TEIL ZWEI Normandie

*

***

*****

***

*


Nick Hook konnte kaum glauben, dass es auf der Welt so viele Schiffe gab. Er sah die Flotte zum ersten Mal, als die Männer von Sir Johns Kompanie am Ufer von Southampton Water angemustert und von den Offizieren des Königs gezählt wurden. Sir John hatte vertraglich zugesichert, neunzig Bogenschützen und dreißig Feldkämpfer zu stellen, und der König würde Sir John den Rest des Geldes, das er ihm für diese Männer schuldete, bei der Verschiffung der Armee bezahlen. Doch zunächst mussten die Anzahl der Männer und ihre körperliche Verfassung geprüft und gebilligt werden. Hook stand in einer Reihe mit seinen Mitstreitern und betrachtete voller Erstaunen die Flotte. So weit sein Auge reichte, lagen Schiffe vor Anker; es waren so viele, dass man kaum noch Wasser sehen konnte. Peter Goddington, der Centenar, hatte behauptet, dass fünfzehnhundert Schiffe darauf warteten, die Armee übers Wasser zu bringen, und Hook hatte nicht geglaubt, dass so viele Schiffe existieren könnten. Aber da waren sie.

Der Gutachter des Königs, ein älterer, wohlgenährter Mönch mit tintenfleckigen Fingern, ging an der Reihe der Soldaten entlang, um sich zu versichern, dass Sir John keine Krüppel, Kinder oder alten Männer angeheuert hatte. Er wurde von einem finster blickenden Ritter begleitet, der den königlichen Wappenrock trug. Seine Aufgabe war es, die Waffen der Kompanie zu überprüfen. Er fand nichts zu beanstanden, doch er hatte bei Sir Johns Aufgebot auch keine Unzulänglichkeiten erwartet. «Sir Johns Vertrag weist neunzig Bogenschützen aus», sagte der Mönch vorwurfsvoll, als er das Ende der Reihe erreicht hatte.

«In der Tat, so ist es», stimmte Pater Christopher gut gelaunt zu. Sir John war beim König in London, und Pater Christopher war für die Dauer seiner Abwesenheit mit der Abwicklung der Geschäfte für die Kompanie betraut worden.

«Und dennoch sehe ich hier zweiundneunzig Bogenschützen!», sagte der Mönch mit gespielter Strenge.

«Sir John wird die beiden schwächsten über Bord werfen», sagte Pater Christopher.

«Dann hat ja alles seine Richtigkeit!», gab der Mönch zurück. Er warf einen fragenden Blick auf seinen finsteren Begleiter, der nach seiner Überprüfung zufrieden war und zustimmend nickte. «Das Geld wird heute Nachmittag gebracht werden», erklärte der Mönch. «Gott schütze euch alle miteinander», fügte er hinzu, während er auf sein Pferd stieg, um zur Inspektion weiterer Kompanien zu reiten. Seine Schreiber, die mit Leinentaschen voller Pergamente beladen waren, liefen eilig hinter ihm her.

Hooks Schiff, die Heron, war ein gedrungenes, rundliches Handelsschiff mit einem steilen Bug, einem eckigen Heck und einem dicken Mast, an dem Sir John Cornewailles Löwenbanner flatterte. Ganz in der Nähe und die Heran weit überragend lag die Trinity Royal, die «Königliche Dreifaltigkeit», die so groß war wie eine ganze Abteikirche und durch die hohen Holzkastelle, die auf Bug und Heck gebaut worden waren, noch größer wirkte. Die Kastelle, die rot, blau und golden angestrichen und mit königlichen Bannern beflaggt waren, ließen die Trinity Royal kopflastig erscheinen, wie einen zu hoch mit Heugarben beladenen Bauernkarren. Außen an ihrer Reling hingen weiße Schilde, auf die rote Kreuze gemalt waren, und hoch darüber hingen drei große Flaggen. Aus ihrem schwungvollen Bugspriet ragte ein kurzer Mast mit einem roten Banner, auf dem vier weiße Kreise durch schwarz beschriftete Streifen verbunden waren. «Dieses Banner am Bug», sagte Pater Christopher zu Hook und bekreuzigte sich, «trägt das Zeichen der Heiligen Dreifaltigkeit.»

Hook betrachtete es, ohne etwas zu sagen.

«Du hast vielleicht gedacht», fuhr Pater Christopher listig fort, «dass die Heilige Dreifaltigkeit auch drei Flaggen erfordert, aber im Himmel regiert die Bescheidenheit, und deshalb genügt eine. Kennst du die Bedeutung dieser Flagge, Hook?»

«Nein, Pater.»

«Dann will ich dich von deiner Unwissenheit befreien. Die äußeren Kreise sind der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, und sie sind durch Streifen verbunden, auf denen non est steht. Weißt du, was non est heißt, Hook?»

«Ist nicht», sagte Melisande schnell.

«O mein Gott, sie ist ebenso klug, wie sie schön ist», sagte Pater Christopher strahlend. Er sah Melisande anerkennend an, und sein Blick wanderte von ihrem Kopf bis zu ihren Füßen. Sie trug ein Gewand aus zartem Leinen, das mit Sir Johns Wappen des roten Löwen geschmückt war, auch wenn den Priester das heraldische Zeichen weniger interessierte. «Also», sagte er langsam, «der Vater ist nicht der Sohn, und der Sohn ist nicht der Heilige Geist, und der Heilige Geist ist nicht der Vater, und dennoch sind all die äußeren Kreise mit dem inneren verbunden, der Gott ist, und auf den Streifen, die jeweils die Verbindung mit Gottes Kreis herstellen, steht das Wort est. Also ist der Vater Gott, und der Sohn ist Gott, und der Heilige Geist ist Gott, aber untereinander sind sie nicht gleich. Es ist wirklich ganz einfach.»

Hook runzelte die Stirn. «Ich finde das nicht einfach.»

Pater Christopher grinste. «Natürlich ist es nicht einfach! Ich glaube nicht, dass irgendwer die Heilige Dreifaltigkeit versteht, mit Ausnahme vielleicht des Papstes, aber mit Ausnahme welchen Papstes, das fragt man sich, oder? Wir haben jetzt zwei davon, obwohl wir nur einen haben sollten! Gregor ist nicht Benedikt, also hoffen wir einfach, dass Gott weiß, welcher von beiden welcher ist. Gütiger Himmel, Melisande, du bist wirklich ein schönes Mädchen. An Hook bist du nur vergeudet, wirklich.»

Melisande zog ein Gesicht. Der Priester lachte und warf ihr einen Handkuss zu. «Pass auf sie auf, Hook», sagte er dann.

«Das tue ich, Pater.»

Pater Christopher löste widerwillig seinen Blick von Melisande und sah übers Wasser zur Trinity Royal, die von einem Dutzend schmaler Boote umlagert wurde, wie eine Sau von ihren Ferkeln. Große Bündel wurden von den kleinen Booten nach oben gehievt. Am Heck der Trinity Royal flatterte an einem weiteren kleinen Mast die Flagge Englands, das rote Sankt-Georgs-Kreuz auf weißem Grund. Jedem Mann in Henrys Armee waren zwei rote Leinenkreuze gegeben worden, die vorn und hinten auf die Wappenröcke genäht werden mussten, sodass die Wappen ihrer Herrn verdeckt waren. Im Kampf, hatte Sir John erklärt, gäbe es sonst zu viele Wappen, zu viele Tiere und Vögel und Farben, doch wenn alle Engländer das gleiche Wappen trugen, das Wappen von Sankt Georg, dann würden sie im Durcheinander der Schlacht ihre Landsleute sofort erkennen.

Am Hauptmast der Trinity Royal hing die größte Flagge, die Flagge des Königs, das große Banner mit den vier Feldern, von denen zwei die goldenen Leoparden Englands und zwei die goldenen Lilien Frankreichs zeigten. Henry beanspruchte die Königswürde in beiden Ländern, und deshalb spiegelte seine Flagge beide, und die große Flotte, die sich in Southampton Water drängte, würde eine Armee auf den Weg bringen, die den Anspruch des Banners verwirklichen sollte. Es war eine Armee, so hatte Sir John Cornewaille seinen Leuten am Vorabend seiner Abreise nach London erklärt, wie noch nie eine Armee aus England ausgerückt war. «Unser König hat richtig gehandelt!», hatte er stolz verkündet. «Wir sind gut!»Ein wölfisches Grinsen war über sein Gesicht geglitten. «Unser Herr König hat Geld ausgegeben! Er hat seine Kronjuwelen verpfändet! Er hat die beste Armee zusammengekauft, die England jemals besessen hat, und wir sind ein Teil davon. Und nicht irgendein Teil; wir sind der beste Teil davon! Wir werden unseren König nicht enttäuschen! Gott steht auf unserer Seite, ist es nicht so, Pater?»

«Oh, Gott verabscheut die Franzosen», hatte Pater Christopher voller Überzeugung erklärt, ganz so, als sei er mit den Ansichten Gottes allerbestem vertraut.

«Das liegt daran, dass Gott kein Narr ist», fuhr Sir John fort, «aber der Allmächtige weiß, dass Er mit der Erschaffung der Franzosen einen Fehler begangen hat! Also sendet Er nun uns aus, um diesen Fehler wiedergutzumachen! Wir sind die Krieger Gottes, und wir werden diese teuflischen Bastarde niedermachen!»

Fünfzehnhundert Schiffe würden zwölftausend Männer und wenigstens doppelt so viele Pferde über den Kanal bringen. Die meisten der Männer waren Engländer, dazu einige Waliser und mehrere Dutzend Kämpfer, die von Henrys Besitzungen in Aquitanien stammten. Hook konnte sich eine Armee aus zwölftausend Männern kaum vorstellen, so unbegreiflich groß war die Zahl, aber Pater Christopher hatte, während er an der Reling der Heran lehnte, die warnende Bemerkung wiederholt, die er bei ihrem Gespräch vor dem Gasthaus gemacht hatte, bevor es zu der Auseinandersetzung mit Sir Martin gekommen war. «Die Franzosen können dreimal so viele Männer anmustern», sagte er nachdenklich, «und womöglich noch mehr. Wenn es zum Kampf kommt, Hook, brauchen wir eure Pfeile.»

«Aber sie werden uns nicht angreifen», sagte einer von Sir Johns Feldkämpfern. Er hatte die Bemerkung des Priesters mit angehört.

«Ja, sie wollen nicht gegen uns kämpfen», stimmte Pater Christopher zu. Der Priester trug ein ärmelloses Kettenhemd und war mit einem Schwert gegürtet. «Es ist nicht mehr wie in der guten alten Zeit.»

Der junge, pausbäckige Feldkämpfer grinste. «Wie bei Crecy und Poitiers?»

«Das war großartig!», sagte Pater Christopher sehnsüchtig. «Kannst du dir vorstellen, wie es in Poitiers war? Wie es ist, den französischen König gefangen zu nehmen? Das wird uns dieses Mal nicht gelingen.»

«Nein, Pater?», fragte Hook.

«Sie haben inzwischen unsere Bogenschützen fürchten gelernt, Hook. Sie werden uns nicht zu nahe kommen. Sie werden sich in ihren Städten und Festungen verbarrikadieren und warten, bis es uns langweilig wird und wir wieder abrücken. Wir können ein Dutzend Mal durch Frankreich ziehen, und sie werden nicht herauskommen, um zu kämpfen, aber wenn wir nicht in ihre Festungen hineinkommen, was nützt es uns da, in Frankreich herumzuziehen?»

«Warum haben sie dann selbst keine Bogenschützen?», fragte Hook, doch im Grunde kannte er die Antwort schon, denn er selbst war die Antwort. Es hatte Jahre gedauert, um ihn in einen Bogenschützen zu verwandeln. Als Siebenjähriger hatte er mit einem kleinen Bogen angefangen, und sein Vater hatte darauf beharrt, dass er sich jeden Tag daran übte, und jedes Jahr bis zum Tod seines Vaters wurde der Bogen größer und die Bespannung straffer, und der junge Hook hatte gelernt, den Bogen mit seinem gesamten Körper zu spannen, nicht nur mit den Armen. «Leg dich in den Bogen, du kleiner Nichtsnutz», hatte sein Vater wieder und wieder gesagt und Hook jedes Mal mit dem Schaft seines eigenen großen Bogens auf den Rücken geschlagen. Also hatte Hook gelernt, sich in den Bogen zu lehnen, und dabei immer mehr Kraft entwickelt. Nach dem Tod seines Vaters hatte er dessen großen Bogen genommen und weitergeübt, Pfeil um Pfeil auf Fässer geschossen, die auf dem Kirchanger gestanden hatten. Die Pfeilspitzen schärfte er an einem Pfosten des Friedhofstors, und das ständige Wetzen grub tiefe Riefen in den Stein. Nick Hook hatte all seine Wut in diese Pfeile gelegt und manchmal geschossen, bis er in der hereinbrechenden Abenddämmerung kaum noch etwas sehen konnte. «Lass die Sehne nicht schnappen», hatte Pearce, der Grobschmied, ihn ständig ermahnt, und so hatte Hook gelernt, die Sehne ohne das geringste Zittern zwischen seinen Fingern wegschnellen zu lassen, auf denen sich schon eine lederartige Hornhaut gebildet hatte. Und während er spannte und freigab, spannte und freigab, Jahr um Jahr, wuchsen die Muskeln seines Rückens, seiner Brust und seiner Arme gewaltig. Das war die eine Voraussetzung, diese enorme Muskelkraft, die vonnöten war, um den Bogen zu spannen. Die andere war schwerer zu erreichen: Man musste seine Augen vergessen lernen.

Als er im Kindesalter mit dem Bogen schoss, hatte Hook die Sehne bis zu seinem Kinn gezogen und mit einem genauen Blick über die Sehne gezielt, doch das nahm dem Bogen viel von seiner Kraft. Wenn sich eine Ahlspitze durch einen Harnisch bohren sollte, benötigte sie den ganzen Schub, den ihr der Bogen verleihen konnte, und das bedeutete, dass die Sehne bis zum Ohr gezogen werden musste, und dann behinderte der Pfeil die Sicht. Hook hatte Jahre gebraucht, um zu lernen, wie man den Pfeil in sein Ziel dachte. Er konnte nicht erklären, wie es ging. Kein Bogenschütze konnte das. Er wusste nur, dass er das Ziel ansah, wenn er die anderen wurden die Anker eingeholt und die Segel gesetzt. Dieser Wind würde sie geradewegs nach Frankreich tragen. Dieser Wind würde England in den Krieg tragen.

Niemand wusste, wo in Frankreich sie kämpfen würden. Manche der Männer glaubten, die Flotte würde Richtung Süden nach Aquitanien segeln, andere meinten, es würde Calais werden, und die meisten hatten überhaupt keine Vorstellung von ihrem Ziel. Einigen wenigen war es auch vollkommen gleichgültig, denn sie hingen nur würgend über der Reling.

Die Flotte segelte zwei Tage und zwei Nächte lang unter einem Himmel voll kleiner weißer Wolken, die schnell südwärts zogen, und unter Sternen, die so hell funkelten wie Edelsteine. Pater Christopher unterhielt die Leute auf der Heron mit Geschichten, und Hook lauschte gebannt der Erzählung von Jonas und dem Wal. Er suchte die sonnenüberglänzte See nach einem Hinweis auf ein solches Untier ab, doch er entdeckte keinen. Er sah nur die zahllosen Schiffe auf dem rollenden Meer, als wären sie eine Herde auf einer Sommerwiese.

Auch bei der zweiten Morgendämmerung stand Hook so weit vorne im Schiff, wie es der vollbeladene Bug erlaubte, und musterte die See in der Hoffnung, einen männerverschlingenden Fisch zu Gesicht zu bekommen. Schweigend trat Sir John neben ihn. Hook grüßte eilig, indem er zwei Finger an die Stirn legte, und Sir John nickte umgänglich. Melisande schlief in Hooks Umhang gehüllt im Schutz einiger Fässer an Deck. Sir John lächelte, als er sie sah. «Ein gutes Mädchen, Hook», sagte er.

«Ja, Sir John.»

«Und zweifellos werden wir mit ein paar Dutzend weiterer guter französischer Mädchen nach Hause zurückkehren, Hook! Neue Frauen. Siehst du diese Wolken?»Sir John sah direkt in Fahrtrichtung, wo am Horizont eine Wolkenbank lag. «Das ist die Normandie.»

Hook schaute, doch er konnte unter den Wolken nichts anderes ausmachen als die vordersten Schiffe der Flotte. «Sir John?», fragte er zögernd und erntete einen ermutigenden Blick. «Was wisst Ihr über», er hielt inne, «über den Seigneur d'Enfer?»Hook kämpfte mit der französischen Aussprache.

«Lanferelle? Melisandes Vater?», fragte Sir John.

«Sie hat Euch von ihm erzählt?», fragte Hook erstaunt zurück.

«O ja, das hat sie», sagte Sir John mit einem Lächeln, «das hat sie in der Tat. Warum willst du etwas über ihn wissen?»

«Ich bin eben neugierig.»

«Machst du dir Sorgen, weil sie die Tochter eines Adligen ist?», fragte Sir John schlau.

«Ja», gab Hook zu.

Sir John lächelte erneut und deutete dann über den Bug der Heron hinaus. «Siehst du diese kleinen Segel?»Weit vor der englischen Flotte befand sich eine weitere Gruppe von Schiffen, es waren viel weniger, und sie waren allesamt wesentlich kleiner, nichts weiter als ein paar winzige braune Segel. «Französische Fischer», sagte Sir John grimmig. «Sie bringen die Neuigkeiten über uns in ihre Heimathäfen. Lass uns beten, dass diese Bastarde nicht auf die Idee kommen, dass wir landen könnten, denn wenn wir an Land gehen, haben sie wirklich eine gute Gelegenheit, uns zu töten, Hook! Sie wissen, dass wir kommen! Und alles, was sie brauchen, sind zweihundert Bewaffnete, die uns am Strand erwarten.»

Hook beobachtete die winzigen Segel, die sich auf der unendlichen Weite der See nicht zu bewegen schienen. Der Himmel im Westen war immer noch dunkel, doch im Osten begann es hell zu schimmern. Und er fragte sich, woher die Seeleute der englischen Flotte wussten, in welche Richtung sie fahren sollten. Er fragte sich, ob Sankt Crispinian jemals wieder zu ihm sprechen würde.

«Dort», sagte Sir John leise. Offenbar hatte er beschlossen, Hooks Frage nach Seigneur de Lanferelle zu übergehen. Stattdessen deutete er geradeaus.

Und da lag sie. Die Küste der Normandie. Auch wenn sie noch nichts weiter war als ein dämmriger Schatten, ein Streifen tiefer Dunkelheit, wo sich die Wolken und die See trafen.

«Ich habe mit Lord Slayton geredet», sagte Sir John. Hook verharrte schweigend. «Er kann natürlich nicht nach Frankreich kommen, verkrüppelt wie er ist, aber er war in London, um dem König seine besten Wünsche zu überbringen. Er sagt, du seist ein guter Kämpfer.»

Hook schwieg. Die einzigen Kämpfe, die Lord Slayton damit meinen konnte, waren Händel, die im Gasthaus ausgetragen worden waren. Auch sie konnten tödlich enden, doch sie waren mit einem Kampf in der Schlacht nicht zu vergleichen.

«Auch Lord Slayton war ein guter Kämpfer», sagte Sir John, «bevor er am Rücken verletzt wurde. Nur mit der Vorhandabwehr war er etwas langsam, wenn ich mich richtig erinnere. Es ist immer gefährlich, das Schwert über die Schulter zu heben, Hook.»

«Ja, Sir John», sagte Hook artig.

«Und er hat dich geächtet», fuhr Sir John fort, «aber das ist jetzt nicht wichtig. Du gehst nach Frankreich, Hook, und dort bist du kein Geächteter. Welcher Vergehen du auch immer in England bezichtigt worden bist, sie zählen in Frankreich nicht, und sogar das ist nicht wichtig, weil du jetzt mein Mann bist.»

«Ja, Sir John», wiederholte Hook.

«Du bist mein Mann», wiederholte Sir John nachdrücklich, «und Lord Slayton hat sich damit einverstanden erklärt. Aber mit Widerstand musst du dennoch rechnen. Dieser Priester will dich tot sehen, und wie mir Lord Slayton gesagt hat, gibt es noch andere, die dich mit Vergnügen in Streifen schneiden würden.»

Hook dachte an die Brüder Perrill. «Das stimmt», räumte er ein.

«Und Lord Slayton hat mir noch andere Dinge über dich gesagt», fuhr Sir John fort. «Er sagte, du seist ein Mörder, ein Dieb und ein Lügner.»

Hook spürte Ärger in sich aufflammen, doch wie die Gischt auf den Wellen verging er sofort wieder. «Das alles war ich einmal», sagte er.

«Und dass du sehr befähigt seist», sagte Sir John. «Und das, Hook, gilt auch für den Seigneur d'Enfer. Ghillebert, Seigneur de Lanferelle, ist außerordentlich fähig. Er ist ein harter Kerl, aber er ist auch einnehmend, klug und beschlagen. Er spricht Englisch!»Sir John hatte die drei letzten Worte ausgesprochen, als beschriebe er gerade eine äußerst merkwürdige Fertigkeit. «Er wurde in Aquitanien gefangen genommen», erklärte er, «und in Suffolk festgehalten, bis sein Lösegeld bezahlt wurde. Das dauerte drei Jahre. Vor zehn Jahren kam er frei, und ich wage zu sagen, dass eine Menge kleiner Kinder mit seiner langen Nase in Suffolk aufwachsen. Er ist der einzige Mann, den ich niemals im Turnier geschlagen habe.»

