem letzten Mann, den du getötet hast. Wie hast du es gemacht?»
«Mit einem Messer, Sir John.»
«Wie! Nicht mit was. Wie?»
«Hab seinen Bauch aufgeschlitzt, Sir John», sagte Hook, «und ihm das Messer unter die Rippen gestoßen.»
«Hast du dir dabei die Hand nass gemacht, Hook?»
«Sie hat getrieft, Sir John.»
«Von Franzosenblut, was?»
«Es war ein englischer Ritter, Sir John.»
«Gottverdammt nochmal, Hook, aber du gefällst mir trotzdem!», rief Sir John aus. «So wird es gemacht!», rief er den Bogenschützen zu. «Ihr schlitzt ihnen die Bäuche auf, ihr rammt ihnen die Klingen in die Augen, schneidet ihnen die Kehle durch, reißt ihnen die Eier ab, steckt ihnen euer Schwert in den Arsch, holt ihnen die Eingeweide aus dem Leib, bohrt nach ihrer Leber oder spießt ihre Nieren auf, es ist mir gleich, wie ihr es macht, solange ihr sie umbringt! Ist das richtig, Pater Christopher?»
«Unser Herr und himmlischer Retter hätte es nicht besser ausdrücken können, Sir John.»
«Und nächstes Jahr», sagte Sir John und starrte seine Bogenschützen finster an, «ziehen wir vielleicht schon in den Krieg! Unser König, Gott schütze ihn, ist der rechtmäßige König von Frankreich, doch die Franzosen verweigern ihm seinen Thron, und wenn Gott tut, was Er tun sollte, dann wird Er uns in Frankreich einfallen lassen. Und wenn das geschieht, werden wir bereit sein!»
Niemand wusste genau, ob es Krieg geben würde oder nicht. Die Franzosen schickten Gesandtschaften zu König Henry, der wiederum Gesandte nach Frankreich schickte, und Gerüchte zogen durch England wie der Winterregen, den der Westwind mitbrachte. Sir John jedoch war überzeugt davon, dass es Krieg geben würde, und er schloss einen Vertrag mit dem König, ebenso wie es Dutzende anderer Männer taten. Der Vertrag verpflichtete Sir John, dreißig Feldkämpfer und neunzig Bogenschützen für zwölf Monate in die Dienste des Königs zu stellen, und im Gegenzug versprach der König, Sir John und seinen Männern einen Sold zu zahlen. Der Vertrag war in London aufgesetzt worden, und Hook hatte zu den zehn Männern gehört, die mit nach Westminster geritten waren, als Sir John seine Unterschrift darunter gesetzt und sein Löwensiegel in einen Wachsklecks gedrückt hatte. Der Schreiber hatte gewartet, bis das Wachs getrocknet war, und das Pergament anschließend in zwei ungleiche Teile geschnitten, dabei war er nicht säuberlich vorgegangen, sondern hatte seine Klinge von oben nach unten aufs Geratewohl im Zickzack durch das Dokument gezogen. Eines der gezackten Teile hatte er in einen weißen Leinenbeutel gesteckt, das andere Sir John übergeben. Sollte nun irgendwer die Herkunft des Dokuments anzweifeln, so konnten die beiden ungleichen Teile wieder aneinandergelegt werden, zudem konnte keine der beiden Vertragsparteien das Dokument verfälschen und erwarten, dass diese Fälschung unentdeckt blieb. «Der Schatzmeister wird Euch Eure Gelder zukommen lassen, Sir John», sagte der Schreiber.
Der König brachte Geld auf, indem er Steuern einnahm, Anleihen machte und Edelsteine verpfändete. Sir John erhielt einen Beutel mit Münzen und einen zweiten Beutel, der lose Edelsteine, eine goldene Brosche und eine massive Silberschatulle enthielt. Der Wert erlaubte es Sir John nicht, weitere Männer aufzustellen oder die Waffen und Pferde zu kaufen, die er brauchte, also lieh er sich in London Geld von einem italienischen Bankkaufmann.
Männer, Pferde, Rüstungen und Waffen mussten erworben werden Sir John, seine Knappen, Junker und Diener brauchten allein schon mehr als fünfzig Reittiere. Jeder berittene Soldat sollte wenigstens drei Pferde bekommen, darunter ein geübtes Tier für die Schlacht, und für die Bogenschützen beschaffte Sir John jeweils ein Reitpferd. Damit all diese Pferde gefüttert werden konnten, musste bis zum Frühling, wenn die Wiesen wieder grün wurden, Heu gekauft werden. Die Feldkämpfer besaßen eigene Rüstungen und Waffen, doch Sir John ließ noch hundert Kurzlanzen für den
Kampf Mann gegen Mann anfertigen. Zudem hatte er seine neunzig Bogenschützen mit Kettenhemden, Helmen, guten Stiefeln und einer Waffe für den Nahkampf ausgestattet, für den Fall, dass sie ihren Bogen nicht einsetzen konnten. «Schwerter werden euch nicht viel helfen», erklärte er den Bogenschützen. «Eure Gegner werden in voller Rüstung kämpfen, und ihr könnt einen Plattenpanzer nicht mit einem Schwert durchbohren. Also benutzt ihr die Kampfaxt! Schlagt die Bastarde damit nieder! Dann kniet ihr euch diesen Schwanzlutschern auf die Brust, klappt ihr Helmvisier hoch und stecht euer Messer in eins von ihren Drecksaugen.»
«Es sei denn, sie sind vermögend», warf Pater Christopher mit milder Stimme ein. Der Priester war der älteste Mann in Sir Johns Kompanie, er hatte die vierzig schon überschritten, rundliche Wangen, ein spöttisches Lächeln, graues Haar, und aus seinen Augen sprachen sowohl Neugierde als auch Mutwille.
«Es sei denn, der Schwanzlutscher ist vermögend», stimmte Sir John zu. «In diesem Fall nehmt ihr ihn gefangen und macht mich damit reich!»