«Es wird aber erzählt, dass Ihr niemals verloren habt!», sagte Hook heftig.

«Das habe ich auch nicht, denn er konnte mich ebenfalls nicht schlagen», sagte Sir John grinsend. «Wir haben gekämpft, bis wir nicht mehr konnten. Ich habe dir ja gesagt, er ist gut. Aber er ist trotzdem vor mir zu Boden gegangen.»

«Dann habt Ihr ihn also doch bezwungen.»

«Er ist wohl eher ausgeglitten. Also bin ich einen Schritt zurückgetreten, damit er wieder aufstehen konnte.»

«Warum?»

Sir John lachte. «In einem Turnier, Hook, muss man ritterlich sein. Gutes Benehmen ist in einem Turnier ebenso wichtig wie das Kämpfen. In der Schlacht gilt das allerdings nicht. Falls du also Lanferelle in der Schlacht zu sehen bekommst, dann überlass ihn mir.»

«Oder einem Pfeil», sagte Hook.

«Er kann sich die beste Rüstung leisten, Hook. Er wird mit einer Mailänder Panzerung kämpfen, und deine Pfeilspitze wird sich daran einfach nur verbiegen. Und dann wird er dich töten ohne überhaupt wahrzunehmen, dass er gegen dich kämpft. Überlass ihn mir.»

Hook nahm beinahe so etwas wie Bewunderung in Sir Johns Tonfall wahr. «Ihr mögt ihn?»

Sir John nickte. «Ich mag ihn, aber das wird mich nicht daran hindern, ihn zu töten. Meinethalben kann er auch Melisandes Vaters sein, was soll's? Er muss halb Frankreich mit seinen Bastarden übersät haben. Meine Bastarde sind keine Herren, Hook, und seine ebenso wenig.»

Hook nickte mit gerunzelter Stirn. «In Soissons», begann er und unterbrach sich gleich wieder.

«Sprich weiter.»

«Er hat einfach zugesehen, wie die Bogenschützen gefoltert wurden!», sagte Hook erbittert.

Sir John lehnte sich über die Reling. «Wir reden über Ritterlichkeit, Hook, wir sind ritterlich! Wir grüßen unsere Feinde, wir nehmen ihre Unterwerfung galant entgegen, wir kleiden unsere Gegnerschaft in Seide und feinstes Leinen, wir sind das Rittertum der Christenheit.»Er redete mit einem schiefen Lächeln, und dann richtete er seine außergewöhnlich blauen Augen auf Hook. «Aber in der Schlacht, Hook, da gibt es nur Blut und Zorn und Grausamkeit und Töten. In der Schlacht wendet Gott Sein Antlitz ab.»

«Es war aber nach der Schlacht», wandte Hook ein.

«Im Rausch der Schlacht ist es, als sei man betrunken. Es verfliegt nicht so schnell. Der Vater deines Mädchens ist ein Feind, ein sehr anziehender Feind, aber er ist genauso gefährlich, wie ich es bin.»Ein Grinsen flog über Sir Johns Gesicht, und spielerisch versetzte er Hook einen Schlag auf die Schulter. «Überlass ihn mir, Hook. Ich werde ihn töten. Und dann hänge ich seinen Schädel über meinem Kamin an die Wand.»

Strahlend ging die Sonne auf, vertrieb die Schatten und enthüllte die Küste der Normandie als Kette weißer Kliffs unter einer grünen Decke. Den ganzen Tag steuerte die Flotte südwärts, vorangetrieben von einem auffrischenden Wind, der die Wellenkämme weiß bekrönte und die Segel blähte. Sir John war ungeduldig. Er verbrachte den Tag damit, die Küste anzustarren und darauf zu bestehen, dass der Schiffsmeister näher heran steuerte.

«Da sind Felsen, Mylord», sagte der Schiffsmeister trocken.

«Ach was, Felsen! Steure näher an die Küste! Noch näher!»Er hielt nach einem Hinweis darauf Ausschau, dass der Feind die Flotte auf den Kliffs begleitete, doch es ließen sich keine Reiter blicken. Noch immer hielten sich Fischerboote vor den englischen Schiffen, die eines nach dem anderen eine enorme Landspitze aus weißer Kreide umrundeten. Danach kamen sie in eine Bucht, in der sie sich in den Wind drehten und ankerten.

Die Bucht war weit gestreckt und nicht gut geschützt. Die hohen Wellen rollten von Westen herein und drückten gegen die Heron, die an ihrem Anker riss. Die Küste war nahe, kaum zwei Bogenschüsse entfernt, doch es gab dort kaum etwas zu sehen, nur die Wellen, die sich weiß schäumend auf dem Strand brachen, einen Streifen Marschland und dahinter einen steilen, mit dichtem Wald bewachsenen Hügel. Jemand meinte, sie wären in der Seinemündung, das war ein Fluss, der tief aus dem Inneren Frankreichs kam, doch Hook konnte nirgends einen Hinweis auf einen Fluss entdecken. Weit im Süden war ein weiterer Küstenstreifen zu sehen, doch die Entfernung war zu groß, um etwas Genaueres zu erkennen. Immer noch bogen Nachzügler der Flotte um die große Landzunge, und schließlich drängten sich verankerte Schiffe in der Bucht.

«Normandie», sagte Melisande und sah unverwandt zum Land hinüber.

«Frankreich», sagte Hook.

«Normandie», beharrte Melisande, als sei diese Unterscheidung bedeutsam.

Hook hielt seinen Blick auf die Bäume gerichtet. Er fragte sich, wann dort eine französische Einheit auftauchen würde. Es war offenkundig, dass die englische Armee in dieser Bucht landen würde, die kaum mehr war als eine Auskehlung mit einem Streifen Kies. Warum versuchten die Franzosen nicht, den Einmarsch über den Strand zu verhindern? Doch kein Mann oder Pferd zeigte sich an der Waldgrenze. Ein Habicht flog in Kreisen vor dem Hügel empor, und Möwen kreischten über der Brandungslinie. Hook sah, dass Sir John in einem kleinen Boot zur Trinity Royal gerudert wurde, deren Reling von Seeleuten mit den Schilden geschmückt wurde, auf deren weißem Grund das rote Sankt-Georgs-Kreuz prangte. Weitere Boote näherten sich dem Schiff des Königs - die Lords versammelten sich zum Kriegsrat.

«Was wird mit uns geschehen?», fragte Melisande.

«Ich weiß es nicht», gab Hook zu, aber es kümmerte ihn auch nicht. Er zog mit Gefährten in den Krieg, die er lieben gelernt hatte, und er hatte Melisande, die ihn liebte, auch wenn er fürchtete, dass sie ihn verlassen könnte, jetzt, da sie wieder in ihrem eigenen Land angekommen war. «Du gehst heim», sagte er und wollte, dass sie es abstritt.

Sie schwieg länge, sah nur zu den Bäumen und dem Strand und dem Marschland hinüber. «Maman war Zuhause», sagte sie schließlich. «Jetzt weiß ich nicht mehr, wo Zuhause ist.»

«Bei mir», sagte Hook linkisch.

«Zuhause ist da, wo man sich sicher fühlt», sagte Melisande. Ihre Augen waren so grau wie der Reiher, der gerade über den Kiesstreifen glitt, um auf dem niedrig gelegenen Marschland dahinter zu landen. Knappen saßen auf dem Deck der Heran und reinigten die Plattenrüstungen der Feldkämpfer. Jedes Stück wurde mit einer Mischung aus Sand und Essig geschmirgelt, bis der Stahl fleckenlos glänzte, und danach mit Wollfett eingerieben. Peter Goddington ließ einen Topf Bienenwachs öffnen, und die Bogenschützen nahmen etwas davon mit einem Stück Wolle auf und rieben es auf die Schäfte ihrer Bogen.

«War deine Mutter unbarmherzig gegen dich?», fragte Hook, während er den riesigen Bogen einwachste.

«Unbarmherzig?»Sie wirkte erstaunt. «Warum sollte sie unbarmherzig gewesen sein?»

«Mein Vater war unbarmherzig», sagte er.

«Dann sollst du es nicht sein», sagte Melisande. Nachdenklich runzelte sie die Stirn.

«Was?»

Sie zuckte mit den Schultern. «Als ich ins Kloster gegangen bin. Davor.»Sie unterbrach sich.

«Sprich weiter»', sagte Hook.

«Mein Vater. Er hat mich zu sich gerufen. Ich muss ungefähr dreizehn Jahre alt gewesen sein. Vielleicht war ich auch vierzehn.»Sie hatte ihre Stimme gesenkt. «Er wollte, dass ich all meine Kleider ausziehe», sie starrte Hook beim Sprechen an, «und dann stand ich vor ihm, nue. Er ist um mich herumgegangen, und er hat gesagt, dass mich kein Mann haben sollte.»Sie hielt erneut inne. «Ich habe gedacht, er würde ...»

«Aber dann hat er nicht?»

«Nein», sagte sie schnell. «Er hat meine epaule gestreichelt», sie suchte nach dem englischen Wort, «Schulter. Er hat, wie sage ich das? Frissonner?»Sie streckte ihre Hände aus und schüttelte sie.

«Gezittert?», riet Hook.

Sie nickte jäh. «Und dann hat er mich zu den Nonnen geschickt. Ich habe in angefleht, es nicht zu tun. Ich habe ihm gesagt, dass ich die Schwestern hasse, aber er meinte, ich müsse für ihn beten. Das waren meine Pflichten, hart zu arbeiten und für ihn zu beten.»

«Und das hast du getan?»

«Jeden Tag», sagte sie, «und ich habe gebetet, dass er kommen würde, um mich zu holen, aber er ist nie gekommen.»

Die Sonne ging unter, als Sir John auf die Heron zurückkam. Noch immer zeigten sich keine französischen Soldaten am Ufer, doch die Bäume hinter dem Strand hätten eine ganze Armee verbergen können. Rauch erhob sich von dem Hügel östlich der kleinen Bucht und bewies, dass sich dort jemand aufhielt, doch wer oder wie viele es sein mochten, war unmöglich zu sagen. Sir John kletterte an Bord, ging mit langen Schritten auf dem Deck umher und deutete dabei mit dem Zeigefinger auf den einen oder anderen Feldkämpfer oder Bogenschützen. Auch auf Hook deutete er. «Du», sagte er und ging weiter. «Jeder, den ich bezeichnet habe», rief er schließlich und wandte sich seinen Männern zu, «wird mit mir an Land gehen. Wir gehen heute Abend! Nachdem es dunkel geworden ist. Und was tun die anderen? Ihr haltet euch zur Morgendämmerung bereit. Wenn wir dann noch leben, schließt ihr euch uns an. Und diejenigen, die mit mir kommen? Rüstungen! Waffen! Wir wollen uns mit diesen Bastarden nicht zum Tanz treffen! Wir wollen sie töten!»

In dieser Nacht versilberte ein Dreiviertelmond die See. Die Schatten an Land waren dunkel und undurchdringlich, während sich Hook für den Kampf rüstete. Er trug seine hohen Stiefel, lederne Kniehosen, ein Lederwams, ein Kettenhemd und einen Helm. An seinen linken Unterarm schnallte er den Armschutz aus Horn. Er tat das weniger, um seinen Arm gegen die Reibung der Sehne zu schützen, denn das würde schon das Kettenhemd tun, sondern vor allem, damit die Sehne nicht in den Kettengliedern hängen blieb. Ein Kurzschwert hing an seinem Gürtel, eine Kampfaxt über seinem Rücken und an seiner Seite eine leinene Pfeiltasche, aus deren Öffnung vierundzwanzig Pfeile ragten. Fünf Feldkämpfer und zwölf Bogenschützen würden mit Sir John an Land gehen, und sie stiegen alle in ein offenes Boot, das von Seeleuten zur Brandungslinie am Strand gerudert wurde. Weitere Boote von weiteren Schiffen waren auf demselben Weg. Niemand sagte ein Wort, auch wenn von Zeit zu Zeit ein leiser Ruf von einem der Schiffe herunterklang, um ihnen Glück zu wünschen. Wenn sich die Franzosen zwischen den Bäumen versteckten, dachte Hook, dann würden sie die Boote kommen sehen. Vielleicht zogen die Franzosen gerade in diesem Moment ihre Schwerter und spannten mit Hilfe von Winden die dicken Sehnen ihrer Armbrüste, die mit stählernen Bogenschäften ausgestattet waren.

Das Boot begann heftig zu schwanken, als die Wellen in der Nähe des Strandes steiler und kürzer wurden. Das Rauschen der Brandung wurde lauter. Es klang unheilvoll. Die Seeleute tauchten ihre Ruderblätter tief ins Wasser, um dem Sog der sich brechenden Wellen zu entkommen, aber mit einem Mal schien das Boot nach oben zu schießen, und das Wasser glitzerte weiß vom Mondlicht, raste und schäumte, und dann fiel es wie ein Stein herab, und mit einem schabenden Geräusch kratzte sein Kiel über den Strandkies. Dann drehte sich das Boot breitseits, und eine Welle stürzte in es hinein, bevor sie wieder ins Meer hinausgezogen wurde und an den Bootsplanken riss. «Raus!», zischte Sir John. «Raus!»

Die anderen Boote liefen ebenfalls auf Kies, Männer sprangen heraus und stapften mit gezogenen Schwertern über die Uferbank. Sie sammelten sich über der breiten Gezeitenlinie aus Tang und Treibholz. Riesige Felsblöcke lagen auf dem Strand, die dem Mond abgewandte Seite in tiefster Schwärze. Hook hatte erwartet, dass Sir John bei dieser ersten Landung die Führung übernehmen würde, doch es war ein sehr viel jüngerer Mann, der wartete, bis alle Boote ihre Insassen an Land gebracht hatten. Darauf schoben die Seeleute die Beiboote vom Strand weg und sicherten sie hinter der Brandungslinie. Falls die Franzosen sie erwarteten, konnten die Boote die gelandeten Truppen wieder aufnehmen, aber Hook bezweifelte dennoch, dass viele entkommen würden. Eher würde ihr Blut zwischen den Strandkieseln versickern. «Wir bleiben zusammen», sagte der junge Mann mit gesenkter Stimme, «Bogenschützen nach rechts!»

«Ihr habt Sir John gehört!», zischte Sir John Cornewaille. Der junge Mann war Sir John Holland, ein Neffe des Königs und Sir John Cornewailles Stiefsohn. «Goddington?»

«Sir John?»

«Stellt Euch mit Euren Bogenschützen weit genug weg auf, damit Ihr uns Flankenschutz geben könnt!»

Offenbar führte doch der alte Sir John den Befehl und ließ es nur so aussehen, als leite sein Stiefsohn die Truppe. «Vorwärts!», rief der junge Sir John, und die Reihe der Männer, vierzig Feldkämpfer auf der linken und vierzig Bogenschützen auf der rechten Seite, rückten weiter über den Strand vor.

Wo sie eine Verteidigungsanlage entdeckten.

Zuerst dachte Hook, er ginge einfach auf eine Erhöhung am Ende des Kiesstrandes zu, doch diese Erhöhung war von Menschenhand geschaffen und davor mit einem Graben abgesichert worden. Es war ein Damm, der als Verteidigungswall dienen sollte, und er hatte nicht nur einen Graben, sondern auch Bastionen, die auf den Strand hinausragten, von denen aus Armbrustschützen die Flanken jedes Feindes angreifen konnten, der vom Meer aus heranrückte. Der Wall, der noch kaum von Wind oder Regen beschädigt worden war, erstreckte sich über die gesamte Länge des geschwungenen Strandes, und Hook stellte sich vor, wie schwer ein Angriff wäre, wenn der Wall oben von Feldkämpfern mit Streitäxten verteidigt würde und von der Seite aus die Bolzen der Armbrustschützen einschlügen. Doch der Wall, dessen Errichtung Tage gedauert haben musste, war vollkommen verlassen.

«Haben sich viel Arbeit gemacht, die Arschfürze, was?», bemerkte Sir John Cornewaille höhnisch. Er trat gegen den Wall. «Was hat es für einen Sinn, eine Verteidigungsanlage zu bauen und sie dann aufzugeben?»

«Vielleicht wussten sie, dass wir hier landen würden», lautete Sir John Hollands verhaltene Vermutung.

«Und warum sind sie dann nicht hier, um uns willkommen zu heißen?», fragte Sir John. «Wahrscheinlich haben sie solche Wälle an jedem Strand der Normandie gebaut! Die Bastarde pissen sich in die Hosen und schütten Wälle auf. Bogenschützen! Ihr könnte alle pfeifen, oder?»

Seine Bogenschützen schwiegen. Die meisten waren von dieser Frage zu überrascht, um zu antworten.

«Ihr könnt alle pfeifen?», fragte Sir John erneut. «Gut! Und ihr kennt alle das Lied von Robin Hood?»

Jeder Bogenschütze kannte diese Melodie. Alles andere wäre auch erstaunlich gewesen, denn Robin Hood war ihr Idol, der Jäger mit dem Bogen, der gegen Lords und Prinzen und die Sheriffs von England aufgestanden war. «Also», erklärte Sir John, «wir steigen auf den Hügel! Die Feldkämpfer auf dem Pfad und die Bogenschützen zwischen den Bäumen! Kundschaftet bis oben zur Hügelkuppe alles aus. Und wenn ihr jemanden hört oder seht, dann kommt zu mir. Aber pfeift das Lied von Robin Hood, damit ich weiß, dass ein Engländer kommt und kein schwanzlutschender Franzose! Gehen wir!»

Bevor sie den Hügel ersteigen konnten, mussten sie einen düsteren, mondbeschienenen Streifen Marschland überqueren, der hinter der breiten Kiesbank und dem Erdwall lag. Eine Art Pfad wand sich über den feuchten Grund. Sir John Cornewaille hieß seine Bogenschützen zu beiden Seiten des Weges gehen, sodass sie von der Seite her mit ihren Pfeilen angreifen konnten, falls die Truppe in einen Hinterhalt geriete. Peter Goddington fluchte, als er zwischen Grasbüscheln hindurchwatete. «Der will uns wohl umbringen», knurrte er, als aufgeschreckte Vögel kreischend aus dem Marschland aufflogen und mit lautem Flügelschlag davonflogen. Hinter ihnen rollte die Brandung über den Kies.

Das Marschland war nur einen Bogenschuss breit, also etwas mehr als zweihundert Schritt. Hook konnte weiter schießen, aber das konnte auch jeder französische Armbrustschütze, und deshalb beobachtete er die schwarzen Schatten genau, die dort lagen, wo die Marsch in den Wald überging, während er sich mühsam darauf zubewegte. Angestrengt lauschte er auf das Geräusch eines Bolzens, der von einer Armbrust abgeschossen wurde. Die Franzosen hatten gewusst, dass die Engländer kamen. Sicherlich hatten sie von Kundschaftern die Schiffe in Southampton Water zählen lassen, und die Fischer hatten die Ankunft der großen Flotte an der französischen Küste gemeldet. Die Franzosen hatten sich die Mühe gemacht, sogar diese kleine Bucht mit einem ausgeklügelten Erdwall zu schützen, warum also hatten sie ihn nicht bemannt? Weil, so dachte Hook, sie im Wald auf den Feind warteten. Weil sie die Vorhut töten wollten, wenn sie den Streifen Marschland überquerte.

«Hook! Tom und Matt! Dale! Ihr geht rechts!»Goddington winkte die vier Männer an die Ostseite der Marsch. «Arbeitet euch den Hügel hinauf!»

Hook watete nach rechts. Die Zwillinge und William of the Dale folgten ihm. Hinter ihnen nahmen die Feldkämpfer auf dem Pfad Aufstellung. Jeder Mann, ob Lord oder Bogenschütze, trug auf dem Wappenrock das Zeichen von Sankt Georg. Die Beine der Feldkämpfer waren mit stählernen Schienen geschützt, die das Mondlicht hell zurückwarfen, während ihre gezogenen Schwerter aussahen wie Streifen aus reinstem Silber. Es schnellten keine Armbrustbolzen aus dem Wald. Wenn die Franzosen dort warteten, dann mussten sie weiter oben auf der Anhöhe sein.

Hook erstieg eine niedrige Erhöhung am nördlichen Ende des Marschlandes. Als er sich umdrehte, hatte er die Flotte auf dem mondüberglänzten Meer vor sich. Matte rote Lampen brannten an ein paar Schiffen, deren Masten sich wie ein Wald in einen Himmel reckten, an dem hell die Sterne blitzten. Er wandte sich wieder dem Wald zu, der pechschwarz vor ihm aufragte. «Der Bogen nützt nichts zwischen den Bäumen», sagte er zu seinen Gefährten. Er spannte die Sehne ab und ließ den Bogen in die Hülle aus Pferdeleder gleiten, die er zusammengefaltet am Gürtel getragen hatte. Wenn man einen Bogen zu lange mit der Sehne bespannt ließ, dann krümmte er sich dauerhaft und verlor dadurch seine Kraft. Dann zog Hook sein kurzes Schwert. Seine drei Mitstreiter taten es ihm gleich und folgten Hook zwischen die Bäume.

Kein Franzose lauerte auf sie. Kein plötzlicher Schwerthieb empfing Hook, kein Armbrustbolzen schnellte aus der Dunkelheit. Da war nur das Rauschen der Wellen, die tiefe Schwärze unter den Bäumen und die Nachtgeräusche eines Waldes.