Sir John ließ einhundert Kampfäxte für seine Bogenschützen anfertigen. Hook, der wusste, wie man Holz beschnitzt, half dabei, die langen Eschenholzgriffe abzuziehen, während der Schmied an den Kopfkeilen arbeitete. Die eine Seite der Keile konnte wie ein Hammer eingesetzt werden und war zusätzlich mit Blei beschwert. Damit konnte die Platte einer Rüstung eingeschlagen oder zumindest ein Mann in Rüstung aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Die gegenüberliegende Seite war als Schneide geformt, und wenn sie mit der Kraft eines Bogenschützen geführt wurde, konnte sie einen Helm durchtrennen, als wäre er aus Pergament. Und schließlich saß oben auf dem Axtkopf ein Dorn, der schmal genug war, um ihn durch die Schlitze eines Helmvisiers zu stoßen. Der obere Teil des Schaftes jeder Axt war mit Eisen verkleidet, sodass der Gegner den Griff nicht durchtrennen konnte. «Wundervoll», sagte Sir John, als die ersten Waffen fertig waren. Er strich über den eisenummantelten Griff, als wäre es der Schenkel einer Frau. «Einfach wundervoll.»
Gegen Ende des Frühlings kam die Nachricht, dass Gott Seine Pflicht getan hatte, indem Er den König von einem Angriff auf Frankreich überzeugte. Und so rückte Sir Johns Kompanie Richtung Süden aus. Die Straßen waren von blühenden Weißdornhecken gesäumt, und Sir John war angesichts der Aussicht auf Krieg froh und voller Schwung. Er ritt an der Spitze, gefolgt von seinen Knappen, seinem Junker und einem Standartenträger, der die Flagge mit dem gekrönten roten Löwen und dem goldenen Stern trug. Drei Karren waren mit Verpflegung, Kurzlanzen, Rüstungen, zusätzlichen Bogenschäften und Pfeilbündeln beladen. Die Straße führte durch Wälder, in denen Meere blauer Glockenblumen blühten, und vorbei an Heuwiesen, auf denen der erste Schnitt in langen flachen Haufen zum Trocknen auslag. Frisch geschorene Schafe standen auf den Weidegründen und sahen nackt und mager aus. Immer mehr Kampftrupps schlossen sich dem Zug an, alle waren beritten, alle trugen unbekannte Wappenröcke, und alle waren in Richtung Südküste unterwegs, wo der König die Männer zusammengerufen hatte, die seine Verträge unterzeichnet hatten. Die meisten der Reiter, so bemerkte Hook, waren Bogenschützen, sie übertrafen die Feldkämpfer zahlenmäßig etwa um das Dreifache. Die Langbögen steckten in Futteralen, die sich ihre Besitzer über die Schulter gehängt hatten.
Hook war glücklich. Sir Johns Männer waren jetzt seine Gefährten. Peter Goddington, der Centenar, war ein gerechter Mann, wenn er auch manchmal zum Zaudern neigte, doch er brachte den Männern große Herzlichkeit entgegen, und diese teilten seinen Traum, die beste Bogenschützen-Kompanie Englands aufzustellen. Thomas Evelgold folgte ihm in der Befehlskette. Er war, ebenso wie Goddington, mit seinen fast dreißig Jahren ein älterer Mann. Er war mürrisch und kein so schneller Denker wie der Centenar, doch er unterstützte die jüngeren Bogenschützen widerwillig, unter denen Hook einige besondere Freunde gefunden hatte. Da waren zunächst die Zwillinge Thomas und Matthew Scarlet, ein Jahr jünger als Hook, und Will of the Dale, der seiner Mannschaft Lachtränen in die Augen treiben konnte, wenn er Sir John nachahmte. Die vier tranken zusammen, aßen zusammen, lachten zusammen und maßen ihre Kräfte aneinander, auch wenn es unter sämtlichen Bogenschützen unbestritten war, dass keiner besser schießen konnte als Nicholas Hook. Sie hatten sich den ganzen Winter an den Waffen geübt, und jetzt lag Frankreich vor ihnen, und Gott stand auf ihrer Seite. Das hatte ihnen Pater Christopher in seiner Predigt versichert, die er am Tag vor ihrem Ausrücken gehalten hatte. «Es ist ein gerechter Streit, den unser Herr König mit Frankreich führt», hatte der Priester mit ungewohntem Ernst gesagt, «und unser Gott wird ihn nicht im Stich lassen. Wir ziehen aus, um Unrecht in Recht zu verwandeln, und die himmlischen Heerscharen werden an unserer Seite sein!»
Hook verstand den Streit nicht. Er hatte nur verstanden, dass es irgendwo in der Familiengeschichte des Königs eine Hochzeit gegeben hatte, die Henry auf den französischen Thron führte, und vielleicht war er der rechtmäßige König von Frankreich und vielleicht auch nicht, doch das kümmerte Hook nicht. Er war einfach nur glücklich, den Sternenlöwen Cornewailles zu tragen.
Und er war glücklich, weil Melisande zu den Frauen gehörte, die zur Begleitung der Kompanie ausgewählt worden waren. Sie ritt eine kleine, schmal gebaute Stute, die Sir Johns Frau, der Schwester des alten Königs, gehörte, und sie ritt gut. «Wir müssen Frauen mitnehmen», hatte Sir John erklärt.
«Gott ist gnädig», hatte Pater Christopher gemurmelt.
«Wir können unsere Kleidung nicht selbst waschen!», hatte Sir John gesagt. «Wir können nicht nähen! Wir können nicht kochen! Sind doch nützliche Wesen, diese Frauen! Außerdem wollen wir es nicht treiben wie die Franzosen! Die bespringen sich gegenseitig, wenn gerade kein Schaf zur Hand ist, also nehmen wir ein paar Frauen mit!» Es gefiel ihm, wenn Melisande an seiner Seite ritt, und auch wenn sie inzwischen recht gut Englisch sprach, schwatzte er unausgesetzt französisch mit ihr und brachte sie zum Lachen.