Hook war im Wald zu Hause, auch in diesem fremden Wald. Thomas und Matthew Scarlet waren die Söhne eines Walkers und bei einer Mühle aufgewachsen, deren große, wassergetriebene Stangen Bleicherde in Tuch schlugen, um das Wollfett zu entfernen. William of the Dale war Zimmermann, aber Hook war Forstmann und Jäger, und er übernahm ganz unwillkürlich die Führung der kleinen Gruppe. Zu seiner Linken hörte er Männer, und weil er nicht mit einem Franzosen verwechselt werden wollte, ging er etwas weiter rechts. Dann roch er einen Eber, und dabei erinnerte er sich an jenen Winter, in dem er fünf Pfeile, von denen jeder einen erwachsenen Mann hätte töten können, auf ein riesiges Tier mit enormen Hauern geschossen hatte. Der Keiler hatte ihn dennoch weiter angegriffen, die Pfeilschäfte, die aus seiner Seite ragten, waren klappernd aneinandergestoßen, in seinen Augen hatte der rote Zorn gestanden, und Hook hatte sich auf eine Eiche retten müssen. Der Eber war schließlich verendet und hatte mit seinen Hufen die Lauberde aufgewühlt, während er verblutete.

«Wohin gehen wir?», fragte Thomas Scarlet.

«Auf die Hügelkuppe», antwortete Hook knapp.

«Und was machen wir da?»

«Warten.»Hook wusste keine bessere Antwort. Er konnte jetzt Holzrauch riechen, der beißende Geruch verriet, dass ganz in der Nähe Menschen sein mussten. Er überlegte, ob es in diesem Wald eine Köhlerei gab, denn das würde den Geruch erklären, aber vielleicht wärmten sich an dem Feuer auch ein paar französische Armbrustschützen, die darauf warteten, dass ihre Ziele die Kuppe des Hügels erreichten.

«Wir werden diese Scheiße fressenden Bastarde umbringen!», sagte William of the Dale und ahmte wieder einmal täuschend echt Sir John nach. Matt Scarlet lachte laut auf.

«Ruhig», sagte Hook scharf, «und geht schneller!»Wenn hier irgendwo Armbrustschützen auf sie warteten, dann war es besser, sich schnell zu bewegen, als ein leichtes Ziel abzugeben. Doch Hooks Gefühl sagte ihm, dass sich zwischen den Bäumen kein Feind versteckte; der Wald schien ganz verlassen zu sein. Als er noch auf Lord Slaytons Besitzungen Wilderer jagte, hatte er ihre Anwesenheit immer gespürt, es war ein Wissen, das nicht vom Sehen, Hören oder Riechen kam. Es war einfach eine Empfindung, ein Spürsinn wie bei einem Tier. Und dennoch war da dieser Geruch nach Holzfeuer. Auch der Spürsinn konnte einen manchmal täuschen.

Die Steigung wurde flacher, und der Abstand zwischen den Bäumen vergrößerte sich. Hook führte seine Gefährten weiter Richtung Osten. Er war ständig auf der Hut vor dem unüberlegten Schuss, den ein anderer, angespannter englischer Bogenschütze vielleicht abgeben würde. Dann hatten sie plötzlich die Kuppe erreicht, und die Bäume endeten an der Böschung eines tiefer liegenden Weges, der dem Hügelkamm folgte. «Bogen», sagte er zu den anderen. Er selbst ließ seinen Bogenschaft in der Hülle. Er hatte etwas von links gehört, ein Geräusch, das keiner von Sir Johns Männern verursacht haben konnte. Es waren Hufschläge.

Die vier Bogenschützen kauerten sich zwischen die Bäume oberhalb des Weges. Die Hufschläge wurden lauter, doch noch immer war nichts zu sehen. Dem Geräusch nach war es ein einzelnes Pferd, und dann, ganz unvermittelt, tauchten das Pferd und der Reiter in seinem Blickfeld auf. Sie waren Richtung Osten unterwegs. Der Reiter war in Dunkelheit gehüllt, als ob er einen Umhang trüge, doch Hook konnte keine Waffe erkennen. «Nicht schießen», sagte er zu seinen Freunden, «er gehört mir.»

Hook wartete ab, bis der Reiter fast bei ihm angekommen war, stürzte sich dann die Böschung hinunter und hängte sich ins Zaumzeug des Pferdes. Das Pferd schwenkte halb herum und scheute. Hook griff mit seiner freien Hand nach oben, krallte sich in den Stoff des Umhanges und zerrte den Reiter nach unten. Das Pferd wieherte, doch es gehorchte Hooks Führung. Der Reiter keuchte auf, als er hart auf der Erde aufschlug. Er rappelte sich auf und versuchte wegzulaufen, doch Hook trat ihm in den Bauch, und dann waren Thomas, Matthew und William an seiner Seite und zogen den Gefangenen auf die Füße.

«Ein Mönch!», sagte William of the Dale.

«Er war unterwegs, um Unterstützung zu rufen», sagte Hook. Das war nichts weiter als eine Vermutung, doch es lag nahe.

Der Mönch wehrte sich. Er sprach viel zu schnell, als dass Hook eines seiner Worte hätte verstehen können. Außerdem sprach er sehr laut. «Mund halten!», sagte Hook, doch der Mönch begann wie zur Antwort seine Einwände noch lauter herauszuschreien. Also schlug ihn Hook ins Gesicht, und der Kopf des Mönchs fuhr zurück, Blut strömte aus seiner Nase, und er war augenblicklich still. Er war noch jung und wirkte sehr verängstigt.

«Ich habe Euch gesagt, dass Ihr den Mund halten sollt!», sagte Hook. «Ihr drei, pfeift! Und zwar laut!»

William, Matthew und Thomas pfiffen die Melodie des Robin-Hood-Liedes, während Hook den Gefangenen und das Pferd auf dem Hohlweg zwischen den baumbestandenen Böschungen zurückführte. Der Weg machte eine Krümmung nach links. Dahinter lag ein großes steinernes Gebäude mit einem Turm. Es sah aus wie eine Kirche.« Une église?», fragte Hook den Mönch.

« Un monastére», sagte der Mönch verdrossen.

«Pfeift weiter», sagte Hook.

«Was hat er gesagt?», fragte Tom Scarlet.

«Er hat gesagt, das ist ein Kloster. Und jetzt pfeife!»

Rauch stieg von einem Schornstein des Klosters auf. Daher rührte also der Geruch, der Hook im Wald beunruhigt hatte. Von der Landungstruppe war noch niemand zu sehen, doch als Hook seine kleine Truppe in Richtung des Gebäudes führte, wurde ein Tor aufgezogen, und ein Streifen Licht von einer Laterne fiel auf ein paar Mönche, die im Torweg standen. «Pfeile bereitmachen», sagte Hook, «und pfeift verdammt nochmal weiter.»

Ein großgewachsener, magerer Mann mit grauem Haar und schwarzer Kutte trat auf den Weg hinaus. «Je suis le prieur», stellte er sich vor.

«Was hat er gesagt?», fragte Tom Scarlet.

«Er sagt, er ist der Prior», sagte Hook. «Weiterpfeifen.»Der Prior streckte die Hand aus, als wollte er den blutenden Mönch in seine Obhut nehmen, doch Hook machte einen drohenden Schritt auf ihn zu, und der Mann wich eilig zurück. Die anderen Mönche murmelten empört, doch in diesem Moment kamen weitere Bogenschützen aus dem Wald, und Sir John Holland und sein Stiefvater erschienen mit den Feldkämpfern am anderen Ende der Priorei.

«Gut gemacht, Hook!», rief Sir John Cornewaille. «Hast dir ein Pferd beschafft!»

«Und einen Mönch, Sir John», sagte Hook. «Er wollte Hilfe holen, zumindest glaube ich das.»

Sir John trat an Hooks Seite. Der Prior bekreuzigte sich, als immer mehr Bewaffnete auf die Straße vor dem Kloster strömten. Dann trat er vor Sir John, um eine wortreiche und von vielen Gesten begleitete Klage anzustimmen. Sir John hob das Kinn des verwundeten Mannes an und musterte im Mondlicht die gebrochene Nase. «Sie müssen unsere Ankunft gestern weitergemeldet haben», sagte er. «Dieser Mann war offenkundig auf dem Weg, jemandem zu berichten, dass wir an Land gegangen sind. Hast du ihn geschlagen, Hook?»

«Geschlagen, Sir John?», fragte Hook, als sei er nicht ganz gescheit. Er wollte Zeit gewinnen, um darüber nachzudenken, welche Antwort ihm am meisten nützen würde.

«Der Prior sagt, du hast den Mönch geschlagen», sagte Sir John anklagend.

Sein Gefühl riet Hook zu lügen, genau wie er immer gelogen hatte, wenn ihm etwas vorgeworfen worden war, doch er wollte seinen Dienst für Sir John nicht mit Unwahrheiten vergällen. Also nickte er. «Ich habe es getan, Sir John», sagte er.

Über Sir Johns Gesicht flog die Andeutung eines Lächelns. «Das ist wirklich äußerst bedauerlich, Hook. Unser König hat gesagt, dass er jeden Mann hängen wird, der einen Priester, eine Nonne oder einen Mönch verletzt. Er ist nämlich sehr fromm, unser Henry. Also möchte ich, dass du sehr sorgfältig über deine Antwort nachdenkst. Hast du ihn geschlagen, Hook?»

«O, nein, Sir John», sagte Hook. «Von so etwas würde ich nicht einmal zu träumen wagen.»

«Ganz bestimmt würdest du das nicht», bekräftigte Sir John. «Er ist also einfach aus dem Sattel gefallen, war es nicht so? Und zwar platt auf seine Nase.»Mit sanfter Stimme unterbreitete er dem Prior diese Erklärung und schob dann den Mönch mit der blutigen Nase zu seinen Glaubensbrüdern hinüber. «Bogenschützen», sagte er darauf und wandte sich seinen Männern zu. «Ich will euch alle dort auf der Hügelkuppe haben», er deutete ostwärts, «und bleibt auf dem Weg. Ich nehme das Pferd, Hook.»

Die Bogenschützen warteten auf der Straße, die vor ihnen abfiel und sich dann wieder zu einem weiteren waldbedeckten Hügelkamm emporschwang. Im Osten verblassten die Sterne, als die Dämmerung über den Himmel kroch. Peter Goddington erlaubte einigen Männern zu schlafen, während die anderen auf ihren Posten blieben. Hook bettete sich auf eine moosbewachsene Böschung und musste etwa eine Stunde geschlafen haben, als ihn Hufschläge weckten. Es war inzwischen ganz hell, und die Sonne blitzte durch grünes Laubwerk. Ein Dutzend Reiter war auf dem Weg. Einer davon war Sir John Cornewaille. Die Pferde waren zittrig und unruhig. Hook vermutete, dass sie gerade an Land geschwommen waren und ihr Tritt deshalb noch unsicher war. «Zur nächsten Hügelkuppe!», rief Sir John den Bogenschützen zu, und Hook raffte eilig seine Pfeiltasche und seinen Bogen in der Hülle zusammen. Er folgte den Bogenschützen weiter nach Osten, und die Feldkämpfer führten ohne erkennbare Eile ihre Pferde hinterher.

Der Blick vom nächsten Hügelkamm aus war erstaunlich. Zu Hooks Rechten verengte sich das Meer in Richtung der Seinemündung. Das südliche Ufer des Flusses bestand aus niedrigen, bewaldeten Hügeln. Im Norden lagen noch mehr Hügel, aber direkt vor Hook senkte sich der Weg als schimmerndes Band im Sonnenschein durch Waldstücke und Felder bis zu einer Hafenstadt. Der Hafen war klein, Schiffe drängten sich darin, und er wurde von einem Abschnitt der Stadtmauer geschützt, die rund um den Hafen herum gezogen worden war und nur eine enge Durchfahrt zu einem gewundenen Wasserlauf Richtung See freiließ. Hinter dem Hafen lag die Stadt selbst, all ihre Dächer und Kirchen waren von einer großen, gemauerten Stadtmauer eingefasst. Zum Teil wurde sie von Häusern verdeckt, die außerhalb der Eingrenzung errichtet worden waren. Über allem ragten hohen Türme empor, die in Abständen aus der Stadtmauer herauswuchsen. Hook zählte sie, es waren vierundzwanzig. Banner hingen von ihnen herab. Die Bogenschützen waren viel zu weit entfernt, um die Wappen zu erkennen, doch ihre Botschaft war auch so deutlich genug: Die Stadt wusste, dass die Engländer gelandet waren, und erklärte ihren Widerstand.

«Harfleur», verkündete Sir John Cornewaille den Bogenschützen. «Ein gottverdammtes Piratennest! Hier wohnen lauter Halunken, Männer! Sie rauben unsere Schiffe aus, fallen an unseren Küsten ein, und wir werden sie aus dieser Stadt treiben wie Ratten aus einem Kornspeicher!»

Hook hatte inzwischen bessere Sicht. Er erkannte einen Fluss, der nördlich von Harfleur in großen Schleifen durch die Felder floss. Darauf führte sein Verlauf mitten durch die Stadt, indem er unter einem großen Bogen hineinfloss, seinen Weg zwischen den Häusern nahm und schließlich in das Hafenbecken mit der Umfassungsmauer strömte. Doch die Bürger von Harfleur mussten, als sie am Vortag von der Ankunft der Engländer erfahren hatten, den Bogengang verschlossen und abgedichtet haben, sodass der Fluss nun im Norden und Westen der Stadt die Felder überflutete und einen großen See bildete. Harfleur sah unter der Morgensonne wie eine eingemauerte Insel aus.

Da zuckte ein Armbrustbolzen über ihre Köpfe hinweg. Hook hatte das Blitzen gesehen, mit dem der Bolzen plötzlich von unten links aufgetaucht war. Das bedeutete, dass, wer immer den Bolzen abgeschossen hatte, in dem Waldstück nördlich des Weges war. Der Bolzen schlug irgendwo hinter ihnen in einen Baum ein.

«Da mag uns wohl jemand nicht», sagte einer der berittenen Feldkämpfer leichthin.

«Hat jemand gesehen, von wo er kam?», fragte ein anderer Reiter scharf.

Hook deutete zusammen mit einem halben Dutzend anderer Bogenschützen auf dasselbe Stück Wald und Dickicht. Vor ihnen fiel der Weg zuerst ab, blieb dann etwa hundert Schritt bis zum Rand eines Geländesimses auf gleichmäßiger Höhe und senkte sich darauf weiter in Richtung der umfluteten Stadt. Und der Armbrustschütze stand irgendwo auf diesem langen, dichtbewaldeten Geländesims.

«Ich vermute, dass er sich nicht zurückziehen wird», merkte Sir John Cornewaille milde an.

«Vielleicht ist er nicht allein», sagte jemand anders.

«Ich glaube, es ist nur einer», sagte Sir John. «Hook? Willst du mir diese Jammergestalt holen?»

Hook wandte «ich nach links, tauchte zwischen den Bäumen ein und stieg das kurze Gefälle hinunter. Als er den langgestreckten Geländesims erreicht hatte, wurde er langsamer und achtete darauf, sich völlig geräuschlos zu bewegen. Seinen Bogen hatte er bespannt. In dichtem Wald war der Bogen zwar nicht die beste Waffe, doch er wollte keinem Armbrustschützen begegnen, ohne dass er selbst einen abschussbereiten Pfeil auf dem Bogen hatte.

Im Wald standen Eichen, Eschen und einige wenige Ahornbäume. Das Unterholz bildeten Weißdorn und Stechpalmengebüsch. Hoch oben in den Eichen wuchsen Misteln. Das fiel Hook besonders auf, weil er in England nur selten Eichenmisteln gesehen hatte. Seine Großmutter hatte sie hoch geschätzt und sie für unterschiedliche Arzneien verwendet, die sie für die Dorfleute mischte, und sogar für Lord Slayton, als ihn einmal der Schüttelfrost gepackt hatte. Hauptsächlich hatte sie die Misteln jedoch verwendet, um unfruchtbare Frauen zu behandeln. Dafür hatte sie die kleinen Beeren zusammen mit den Wurzeln von Sumpfpflanzen zerstampft und das Ganze mit dem Urin einer Mutter vermischt. Im Dorf hatte eine sehr fruchtbare Frau gewohnt, Mary Carter, die fünfzehn gesunde Kinder zur Welt gebracht hatte, und Hook war oft mit einem Topf zu ihr geschickt worden, um etwas von ihrem Urin zu erbitten. Einmal war er von seiner Großmutter geschlagen worden, weil er mit einem leeren Topf zurückkam. Sie hatte ihm nicht geglaubt, dass Mary Carter nicht zu Hause gewesen war. Das nächste Mal hatte Hook selbst in den Topf gepisst, und seiner Großmutter war der Unterschied nicht aufgefallen.

Daran musste er denken, und daran, ob Melisande wohl schwanger werden würde, als er das unvermittelte, zischende Geräusch eines abgeschossenen Armbrustbolzens vernahm. Das Geräusch kam ganz aus der Nähe. Hook ging in die Hocke, kroch ein Stück vorwärts, und plötzlich hatte er den Schützen vor sich. Es war ein Junge von vielleicht zwölf oder dreizehn Jahren, und er keuchte leise, während er seine Waffe mit Hilfe einer Kurbel spannte. Am Kopf des Bogens war ein Bügel angebracht, in den der Junge seinen Fuß gestellt hatte, und an seinem Ende sah man die Ausbuchtung, in die er die zwei Kurbelgriffe gesteckt hatte, mit deren Hilfe er die Sehne nach hinten zog. Es war ein schweres Stück Arbeit, und der Junge verzog vor Anstrengung das Gesicht, während er die dicke Sehne Stück für Stück am Mittelschaft der Waffe emporbewegte. Er war so konzentriert, dass er Hook nicht bemerkte, bis der Bogenschütze ihn am Kragen packte. Der Junge versuchte Hook einen Faustschlag zu versetzen und jaulte auf, als er einen Schlag auf den Kopf erhielt.

«Du bist reich, was?», sagte Hook. Die Jacke des Jungen, deren Kragen Hook immer noch festhielt, war aus feingesponnener Wolle. Seine Kniehosen und Schuhe wirkten kostspielig, und die Armbrust, die Hook mit der rechten Hand griff, sah aus, als sei sie speziell für den Jungen angefertigt worden, denn sie war viel kleiner als eine Männerarmbrust. Der Bolzenschaft war aus Nussholz und mit einer wundervollen Einlegearbeit aus Silber und Elfenbein geschmückt, die eine Hirschjagd in einem Wald zeigte. «Sie werden dich vermutlich hängen», sagte Hook heiter und ging auf den Weg hinaus. Den Jungen hatte er sich unter den linken Arm geklemmt, während er in der rechten Hand seinen eigenen Bogen und die kostbare Armbrust hielt. Er stieg die Anhöhe hinauf und wurde auf dem Kamm des Hügels von grinsenden Bogenschützen und den berittenen Feldkämpfern empfangen. «Hier ist der Feind, Sir John!», sagte Hook fröhlich und ließ den Jungen neben Sir Johns Pferd fallen.

«Ein tapferer Feind», sagte einer der Reiter bewundernd, und als Hook aufsah, hatte er den König vor sich. Henry trug eine Rüstung und einen Wappenrock in den königlichen Farben. Um seinen Helm war eine Goldkrone gelegt, doch das Visier war hochgeklappt, sodass sein Gesicht mit der langen Nase und der tief gefurchten Narbe zu erkennen war. Hook fiel auf die Knie und zog den Jungen mit sich zu Boden.

«Votre nom?», verlangte der König von dem Jungen zu wissen, der nicht antwortete, sondern nur zornig zu Henry emporstarrte. Hook versetzte ihm einen weiteren Schlag auf den Kopf.

«Philippe», sagte der Junge verdrossen.

«Philippe?», fragte Henry. «Philippe und nichts weiter?»

«Philippe de Rouelles», antwortete der Junge trotzig.

«Wie es scheint, ist Master Philippe der einzige Mann Frankreichs, der es wagt, uns entgegenzutreten!», sagte der König laut genug, dass es alle auf der Hügelkuppe hören konnten. «Er hat zwei Armbrustbolzen auf uns geschossen! Du hast versucht, deinen eigenen König zu töten, Junge», fuhr Henry fort. Er sprach jetzt wieder französisch. «Und dieser König bin ich. Ich bin König der Normandie, König von Aquitanien, König der Picardie und König von Frankreich. Ich bin dein König.»Er schwang ein Bein über den Sattel und sprang vom Pferd. Ein Knappe eilte heran, um die Zügel des königlichen Pferdes zu halten, während Henry mit zwei Schritten bei Philippe de Rouelles war und auf ihn niederbückte. «Du hast versucht, deinen König zu töten», sagte er und zog sein Schwert. Die Klinge fuhr mit einem zischenden Geräusch aus der Scheide. «Was tut man mit einem Jungen, der versucht, einen König zu töten?», fragte Henry mit erhobener Stimme.

«Man tötet ihn, Sire», knurrte ein Reiter.

Die Klinge des Königs hob sich. Philippe zitterte, und in seinen Augen standen Tränen, doch aus seiner Miene sprach immer noch starrsinniger Trotz. Er blinzelte, als die Klinge niederfuhr.

Sie hielt einen Fingerbreit über seiner Schulter inne. Henry lächelte. Er tippte mit der Klinge zuerst auf die eine, dann auf die andere Schulter des Jungen. «Du bist ein tapferer Untertan», sagte er wohlgemut. «Erhebt Euch, Sir Philippe.»Die Reiter lachten, als Hook den Jungen, der die Augen weit aufgerissen hatte, auf die Füße zog.

Henry trug eine goldene Kette um den Hals, an der ein mächtiger Elfenbeinanhänger hing, in den wiederum eine Antilope aus Jettstein eingelassen war. Die Antilope war ein weiteres von Henrys Wappentieren und gehörte zu den persönlichen Insignien des Königs. Henry hob nun die Kette über seinen Kopf und legte sie Philippe um den Hals. «Eine Erinnerung an den Tag, an dem du hättest sterben sollen, Junge», sagte Henry. Philippe erwiderte nichts, sondern sah nur von dem prächtigen Geschenk zu dem Mann auf, der es ihm gegeben hatte. «Ist dein Vater der Seigneur de Rouelles?», fragte der König.

«Ja, Herr», antwortete Philippe mit kaum mehr als einem Flüstern.

«Dann sag deinem Vater, dass der rechtmäßige König gekommen ist und dass dieser König gnädig ist. Und jetzt geht, Sir Philippe.»Henry ließ sein Schwert in die Scheide zurückgleiten. Der Junge warf einen Blick auf die Armbrust in Hooks Hand. «Nein, nein», sagte der König, «deinen Bogen behalten wir. Deine Strafe wird in dem bestehen, was immer dein Vater für ihren Verlust als angemessen erachtet. Lass ihn gehen», befahl der König, an Hook gewandt. Doch er schien ihn nicht wiederzuerkennen.

Henry sah dem Jungen nach, wie er den Abhang hinunterrannte. Dann stieg er wieder in den Sattel. «Die Franzosen schicken ein Kind, das ihre Pflicht übernehmen soll», sagte er missmutig.

«Und wenn der Junge älter wird, Sire», bemerkte Sir John ebenso missmutig, «dann müssen wir ihn töten.»

«Er ist unser Untertan», verkündete der König laut, «und das ist unser Land! Diese Leute gehören zu uns!»Er starrte lange auf Harfleur hinunter. Die Stadt mochte dem Recht nach ihm gehören, doch ihre Bürger waren da anderer Ansicht. Ihre Tore waren geschlossen, an ihrer Stadtmauer hingen herausfordernde Banner, und ihr Tal war geflutet. Harfleur, das war nicht zu verkennen, war zum Kampf entschlossen.

«Lasst uns die Armee an Land holen», sagte Henry.

Der Kampf um Frankreich hatte begonnen.

Die Landung der Armee begann am Donnerstag, dem fünfzehnten August, dem Tag von Sankt Alipius, und dauerte bis zum Samstag, dem Tag von Sankt Agapetus. Dann erst waren der letzte Mann, das letzte Pferd, alle Kanonen und die gesamte Ladung an den Strand mit den Felsblöcken gebracht worden. Die Pferde taumelten, wenn sie ans Ufer kletterten. Sie wieherten und scheuten mit weit aufgerissenen Augen, bis die Pferdeknechte sie schließlich beruhigen konnten. Einige Bogenschützen verbreiterten den Weg vom Strand zum Kloster, in dem der König Quartier bezogen hatte. Henry verbrachte Stunden am Strand, um die Landung zu überwachen und die Männer zur Eile anzutreiben, oder er ritt auf die Hügelkuppe, auf der Philippe de Rouelles ihn zu töten versucht hatte, und blickte ostwärts auf Harfleur hinab. Sir Johns Männer bewachten den Bergkamm, doch es kamen keine Franzosen, um die Engländer ins Meer zurückzutreiben. Ein paar Reiter verließen die Stadt, doch sie hielten sich außerhalb der Schussweite und begnügten sich damit, den Feind auf dem Hügel aus der Entfernung zu beobachten. Die Überschwemmung breitete sich weiter um Harfleur aus. Einige der Häuser außerhalb der Stadtmauer standen schon bis zum Dach unter Wasser, doch es hielten sich zwei breite trockene Erdstreifen in der Senke, in der die Stadt lag.

Der Streifen, der näher zum Hügel hin gelegen war, führte zu einem von Harfleurs drei Stadttoren, und von der Höhe seines Aussichtspunktes konnte Hook mitverfolgen, wie der Feind eine riesige Bastion zum Schutz dieses Tores fertigstellte. Sie sah aus wie ein kleines Kastell, das die Straße blockierte, sodass jeder Angriff auf das Tor zuerst diese mächtige Abwehrbefestigung überwinden musste.

Am Freitagnachmittag, dem Fest von Sankt Hyacinthus, erhielt Hook zusammen mit einem Dutzend weiterer Männer den Auftrag, die letzten Pferde Sir Johns abzuholen, die von der Lady of Falmouth an Land schwammen. Die Tiere rutschten auf dem Kies aus, und die Bogenschützen banden ihr Zaumzeug mit einem Strick aneinander, um sie zusammenzuhalten. Melisande hatte Hook begleitet und streichelte Dell, ihre kleine gescheckte Stute, die sie von Sir Johns Frau bekommen hatte. Dann fing sie an, dem Tier beruhigende Worte zuzumurmeln. «Dieses Pferd spricht kein Französisch, Melisande!», sagte Matthew Scarlet. «Das ist eine englische Stute.»

«Aber jetzt lernt sie Französisch», sagte Melisande.

«Die Sprache des Teufels», sagte William of the Dale und ahmte dabei Sir John nach. Die anderen Bogenschützen lachten. Matthew Scarlet, einer der Zwillinge, führte Lucifer, Sir Johns großen Kampfhengst, der jetzt ausbrach. Einer von Sir Johns Pferdeknechten eilte Matthew zu Hilfe. Hook führte acht aneinandergebundene Pferde und ging mit ihnen zu Melisande, um Dell ebenfalls in die Reihe zu binden. Er rief Melisandes Namen, doch sie starrte nur über den Strand und runzelte dabei die Stirn. Hook folgte ihrem Blick mit den Augen.

Eine Gruppe Bewaffneter kniete bei einem der Felsblöcke. Vor ihnen stand ein Priester und betete ihnen vor. Einen Augenblick lang dachte Hook, diese Szene habe Melisandes Aufmerksamkeit gefesselt, doch dann sah er einen weiteren Priester hinter einem anderen der großen Felsbrocken. Es war Sir Martin, und bei ihm waren die Perrill-Brüder, und die drei Männer sahen Melisande an. «Melisande», sagte er, und sie drehte sich zu ihm um.

Sir Martin grinste. Ohne Hook aus den Augen zu lassen, hob er langsam seine rechte Hand und ließ nur noch den längsten Finger aufragen, und dann, ebenso langsam, ballte er die Linke zur Faust und ließ sie über diesen Finger gleiten. Die Hände auf diese Weise verbunden, malte er in Hooks und Melisandes Richtung ein Kreuz in die Luft. «Bastard», sagte Hook leise.

«Wer ist das?», fragte Melisande.

«Das sind Feinde», sagte Hook. Die Brüder Perrill waren in wildes Gelächter ausgebrochen.

Tom und Matthew Scarlet kamen an Hooks Seite. «Kennst du sie?», fragte Tom.

«Ich kenne sie.»

Sir Martin machte erneut das Kreuzeszeichen, bevor er sich nach jemandem umdrehte, der ihn gerufen hatte. «Das ist ein Priester?», fragte Tom ungläubig.

«Ein Priester», sagte Hook, «ein Frauenschänder und ein Adliger. Und er ist vom Höllenhund gebissen. Er ist gefährlich.»

«Und du kennst ihn?»

«Ich kenne ihn», sagte Hook. Dann sah er die Zwillinge direkt an. «Ihr passt alle auf Melisande auf», sagte er, und seine Stimme klang wild.

«Das tun wir», sagte Matthew Scarlet, «und das weißt du.»

«Was will er?», fragte Melisande.

«Dich», antwortete Hook. An diesem Abend gab er ihr die kleine Armbrust mit einer Tasche Bolzen. «Übe damit», sagte er.

Am nächsten Tag, dem Tag von Sankt Agapetus, wurden die acht großen Kanonen vom Strand hochgehievt. Für eine davon, die «Königstochter»getauft worden war, wurden zwei Karren gebraucht, um das schwere beringte Rohr fortzubewegen, das länger als drei Bogenschäfte war und in seiner gähnenden Öffnung ein Bierfass hätte aufnehmen können. Die anderen Kanonen waren kleiner, und dennoch wurden für alle mehr als zwanzig Pferde gebraucht, um sie bis auf die Hügelkuppe zu ziehen.

Erkundungstrupps ritten nach Norden und brachten Nachschub und Bauernkarren mit zurück, auf denen die Verpflegung, die Zelte, Pfeile und die frisch gefällten Eichenstämme transportiert werden konnten. Die Stämme würden behauen und für den Bau von Katapulten zurechtgesägt werden, mit denen der Angriff durch die Kanonen unterstützt werden sollte. All das musste mit Karren auf die Hügelkuppe geschafft werden. Doch endlich war die gesamte Armee mit allen ihren Pferden, der Verpflegung und den Waffen an Ort und Stelle. Unter der gleißenden Nachmittagssonne reihten sich die schwerfälligen Karren auf der Straße bei dem Kloster aneinander, und um sie herum sammelte sich die englische Armee unter flatternden Bannern. Es waren neuntausend Bogenschützen und dreitausend Feldkämpfer, alle beritten, und zudem noch Knappen und Junker und Frauen und Diener und Priester und Ersatzpferde, und die Flaggen knatterten im Wind, als der König auf seinem schneeweißen Wallach die Linien seiner Männer mit dem roten Kreuz abritt. Sonnenstrahlen glitzerten auf dem goldenen Reif, den er über dem Helm trug. Dann kam er an den Rand der Hügelkuppe über der Stadt. Minutenlang sah er schweigend darauf hinunter, dann nickte er Sir John Holland zu, der die Ehre haben würde, die Spitze des Heeres zu führen. «Mit Gottes Segen, Sir John!», rief der König. «Auf Harfleur!»

Trompeten erklangen, Trommeln wurden geschlagen, und die englischen Reiter strömten über die Hügelkuppe herunter. Sie trugen das Sankt-Georgs-Kreuz, und über ihren behelmten Köpfen flogen die Banner ihrer Herren in Gold und Rot und Blau und Gelb und Grün, und jeder, der sie von der Stadtmauer Harfleurs aus beobachtete, musste glauben, dass die Hügel selbst eine bewaffnete Heerschar gegen die Stadt schickten.

«Wie viele Menschen leben in dieser Stadt?», fragte Melisande. Sie ritt an Hooks Seite, und an ihrem Sattel hing die mit Silber und Elfenbein eingelegte Armbrust, die ihr Hook gegeben hatte.

«Sir John schätzt, dass sie nur ungefähr einhundert Soldaten in der Stadt haben», sagte Hook.

«Ist das alles?»

«Aber sie haben auch die Leute aus der Stadt», sagte Hook, «und das müssen ungefähr zweitausend sein. Vielleicht sogar dreitausend!»

«Aber all diese Männer!», sagte Melisande und drehte sich im Sattel nach den langen Reihen von Reitern um, die dicht an dicht zu beiden Seiten des Weges ritten. Berittene Trommler schlugen ihre Instrumente und verkündeten so den Bürgern von Harfleur, dass ihr rechtmäßiger König voller Grimm auf die Stadt vorrückte.

,Doch Henry von England war nicht der Einzige, der sich der Stadt näherte. Noch während die Engländer den Abhang in Richtung des trockenen Abschnitts im Westen von Harfleur hinunterritten, kam ein anderer Zug von Osten her an. Die Reiter waren noch weit entfernt, aber eindeutig auszumachen. In einer langen Reihe aus berittenen Feldkämpfern und Wagen kam Verstärkung für die Stadt. «Das», sagte Sir John Cornewaille, der die Männer beobachtete, «ist Pech.»

«Sie bringen Kanonen», bemerkte Peter Goddington.

«Wie ich schon sagte», Sir Johns Stimme klang erstaunlich sanft, «das ist Pech.»Er gab Lucifer die Sporen, um an die Spitze des Zuges zu reiten, und andere Lords, die alle an der Ehre teilhaben wollten, sich dem Widerstand der Stadt als Erste entgegenzustellen, galoppierten hinter ihm her. Hook sah die Reiter den Hügel hinabgaloppieren und schließlich die flache Senke erreichen. Dann wuchs eine große schwarze Rauchblüte aus der Stadtmauer von Harfleur und hob sich über die Dächer. Ein paar Sekunden später hallte das Geräusch der Kanone durch den Sommertag, ein dumpfes Krachen, das im Talkessel hängen zu bleiben schien, in den die Hafenstadt hineingebaut war. Die steinerne Kanonenkugel fuhr über die Auenwiese, auf der die Engländer ritten, prallte Erdklumpen verspritzend auf und landete schließlich zwischen den Bäumen, ohne jemandem gefährlich zu werden. Die Belagerung von Harfleur hatte begonnen.


*

***

*****

***

*


Es schien Hook, als täte er in den ersten Tagen der Belagerung nichts anderes, als zu graben. Zuerst waren es Abortgruben. «Unsere Ma ist einmal in eine Jauchegrube gefallen», sagte Tom Scarlet. «Sie war betrunken. Ihr waren ein paar Perlen hineingefallen, und sie hat versucht, sie mit einem Rechen wieder herauszufischen.»

«Es waren schöne Perlen», warf Matthew Scarlet ein, «aus Silber, oder?»

«Eigentlich waren es Münzen», sagte sein Zwilling, «die unser Vater in einem vergrabenen Topf gefunden hatte. Er hat sie durchbohrt und sie auf ein Stück Bogensehne aufgefädelt.»

«Und die ist zerrissen», sagte Matt.

«Also hat Ma versucht, sie mit einem Rechen wieder rauszufischen», fuhr Tom fort, «und ist selber kopfüber reingefallen!»

«Ihre Perlen hat sie wiedergefunden», sagte Matt.

«Außerdem war sie schlagartig wieder nüchtern», erzählte Tom weiter, «aber sie konnte einfach nicht mehr aufhören zu lachen. Unser Vater hat sie runter zum Ententeich gezogen und sie hineingeschubst. Er hat ihr gesagt, dass sie sich nackt ausziehen soll, und alle Enten sind weggeflogen. Das ist ja wohl klar, oder? Eine nackte Frau, die in ihrem Teich herumspritzt und immerzu lacht. Das ganze Dorf hat gelacht!»

Als Erstes befahl der König, auf dem breiten, trockenen Streifen vor der Stadtmauer alle Häuser niederzubrennen, um sämtliche Hindernisse zwischen der Stadtmauer und den Kanonen zu beseitigen. Der Befehl wurde nachts erfüllt, und als die Flammen in die Dunkelheit schlugen, beleuchteten sie die Banner an der Stadtmauer Harfleurs, und den gesamten nächsten Tag hing der Rauch der schwelenden Häuser in dem Talkessel, der den Hafen einschloss. Er erinnerte Hook an den Rauchschleier, der die Gegend um Soissons eingehüllt hatte.

«Der Priester war natürlich nicht sehr glücklich darüber», ergriff Matthew Scarlet das Wort, «aber unser Gemeindepriester war schon immer ein widerliches Stück Scheiße. Er hat unsere Mutter dafür vor das Hausgericht der Lordschaft gebracht! Sie hätte den Frieden gestört, hat er gesagt, aber Seine Lordschaft hat ihr drei Schillinge gegeben, damit sie sich neues Tuch für ein Kleid kaufen konnte, und außerdem einen Kuss, weil sie so glücklich im Leben war. Er sagte, sie könne in seiner Jauchegrube schwimmen, wann immer ihr danach sei.»

«Und? Hat sie es jemals getan?», fragte Peter Scoyle. Scoyle war eine Seltenheit: ein Bogenschütze, der in London geboren und aufgewachsen war. Er war bei einem Kammmacher in die Lehre gegangen und dafür verurteilt worden, eine tödliche Schlägerei angezettelt zu haben. Doch dann war er unter der Bedingung begnadigt worden, in der Armee des Königs zu dienen.

«Nein, niemals», sagte Tom Scarlet, «sie hat immer gesagt, dass ein Bad in der Scheiße fürs Leben ausreicht.»

«Ja, ein Bad reicht jedermann fürs ganze Leben!»Pater Christopher hatte offenkundig gehört, was die Zwillinge erzählt hatten. «Hütet euch vor der Reinlichkeit! Sankt Hieronymus, er sei gepriesen, weist uns darauf hin, dass ein reiner Körper eine unreine Seele bedeutet, und die heilige Sankt Agnes war stolz darauf, sich in ihrem ganzen Leben niemals gewaschen zu haben.»

«Da wäre Melisande aber anderer Meinung», sagte Hook, •«sie ist gern sauber.»

«Warne sie!», sagte Pater Christopher ernst. «Die Heilkundigen sind sich alle darüber einig, Hook, dass Waschen die Haut schwächt. Und dann finden Krankheiten Eintritt in den Körper!»

Als die Gräben ausgehoben waren, ritten Hook und eine Hundertschaft weiterer Bogenschützen in nördlicher Richtung das Tal des Flusses Lezarde hinauf. Dort begannen sie erneut mit dem Graben. Sie sollten im Flusstal einen enormen Damm errichten. In einem Dorf rissen sie ein Dutzend Häuser ein, die zur Hälfte aus Holzbalken gebaut waren, und benutzten diese, um den großen Erddamm zu verstärken, mit dem sie den Fluss stauten. Die Lezarde war nicht sehr breit, und es war ein trockener Sommer gewesen, dennoch kostete es vier Tage schwerer Arbeit, den Damm hoch genug aufzuschütten, um den größten Teil des Flusswassers nach Westen umzulenken. Als Hook und seine Gefährten nach Harfleur zurückkamen, war die Überschwemmung weitgehend zurückgegangen, wenn auch auf dem Boden um die Stadt herum noch die Feuchtigkeit stand und der Fluss selbst immer noch über seine Ufer trat und dadurch nördlich der Stadt einen See gebildet hatte.

Am nächsten Tag hoben sie flache Gruben für die Kanonen aus. Zwei Kanonen, eine davon wurde «Londoner»genannt, weil die Bürger von London dafür bezahlt hatten, standen schon an ihrem Platz, und ihre Steinkugeln fraßen sich in die riesige Bastion, die von den Verteidigern vor dem Leure-Tor errichtet worden war. Der Duke of Clarence, der auch der Bruder des Königs war, hatte einen Bogen um die Stadt geschlagen und griff Harfleur nun mit seinen Männern, die ein Drittel der englischen Armee ausmachten, von Osten aus an. Sie hatten ihre eigenen Kanonen, die sie mit viel Glück von einem französischen Versorgungstrupp erbeutet hatten, der auf dem Weg nach Harfleur gewesen war. Die holländischen Kanoniere, die angeworben worden waren, um Harfleur gegen seine englischen Feinde zu verteidigen, waren nur allzu bereit, das Geld der Engländer zu nehmen und ihre Kanonen nun gegen die Verteidiger der Stadt zu richten. Harfleur war umstellt. Kein weiterer Versorgungszug konnte die Stadt erreichen, es sei denn, er würde kämpfend am Heer der Engländer vorbeikommen oder an der königlichen Kriegsflotte vorbeisegeln, die den Eingang des Hafens bewachte. An dem Tag, an dem die Kanonengruben fertig waren, stieg Hook mit vierzig weiteren Bogenschützen auf den Hügel westlich des Lagers. Sie folgten dem Weg, auf dem die Armee Richtung Harfleur gezogen war. Gewaltige Eichen säumten den nächstgelegenen Hügelkamm, und sie hatten den Befehl, diese Bäume zu fällen, die geraden Äste abzuhacken, sie auf die Länge eines Bogenschafts zu sägen und auf Karren zu laden. Es war heiß an diesem Tag. Ein halbes Dutzend Bogenschützen blieb mit der enormen zweigriffigen Säge auf dem Weg, während sich die anderen auf der Hügelkuppe verteilten. Peter Goddington kennzeichnete die Bäume, die er fällen lassen wollte, und teilte für jeden Baum zwei Bogenschützen ein. Hook und Will of the Dale standen weiter südlich, nur noch die Scarlet-Zwillinge befanden sich näher an der See. Melisande war mit Hook gekommen. Ihre Fingerknöchel waren schon wund, so viel Kleidung hatte sie gewaschen, und im Lager wartete noch viel mehr Kleidung darauf, gekocht und geschrubbt zu werden, aber Sir Johns Verwalter hatte ihr erlaubt, Hook zu begleiten. Sie hatte sich die kleine Armbrust über die Schulter gehängt, ohne die sie Sir Johns Kompanie nie mehr verließ. «Ich töte diesen Priester, wenn er mich anfasst», hatte sie Hook erklärt, «und seine Freunde erschieße ich auch.»Hook hatte wortlos genickt. Sie könnte vielleicht, so war es ihm durch den Kopf gegangen, einen von ihnen erschießen, doch es benötigte so viel Zeit, diese Waffe neu zu spannen und zu laden, dass sie sich bestimmt nicht gegen mehr als einen einzigen Mann verteidigen konnte.

Die Bäume dämpften das gelegentliche Geräusch einer Kanone, die gerade abgefeuert wurde, und den Einschlag der . Steine in die Stadtmauer von Harfleur. Die Axtschläge allerdings waren laut. «Warum sind wir so weit vom Lager weggegangen?», fragte Melisande.

«Weil wir schon alle großen Bäume in der Nähe des Lagers gefällt haben», sagte Hook. Sein Oberkörper war nackt, seine enormen Muskeln trieben die Axt tief in den Stamm der Eiche. Holzsplitter spritzten von der Kerbe weg.

«Und so weit sind wir auch wieder nicht vom Lager entfernt», fügte Will of the Dale hinzu. Er war einen Schritt zurückgetreten und überließ Hook die Arbeit. Hook störte das nicht. Er war an den Gebrauch einer Holzfälleraxt gewöhnt.