«Er hasst die Franzosen eigentlich gar nicht», sagte Melisande eines Abends zu Hook, als sie an einer Stadt mit einer großen Abtei vorbeikamen. Die Glocke der Abteikirche rief die Gläubigen zum Gebet, doch Hook rührte sich nicht. Er saß mit Melisande an einem kleinen Fluss, der sich gemächlich durch fette Auen wand. Auf der anderen Seite des Flüsschens, zwei Äcker entfernt, errichtete eine weitere Kompanie aus Bogenschützen und Feldkämpfern ihr Lager. Die Feuer von Sir Johns Männern brannten schon und hüllten die Bäume und den Kirchturm der Abtei in Rauch. «Es gefällt ihm einfach, Grobheiten über die Franzosen zu sagen», fuhr Melisande fort.
«Wie über alle anderen auch.»
«Im Innersten ist er ein freundlicher Mann», sagte Melisande und lehnte sich dann zurück, damit sie ihren Kopf an Hooks Brust legen konnte. Im Stehen reichte sie ihm kaum bis an die Schulter. Hook liebte ihre Zartheit, auch wenn er inzwischen gelernt hatte, dass ihre zierliche Erscheinung trügerisch war, denn Melisande besaß die geschmeidige Stärke eines Bogenschaftes, und wie ein Bogen, der sich nach seiner Bespannung gekrümmt hatte und diese Krümmung auch beibehielt, wenn die Sehne ausgehängt war, verteidigte sie ihre Ansichten mit aller Kraft. Er liebte das an ihr. Aber er hatte auch Angst um Melisande.
«Vielleicht hättest du nicht mitkommen sollen», sagte Hook.
«Warum? Weil es gefährlich ist?»
«Ja.»
Melisande zuckte mit den Schultern. «Für Franzosen ist es in Frankreich sicherer als für Engländer, glaube ich. Wenn sie Alica oder Matilda gefangen nehmen, werden sie geschändet.» Alica und Matilda waren ihre Freundinnen.
«Und du nicht?»
Melisande schwieg einen Moment lang, vielleicht dachte sie an Soissons. «Ich wollte mitkommen», sagte sie schließlich.
«Warum?»
«Um bei dir zu sein», sagte sie, und ganz selbstverständlich setzte sie hinzu: «Was ist ein Centenar?»
«Einer wie Peter Goddington? Das ist einfach ein Mann, der Bogenschützen anführt.»
«Und ein Ventenar?»
«Also, ein Centenar führt sehr viele Bogenschützen an, ungefähr einhundert. Und ein Ventenar ist für vielleicht zwanzig verantwortlich. Und alle beide sind Sergeants.»
Melisande dachte ein paar Momente über diese Worte nach. «Du solltest ein Ventenar sein, Nick.»
Hook lächelte, sagte aber nichts. Das Wasser des Flusses glitt kristallklar über sein sandiges Bett, an dem Hahnenfuß und Schaumkraut träge im Wind schaukelten. Eintagsfliegen tanzten über dem Wasserspiegel, und von Zeit zu Zeit sprang eine Forelle aus dem Fluss, um nach ihnen zu schnappen. Zwei Schwäne mit vier Küken schwammen am anderen Ufer entlang, und während Hook sie beobachtete, bemerkte er vor sich einen Schatten im Wasser. «Nicht bewegen», ermahnte er Melisande und zog langsam die Bogentasche von seiner Schulter herunter.
«Sir John kennt meinen Vater», sagte Melisande unvermittelt.
«Wirklich?», fragte Hook überrascht. Er schnürte die Ledertasche auf und nahm mit ruhigen Bewegungen den Bogen heraus.
«Ghillebert.» Melisande sprach den Namen langsam aus, als ob sie ihn gerade zum ersten Mal gehört hätte, «der Seigneur de Lanferelle.»
Pater Michel, bei dem sie in Frankreich gewohnt hatten, hatte gesagt, Melisandes Vater sei Seigneur d'Enfer, doch Hook vermutete, dass er sich verhört hatte. «Also ist er ein Lord, was?», bemerkte er.
«Adlige haben viele Kinder», sagte Melisande, «et je suis une bâtarde.»
Hook sagte nichts. Er stützte den Bogenschaft an dem Stamm einer Esche ab und bog ihn, um die Sehnenschlinge über die obere Nocke zu ziehen.
«Ich bin ein Bastard», sagte Melisande bitter. «Deshalb hat er mich ins Kloster geschickt.»
«Um dich zu verstecken.»
«Und um mich zu schützen, glaube ich», sagte Melisande. «Er hat der Äbtissin Geld gegeben. Er hat für mein Essen und mein Bett bezahlt. Er hat gesagt, dort wäre ich sicher.»
«Sicher, um eine Dienstmagd zu werden?»
«Meine Mutter war auch eine Dienstmagd. Warum sollte ich also keine werden? Und eines Tages wäre ich Nonne geworden.»
«Du bist kein Dienstmädchen», sagte Hook, «du bist die Tochter eines Adligen.» Er nahm einen Pfeil aus der Tasche, eine Ahlspitze mit einem schmal zulaufenden, scharfen und schweren Kopf. Er hielt den Bogen waagerecht über seinen Beinen, legte den Pfeil auf den Schaft und ließ das eingekerbte, befiederte Ende auf die Bogensehne gleiten. Der Schatten rührte sich. «Wie gut kennst du deinen Vater?», fragte Hook.
«Ich habe ihn nur zwei Mal gesehen», sagte Melisande. «Das erste Mal war ich noch sehr klein, und ich erinnere mich kaum daran, und dann noch ein Mal, bevor ich ins Kloster kam. Ich mochte ihn.» Sie hielt inne, um nach den richtigen englischen Wörtern zu suchen. «Am Anfang, da mochte ich ihn.»
«Und mochte er dich auch?», fragte Hook, ohne nachzudenken, denn er hatte seine Aufmerksamkeit eher auf den Schatten gerichtet als auf Melisande. Er spannte den Bogen, den er immer noch waagerecht hielt, weil er vermeiden wollte, dass der Schatten stromaufwärts verschwand, wenn er ihn aufrichtete.
«Er war so», sie unterbrach sich, suchte nach dem Wort, «beau. Er war groß. Und er hatte ein schönes Wappen. Eine große gelbe Sonne mit goldenen Strahlen. Und über der Sonne ist der Kopf eines ...»
«Adlers», unterbrach sie Hook.
«Un faucon», sagte Melisande.
«Also ein Falke», sagte Hook und erinnerte sich an den langhaarigen Mann, der auf dem Platz vor der Kirche Saint-Antoine-Le-Petit zugesehen hatte, wie die Bogenschützen umgebracht wurden. «Er war in Soissons», fuhr er fort. Er hielt inne, den Bogen halb gespannt. Der Schatten bewegte sich, und Hook dachte, er würde stromabwärts verschwinden, doch dann glitt er zur anderen Uferseite hinüber.
Melisande starrte in Hooks Gesicht hinauf. «Er war dort?»
«Langes schwarzes Haar», sagte Hook.
«Ich habe ihn nicht gesehen!»
«Du hattest fast die ganze Zeit deinen Kopf in meine Schulter vergraben», sagte Hook. «Du wolltest es nicht sehen. Sie haben die Männer gefoltert. Ihnen die Augen ausgestochen. Sie herausgeschnitten.»
Melisande verharrte schweigend. Hook hob den Bogen etwas, dann sprach sie erneut, doch ihre Stimme war leise. «Mein Vater wird noch anders genannt», sagte sie, «der Seigneur d'Enfer.»
«Das ist der Name, den ich gehört habe», sagte Hook.
«Der Seigneur d'Enfer», wiederholte Melisande. «Der Herr der Hölle. Das kommt daher, dass Lanferelle so ähnlich klingt wie l'enfer, und l'enfer bedeutet Hölle. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass er im Kampf so erbarmungslos ist. Er hat viele Männer in die Hölle geschickt, glaube ich. Und manche in den Himmel.»
Schwalben jagten über dem Fluss umher, und aus dem Augenwinkel sah Hook das blaue Aufblitzen eines Eisvogels im Flug. Der Schatten stand wieder still. Hook zog die Sehne weiter zurück, konnte sie jedoch nicht ganz spannen, weil Melisandes schlanker Körper im Weg war, doch auch halb gespannt war der große Kriegsbogen eine schreckliche Waffe.
«Er ist kein schlechter Mann», sagte Melisande, als wolle sie sich selbst überzeugen.
«Du klingst aber nicht sehr sicher», erwiderte Hook.
«Er ist mein Vater.»
«Der dich in ein Nonnenkloster gesteckt hat.»
«Ich wollte nicht hin!», sagte sie erbittert. «Ich habe es ihm gesagt! Nein! Nein!»
Hook lächelte. «Du wolltest also keine Nonne werden, was?»
«Ich kannte die Schwestern. Meine Mutter hatte mich mitgenommen, wenn sie die Nonnen besucht hat. Wir haben ihnen», sie hielt inne und suchte vergeblich nach den englischen Worten, «les prunes de damas, abricots et coings gegeben.» Sie zuckte mit den Schultern. «Ich weiß nicht, wie das heißt. Wir haben den Schwestern Früchte gebracht, aber sie waren trotzdem niemals freundlich zu uns. Sie waren abscheulich.»
«Dennoch hat dich dein Vater zu ihnen geschickt.»
«Er hat gesagt, ich soll für ihn beten. Das war meine Aufgabe. Aber weißt du, worum ich stattdessen gebetet habe? Ich habe darum gebetet, dass er eines Tages wiederkommen würde», sagte sie sehnsüchtig, «dass er auf seinem großen Pferd durch den Klostergarten reiten und mich mitnehmen würde.»
«Willst du deshalb nach Frankreich?»
Sie schüttelte den Kopf. «Ich will bei dir sein.»
«Deinem Vater würde ich nicht gefallen.»
Das tat sie mit einem Schulterzucken ab. «Warum sollte er uns je wieder begegnen?»
Hook zielte genau unter den Schatten, ohne darüber nachzudenken, dass er zielte. Stattdessen dachte er an einen großen Mann mit langem schwarzem Haar, der nichts tat, um Folter und Qual zu beenden. Er dachte an den Herrn der Hölle. «Abendessen», sagte er schroff und ließ die Bogensehne los.
Der Pfeil schnellte davon. Seine weißen Federn schimmerten im Licht der untergehenden Sonne. Er fuhr ins Wasser, das plötzlich zu kochen schien, und der rasende Wirbel verjagte die Forellen stromaufwärts, und das Wasser war immer noch aufgewühlt, als Hook in den Fluss sprang.
Der Pfeil war durch den Hecht gefahren, bevor er sich ins gegenüberhegende Ufer gebohrt hatte, und Hook musste sich mit den Füßen gegen den Abhang stemmen, um den Schaft aus der Erde zu ziehen. Er trug den Fisch zurück. Der Hecht wand sich am Pfeilschaft und versuchte Hook zu beißen, doch als Hook das westliche Ufer erreicht hatte, schlug er dem Hecht mit dem Griff seines Messers auf den Kopf, und der riesige Fisch war sofort tot. Er war beinahe so lang wie Hooks Bogen, ein großer dunkler Jäger mit grausamen Zähnen.
«Un brochet!», sagte Melisande erfreut.
«Ein Hecht», sagte Hook, «da ist viel Fleisch dran.» Er nahm den Fisch direkt am Ufer aus und warf die Innereien in den Fluss zurück.