Melisande spannte die Armbrust. Es fiel ihr sehr schwer, aber sie wollte sich nicht von Hook oder Will dabei helfen lassen, die Zwillingsgriffe der Kurbel zu drehen. Bis die Rückhaltesperre einrastete, um die Sehne in voller Spannung festzuhalten, stand ihr der Schweiß auf der Stirn. Sie legte einen Bolzen in die Kerbe und zielte auf einen Baum, der weniger als zehn Schritt entfernt war. Sie runzelte die Stirn, biss sich auf die Unterlippe, zog am Auslöser und beobachtete, wie der Bolzen eine Armeslänge weit flog, um dann raschelnd ins Unterholz zu fahren. «Lacht nicht», sagte sie, noch bevor einer der beiden Männer hätte anfangen können zu lachen.

«Ich lache nicht», sagte Hook und grinste Will an.

«Das würde ich nie wagen», sagte Will.

«Ich werde es lernen», sagte Melisande.

«Du lernst es aber besser, wenn du deine Augen offen hältst», sagte Hook.

«Das ist schwer.»

«Sieh am Mittelschaft entlang», riet ihr Will, «halte die Armbrust ganz fest und löse den Abzug ruhig und langsam aus. Und möge Gott dir helfen, wenn du schießt», fügte er in einer Nachahmung von Pater Christophers schalkhafter Stimme hinzu.

Sie nickte und kurbelte dann wieder die Sehne nach oben. Es dauerte lange, bis der Haltemechanismus klickte, und dann legte sie die Waffe, statt zu schießen, auf die Lauberde und sah Hook zu, bei dem selbst das Fällen einer Eiche mühelos wirkte, ganz genau wie das Spannen eines Bogens.

«Ich sehe einmal nach, ob die Zwillinge Unterstützung brauchen», sagte Will of the Dale, «du brauchst nämlich keine, Nick.»

«Nein, brauche ich nicht», stimmte Hook zu. «Also geh und hilf ihnen. Die beiden sind schließlich Walkerssöhne, und das heißt, dass sie in ihrem ganzen Leben noch keinen Tag ordentlich gearbeitet haben.»

Will nahm seine Axt, seine Pfeiltasche und seinen Bogen in der Hülle und verschwand in südlicher Richtung zwischen den Bäumen. Melisande sah ihm nach, dann richtete sie ihren Blick auf die gespannte Armbrust, als habe sie solch ein Ding noch nie gesehen. «Pater Christopher hat mit mir geredet», sagte sie ruhig.

«Ach ja?», gab Hook zurück. Er sah an dem Baum empor und dann wieder zu der Kerbe, die er in den Stamm geschlagen hatte. «Dieser Riese wird gleich umfallen», warnte er sie vor. Dann ging er auf die andere Seite des Baumes und hieb die Axt in den Stamm. Er zerrte das Blatt frei. «Und was wollte Pater Christopher von dir?»«Er wollte wissen, ob wir heiraten.»«Wir? Heiraten?»Die Axt fuhr erneut nieder, und ein Holzkeil fiel herab, als Hook das Blatt wieder aus dem Stamm zog. Jetzt passiert es gleich, dachte er. Er spürte den Zug in der Eiche, die geräuschlose Dehnung in ihrem Stamm, die dem Tod des Baumes vorausging. Mit ein paar Schritten entfernte er sich von der Eiche und stellte sich zu Melisande, die in sicherer Entfernung abwartete. Er nahm wahr, dass die Armbrust immer noch gespannt war, und hätte ihr fast erklärt, dass sie die Waffe schwächte, wenn sie die Bogenschenkel unter Spannung hielt, doch dann fiel ihm ein, dass das vielleicht gar nicht so schlecht war. Wenn die Bogenschenkel geschwächt waren, würde sie es leichter haben, die Sehne zu spannen. «Heiraten?», fragte er erneut.

«Das hat er gefragt.»

«Und was hast du geantwortet?»

«Ich wusste es nicht», sagte sie und sah zu Boden. «Vielleicht?»

«Vielleicht», gab Hook wie ein Echo zurück, und in demselben Moment barst der Stamm, und die gewaltige Eiche fiel, langsam zuerst, dann immer schneller, krachend und rauschend zwischen Ästen und Laubwerk hindurch, und landete schließlich dröhnend auf der Erde. Vögel kreischten. Ein paar Augenblicke war der Wald in Aufruhr, dann ebbte der Lärm wieder ab, und es war nichts weiter zu hören als die hallenden Axtschläge entlang des Bergkammes. «Ich meine», sagte Hook langsam, «das wäre vielleicht eine guter Einfall.»

«Findest du?»

Er nickte. «Ja.»

Sie sah ihn eine Weile an, ohne etwas zu sagen, und nahm dann ihre Armbrust auf. «Ich sehe am Schaft hinunter», fragte sie, «und halte die Armbrust ganz fest?»

«Und dann löst du ganz sanft aus», sagte er. «Halte am besten die Luft an, während du abziehst, und richte dabei deinen Blick nicht auf den Bolzen, sieh einfach dorthin, wo der Bolzen hinfliegen soll.»

Sie nickte, legte den Bolzen in die Furche und zielte auf denselben Baum, den sie zuvor verfehlt hatte. Sie stand nun ein paar Schritte näher davor. Hook sah ihr aufmerksam zu, sah die Konzentration in ihrer Miene und wie sie in Erwartung des Rückstoßes zusammenzuckte. Dann hielt sie den Atem an, schloss die Augen, zog am Abzug, und der Bolzen jagte an dem Baum vorbei und verschwand in der Senke dahinter. Melisande starrte verzweifelt in die Richtung, in die er geflogen war.

«Du hast nicht sehr viele Bolzen», sagte Hook, «und die hier sind noch dazu besonders.»

«Besonders?»

«Sie sind kleiner als die meisten anderen», sagte er. «Sie sind speziell für diese Armbrust angefertigt worden.»

«Soll ich nach den Bolzen suchen, die ich verschossen habe?»

Er lächelte. «Ich hacke ein paar von diesen Ästen ab, und du suchst die zwei Bolzen.»

«Ich habe noch neun.»

«Elf wären besser.»

Sie legte die Armbrust auf den Boden, stieg vorsichtig den Abhang hinunter und war bald im sonnenüberglänzten Grün des Unterholzes verschwunden. Hook spannte die Armbrust, kurbelte die Sehne ohne jede Anstrengung zurück und hoffte, die Dauerspannung würde die Bogenschenkel schwächen, damit es Melisande leichter hätte. Dann machte er sich daran, die Seitenarme der gefällten Eiche abzuhacken. Er fragte sich, warum der König eine solche Menge gerader Hölzer in der Länge eines Bogenschaftes haben wollte. Nicht meine Angelegenheit, dachte er sich dann. Er machte sich an den zweiten Ast, dann an den dritten. Der gewaltige Stamm würde noch zersägt werden, doch für den Moment blieb er dort liegen, wo er hingefallen war. Hook hackte ein paar schwächere Äste ab und hörte irgendwo auf dem Bergkamm einen anderen mächtigen Baum tosend niedergehen. Tauben flatterten mit klatschendem Flügelschlag zwischen dem Blattwerk. Hook überlegte, ob er Melisande bei der Suche nach den Bolzen helfen sollte, denn sie war schon viel zu lange weg, doch gerade als ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, kam sie voller Aufregung zurückgerannt. Sie deutete auf den westlichen Bergabhang. «Da sind Männer!», sagte sie.

«Natürlich sind da Männer», sagte Hook und hieb, die Axt nur mit einer Hand haltend, einen Ast von der Dicke eines Männerarms ab. «Wir haben uns hier überall verteilt.»

«Bewaffnete Reiter», zischte Melisande, «Chevaliers!»«Das sind sicher welche von uns», sagte Hook. Täglich unternahmen einige Feldkämpfer Erkundungsritte in die Umgebung, um sich nach Verpflegung und der französischen Armee umzusehen, deren Ankunft zur Entsetzung Harfleurs alle erwarteten.

«Es sind Franzosen!», flüsterte Melisande aufgeregt.

Das glaubte Hook nicht, dennoch ließ er die Axt in den gefällten Baum fahren, damit sie stecken blieb, sprang vom Stamm herunter und nahm Melisande am Arm. «Sehen wir nach.»

Da waren wirklich Männer, Reiter in einem mit Farndickicht bewachsenen Geländeeinschnitt, der sich wie eine Rinne mit schlangengleichen Windungen den Wald hinaufzog. Hook zählte ein Dutzend Reiter, die auf einem schmalen Pfad hintereinanderher ritten, doch er spürte, dass dahinter noch weitere Reiter waren. Und Melisande hatte recht: Die Reiter trugen nicht das Sankt-Georgs-Kreuz. Zwar trugen auch sie Wappenröcke, doch Hook kannte keinen davon, und sie trugen Plattenpanzer und Helme. Die Visiere hatten sie hochgeklappt, sodass Hook unter dem Schatten des Stahls die Augen des ersten Reiters blitzen sehen konnte. Dann erhob dieser Mann die Hand, um die Reihe zum Stehen zu bringen, und betrachtete aufmerksam die Anhöhe. Er wollte ausmachen, von wo genau die Axthiebe kamen, und während er sich darauf konzentrierte, tauchten hinter ihm weitere Reiter unter den Bäumen auf.

«Franzosen», flüsterte Melisande.

«Das stimmt», sagte Hook mit gedämpfter Stimme. Die meisten Reiter hatten ihre Schwerter gezogen.

«Was machen wir jetzt?», fragte Melisande leise. «Verstecken wir uns?»

«Nein», sagte Hook, denn er wusste, was er tun musste. Er wusste es, ohne zu überlegen, sein Gefühl sagte es ihm, und weder zweifelte er es an, noch zögerte er einen Moment. Vorsichtig ging er mit Melisande zu dem gefällten Baum zurück, nahm die Armbrust und rannte dann den Bergkamm entlang. «Die Franzosen!», rief er. «Sie kommen! Geht zu den Karren zurück! Schnell!»Wieder und wieder rief er: «Zurück zu den Karren!»Tom Scarlet und Will of the Dale sahen ihm vollkommen verwirrt entgegen. «Will», sagte Hook, «mach Sir Johns Stimme nach. Sag ihnen, dass die Franzosen hier sind und dass alle zu den Karren zurückgehen sollen.»

Will of the Dale starrte Hook einfach bloß an.

«Los, mach Sir Johns Stimme nach!», wiederholte Hook schroff und rüttelte den Zimmermann an der Schulter. «Die verdammten Franzosen rücken an! Jetzt geh! Wo ist Matt?», fragte er, an Tom Scarlet gewandt, der stumm Richtung Süden deutete.

Will of the Dale tat, was Hook ihm gesagt hatte. Er hastete über den Bergkamm zurück und ahmte Sir Johns raue Stimme nach, um die Bogenschützen zurück zu den großen Karren am Weg zu bringen. Peter Goddington, der sich ebenfalls täuschen ließ, suchte nach Sir John, fand aber nur Hook, Melisande und Tom Scarlet. «Was geht hier vor?», fragte Goddington wütend.

«Franzosen, Sergeant», sagte Hook und deutete auf den Westhang des Hügels.

«Sei kein Narr, Hook», sagte Goddington, «hier ist kein einziger verdammter Franzose.»

«Ich habe sie gesehen», sagte Hook. «Berittene Feldkämpfer. Sie tragen Rüstungen und sind bewaffnet.»

«Das waren unsere Männer, du Esel», beharrte Goddington. «Vermutlich ein Versorgungstrupp.»

Der Centenar war sich so sicher, dass Hook schon bezweifelte, was er mit eigenen Augen gesehen hatte, und seine Unsicherheit wurde noch dadurch gesteigert, dass die Reiter nicht reagiert hatten, obwohl sie die Rufe auf dem Bergkamm gehört haben mussten. Er hatte erwartet, dass die Reiter den Abhang hinaufgaloppieren und zwischen den Bäumen hervorbrechen würden, doch kein einziger war aufgetaucht. Dennoch beharrte er auf seiner Geschichte. «Es waren ungefähr zwanzig», erklärte er Goddington, «bewaffnet und mit einem fremden Wappenrock. Melisande hat sie auch gesehen.»

Der Sergeant warf Melisande einen Blick zu, der klarstellte, dass ihre Meinung für ihn nicht zählte. «Ich sehe es mir selbst an», knurrte er. «Wo sollen sie nochmal sein?»

«Zwischen den Bäumen auf diesem Abhang», sagte Hook und zeigte Goddington die Richtung. «Sie sind nicht auf dem Weg. Sie reiten im Dickicht, als ob sie nicht gesehen werden wollten.»

«Ich hoffe für dich, dass du nicht bloß mit offenen Augen geträumt hast», schnauzte der Centenar und machte sich auf den Weg den Abhang hinunter.

«Wo ist Matt?», erkundigte sich Hook erneut bei Tom Scarlet.

«Er wollte sich das Meer ansehen», sagte Tom.

«Matt!», rief Hook, 'die Hände zu einem Trichter geformt.

Keine Antwort. Der warme Wind seufzte in den Zweigen, und irgendwo am Osthang des Hügels lärmte ein Buchfinkenschwarm. An der Belagerungsfront wurde eine Kanone abgefeuert. Das Echo rollte durch den Talkessel und verschmolz mit dem krachenden Einschlag des Steines. Von klirrendem Zaumzeug oder Hufschlag war jedoch nichts zu hören. Hatte er die Reiter nur in seiner Vorstellung gesehen? Die Rufe auf dem Bergkamm waren verstummt, also waren die Bogenschützen, die Will hinters Licht geführt hatte, inzwischen wohl bei den Wagen versammelt.

«Wir hatten das Meer noch nie gesehen», sagte Tom Scarlet unruhig, «bevor wir hierhergesegelt sind. Matt wollte es sich noch einmal anschauen.»

«Matt!», rief Hook wieder, doch auch dieses Mal erhielt er keine Antwort.

Peter Goddington war über den Rand der Hügelkuppe verschwunden. Hook reichte Melisande die Armbrust, zog seinen Bogen aus der Hülle, bespannte ihn und legte einen Pfeil auf den Schaft. Dann ging er zur Einmündung des Geländeeinschnitts und spähte über das Farndickicht. Peter Goddington stand allein dort. Kein Reiter war zu sehen. Der Centenar drehte sich um und warf einen äußerst gereizten Blick zu Hook hinauf. «Hier ist überhaupt nichts, du Holzkopf», rief er, und genau in diesem Augenblick sah Hook hinter Goddington zwei Reiter zwischen den Bäumen hervorkommen.

«Hinter Euch!», schrie er, und Goddington begann den Abhang hinaufzulaufen, während Hook seinen Bogen hob, die Sehne zurückzog und sie im gleichen Augenblick abschnellen ließ, in dem der Reiter, der Goddington am nächsten war, nach links ausscherte. Der Pfeil, eine Ahlspitze, glitt am Schulterstück des Reiters ab. Sein Schwert fuhr nieder, und Hook sah, während er einen weiteren Pfeil aus der Tasche zog, hellrotes Blut in das sonnenbeschienene Grün schießen, er sah an Peter Goddingtons Kopf rote Ströme herabfließen, sah ihn taumeln, und dann sah er den zweiten Franzosen sein Schwert wie eine Lanze heben und es dem Centenar in den Rücken rammen. Goddington stürzte zu Boden.

Hook ließ den nächsten Pfeil abschnellen. Die weißen Federn jagten durch Schatten und Licht, und die Ahlspitze mit dem Schaft aus Eichenholz durchbohrte den Brustpanzer des zweiten Mannes und warf ihn aus dem Sattel. Weitere Reiter tauchten auf, sie sprengten aus dem Dickicht zwischen den Bäumen hervor, um den Abhang hinaufzugaloppieren. Tom Scarlet zog Hook am Arm. «Nick! Nick!»

Und dann herrschte mit einem Mal Chaos, weil zu ihrer Linken aus Richtung des Meeres noch mehr Reiter herankamen, und Hook packte Melisandes Ärmel und zog sie zurück. Er hatte diesen Trupp im Süden nicht bemerkt. Die Franzosen hatten sich mit wenigstens zwei Gruppen genähert, und er hatte nur eine davon gesehen. Verzweifelt suchte Hook den immer lauter werdenden Hufschlägen zu entkommen. Unvermittelt zog er Melisande zur Seite, wollte einen Haken schlagen wie ein Hase auf der Flucht vor den Hunden, doch dann galoppierte ein Reiter vor ihn und wendete sein Pferd so jäh, dass die Lauberde hoch in die Luft spritzte. Hook sprang nach links, um in einem hohlen Baumstamm Deckung zu suchen. Doch natürlich fand er keine Deckung, denn nun hatten sie ihn gestellt, und immer mehr Reiter kamen dazu, und einer lachte von seinem Sattel herunter, während er mit seinen Gefährten Melisande und die beiden Bogenschützen einkreiste.

«Matt!», sagte Tom, und Hook sah, dass sie Matthew Scarlet schon früher gefangen genommen hatten. Ein Franzose in einem blaugrünen Wappenrock zerrte ihn am Kragen neben seinem Pferd her.

«Bogenschützen», sagte einer der Reiter, und die Befriedigung in seiner Stimme war nicht zu überhören.

«Pere!», keuchte Melisande. «Pere?»Und in diesem Moment erkannte Hook den Falken über der Sonne. Der Wappenrock war neu, und die Farben der Stickerei leuchteten fast genauso glänzend wie die Schwertklinge, mit der nach ihm gestoßen wurde. Jetzt war die Klinge nur noch eine Handbreit von seiner Kehle entfernt und blieb in der Luft stehen. Der Reiter starrte vom Sattel seines Kampfpferdes aus auf sie herab. Die Keule eines eben erlegten Rehs hing an seinem Sattelknauf, und das Blut war auf den maßgefertigten Fußharnisch des Reiters getropft, und dieser Reiter war Ghillebert, Seigneur de Lanferelle, der Herr der Hölle.

Er war ein Herr in aller Pracht, saß auf einem Hengst ohnegleichen, und seine Plattenrüstung gleißte hell wie die Sonne. Er war als Einziger unter den Reitern barhäuptig, sodass sein langes schwarzes Haar beinahe bis zu seiner Hüfte herabhing. Sein Gesicht erinnerte an blankgeriebenes Metall, es war kantig, bronzebraun, mit einer Adlernase und tiefliegenden Augen, die belustigt glitzerten, als er seinen Blick zuerst auf Hook, der von der Schwertklinge in Schach gehalten wurde, und dann auf Melisande ruhen ließ, die mit der gespannten Armbrust auf ihn zielte. Falls es Lanferelle erstaunte, seiner Tochter in einem Wald der Normandie zu begegnen, so zeigte er es mit keiner Regung. Er schenkte ihr die Andeutung eines säuerlichen Lächelns, dann sagte er etwas auf Französisch, worauf Melisande einen Bolzen aus ihrer Tasche fingerte und ihn in die Waffe einlegte. Ghillebert, Seigneur de Lanferelle hätte sie leicht daran hindern können, doch er lächelte nur weiter, während sie die nun geladene Armbrust auf sein Gesicht richtete. Er sprach viel zu schnell, als dass Hook ihn hätte verstehen können, und Melisandes leidenschaftliche Antwort sprudelte beinahe ebenso schnell hervor.

Hinter Hook erklang ein Ruf, er war weit entfernt und musste etwa von da kommen, wo der Weg sich zum englischen Lager hin senkte. Seigneur de Lanferelle machte eine Handbewegung in Richtung seiner Männer, erteilte ihnen einen Befehl, und sie ritten in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. Die Hälfte der Männer, insgesamt waren es achtzehn, trug den Wappenrock mit dem Falken und der Sonne, die anderen die gleichen blauen und grünen Farben wie der Mann, der Matt Scarlet festhielt. Und nur dieser Mann und ein Junker, der Lanferelles Wappen trug, blieben bei dem Seigneur der Hölle zurück.

«Drei englische Bogenschützen», plötzlich sprach Lanferelle englisch, und Hook erinnerte sich daran, dass man ihm erzählt hatte, dass dieser Franzose Englisch gelernt hatte. «Drei verdammte Bogenschützen, und ich bezahle meine Männer mit Gold dafür, wenn sie mir die Finger von einem verdammten Bogenschützen bringen.»Lanferelle grinste jetzt. Seine Zähne hoben sich sehr weiß gegen sein braungebranntes Gesicht ab. «Die ganze Normandie und die Picardie ist voller fingerloser Bauern, weil meine Männer mich betrügen.»Darauf schien er stolz zu sein, denn mit einem Mal brach er in brüllendes Gelächter aus. «Weißt du, dass sie meine Tochter ist?»

«Ich weiß», sagte Hook.

«Sie ist die hübscheste von ihnen! Ich habe neun, jedenfalls neun, von denen ich weiß, allerdings nur eine von meiner Frau. Aber die hier», er sah Melisande an, die immer noch mit der Armbrust auf ihn hielt, «die hier wollte ich vor der Welt beschützen.»

«Ich weiß», sagte Hook erneut.

«Sie sollte für mein Seelenheil beten», sagte Lanferelle, «aber es sieht so aus, als ob ich noch andere Töchter in die Welt setzen muss, wenn meine Seele gerettet werden soll.»

Melisande sprudelte ein paar Worte hervor, die Lanferelle nur erneut zum Lächeln brachten. «Ich habe dich ins Kloster geschickt», sagte er immer noch auf Englisch, «weil du viel zu entzückend warst, um von einem schwitzenden Bauern besprungen zu werden, und von zu niedriger Geburt, um einen Edelmann heiraten zu können. Jetzt scheint es mir allerdings, dass du dir doch einen schwitzenden Bauern gesucht hast.»Er warf Hook einen spöttischen Blick zu. «Und der süße Apfel ist gepflückt, nicht wahr? Aber gepflückt oder nicht», fuhr er fort, «sie gehört immer noch mir.»

«Sie gehört mir», erwiderte Hook, doch Lanferelle beachtete seine Worte nicht.

«Was soll ich also jetzt tun? Soll ich dich zurück ins Kloster schicken?», fragte der Edelmann und grinste erheitert, als Melisande die Armbrust einen Fingerbreit höher hob. «Du schießt nicht», sagte er.

«Aber ich», sagte Hook, doch das war eine leere Drohung, denn er hatte keinen Pfeil auf dem Bogen und wusste, dass er nicht genug Zeit haben würde, um einen aus der Tasche zu ziehen.

«Wem dienst du?», fragte Lanferelle.

«Sir John Cornewaille», sagte Hook stolz.

Lanferelle war von dieser Antwort sehr angetan. «Sir John! Ah, das ist ein Mann. Seine Mutter muss mit einem Franzosen geschlafen haben! Sir John! Ich mag Sir John.»Er lächelte. «Aber was ist mit Melisande, hm? Was ist mit meiner kleinen Novizin?»

«Ich habe das Kloster gehasst», zischte Melisande. Sie hatte englisch gesprochen.

Lanferelle runzelte die Stirn, als würde ihn ihr Zorn erstaunen. «Du warst dort sicher», sagte er, «und deine Seele war auch sicher.»

«Sicher!», höhnte Melisande. «In Soissons? Sämtliche Nonnen sind geschändet oder ermordet worden!»

«Du bist geschändet worden?», fragte Lanferelle. Seine Stimme klang bedrohlich.

«Nicholas hat ihn aufgehalten», sagte sie und deutete auf Hook, «er hat ihn umgebracht, bevor er es tun konnte.»

Die dunklen Augen ruhten einen Moment nachdenklich auf Hook, dann wandten sie sich wieder Melisande zu.

«Was willst du also?», fragte er beinahe wütend. «Willst du einen Ehemann? Jemanden, der sich um dich kümmert? Wie wäre es mit ihm hier?»Lanferelle machte eine Kopfbewegung in Richtung seines Junkers. «Vielleicht solltest du ihn heiraten. Er ist von guter Herkunft, aber auch wieder nicht von zu guter. Seine Mutter war eine Sattlerstochter.»Der Junker, der offenkundig kein Wort verstand, starrte Melisande dümmlich an. Er trug keinen Helm, sondern eine Kettenhaube, eine Art Kapuze, die ein schweißiges, pockennarbiges Gesicht einrahmte. Seine Nase war offensichtlich schon einmal gebrochen worden, und er hatte dicke, feuchte Lippen. Melisande zog eine Grimasse und sprach eindringlich auf ihren Vater ein. Hook verstand nicht alles von dem, was sie sagte. Ihre Stimme klang gleichzeitig verächtlich und so, als würde sie am liebsten anfangen zu weinen, und was sie sagte, schien ihren Vater zu belustigen. «Sie sagt, sie will mit dir zusammenbleiben», übersetzte Lanferelle für Hook, «aber das hängt von meinen Wünschen ab. Es hängt davon ab, ob ich dich am Leben lasse.»

Hook überlegte, dass er Lanferelle die hornverstärkte Kerbe des Bogenschaftes in die Kehle rammen könnte oder, noch besser, in die ungeschützte Stelle unter seinem Kinn, und ,zwar mit solcher Kraft, dass sich der Schaft bis ins Hirn des Franzosen bohren würde.

«Nein», sagte die Stimme in seinem Kopf. Es war kaum mehr als ein Flüstern, aber unverkennbar die Stimme von Sankt Crispinian, der so lange geschwiegen hatte. «Nein», sagte der Heilige noch einmal.

Hook wäre vor lauter Dankbarkeit beinahe auf die Knie gefallen. Sein Heiliger war zu ihm zurückgekehrt. Lanferelle lächelte wieder. «Hast du daran gedacht, mich anzugreifen, Engländer?»

«Ja», gab Hook zu.

«Und ich hätte dich getötet», sagte Lanferelle, «und vielleicht tue ich es ja trotzdem noch, wer weiß?»Er starrte in Richtung der Stelle, an der die Karren neben dem Weg standen. Das üppige sommerliche Blattwerk verbarg die Karren, aber es drangen Rufe herüber, und Hook vernahm das schnalzende Geräusch, mit dem Bogensehnen vorschnellen. «Wie viele von euch sind hier ?», fragte Lanferelle.

Hook dachte daran zu lügen, doch dann sah er ein, dass Lanferelle die Wahrheit ohnehin bald herausfinden würde. «Vierzig Bogenschützen», sagte er.

«Keine Feldkämpfer?»

«Keine.»

Lanferelle zuckte mit den Schultern, so als sei ihm diese Mitteilung gleichgültig. «Ihr nehmt also Harfleur ein, was? Und dann? Rückt ihr dann auf Paris vor? Oder Rouen? Du weißt es nicht. Aber ich. Ihr werdet irgendwohin marschieren. Euer Henry hat nicht all dieses Geld ausgegeben, bloß um einen kleinen Hafen einzunehmen! Er will mehr. Und wenn ihr marschiert, Engländer, dann werden wir immer in eurer Nähe sein, vor euch und hinter euch, und es wird immer nur einer von euch sterben oder auch einmal zwei, so lange, bis nicht mehr viele von euch übrig sind, und dann stürzen wir uns auf euch, wie die Wölfe auf die Schafherde. Und wird meine Tochter dann sterben, weil du zu schwach bist, um sie zu schützen?»

«Ich habe sie in Soissons geschützt», sagte Hook, «Ihr nicht.»

Ein ärgerliches Zucken lief über Lanferelles Gesicht. Die Spitze seines Schwertes zitterte, aber in den Augen des Franzosen stand auch Unsicherheit. «Ich habe nach ihr gesucht», sagte er. Er klang, als verteidige er sich.

«Aber nicht gründlich genug», gab Hook erbittert zurück, «und ich habe sie gefunden.»

«Gott hat ihn zu mir geführt», Melisande sprach wieder englisch.

«Oho! Also Gott, ja?»Lanferelle hatte seine Selbstbeherrschung wiedergefunden und spottete: «Glaubst du, Gott steht auf deiner Seite, Engländer?»

«Ich weiß, dass es so ist», sagte Hook entschieden.

«Und weißt du auch, wie ich genannt werde?»

«Der Herr der Hölle», sagte Hook.

Lanferelle nickte. «Das ist nur ein Name, Engländer, nichts weiter als ein Name, um die Einfältigen in Angst und Schrecken zu versetzen. Doch trotz dieses Namens will ich, dass meine Seele in den Himmel eingeht, wenn ich sterbe, und deshalb brauche ich Leute, die für mich beten. Es müssen Messen für mich gelesen und Psalmen vorgetragen werden, und ich brauche Nonnen und Priester, die für mich auf den Knien liegen und Gott um meine ewige Seligkeit anflehen.»Er nickte in Melisandes Richtung. «Warum sollte sie also nicht für mich beten?»

«Das tue ich ja», sagte Melisande.

«Aber wird Gott ihre Gebete erhören?», fragte Lanferelle. «Sie hat Gott für dich verlassen, aber das war nur ihre Wahl. Jetzt wollen wir feststellen, was Gott selbst will, Engländer. Halte deine Hand hoch.»Er hielt inne, und Hook rührte sich nicht. «Willst du am Leben bleiben?», knurrte Lanferelle. «Dann halte deine Hand hoch! Nein, nicht die!»Es musste Hooks Rechte sein, die Hand, deren Fingerspitzen von der Reibung der Bogensehne schwielig geworden waren.

Hook hielt seine rechte Hand hoch.

«Spreiz die Finger», befahl Lanferelle und bewegte langsam sein Schwert, bis die Spitze der Klinge ganz leicht Hooks Handfläche berührte. «Ich könnte dich töten», sagte Lanferelle, «aber du gefällst meiner Tochter, und ich bin ihr sehr zugeneigt. Trotzdem hast du sie ohne meine Zustimmung entjungfert, und Blut verlangt nach Blut.»Er bewegte sein Handgelenk, nur sein Handgelenk, doch das tat er so gewandt und kraftvoll, dass die Klingenspitze eine Bogenlänge weit in die Luft fuhr, und so schnell, dass Hook keine Möglichkeit zum Ausweichen blieb, bevor die Klinge ihm den kleinen Finger abtrennte. Blut quoll aus der Wunde und lief an seinem Arm hinab. Melisande schrie, doch sie löste die Armbrust nicht aus. Einen Herzschlag lang spürte Hook nichts, doch dann fuhr ihm der Schmerz in den Arm.

«So», sagte Lanferelle, der sich sehr gut zu unterhalten schien. «Ich lasse dir die Finger für die Sehne, ja? Ihretwegen. Aber wenn die Wölfe sich auf euch stürzen, Engländer, dann werden du und ich unser Spiel spielen. Wenn du gewinnst, dann behältst du sie, aber wenn du verlierst, dann geht sie in sein Ehebett.»Er machte eine Kopfbewegung zu dem Junker mit den schlaffen Lippen. «Sein Bett stinkt, und er stößt zu wie ein Eber. Und er grunzt dabei. Bist du mit unserem Spiel einverstanden?»

«Gott wird uns den Sieg schenken», sagte Hook. In seiner Hand pochte ein höllischer Schmerz, doch er ließ es sich nicht anmerken.

«Ich sage dir etwas», sagte Lanferelle und beugte sich in seinem Sattel vor. «Gott schert sich keinen feuchten Kuhfurz um deinen König oder meinen. Bist du mit unserem Spiel einverstanden? Wir kämpfen um Melisande, ja?»

«Ja», sagte Hook.

«Dann legt eure Pfeile auf den Boden», sagte Lanferelle, «und werft eure Bogen weg.»

Der Franzose wollte keinen Pfeil in den Rücken bekommen, während er davonritt, also legten Tom Scarlet und Hook ihre Bögen in das wirre Laubwerk der gefällten Eiche und ließen ihre Pfeiltaschen fallen.

Lanferelle lächelte. «Wir haben eine Vereinbarung, Engländer! Der Preis ist Melisande, aber wir müssen diese Vereinbarung noch mit Blut besiegeln.»

«Sie ist schon besiegelt», sagte Hook und hob seine blutüberströmte Hand.

«Wir spielen um ein Leben», sagte Lanferelle, «nicht um Blut.»Und damit drückte er seinem Hengst ein Knie in die Flanke, das Tier drehte sich gehorsam um, und der Herr der Hölle ließ sein Schwert mit der Bewegung des Pferdes weit herumschwingen, und die Klinge fuhr durch Matt Scarlets Kehle, sodass ein Schauer aus Blutstropfen über die Ginsterbüsche regnete, dem ein dicker Strahl dunkelroten Blutes folgte. Tom Scarlet schrie laut auf, doch Lanferelle gab seinem Pferd nur lachend die Sporen und ritt mit seinen beiden Männern ostwärts davon.

«Matt!»Tom Scarlet fiel neben seinem Zwillingsbruder auf die Knie, doch Matt starb so schnell, wie das Blut blasenwerfend aus seiner zerfetzten Kehle gepumpt wurde.

Die Hufschläge verklangen. Von den Karren klangen keine Rufe mehr herüber. Melisande weinte.

Hook holte die Bögen. Er benutzte eine Axt, um ein Grab unter einer Eiche auszuheben, ein breites Grab, groß genug, dass Matt Scarlet und Peter Goddington auf dem Bergkamm über dem Meer zusammen darin liegen konnten.

Und über Harfleur, dessen Stadtmauer von Kanonen zerschossen wurde.

Es war eine schwere, schier endlose Arbeit. Hook und die anderen Bogenschützen schnitten Balken, spalteten und zersägten sie, um die Kanonengruben und Gräben zu verstärken. Neue Kanonengruben wurden ausgehoben, näher an der Stadt, doch die wertvollen Waffen mussten gegen Harfleurs Verteidiger geschützt werden, und deshalb bauten die Bogenschützen massige Schirme aus dicken Holzbalken, die vor den Kanonen aufgestellt wurden. Jeder Schirm bestand aus Eichenstämmen, die den Umfang einer Mädchenhüfte hatten, und sie wurden nach hinten geneigt aufgestellt, sodass sie die Geschosse des Feindes himmelwärts ablenkten. Doch der beste Einfall war, dass sie in Rahmen befestigt waren und um eine Achse geschwenkt werden konnten. Wenn eine Kanone zum Feuern bereit war, wurde der Befehl erteilt, mit einer großen Winde den oberen Teil des Schirmes herunterzuziehen, womit sich zugleich der untere Teil hob und die rußgeschwärzte Mündung des Kanonenrohrs freigab. Dann wurde die Kanone abgefeuert, und die Welt verschwand in einer ekelerregenden, stinkenden undurchdringlichen Rauchwolke, die genauso roch wie faulige Eier, und das Geräusch der Kanonenkugeln, die in die Stadtmauer einschlugen, verlor sich im Echo des brüllend lauten Zündungsknalls, und dann wurde die Winde losgemacht, und der Schirm fiel dumpf in seine ursprüngliche Position zurück, um die Kanone und die holländischen Kanoniere zu schützen.

Der Feind wartete inzwischen darauf, dass die Schirme gekippt wurden, um in genau diesem Moment selbst mit Kanonen und Springarden zu schießen. Deshalb waren die englischen Kanonen zusätzlich mit riesigen, erdgefüllten Weidenkörben und noch mehr Holzbalken geschützt, und manchmal wurde auch ein Schirm gekippt, obwohl keine Kanone abgefeuert werden sollte, einfach, um den Feind zu täuschen und ihn dazu zu verleiten, seine Geschosse zu verschwenden, die dann harmlos in die Körbe und Eichenbalken einschlugen. Wenn wirklich eine Kanone zum Abfeuern bereit war, wurde der Weidenkorb, der genau vor ihrer Mündung stand, beiseitegerollt, der Schirm wurde gehoben, und der Lärm war bis weit hinauf in das überflutete Tal der Lezarde zu hören.

Der Feind besaß ebenfalls Kanonen, doch sie waren viel kleiner und konnten nur mit apfelgroßen Steinen schießen, und diese waren zu leicht, um die massigen Schirme zu durchschlagen. Ihre Springarden, enorme, feststehende Armbrustvorrichtungen zum Abschuss dicker Bolzen, wurden den Schirmen ebenso wenig gefährlich. Als Hook einen Karren mit Holzbalken zu einem Graben fuhr, wurde eines der Zugpferde von einem Springarden-Bolzen mitten in die Brust getroffen. Das Geschoss grub sich in den Körper des Tieres, zerfetzte die Lunge, das Herz und den Magen, und das Pferd brach an Ort und Stelle zusammen, die Beine in einer immer größer werdenden Blutlache ausgestreckt. Die Hitze flirrte über der roten Pfütze, über dem überfluteten Land und über den Marschen vor der weiten, glitzernden See.

Gräben schützten die Belagerer vor den Kanonenkugeln und Springarden-Bolzen des Feindes, doch es gab kaum eine Möglichkeit, die Balliste zu verteidigen, mit der Steine so hoch in die Luft geschleudert wurden, dass sie fast senkrecht auf den Gegner herabfielen. Die Engländer hatten ihre eigenen Katapulte. Sie bestanden aus dem Holz, das sie an den bewaldeten Abhängen über dem Hafen geschlagen hatten, und sie ließen sowohl Steine als auch verrottende Tierkadaver auf Harfleur regnen. Von dem Bergkamm aus konnte Hook die zerschmetterten Dächer der Stadt und zwei eingestürzte Kirchtürme sehen. Er konnte erkennen, dass die Stadtmauer an einer Stelle zusammengebrochen war und die Trümmer in den Graben gerutscht waren, und er konnte sehen, dass die riesige Verteidigungsbastion vor dem Stadttor angeschlagen, eingebrochen und böse zugerichtet war. Diese Bastion war aus Erde und Holzbalken errichtet worden, und die englischen Kanonensteine fraßen sich immer tiefer in ihre beiden Türme, die eine kurze, dicke Palisadenwand flankierten.

«Als Nächstes machen wir eine Sau», erklärte Sir John seinen Bogenschützen, «unser Herr König hat es eilig!»

«Aber sie haben schon ein ziemlich großes Loch in der Stadtmauer», merkte Thomas Evelgold an. Er war anstelle von Peter Goddington zum Centenar ernannt worden.

«Und hinter dieser Lücke ist ein neuer Wall», sagte Sir John, «und um den anzugreifen, müssen wir an ihrer Barbakane vorbei.»Die Barbakane war die Bastion mit dem Zwillingsturm, die als Vorwerk das Leure-Tor schützte. «Wollt ihr, dass die Bastarde euch von der Seite aus mit Armbrüsten beschießen? Diese Barbakane muss weg, und deshalb machen wir eine Sau. Wir müssen mehr Bäume fällen! Hook, komm her.»

Die anderen Bogenschützen sahen zu, wie Sir John Hook zur Seite nahm. «Es wird keine französischen Kämpfer mehr in den Hügeln geben», sagte Sir John, «wir haben dort jetzt unsere eigenen Männer, und wir haben noch mehr Kundschafter losgeschickt, um nach der französischen Entsatzungstruppe Ausschau zu halten, sie haben aber noch nichts entdeckt.»

Das war ein Rätsel. Der August neigte sich schon seinem Ende zu, und die Franzosen hatten noch immer keine Truppen geschickt, um die belagerte Stadt zu befreien. Jeden Tag ritten englische Späher los, um die Straßen aus nördlicher und aus östlicher Richtung zu beobachten, doch nie kam eine Armee in Sicht. Manchmal forderte ein kleiner Verband französischer Feldkämpfer die englischen Patrouillen heraus, doch nirgendwo stieg die Staubwolke auf, die ein marschierendes Heer verraten hätte. «Und jetzt erzähl mir, was du auf dem Berg gemacht hast», sagte Sir John, «an dem Tag, an dem Peter Goddington gestorben ist.»

«Ich habe nur unsere Leute gewarnt», sagte Hook.

«Nein, das hast du nicht. Du hast ihnen gesagt, sie sollen zu den Karren zurückgehen, das stimmt doch, oder?»

«Ja, Sir John.»

«Warum?», fragte Sir John streitlustig.

Hook runzelte die Stirn bei der Erinnerung an diesen Tag. Es war ihm einfach als naheliegende Vorsichtsmaßnahme erschienen, aber er hatte nicht darüber nachgedacht, weshalb sie so naheliegend war. «Mit unseren Bögen konnten wir zwischen den Bäumen nicht viel ausrichten», sagte er langsam, «aber bei den Karren konnte man damit schießen. Sie brauchten Platz, um zu schießen.»

«Und genau so ist es gekommen», sagte Sir John. Die Bogenschützen hatten sich bei den Karren gesammelt und die Angreifer mit zwei Pfeilsalven vertrieben. «Du hast das Richtige getan, Hook. Die Bastarde waren nur gekommen, um Ärger zu machen. Sie wollten ein paar von unseren Leuten töten und feststellen, welche Fortschritte wir inzwischen gemacht hatten, und du hast ihnen die Suppe versalzen.»

«Ich war nicht dort, Sir John», sagte Hook, «es waren die anderen Bogenschützen, die sie vertrieben haben.»

«Du hast mit Seigneur de Lanferelle geredet, ich weiß. Und er hat dich am Leben gelassen.»Sir John sah Hook anerkennend an. «Warum?»

«Er will mich erst später töten», sagte Hook, obwohl er nicht genau wusste, ob das die richtige Antwort war, «aber vielleicht war es auch wegen Melisande.»

«Er ist eine Katze», sagte Sir John, «und du bist seine Maus. Eine verwundete Maus.»Er warf einen Blick auf Hooks rechte Hand, die immer noch verbunden war. «Kannst du noch schießen?»

«Genauso gut wie immer, Sir John.»

«Also mache ich dich jetzt zum Ventenar. Das bedeutet, dass ich deinen Sold verdopple.»

«Mich!»Hook starrte Sir John an.

Sir John ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Er sah mit kritischem Blick zu seinen Feldkämpfern hinüber, die sich an Baumstämmen mit ihren Schwertern übten. «Übung, Übung, Übung», hieß es bei Sir John. Er behauptete, zur Übung selbst jeden Tag tausend Schwertstreiche auszuführen, und das Gleiche verlangte er von seinen Männern. «Mehr Kraft, Ralph», rief er einem Mann zu. Dann wandte er sich wieder an Hook. «Hast du über deine Entscheidung nachgedacht, als du die Franzosen gesehen hattest?»

«Nein.»

«Und aus diesem Grund mache ich dich zum Sergeant.

Ich will keine Männer, die erst darüber nachdenken müssen, was sie zu tun haben, sondern es einfach tun. Tom Evelgold ist jetzt dein Centenar, also kannst du seine Kompanie übernehmen. Ich gebe ihm meine Befehle, er gibt dir seine Befehle, und du gibst deinen Bogenschützen deine Befehle. Wenn sie dir nicht folgen, dann ziehst du den Bastarden eins über, und wenn sie dir dann immer noch nicht folgen, dann ziehe ich dir eins über.»

«Ja, Sir John.»

Auf Sir Johns zerfurchtem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. «Du kannst was, Hook, und du kannst noch etwas.»Er deutete auf Hooks verbundene Hand. «Du kannst nämlich außerdem von Glück reden. Hier», er zog eine dünne Silberkette aus seinem Beutel und ließ sie in Hooks Hand fallen. «Dein Amtszeichen. Und morgen baust du eine Sau.»