Am nächsten Tag führte Sir John eine Gruppe seiner Männer nach Westen, um Korn, Trockenerbsen und Räucherfleisch zu kaufen. Er überließ Hook dabei die bequemste Aufgabe, die darin bestand, in einem Dorf an einem Taleinschnitt zu bleiben und den Wagen zu bewachen, der vor einem Gasthaus namens Maus und Käse stand und nach und nach mit Säcken und Fässern voller Vorräte beladen wurde. Die zwei Zugpferde des Wagens waren auf der Dorf wiese angepflockt. Hooks Bogen lag unbespannt neben dem Krug Ale, den ihm der Wirt gegeben hatte, auf einem Tisch vor dem Gasthaus. Hook aber stand auf der Ladefläche des Wagens und stampfte Mehl in einem Fass fest. Pater Christopher, in Hemd, Kniehose und Stiefeln, wanderte durch das Dorf, spähte in die Hütten, streichelte hier und da eine Katze und neckte die Frauen, die an dem Fluss, an dem das Dorf lag, ihre Wäsche wuschen. Schließlich kam er zum Maus und Käse zurück und ließ einen kleinen Beutel mit Silbermünzen auf den Tisch fallen. Es war die Aufgabe des Priesters, für sämtliche Nahrungsmittel zu zahlen, die ihnen die Bauern und Dörfler verkaufen wollten. «Warum schlägst du das Mehl, Hook?», fragte der Priester.
«Ich stampfe es dicht zusammen, Pater. Salz, Haselsträucher und Mehl!»
Pater Christopher zog eine übertriebene Grimasse des Abscheus. «Du salzt das Mehl ein?»
«Auf dem Grund des Fasses ist eine Schicht Salz», erklärte Hook, «damit das Mehl nicht feucht wird. Und die Hasel-sträucher stecke ich hinein, damit es frisch bleibt.» Er hielt ein paar Haselruten hoch, die er an einer Hecke geschnitten und vom Blattwerk befreit hatte.
«Und das bringt etwas?», fragte der Priester.
«Aber natürlich bringt das etwas! Habt Ihr noch nie Mehl von einer Mühle geholt?»
«Hook!», rief Pater Christopher mit gespielter Strenge. «Ich bin ein Mann Gottes. Wir arbeiten nicht!» Er lachte.
Hook stieß noch ein paar Haselruten in das Fass, trat dann zurück und klopfte sich das Mehl von den Händen. «So, das war ein schönes Stück Arbeit», sagte er und nickte in Richtung des Fasses.
Pater Christopher lächelte wohlwollend, lehnte sich dann zurück und ließ seinen Blick über die sonnenbeschienenen Wälder streifen, die sich hinter den strohgedeckten Häusern des Dorfes über die Hügel zogen. «Gott, ich liebe England», sagte er, «und nur Gott allein weiß, warum der junge Hal Frankreich haben will.»
«Weil er der König von Frankreich ist», sagte Hook.
Pater Christopher zuckte mit den Schultern. «Er stellt einen Anspruch, Hook, aber das tun auch noch andere. Wenn ich König von England wäre, würde ich hierbleiben. Ist das dein Ale?»
«Ja, Pater.»
«Dann sei ein Christenmensch und gib mir etwas davon ab», sagte Pater Christopher. Dann hob er den Krug in Hooks Richtung, bevor er davon trank. «Aber wir gehen nach Frankreich, und sicher werden wir gewinnen.»
«Werden wir das?»
«Die Antwort auf diese Frage kennt Gott allein, Hook», sagte Pater Christopher, mit einem Mal nachdenklich geworden. «Wir haben es mit einer mächtigen Anzahl Franzosen zu tun! Und wenn sie aufhören, sich untereinander zu streiten, und sich gemeinsam gegen uns wenden? Allerdings haben wir noch die hier», er klopfte auf Hooks Bogen, «und sie nicht.»
«Darf ich Euch etwas fragen, Pater?», sagte Hook und kletterte von dem Wagen herunter, um sich neben den Priester zu setzen.
«Oh, aber um der Liebe Christi willen frag mich nicht, auf welcher Seite Gott steht.»
«Ihr habt uns selbst erklärt, Er stünde auf unserer Seite!»
«Stimmt, Hook, das habe ich getan, und genau dasselbe sagen Tausende französischer Priester zu den Franzosen!» Pater Christopher grinste. «Lass mich dir einen priesterlichen Rat erteilen, Hook. Setz dein Vertrauen in deinen Eibenbogen, mein Junge, und nicht in die Worte irgendeines Priesters.»
Hook berührte den Bogen und spürte den schlüpfrigen Talg, den er in das Holz gerieben hatte. «Was wisst Ihr über Sankt Crispinian, Pater?»
«Oh, eine theologische Befragung», sagte Pater Christopher. Er trank Hooks Ale aus und klopfte dann mit dem Krug auf den Tisch, um dem Wirt zu bedeuten, dass er noch eines haben wollte. «Ich bin nicht sicher, ob mir noch viel über ihn einfällt! Ich habe in Oxford weniger angestrengt studiert, als ich es hätte tun sollen. Mir haben dort zu viele Mädchen gefallen.» Er lächelte. «Es gab dort ein Freudenhaus, Hook, in dem alle Mädchen als Nonnen gekleidet waren. Man kam vor lauter Priestern kaum in das Haus hinein! Ich habe dort mindestens ein halbes Dutzend Mal den Bischof von Oxford getroffen. Das waren glückliche Zeiten.» Er seufzte und verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. «Also, was weiß ich noch? Nun, Crispinian hatte einen Bruder namens Crispin, auch wenn nicht alle glauben, dass sie wirklich Brüder waren. Manche meinen, sie waren Adelige, und manche sagen, sie waren keine. Sie waren möglicherweise Schuhmacher, was nun nicht gerade nach der Beschäftigung von Adeligen klingt, nicht wahr? Aber mit Sicherheit waren sie Römer. Sie lebten vor ungefähr tausend Jahren, Hook, und natürlich wurden sie als Märtyrer gefoltert. »
«Also ist Crispinian im Himmel», sagte Hook.
«Er und sein Bruder sitzen zur Rechten Gottes», bestätigte Pater Christopher, «und ich hoffe, dass sie an diesem Platz schneller bedient werden als ich hier!» Er klopfte wieder mit dem Krug auf den Tisch, und ein Mädchen eilte aus dem Wirtshaus und wurde mit einem breiten priesterlichen Lächeln empfangen. «Mehr Ale, mein Herzchen», sagte Pater Christopher und ließ eine von Sir Johns Münzen über den Tisch zu ihr rollen. «Zwei Krüge, mein Herz.» Er lächelte erneut und seufzte dann, als das Mädchen wieder verschwunden war. «Oh, ich wünschte, ich wäre noch einmal jung.»
«Aber Ihr seid jung, Pater.»
«Lieber Gott, ich bin dreiundvierzig! Bald bin ich tot! So tot wie Crispinian, auch wenn er kaum umzubringen war.»
«Wie meint Ihr das?»
Pater Christopher runzelte die Stirn. «Ich versuche gerade, mich genauer zu erinnern. Er und Crispin wurden für ihren Christenglauben gefoltert. Sie wurden auf die Streckbank geschnallt, es wurden ihnen Ahlen unter die Fingernägel getrieben, und man hat ihnen Fleischstücke aus dem Körper geschnitten, aber nichts davon hat sie umgebracht! Sie haben ihren Folterern die ganze Zeit immer nur das Lob Gottes vorgesungen! Ich bin nicht sicher, dass ich so tapfer sein könnte.» Er bekreuzigte sich und lächelte dann, als das Mädchen die Alekrüge auf den Tisch stellte. Er winkte ab, als es ihm ein paar Münzen als Wechselgeld geben wollte.
«So ging das also», fuhr er fort, die Erzählung sichtlich genießend, «und der Mann, der sie folterte, beschloss am Ende, sie schnell zu Tode zu bringen. Vielleicht konnte er auch ihre Gesänge nicht mehr hören. Jedenfalls hat er ihnen Mühlsteine um den Hals gebunden und sie in den Fluss geworfen.
Aber das hat auch nichts gebracht, weil die Mühlsteine geschwommen sind! Also hat der Folterer sie wieder aus dem Fluss gezogen und sie ins Feuer geworfen! Und sogar daran sind sie nicht gestorben. Sie haben immer weiter gesungen, und die Flammen haben sie nicht berührt, und Gott hat den Folterer mit Verzweiflung erfüllt, und da ist der elende Mann selbst ins Feuer gesprungen. Er ist verbrannt, aber die beiden Heiligen haben überlebt.»
Am Ende der Dorfstraße tauchte eine kleine Reitergruppe auf. Hook warf einen flüchtigen Blick in ihre Richtung, doch keiner trug den Wappenrock Sir John Cornewailles, also wandte er sich wieder dem Priester zu.
«Gott hat die Brüder vor Tod auf der Folterbank, vor dem Ertrinken und vor dem Feuer bewahrt», sagte Pater Christopher, «aber aus irgendeinem Grund hat Er sie schließlich doch sterben lassen. Der Kaiser hat ihnen die Köpfe abschlagen lassen. Da war dann wirklich Schluss mit ihrem Gesang. Das versteht sich doch, oder?»
«Aber es war immer noch ein Wunder», sagte Hook ehrfürchtig.
«Es war ein Wunder, dass sie so lange überlebt haben», stimmte Pater Christopher ihm zu. «Aber warum willst du so viel über Crispinian wissen? Eigentlich ist er ein französischer Heiliger, keiner von unseren. Er und sein Bruder sind nach Frankreich gezogen, verstehst du? Um ihrer Berufung zu folgen.»
Hook zögerte. Er war nicht sicher, ob er bekennen sollte, dass der geköpfte Heilige zu ihm gesprochen hatte, doch bevor er noch eine Entscheidung treffen konnte, erklang eine höhnische Stimme. «Gott steh mir bei!», sagte die Stimme. «Jetzt seht euch an, wen wir hier haben! Master Nicholas Hook!»
Hook sah auf. Sir Martin schaute siegessicher aus seinem Sattel auf ihn herunter. Es waren acht Reiter, und bis auf Sir Martin trugen sie alle den Mond und die Sterne Lord Slaytons. Unter ihnen waren Thomas Perrill und sein Bruder Robert, ebenso wie Lord Slaytons Centenar, William Snoball. Hook kannte sie alle.
«Freunde von dir?», fragte Pater Christopher.
«Ich dachte, du seist tot, Hook», sagte Sir Martin. Er trug eine Mönchskutte, die er hochgerafft hatte, sodass er sich mit seinen mageren Beinen auf den Sattel setzen konnte, und obwohl es Priestern verboten war, Waffen mit geschliffenen Klingen zu tragen, hing an seiner Seite ein altertümliches Schwert mit einem großen Querstück zwischen Griff und Schneide. «Ich hatte gehofft, du seist tot», fügte er hinzu, «verdammt, verurteilt, verendet.» Er verzog sein Gesicht zu etwas, das wohl ein Grinsen sein sollte.
«Ich lebe», erwiderte Hook knapp.
«Und du trägst den Wappenrock eines anderen Mannes», sagte Sir Martin, «und das ist nicht recht, Hook, das ist gar nicht recht. Es widerspricht Recht und Gesetz, und es wird Lord Slayton nicht gefallen. Gehört das dir?» Er deutete auf den Wagen.
«Das gehört uns», antwortete Pater Christopher liebenswürdig.