«Was ist eine Sau, Sir John?»

«So etwas zu bauen ist eine Sauarbeit, so viel kann ich dir schon mal versprechen», sagte Sir John lächelnd, «eine verdammte Sauarbeit!»

In dieser Nacht setzte Regen ein. Ein kalter Westwind trieb ihn vom Meer herein. Er begann mit einem leisen Tröpfeln auf den Zelten der Belagerer, dann erhob sich der Wind und riss an den Bannern, und der Regen wurde heftiger, und die Regenschwaden wurden vom Wind schräg übers Land gepeitscht und verwandelten den Boden in ein morastiges Schlammfeld. Die Überschwemmung, die weit zurückgegangen war, begann wieder zu steigen, und der Jauchegraben floss über. Die Kanoniere fluchten und legten Segeltuchplanen über ihre Waffen, und jeder Bogenschütze hütete seine Hanfsehnen sorgfältig vor dem Regen.

Hook musste derzeit keinen Bogen mehr tragen. Seine Aufgabe war es, die Sau zu bauen, und das war, genau wie es Sir John versprochen hatte, eine Sauarbeit. Es war keine schwierige Sache, man brauchte kaum handwerkliches Geschick, aber sie verlangte Kraft und musste direkt vor den Augen der Verteidiger durchgeführt werden, in Reichweite ihrer Kanonen, Springarden, Katapulte und Armbrüste.

Die Sau war eine Grube mit einem gewaltigen, leicht abgeschrägten Dach in Form, einer Schuhspitze, hinter und unter dem die Männer in Sicherheit vor den feindlichen Geschossen arbeiten konnten, und sie musste massiv genug sein, um den Einschlägen von Kanonenkugeln zu widerstehen.

Ein weißhaariger Waliser, Dafydd ap Traharn, überwachte die Arbeit. «Ich komme aus Pontygwaith», erzählte er den Bogenschützen, «und in Pontygwaith wissen wir mehr übers Bauen als all ihr armseligen englischen Bastarde zusammen!»Er hatte vorgehabt, zwei Karren voller Erde und Steine vor die Stelle zu fahren, an der die Sau gebaut werden sollte, um die Bogenschützen vor feindlichen Geschossen zu schützen, doch der Regen hatte den Boden aufgeweicht, und die Karren waren im Morast stecken geblieben. «Also, wir müssen graben», hatte er mit der Befriedigung eines Mannes gesagt, der wusste, dass er selbst keinen Spaten in die Hand nehmen musste. «Und in Pontygwaith wissen wir mehr übers Graben als all ihr englischen Furzköpfe zusammen!»

«Das kommt daher, dass ihr so viele Gräber für die ganzen Waliser ausheben musstet, die wir getötet haben», gab Will of the Dale zurück.

«Beerdigt, tu sais, haben wir eure Leute.»Später, als er mit Hook sprach, gab er grinsend zu, dass er fünfzehn Jahre zuvor einer der Aufständischen gegen den englischen König gewesen war. «Und erst Owain Glyn Dwr», sagte er begeistert. «Was für ein Mann!»

«Was ist ihm passiert?»

«Er lebt noch, Junge!», sagte Dafydd ap Traharn. «Er lebt noch!»Glyn Dwrs Widerstand hatte über ein Jahrzehnt lang geschwelt und dem jungen Henry, dem Prinzen von Wales und inzwischen König von England, viel Erfahrung in der Kriegsführung verschafft. Die Revolte war niedergeschlagen worden, und einige der walisischen Anführer wurden zu ihrer Hinrichtung an Holzrahmen gefesselt durch London zu ihrer Hinrichtung geschleppt, doch Owain Glyn Dwr selbst war nie gefasst worden. «In Wales gibt es Magier», Dafydd ap Traharn senkte die Stimme und beugte sich zum Weitersprechen dicht an Hooks Ohr, «und sie können einen Mann unsichtbar werden lassen!»

«Das würde ich gerne einmal sehen», sagte Hook sehnsüchtig.

«Tja, das kannst du nicht, oder? Darum geht es doch gerade bei der Unsichtbarkeit, dass man jemanden eben gerade nicht sehen kann! Stell dir vor, Owain Glyn Dwr könnte genau jetzt hier stehen, und du könntest ihn nicht sehen! Das ist mit ihm passiert, verstehst du? Er lebt in größtem Wohlstand, Junge, er hat die schönsten Frauen, aber wenn ihm ein Engländer auf tausend Schritt nahe kommt, dann wird er unsichtbar!»

«Und was hat ein walisischer Aufständischer in dieser Armee hier verloren?», fragte Hook.

«Man muss leben», sagte Dafydd ap Traharn, «und das Brot des Feindes zu essen ist besser, als in leere Töpfe zu starren. In dieser Armee sind Dutzende von Glyn Dwrs Männern, mein Junge, und wir werden für Henry genauso gut kämpfen, wie wir es für Owain getan haben.»Er grinste. «Wohlgemerkt, ein paar von Owain Glyn Dwrs Männern sind auch bei den Franzosen, und sie werden gegen uns kämpfen.»

« Bogenschützen ?»

«Gottlob nein. Bogenschützen können sich die Überfahrt nach Frankreich überhaupt nicht leisten, oder? Nein, es sind die Adligen, die ihr Land verloren haben, die nach Frankreich gegangen sind, nicht die Bogenschützen. Hast du in der Schlacht schon mal einen Bogenschützen gegen dich gehabt?»

«Gottlob nein», sagte Hook.

«Es ist nicht gerade das, was ich eine schöne Erfahrung nennen würde», knurrte Dafydd ap Traharn. «Uns Walisern, mein Junge, jagt keiner so schnell Angst ein, aber als Henrys Bogenschützen bei Shrewsbury geschossen haben, war es, als würde es den Tod vom Himmel herunterregnen. Es war wie Hagel, genau wie Hagel, bloß dass dieser Hagel Stahlspitzen hatte und dass er niemals wieder aufzuhören schien. Rund um mich sind die Männer gestorben und haben dabei geschrien wie Möwen, die sich um Fischabfälle streiten. Ein Bogenschütze ist etwas Schreckliches.»

«Ich bin Bogenschütze.»

«Aber jetzt bist du ein Grabenarbeiter, mein Junge», erwiderte Dafydd ap Traharn grinsend, «also grabe.»

Sie hoben einen Graben aus, der, beginnend an einer Kanonengrube, in Richtung der Stadtmauer von Harfleur führte. Dabei wurden sie von den Verteidigern mit Armbrustbolzen und Kanonensteinen beschossen. Die Franzosen wollten mit ihren Katapultsteinen den neuen Graben treffen, doch die Geschosse trafen in viel zu großer Entfernung auf und verspritzten dabei Unmengen von Schlamm. Als der neue Graben dreißig Schritte lang war, erklärte sich Dafydd ap Traharn damit zufrieden und befahl, eine weitere Grube auszuheben. Sie sollte groß, rechteckig und tief sein, und so hackten und schaufelten die Bogenschützen, bis sie auf eine Kalkschicht trafen. Wasser sickerte aus den Seitenwänden der neuen Grube, also mussten sie durch den Morast kriechen, während sie an drei Seiten der Grube mit übereinandergelegten Baumstämmen eine Brustwehr errichteten, bis sie so hoch war, dass ein Mann aufrecht in der Grube stehen konnte, ohne von den Gegnern auf der Stadtmauer von Harfleur gesehen zu werden. Nur die Seite in Richtung des englischen Lagers blieb ungesichert. «Heute Abend», sagte Dafydd ap Traharn, «machen wir ein Dach, und dann ist unsere hübsche kleine Sau fertig.»

Sie bauten das Dach bei Dunkelheit, weil die Grube so nah an der Stadtmauer lag, dass man mit einer Armbrust hineinschießen konnte, doch der Feind musste geahnt haben, was sie vorhatten, denn die Franzosen schossen blind durch die regnerische Nacht, und drei Männer wurden von den kurzen, scharfen Bolzen verletzt, die aus der Schwärze des Himmels herabzischten. Es dauerte die ganze Nacht, um lange Stämme über die Grube zu legen und diese Balken mit einer dicken Schicht Erde und Kalkstein zu bedecken, bevor schließlich noch eine weitere Lage Baumstämme daraufkam. «So. Jetzt fängt die richtige Arbeit an», sagte Dafydd ap Traharn, «und das heißt, dass wir Waliser einsetzen müssen.»

«Die richtige Arbeit?», fragte Hook.

«Wir werden einen Gang graben, Junge. Und zwar sehr tief.»

Als es Morgen wurde, hörte der Regen auf. Ein kühler Westwind nahm ihn mit ins Landesinnere, und die Sonne kämpfte sich durch die Wolken, während die feindlichen Kanoniere die neugebaute Sau mit Steinen beschossen, deren Durchschlagskraft jedoch nichts gegen die dicken Stämme der Brustwehr und des schildartigen Daches ausrichten konnte. Hook und seine Bogenschützen schliefen in den Unterständen, die sie sich aus Ästen, Erde und Farn gebaut hatten. Als Hook aufwachte, schrubbte Melisande gerade mit Sand und Essig sein Kettenhemd. «Rouille», sagte sie zur Erklärung.

«Rost?»

«Das habe ich gesagt.»

«Mein Hemd kannst du auch noch blank reiben, Herzchen», sagte Will of the Dale, während er aus seinem Unterschlupfkroch.

«Das kannst du ebenso gut selbst, William», sagte Melisande. «Aber Toms Hemd habe ich abgerieben.»

«Das ist gut», sagte Hook. Alle machten sich Sorgen um Tom Scarlet, dessen gewohnte Fröhlichkeit zusammen mit seinem Zwillingsbruder beerdigt worden war. Tom starrte nur noch finster vor sich hin und sonderte sich grübelnd ab. «Das Einzige, was er will», sagte Hook leise, «ist, noch einmal deinem Vater zu begegnen.»

«Dann wird Thomas sterben.»

«Er liebt dich», sagte Hook.

«Mein Vater?»

«Er hat dich am Leben gelassen. Er hat dir erlaubt, bei mir zubleiben.»

«Dich hat er auch am Leben gelassen», sagte sie beinahe ärgerlich.

«Ich weiß.»

Sie schwieg. Ihre grauen Augen betrachteten Harfleur, das von Pulverrauch eingehüllt war wie eine Klippe vom Sprühnebel der Gischt. Hook stellte seine nassen Stiefel zum Trocknen neben das Feuer. Die brennenden Holzscheite knackten laut und schossen Funken. Es war Weidenholz, und diese Holzsorte begehrte immer auf, wenn sie verbrannt wurde. «Ich glaube, er hat meine Mutter geliebt», sagte Melisande wehmütig.

«Wirklich?»

«Sie war schön», sagte Melisande, «und sie liebte ihn. Sie hat gesagt, dass er auch sehr schön war. Ein schöner Mann.»

«Na ja, gutaussehend», räumte Hook ein.

«Schön», beharrte Melisande.

«Als wir ihm im Wald begegnet sind», fragte Hook, «wolltest du da, dass er dich mitnimmt?»

Sie schüttelte heftig den Kopf. «Nein», sagte sie, «ich glaube, er ist ein gefallener Engel. Und ich glaube, ich habe ihn ebenso in meinem Kopf wie du den Heiligen.»Sie sah Hook in die Augen. «Und ich wünschte, er würde daraus verschwinden.»

«Du denkst über ihn nach? Ist es das?»

«Ich wollte immer nur von ihm geliebt werden», sagte sie mit rauer Stimme und machte sich mit neuer Heftigkeit über das Kettenhemd her.

«So wie er deine Mutter geliebt hat?»

«Nein! Non!»Die Frage hatte sie wütend gemacht, und sie schwieg eine Weile. Doch dann gab sie nach. «Das Leben ist schwer, Nicholas, das weißt du. Es besteht aus Arbeit und Arbeit und Arbeit und aus Sorgen um das tägliche Brot und aus noch mehr Arbeit. Und ein Herr, jeder Herr, kann all das beenden. Mit einer Handbewegung kann er dafür sorgen, dass es keine Arbeit mehr gibt und keine Sorgen, dass alles ganz facile ist.»

«Einfach?»

«Und das wollte ich.»

«Dann sag ihm doch, dass du das willst.»

«Er ist schön», sagte Melisande, «aber er ist nicht gütig. Das weiß ich. Und außerdem liebe ich dich. Je t'aime.»Sie sagte den letzten Satz mit einer Entschiedenheit, die gar nicht so sehr nach Zuneigung klang, doch Hook machten die Worte dennoch sprachlos. Er sah zu den Bogenschützen hinüber, die Feuerholz ins Lager brachten. Melisande verzog das Gesicht vor Anstrengung, als sie weiter Sand auf das Kettenhemd bürstete. «Weißt du, wer Sir Robert Knolles ist?», fragte sie unvermittelt.

«Natürlich», sagte Hook. Jeder Bogenschütze kannte die Geschichte von Sir Robert, der wenige Jahre zuvor als reicher Mann gestorben war.

«Er war einmal ein Bogenschütze», sagte Melisande.

«Damit hat er angefangen», stimmte ihr Hook zu und überlegte, woher Melisande etwas über den legendären Sir Robert wusste.

«Und er wurde ein Ritter», sagte Melisande, «er hat ganze Armeen angeführt! Und jetzt hat dich Sir John zum Ventenar gemacht.»

«Ein Ventenar ist kein Ritter», entgegnete Hook mit einem Lächeln.

«Aber Sir Robert war auch einmal ein Ventenar!», stieß Melisande heftig hervor, «und dann ist er Centenar geworden und dann ein Feldkämpfer und danach ein Ritter! Das hat mir Alice erzählt. Und wenn er das konnte, warum dann nicht auch du?»

Diese Vorstellung war so unglaublich, dass Hook einen Moment lang nichts anderes tun konnte, als Melisande anzustarren. «Ich? Ein Feldkämpfer?», sagte er schließlich.

«Warum nicht?»

«Dazu bin ich nicht geboren!»

«Das war Sir Robert auch nicht.»

«Also gut, es kommt schon einmal vor», sagte Hook zögernd. Er wusste noch von anderen Bogenschützen, die Kompanien angeführt hatten und reich geworden waren. Sir Robert war der berühmteste von allen, aber unter den Bogenschützen erinnerte man sich auch gern an Thomas of Hookton, der als Herr über tausend Morgen Land gestorben war. «Aber oft kommt es nicht vor», fuhr Hook fort, «und man braucht Geld dafür.»

«Geht es euch Männern im Krieg denn überhaupt um etwas anderes als Geld? Redet ihr nicht ständig über Gefangene? Über Lösegelder?»Melisande deutete mit ihrer Bürste auf Hook und grinste übermütig. «Nimm meinen Vater gefangen. Dann muss er uns Lösegeld zahlen. Wir nehmen ihm sein Geld ab.»

«Das würde dir gefallen, was?»

«Ja», sagte sie rachsüchtig, «das würde mir sehr gefallen.»

Hook versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, reich zu sein. Wie es wäre, ein Lösegeld einzustreichen, das bei weitem überstieg, was die meisten Männer in ihrem gesamten Leben verdienen konnten. Und dann vergaß er diesen Traum, denn John Fletcher, einer der älteren Bogenschützen, der eine gewisse Verstimmung über Hooks Aufstieg gezeigt hatte, zuckte plötzlich zusammen und rannte dann zur Abortgrube. Er war bleich wie ein Leinentuch. «Fletcher ist krank», sagte Hook.

«Und der armen Alice war es heute Morgen furchtbar schlecht», sagte Melisande und rümpfte angeekelt die Nase. «La diarrhée!»Hook wurde vor der Schilderung weiterer Einzelheiten durch Sir John Cornewailles Erscheinen gerettet. «Sind wir wach?», brüllte der Ritter. «Sind wir wach und munter?»

«Jetzt bestimmt, Sir John», antwortete Hook für die Bogenschützen.

«Dann runter zu den Gräben! Runter zu den Gräben! Wir müssen diese gottverdammte Belagerung hinter uns bringen!»

Hook fuhr in seine feuchten Stiefel, zog das halbgereinigte Kettenhemd und den Wappenrock über und setzte sich den Helm auf den Kopf. Dann ging er zu den Gräben. Die Belagerung ging weiter.


*

***

*****

***

*


Die Sau bebte jedes Mal, wenn ein Kanonenstein ihre schräge Oberfläche traf. Die Balken waren eingedrückt, gesplittert und gespickt mit Springarden-Bolzen, doch die Geschosse des Feindes hatten den massiven Schild nicht zerstören oder auch nur schwächen können. Und unter den stabilen Schichten aus Holzbalken und Erde machten sich die walisischen Stollengräber an die Arbeit.

Andere Schächte wurden von der Ostseite Harfleurs aus gegraben, wo der Duke of Clarence mit seinen Leuten lagerte. Sowohl vom Osten wie vom Westen aus brüllten derweil die Kanonen. Steine nagten an den Stadtmauern, Mangonellen und Triböcke schleuderten Felsbrocken in die Stadt, Schwaden aus Rauch und Staub erhoben sich über den engen Straßen, und die Männer gruben und trieben die Stollen weiter zu den Befestigungen. Die Schächte im Osten sollten bis unter die Stadtmauer reichen und in großen, aus dem Kalkstein gegrabenen Kammern enden. Diese würden mit Holz abgestützt werden, und wenn der richtige Moment gekommen war, würde das Holz verbrannt werden, sodass die Kammern in sich zusammenbrechen und die Stadtmauer darüber zum Einsturz bringen würden. Der westliche Stollen, dessen Eingang von der Sau geschützt wurde, bei deren Bau Hook geholfen hatte, sollte unter die große, angeschlagene Bastion führen, die das Leure-Tor schützte. Wenn diese Barbakane einstürzte, konnte die englische Armee durch die Bresche neben dem Stadttor eindringen, ohne mit einem Flankenangriff der Barbakanen-Besatzung rechnen zu müssen. Also gruben die Waliser, die Bogenschützen bewachten ihre Sau, und die Stadt litt.

Die Barbakane bestand aus dicken Eichenstämmen, die in die Erde gerammt und mit umlaufenden Eisenbändern beschlagen worden waren. Die Stämme bildeten also die Außenseiten der beiden gedrungenen runden Türme und der kurzen Verbindungswand dazwischen. Das Innere war mit Erde und Gestein aufgefüllt, und zur Seite der Angreifer hin war ein Wassergraben angelegt worden. Die englischen Kanonensteine hatten die Balkenwände an manchen Stellen schon etwas schwächen können, sodass Erde aus dem Bauwerk gequollen und in den Graben gerutscht war. Doch immer noch hielt die Bastion stand. Sie war mit Armbrustschützen und Feldkämpfern besetzt, und trotzig flatterten die feindlichen Banner an dem aufgebrochenen Balkenwerk. Jede Nacht, wenn die englischen Kanonen das Feuer eingestellt hatten, machten sich die Verteidiger an die Instandsetzung, jeden Morgen hatten die Angreifer neue Palisaden vor sich, und die Kanonen begannen ihr mühsames Zerstörungswerk von vorne.

Als Hook Harfleur zum ersten Mal gesehen hatte, war es ihm beinahe magisch erschienen: eine Stadt mit dichtgedrängten Dächern und Kirchtürmen, die vollkommen von einer weißen, mit Wachtürmen besetzten Mauer umgeben war, die in der Augustsonne leuchtete. Harfleur hatte ausgesehen wie die gemalte Stadt auf dem Bild von Sankt Crispin und Sankt Crispinian in der Kathedrale von Soissons, das er so oft beim Beten betrachtet hatte.

Jetzt aber hatte sich die gemalte Stadt in eine Landschaft aus losen Steinen, Schlamm, Rauch und eingestürzten Häusern verwandelt. Lange Abschnitte der Stadtmauer standen noch, und immer noch flatterten die Banner mit den Wappen der Garnisonsführer, mit Bildern von Heiligen und aufgestickten Anrufungen Gottes, doch acht Wachtürme waren schon in den Stadtgraben gestürzt, und nahe dem Leure-Tor lag ein beträchtlicher Abschnitt der Verteidigungsanlage in Trümmern. Große Geschosse, die mit Katapulten über die Mauer geschleudert wurden, schlugen in Häuser ein und lösten Feuer aus, sodass ständig eine Rauchwolke über der belagerten Stadt hing. Die Glocken, die beim Einsturz eines Kirchturms mitgerissen worden waren, hatten einen ohrenbetäubenden Krach durch den Talkessel hallen lassen, und immer noch gingen Felsbrocken und Kanonensteine auf die geschundene Stadt nieder.

Und immer noch leisteten die Verteidiger Gegenwehr. Jeden Morgen ging Hook an der Spitze einiger Männer zu den Gruben, in denen die Kanonen standen, und jeden Morgen sah er, wo die Garnisonsbesatzung gearbeitet hatte. Sie errichteten eine neuen Verteidigungswall hinter der eingebrochenen Stadtmauer und stützten die Barbakane mit neuen Balken ab. Manchmal ritten englische Herolde mit ihren weißen Stäben und farbenprächtigen Umhängen zur Stadtmauer, um den Feinden ihre Ubergabebedingungen zu stellen, doch die französischen Befehlshaber wiesen die Herolde jedes Mal ab. «Sie hoffen darauf», sagte Pater Christopher an einem Morgen Anfang September, «dass ihr König ihnen mit einer Armee zu Hilfe kommt.»

«Ich dachte, der französische König sei nicht ganz richtig im Kopf.»