Bei diesen Worten schien Sir Martin zum ersten Mal die Anwesenheit Pater Christophers aufzufallen. Er sah den grauhaarigen Mann einen Augenblick lang genau an und schüttelte dann den Kopf. «Ich kenne Euch nicht», sagte er, «und ich muss Euch auch nicht kennen. Was ich brauche, ist Verpflegung. Deshalb sind wir gekommen, und hier», er deutete mit einem knochigen Finger auf den Wagen, «ist unsere Verpflegung. Wie Manna vom Himmel. Wie Gott die Raben gesandt hat, um Elija den Tischbiter zu ernähren, hat Er uns Hook gesandt.» Er hielt das für sehr erheiternd und lachte in sich hinein, und dieses Lachen klang ein wenig irr.
«Aber diese Nahrungsmittel gehören uns», sagte Pater Christopher, als spräche er zu einem kleinen Kind.
«Aber er», höhnte Sir Martin und deutete auf Hook, «er, er, er», und bei jeder Wiederholung stieß er seinen Finger in Hooks Richtung, «dieses Stück Dreck neben Euch, ist Lord Slaytons Mann. Und er ist ein Geächteter.»
Pater Christopher warf Hook einen überraschten Blick zu. «Bist du das?», fragte er.
Hook nickte schweigend.
«Soso», sagte Pater Christopher milde.
«Ein Geächteter kann keinen Besitz haben», schnarrte Sir Martin, «so lautet das Gebot in der Heiligen Schrift, also gehören diese Nahrungsmittel uns.»
«Das denke ich nicht», gab Pater Christopher ruhig zurück und lächelte.
«Ihr mögt denken, was Ihr wollt», sagte Sir Martin mit unvermittelter Schroffheit, «weil wir es ohnehin mitnehmen werden, und außerdem werden wir ihn mitnehmen.» Er deutete auf Hook.
«Kennt Ihr dieses Wappen?», erkundigte sich Pater Christopher mit einer Handbewegung in Richtung von Hooks Wappenrock freundlich.
«Ein Geächteter kann keinen Wappenrock tragen», sagte Sir Martin. Er war in Hochstimmung angesichts der Freuden, die ihm Hooks baldiges Sterben verschaffen würde. «Tom!», er drehte sich im Sattel um und sah den älteren der Perrill-Brüder an. «Reiß ihm diesen Wappenrock herunter, fessle seine Hände und bring ihn her.»
William Snoball hatte einen Pfeil auf seinen Bogen gespannt. Die anderen Reiter folgten seinem Beispiel, sodass jetzt ein halbes Dutzend Pfeile auf Hook gerichtet waren, als Tom Perrill aus dem Sattel glitt. «Darauf habe ich schon lange gewartet», sagte Perrill. Auf seinem Gesicht mit der langen Nase und dem eckigen Kinn, das genauso aussah wie das von Sir Martin, lag ein Grinsen. «Lassen wir ihn gleich hier baumeln, Sir Martin?»
«Das würde Lord Slayton die Mühe einer Verhandlung ersparen, nicht wahr?», sagte der Priester. «Und es würde Seine Lordschaft vor den Anfechtungen des Mitleids bewahren.» Erneut schüttelte ihn ein Kichern.
Pater Christopher erhob warnend eine Hand, doch Tom Perrill beachtete die Geste nicht. Er ging um den Tisch herum und wollte Hook gerade packen, als ihn ein Geräusch aufhielt. Ein Schwert war mit hellem Zischen aus der Scheide gezogen worden.
Sir Martin wandte sich um.
Ein einzelner Reiter beobachtete das Geschehen vom Rand des Dorfes aus. Kurz hinter ihm standen weitere Berittene, doch offenkundig war ihnen befohlen worden zu warten.
«Ich würde Euch wirklich raten», sagte Pater Christopher mit sehr sanfter Stimme, «diese Pfeile von den Bögen zu nehmen.»
Keiner der Bogenschützen befolgte seinen Rat. Sie warfen beunruhigte Blicke auf Sir Martin, doch Sir Martin schien nicht zu wissen, was er tun sollte, und in diesem Moment gab der einzelne Reiter seinem Hengst die Sporen.
«Sir Martin!» William Snoball wartete auf einen Befehl.
Aber Sir Martin sagte nichts. Er sah einfach nur zu, wie der Bewaffnete auf ihn zugaloppierte. Die Hufe ließen Staub aufwirbeln, und der Reiter holte mit dem Schwert aus, und dann, als er vorbeiritt, schlug er einmal zu.
Die flache Seite des Schwertes traf Robert Perrill am Kopf. Der Bogenschütze, der zufällig zum Ziel dieses Angriffs geworden war, kippte langsam aus dem Sattel und fiel schwer auf die Straße. Der Pfeil, den seine erschlafften Finger unwillkürlich hatten abschnellen lassen, schlug in die Außenmauer des Gasthauses ein und durchbohrte sie halb. Er hatte Hook um kaum eine Handbreit verfehlt. Tom Perrill lief zurück, um seinem Bruder zu helfen, der sich halb bewusstlos im Staub wand, und blieb wie erstarrt stehen, als Sir John Cornewaille sein Pferd wendete. Sir John galoppierte erneut los, und dieses Mal nahmen Sir Martins Bogenschützen eilig die Pfeile von den Sehnen. Sir John verlangsamte seinen Ritt und zügelte den Hengst, als er wieder bei der Gruppe angekommen war.
«Ich grüße Euch, Sir John», sagte Pater Christopher freudig.
«Was geht hier vor?», fragte Sir John herrisch.
Robert Perrill kam schwankend auf die Füße. Die rechte Seite seines Kopfes war blutüberströmt. Tom Perrill rührte sich nicht, seine Augen waren auf das Schwert geheftet, das seinen Bruder getroffen hatte.
Pater Christopher trank einen Schluck Ale und wischte sich die Lippen ab. «Diese Männer, Sir John», er wedelte mit der Hand in Richtung Sir Martins und seiner Männer, «haben das Verlangen geäußert, unsere Verpflegung an sich zu nehmen. Ich habe ihnen von einem solchen Vorgehen abgeraten, doch sie haben darauf beharrt, dass diese Verpflegung ihnen gehöre, weil sie von dem jungen Hook hier bewacht würde, und den Worten dieses heiligen Priesters zufolge ist Hook ein Geächteter.»
«Das ist er», Sir Martin hatte seine Sprache wiedergefunden, «er ist ein Geächteter vor dem Gesetz und damit dem Tod geweiht!»
«Ich weiß, dass er geächtet ist», sagte Sir John ohne Umschweife, «und der König wusste es ebenfalls, als er Hook in meine Dienste gab. Wollt Ihr sagen, dass der König einen Fehler begangen hat?»
Sir Martin sah Hook überrascht an, doch er gab nicht nach. «Er ist ein Geächteter», beharrte er, «und er ist Lord Slaytons Mann.»
«Er ist mein Mann», sagte Sir John.
«Er ist...», begann Sir Martin und stockte unter Sir Johns bohrendem Blick.
«Er ist mein Mann», wiederholte Sir John. Seine Stimme klang bedrohlich. «Er kämpft für mich, und das bedeutet, ich kämpfe für ihn. Wisst Ihr, wer ich bin?» Sir John wartete auf eine Bestätigung, doch Sir Martins Blick verlor sich im Ungefähren, und er blickte zum Himmel hinauf, als spräche er gerade mit den Engeln. «Sagt Eurer Lordschaft», fuhr Sir John fort, «dass er diese Angelegenheit mit mir regeln soll.»
«Das werden wir, Sir, das werden wir», gab William Snoball nach einem Blick auf Sir Martin zurück.
«Elija der Tischbiter», kam es plötzlich von Sir Martin, «aß Brot und Fleisch am wilden Bach Kerit. Wusstet Ihr das?» Diese Frage an Sir John war in vollem Ernst ausgesprochen, doch dieser sah Sir Martin nur verständnislos an. «Der wilde Bach Kerit», fuhr der Priester fort, als verriete er ein gut gehütetes Geheimnis, «ist der Ort, an dem sich ein Mann verstecken mag.»
«Und unser Herr Jesus weinte», sagte Sir John.
«Kein Wunder», sagte Pater Christopher seufzend. Dann hob er Hooks Bogen an und ließ ihn mit einem Knall auf den Tisch niederfahren. Das unvermittelte Geräusch ließ die Pferde zusammenzucken und brachte Sir Martins Blick wieder in die Gegenwart zurück. «Ich habe vergessen zu erwähnen», sagte Pater Christopher mit einem engelhaften Lächeln zu Sir Martin, «dass ich ebenfalls Priester bin. Also lasst mich Euch einen Segen spenden.» Er zog ein goldenes Kruzifix hervor, das unter seinem Hemd verborgen gewesen war, und hielt es den Männern Lord Slaytons entgegen. «Möge der Frieden und die Liebe unseres Herrn Jesus Christus», so sprach er, «Euch trösten und Euch die Kraft geben, uns von Eurer stinkenden Gegenwart zu befreien.» Er malte ein Kreuz in die Luft. «Und nun lebt wohl.»
Tom Perrill starrte Hook an. Einen Augenblick lang schien es so, als ob der Hass seine Vorsicht überwinden könnte, aber dann drehte er sich um und half seinem Bruder in den Sattel. Sir Martin, dessen Miene wieder vollkommen abwesend war, überließ es William Snoball, sein Pferd anzutreiben. Die anderen Reiter folgten ihnen.
Sir John sprang aus dem Sattel, nahm Hooks Alekrug und leerte ihn in einem Zug. «Was war noch gleich der Grund für deine Ächtung, Hook?»
«Ich habe einen Priester geschlagen», sagte Hook.
«Diesen Priester?», fragte Sir John und hob einen Daumen in Richtung der abziehenden Reiter.
«Ja, Sir John.»
Sir John schüttelte den Kopf. «Da hast du nicht recht getan, Hook, ganz und gar nicht. Du hättest ihn nicht schlagen sollen.»
«Nein, Sir John», sagte Hook demütig.
«Du hättest diesem gottverdammten Bastard den Bauch aufschlitzen und ihm sein Herz durch den Arsch herausreißen sollen!», sagte Sir John und sah Pater Christopher herausfordernd an, als hoffe er, den Priester mit diesen Worten endlich erschrecken zu können. Doch Pater Christopher lächelte nur. «Ist dieser Bastard irrsinnig?», fragte Sir John.
«Vollkommen», sagte Pater Christopher, «allerdings galt das auch für die Hälfte der Heiligen und die meisten Propheten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Euch mit Jeremia anlegen wolltet, Sir John, oder?»
«Verdammter Jeremia», sagte Sir John, «und verdammtes London. Ich bin wieder dorthin gerufen worden, Pater. Der König hat es verlangt.»
«Möge Gott Eure Hinreise segnen, Sir John, und danach Eure Rückkehr.»
«Und wenn König Harry Frieden will», sagte Sir John, «bin ich schon bald wieder da. Sehr bald.»
«Es wird keinen Frieden geben», sagte Pater Christopher voller Überzeugung. «Der Bogen ist gespannt, und der Pfeil wartet nur darauf, abschnellen zu können.»
«Hoffen wir darauf. Ich brauche das Geld, das ein guter Krieg einbringt.»
«Also werde ich um Krieg beten», sagte Pater Christopher leichthin.
«Ich bete schon seit Monaten um nichts anderes», gab Sir John zurück.
Und jetzt, dachte Hook, würden Sir Johns Gebete erhört werden. Denn bald, sehr bald, würden sie in den Krieg segeln. Sie würden über das Wasser segeln, um das Spiel des Teufels zu spielen. Sie würden nach Frankreich segeln. Sie würden kämpfen.