«Oh, das stimmt ja auch! Er glaubt, er bestünde aus Glas!», sagte Pater Christopher höhnisch. Der Priester besuchte die Gräben jeden Morgen, um die Bogenschützen mit seinem Segen und mit seiner Heiterkeit zu unterstützen. «Das ist wahr! Er glaubt, er sei aus Glas und müsse zerbrechen, wenn er mal hinfällt. Außerdem nagt er die Teppiche an und heult dem Mond seine Sorgen vor.»

«Also wird er wohl kaum eine Armee hierherführen, Pater», sagte Hook lächelnd.

«Allerdings hat dieser närrische König ein paar Söhne, Hook, und die sind ein reichlich blutrünstiges Pack. Jeder einzelne von ihnen würde uns am liebsten zu Knochenmehl verarbeiten.»

«Und werden sie es auch schaffen?»

«Das weiß nur Gott allein, Hook, Gott allein weiß es, und Er hat es mir noch nicht erzählt. Ich dagegen weiß, dass sich bei Rouen eine Armee sammelt.»

«Ist das weit von hier ?»

«Siehst du diese Straße?»Der Priester deutete auf das, was von einer Straße übrig geblieben war, die einst zum Leure-Tor geführt hatte. Inzwischen war sie nur noch eine breite Narbe auf morastigem, von Geschosseinschlägen übersätem Gelände. «Wenn du dieser Straße folgst», sagte Pater Christopher, «dich auf der nächsten Hügelkuppe nach rechts wendest und dann immer weiter geradeaus gehst, triffst du nach fünfzig Meilen auf eine große Brücke und eine riesige Stadt. Das ist Rouen, Hook. Fünfzig Meilen. Die kann eine Armee in drei Tagen hinter sich bringen!»

«Also kommen sie», sagte Hook, «und wir werden sie töten.»

«Das hat König Harold vor Hastings auch gesagt», gab Pater Christopher freundlich zurück.

«Hatte Harold Bogenschützen?», fragte Hook.

«Nur Feldkämpfer, glaube ich.»

«Also dann», sagte Hook und grinste.

Der Priester reckte den Kopf, um nach Harfleur hinüberzuschauen. «Wir sollten diese Stadt inzwischen längst eingenommen haben», sagte er nachdenklich. «Es dauert schon viel zu lange.»Er wandte sich zu einem vorbeieilenden Feldkämpfer um, der ihm einen fröhlichen Gruß zugerufen hatte. Pater Christopher erwiderte den Gruß und hob eine segnende Hand in seine Richtung. «Weißt du, wer das war, Hook?»

Hook sah der Gestalt nach, die einen hellen Wappenrock in Rot und Weiß trug. «Nein, Pater, ich habe nicht die geringste Ahnung.»

«Geoffrey Chaucers Sohn», sagte der Priester stolz.

«Wer?»

«Hast du noch nie von Geoffrey Chaucer gehört?», fragte Pater Christopher. «Dem Dichter?»

«Oh, ich hatte schon gedacht, es wäre jemand, der mit seinem Leben etwas Nützliches angefangen hat», sagte Hook, und dann schlug er dem Priester seine Hand auf die Schulter, dass der in die Knie ging. Einen Herzschlag später zischte ein Armbrustbolzen in den Grabenabhang, auf dem Pater Christopher eben noch gestanden hatte. «Das ist Wieselkopf», erklärte Hook, «er tut etwas Nützliches im Leben.»

«Wieselkopf?»

«Einer von den Bastarden auf der Barbakane, Pater. Er sieht aus wie ein Wiesel. Ich erkenne ihn, wenn er die Armbrust anlegt.»

«Kannst du ihn nicht erschießen?»

«Er ist zwanzig Schritt zu weit weg, Pater», sagte Hook und spähte zwischen zwei mit bröselnder Erde gefüllten Weidenkörben hindurch, aus denen sie eine Brustwehr errichtet hatten. Er winkte, und eine Gestalt auf der Bastion winkte zurück. «Ich lasse ihn immer wissen, dass ich noch lebe.»

«Weißt du, dass Rob Pole krank ist?»

«Fletch auch. Und Dick Godewynes Frau.»

«Alice ? Also hat sie es auch.»

«Es geht ihr sehr schlecht, habe ich gehört.»

«Rob Pole kann nur noch scheißen», sagte der Priester, «und es kommt nur Blut und dreckiges Wasser raus.»

«Gott steh uns bei», sagte Hook, «bei Fletch ist es das Gleiche.»

«Ich fang besser an zu beten», sagte Pater Christopher ernst. «Wir dürfen keine Männer an Krankheiten verlieren. Fühlst du dich gesund?»

«Ja.»

«Gott sei gepriesen. Und deine Hand? Was ist mit deiner Hand?»

«Ich spüre, wie das Blut darin klopft», sagte Hook und hielt seine rechte Hand hoch, die immer noch verbunden war. Melisande hatte Honig auf die Wunde geträufelt und dann einen Leinenstreifen darumgewickelt.

«Das ist ein gutes Zeichen», sagte der Priester. Er beugte sich vor und roch an dem Verband. «Und der Verband riecht gut! Ich meine, er stinkt nach Erde, Schweiß und Scheiße, aber das tun wir schließlich alle. Er stinkt nicht nach verfaulendem Fleisch, und das ist das, was zählt. Und wie sieht deine Pisse aus? Ist sie trübe? Hat sie eine ungewöhnliche Farbe? Oder tröpfelt sie nur?»

«Alles ganz normal, Pater.»

«Das ist sehr gut, Hook. Wir dürfen dich nicht verlieren.»

Merkwürdig, dachte Hook, aber vermutlich meinte es der Priester ernst, denn Hook wusste, dass er seine Aufgabe als Ventenar gut meisterte. Er hatte erwartet, dass ihn das bisschen Macht in unbehagliche Situationen bringen würde, und gefürchtet, ein paar der älteren Männer würden seine Anweisungen nicht befolgen wollen, doch wenn es Vorbehalte gegen ihn gab, so zeigte man sie nicht, und seinen Befehlen wurde stets Folge geleistet. Er trug seine Silberkette mit Stolz.

Es war wieder heiß geworden, und der Morast verbuk zu einer harten Kruste, die bei jedem Schritt in feinen Staub zerfiel. Auch Harfleur zerfiel, doch die Garnison leistete den Belagerern weiterhin Widerstand. Der König kam vier- oder fünfmal am Tag zu den Gräben der Bogenschützen und starrte zu den Befestigungsanlagen hinüber. Zu Anfang der Belagerung hatte er mit den Bogenschützen geredet, doch jetzt war seine Miene sorgenvoll, seine Lippen fest zusammengepresst, und die Bogenschützen näherten sich ihm und seinem kleinen Gefolge nicht. Sie beobachteten ihn, wie er Harfleur betrachtete, und lasen ihm vom Gesicht ab, dass er nicht glaubte, ein weiterer Angriff könne den neuen inneren Wall überwinden. Denn dafür würden sie zuerst über die Ruinen der verbrannten Häuser steigen müssen, während sie von der Barbakane aus mit Bolzen beschossen werden würden. Dann müssten sie den breiten Wassergraben überwinden, bevor sie an der Bresche, die von den Kanonensteinen gerissen worden war, auf die Trümmer der Stadtmauer klettern konnten, und die ganze Zeit über würde es von beiden Seiten Armbrustbolzen hageln, und wenn sie es über die Trümmer der Stadtmauer geschafft hätten, dann stünden sie vor dem neuen, inneren Festungswall, der aus riesigen, erdgefüllten Flechtkörben, Holzbalken und Steinen von den eingestürzten Häusern der Stadt bestand. «Wir müssen noch ein Stück der Stadtmauer niederlegen», hörte Hook den König sagen, «und dann greifen wir sofort durch die neue Bresche an.»

«Das wird sich nicht machen lassen, Sire», sagte Sir John Cornewaille grimmig. «Das hier ist der einzige trockene Zugang, den wir auf der westlichen Seite haben.»Die Überschwemmung war zurückgegangen, doch immer noch war ein Teil der Stadt von Wasser eingeschlossen und zwang die Engländer, an den beiden Stellen anzugreifen, an denen jetzt ihre Stollen in Richtung der Stadt gegraben wurden.

«Dann reißt die Barbakane nieder», beharrte der König, «und schießt das Tor dahinter kurz und klein.»Er wandte sein Gesicht mit der langen Nase der Bastion zu und starrte finster auf das wehrhafte Hindernis. Dann wurde ihm bewusst, dass er von seinen Bogenschützen und Feldkämpfern beobachtet wurde. «Gott hat uns nicht so weit gebracht, damit wir scheitern!», rief er zuversichtlich. «Die Stadt ist unser, meine Getreuen, schon bald! Dann gibt es Ale und gutes Essen! Bald wird sie unser sein!»

Den ganzen Tag wurden Kalk und Erde aus dem Stollen herausgeschafft, während die Äste, die auf die Länge eines Bogenschafts gesägt worden waren, hineingetragen wurden, um den Tunnel abzustützen. Die Kanonen feuerten immer weiter, hüllten die Linie der Belagerer in Rauch, erfüllten alles mit betäubendem Lärm und beschossen wieder und wieder ihre Verteidigungsanlagen.

«Wie geht's deinen Ohren?», fragte Sir John Hook eines Morgens.

«Meinen Ohren, Sir John?»

«Diesen hässlichen Dingern links und rechts an deinem Kopf.»

«Mit denen ist alles in Ordnung, Sir John.»

«Dann komm mit.»

Sir John, das gute Kettenhemd und den Wappenrock voller Sand und Staub, führte Hook durch den Graben zurück zum Eingang des Stollens unter der Sau. Der Schacht fiel zunächst fünfzehn Schritt steil ab, dann wurde er eben. Der Tunnel war zwei Schritt breit und so hoch wie ein Bogenschaft. Binsenlichter brannten in kleinen Haltern, die an die Stützbalken genagelt worden waren, doch als Hook Sir John folgte, bemerkte er, dass die kleinen Flammen immer schwächer wurden, je weiter sie in dem Stollen vorankamen. Alle paar Schritte blieb Sir John stehen und stellte sich mit dem Rücken flach an die Wand, und Hook tat es ihm gleich, um ein paar Stollengräber mit einer Ladung herausgekratzter Kalkerde durchzulassen. Staub hing in der Luft. Auf dem Boden stand eine Schlickbrühe aus Wasser und Kalkstaub. «So, Leute», sagte Sir John, als sie das Ende des Tunnels erreicht hatten, «Zeit zum Ausruhen. Alle sind ruhig und rühren sich nicht!»

Das Ende des Tunnels wurde von Laternen mit Blendschirmen aus Horn beleuchtet, die am letzten Stützbalken hingen. Zwei Stollengräber hatten mit Spitzhacken an der Stirnseite des Tunnels gearbeitet und ließen dankbar ihre Werkzeuge sinken, bevor sie sich auf ihre Fersen hockten. Dafydd ap Traharn, der die Arbeit beaufsichtigte, nickte Hook zur Begrüßung zu. Sir John kauerte sich neben den grauhaarigen Waliser und winkte Hook zu sich herunter. «Genau hinhören», zischte Sir John.

Hook lauschte. Ein Stollengräber hustete. «Schsch», kam es von Sir John.

In dem Wald, der von Lord Slaytons Weiden zum Fluss hin abfiel, hatte Hook oft still und stumm dagestanden und nur gelauscht. Er kannte jedes Geräusch in diesem Forst, mochte es nun der Tritt eines Hirsches sein oder ein wühlender Eber, ein klopfender Specht oder das Klacken eines Rabenschnabels, wenn sich der Vogel das Gefieder putzte, oder auch nur der Wind im Blattwerk. Und aus all diesen Geräuschen hörte Hook mit absoluter Sicherheit einen fremden Ton heraus. Er konnte zuverlässig sagen, ob ein Unbefugter durchs Unterholz schlich. Jetzt lauschte er auf dieselbe Art, achtete nicht auf die Atemzüge eines halben Dutzends Männer, vergaß jeden Gedanken und ließ die Stille seinen Kopf erfüllen, um die kleinste Störung wahrzunehmen. So verharrte er lange.

«In meinen Ohren klingelt es die ganze Zeit», flüsterte Sir John, «vermutlich habe ich einen Schwertstreich auf den Helm zu viel abbekommen und ...»Hook hielt herrisch eine Hand hoch, ohne daran zu denken, dass er da gerade einem Ritter des Hosenbandordens zu schweigen befahl. Sir John gehorchte. Hook lauschte, hörte etwas, und dann hörte er es noch einmal. «Da gräbt jemand», sagte er.

«Oh, diese Bastarde», sagte Sir John leise. «Bist du sicher?»

Jetzt, da er das Geräusch zugeordnet hatte, war Hook überrascht, dass niemand anders das rhythmische Einschlagen der Picken in den Kalkstein hörte. Die Garnison machte eine Gegengrabung, sie trieben ihren eigenen Stollen in Richtung der Belagerer. Sie hofften, auf den englischen Tunnel zu stoßen, bevor er fertiggestellt werden konnte. «Vielleicht graben sie auch zwei verschiedene Stollen», sagte Hook. Das Geräusch war unregelmäßig, so als ob sich zwei Rhythmen überlagerten.

«Genau das habe ich mir gedacht», sagte Dafydd ap Traharn, «aber ich war nicht sicher. Hier unten spielen einem die Ohren nämlich manchmal Streiche, das kann ich Euch sagen.»

«Was für emsige kleine Bastarde», sagte Sir John grimmig. Er sah Dafydd ap Traharn an. «Wie weit noch?»

«Noch zwanzig Schritt, Sir John, sagen wir also zwei Tage. Und dann noch zwei, um die Kammer zu graben, und einer, um das Brennmaterial hineinzuschaffen.»

«Sie sind noch weit entfernt», sagte Sir John. «Vielleicht finden sie diesen Tunnel ja gar nicht.»

«Sie werden genauso auf Geräusche lauschen wie wir, Sir John. Und je näher sie kommen, desto deutlicher hören sie uns.»

«Ekelhaft stinkende widerwärtige schwanzlose Bastarde», sagte Sir John zu niemandem im Besonderen. Dann nickte er Hook zu. «Ich höre sie immer noch nicht.»

«Sie sind da», sagte Hook vollkommen überzeugt. Sie flüsterten in der übelriechenden Dunkelheit, die von den flackernden Binsenlaternen kaum erhellt wurde.

Einer der Stollengräber sagte etwas auf Walisisch. Dafydd ap Traharn brachte ihn mit einer warnenden Geste zum Schweigen. «Er macht sich Sorgen darüber, was geschieht, wenn der Feind in den Tunnel einbricht, Sir John.»

«Grabt hier eine Kammer», sagte Sir John, «groß genug für sechs oder sieben Männer. Dann stellen wir hier Bogenschützen und Feldkämpfer als Wache auf. Haltet auch eure eigenen Waffen bereit, aber erst einmal grabt einfach weiter. Lasst uns diese verdammte Barbakane zum Einsturz bringen!»Der Stollen war auf den Nordturm der hartnäckigen Bastion ausgerichtet. Wenn er zusammenbrach, so hofften die Engländer, würden seine Trümmer den Wassergraben füllen. Sir John klopfte den Stollengräbern auf die Schultern. «Gute Arbeit, Leute», sagte er. «Gott ist auf unserer Seite.»Er gab Hook ein Zeichen, und die beiden gingen zurück zu der Sau. «Ich hoffe wirklich, dass Gott auf unserer Seite ist», knurrte Sir John leise. Dann blieb er stehen und betrachtete stirnrunzelnd den Tunneleingang. «Wir müssen hier ein paar Männer zur Verteidigung aufstellen», sagte er.

«In der Sau?»

«Wenn die Bastarde in unseren Tunnel einbrechen, dann schwärmen sie aus diesem Loch wie Ratten, die frisches Aas gerochen haben. Wir errichten hier einen Wall und bemannen ihn mit Bogenschützen.»

Hook beobachtete zwei Männer, die Stützbalken in den Tunnel trugen. «Ein Wall an dieser Stelle würde die Arbeit behindern, Sir John», sagte er.

«Gottverdammt, Hook, das weiß ich selber!», schnauzte Sir John. Dann richtete er seinen Blick wieder auf die Mündung des Tunnels. «Wir müssen mit dieser Belagerung zu einem Ende kommen! Sie dauert schon viel zu lange. Die Leute werden krank. Wir müssen von diesem stinkenden, nassen Ort weg.»

«Fässer?», schlug Hook vor.

«Fässer?», wiederholte Sir John schlecht gelaunt.

«Füllt drei oder vier Fässer mit Steinen und Erde», sagte Hook geduldig, «und wenn die Franzosen kommen, rollen wir einfach die Fässer vor den Eingang und stellen sie aufrecht. Dann kann ein halbes Dutzend Bogenschützen jeden von diesen Bastarden erledigen, der versucht, an den Fässern vorbeizukommen.»

Sir John betrachtete den Eingang ein paar Augenblicke nachdenklich. Dann nickte er. «Deine Mutter hat ihre Zeit nicht vergeudet, als sie ihre Beine breit gemacht hat, Hook. Du bist ein guter Mann. Ich will die Fässer bis Sonnenuntergang hier haben.»

Und die Fässer waren bei Sonnenuntergang da. Hook, der auf seine Ablösung wartete, ging zu dem Graben neben der Sau und betrachtete die eingebrochene Stadtmauer, die von der Sonne, die hinter den abgeholzten Hügeln unterging, in rotes Licht getaucht wurde. Hinter ihm, im englischen Lager, spielte ein Mann eine klagende Flötenweise. Er wiederholte die gleichen Takte wieder und wieder, als ob er sich bemühte, sie ganz richtig zu spielen. Hook war müde. Er wollte nur noch essen und schlafen, sonst nichts, und er achtete kaum auf den Feldkämpfer, der neben ihm auf die Brustwehr kam. Der Mann hatte einen gutsitzenden Helm auf dem Kopf, der sein halbes Gesicht beschattete, doch abgesehen davon trug er keine Rüstung, nur eine Lederweste. Seine schlammverdreckten Stiefel waren gut gearbeitet und wiesen ebenso auf seine hohe Stellung hin wie die goldene Kette, die um seinen Hals hing. «Ist das ein toter Hund?», fragte der Mann und deutete auf ein Fellbündel, das auf halbem Weg zwischen dem englischen Graben und der französischen Barbakane lag. Drei Raben pickten an dem toten Tier.

«Die Franzosen haben ihn erschossen», sagte Hook. «Die Hunde laufen vor unsere Linie, und die Armbrustschützen schießen sie ab. Über Nacht verschwinden sie dann.»

«Die Hunde?»

«Die Franzosen essen sie», erklärte Hook knapp. «Frisches Fleisch.»

«Ja, natürlich», sagte der Mann. Er sah eine Weile den Raben zu. «Ich habe noch nie Hundefleisch gegessen.»

«Schmeckt ein bisschen wie Hase», sagte Hook, «hat aber mehr Sehnen.»Dann warf er dem Mann einen Blick zu und bemerkte die tiefe Narbe neben der langen Nase. «Sire», stotterte er eilig und fiel auf ein Knie.

«Steh auf, steh auf», sagte der König. Er betrachtete die Barbakane, die jetzt nur noch wie ein Erdhaufen mit zerschossenen Baumstämmen an der Vorderseite aussah. «Wir müssen diese Barbakane einnehmen», sagte er abwesend zu sich selbst. Hook beobachtete die Bastion genau. Er suchte nach einer verräterischen Bewegung, doch dann überlegte er, dass der König jetzt gerade wohl einigermaßen sicher war, denn die Franzosen hörten gewöhnlich bei Sonnenuntergang auf zu kämpfen. Auf beiden Seiten waren die Kanonen und Katapulte zur Ruhe gekommen. «Ich erinnere mich an den ersten Tag der Belagerung», sagte der König und klang dabei fast erstaunt, «als in der Stadt ständig die Kirchenglocken läuteten. Ich dachte, sie läuten sie aus Trotz und Mutwillen, aber dann wurde mir klar, dass sie ihre Toten beerdigten. Jetzt läuten sie nicht mehr.»

«Zu viele Tote, Sire», sagte Hook unbeholfen, «oder vielleicht gibt es auch keine Glocken mehr.»Mit einem König zu sprechen brachte ihn ganz durcheinander.

«Wir müssen die Stadt schnell einnehmen», sagte der König ernst. Dann trat er von der Brustwehr zurück. «Spricht der Heilige immer noch zu dir?», fragte er, und Hook war so erstaunt, dass sich der König an ihn erinnerte, dass er kein Wort über die Lippen brachte und nur hastig nickte. «Das ist gut», sagte Henry, «denn wenn Gott auf unserer Seite ist, dann kann uns nichts bezwingen. Denke immer daran!»Er warf Hook ein knappes Lächeln zu. «Und wir werden siegen», fügte er sanft hinzu, fast als spräche er wieder zu sich selbst. Dann ging er durch den Graben zurück zu der Sau, wo ein Dutzend Männer auf ihn warteten.

Und Hook ging schlafen.

Am nächsten Morgen wurde eine Kanone abgefeuert, und dann bebte die Erde.

Hook stand mit Sir John ganz vorne im Stollen, um noch einmal auf die Geräusche der französischen Stollengräber zu lauschen. Und mit einem Mal bebte die Erde, und die Binsenlichter flackerten heftig.

Alle kauerten sich im Halbdunkel nieder und lauschten angestrengt. Einer der Stollengräber hustete, und Hook wartete, bis sich der Nachhall des Hustens verflüchtigt hatte. Dann lauschte er. Lauschte. Lauschte auf den Tod.

Eine zweite Kanone feuerte, und die Erde zitterte, während die winzigen Flammen erneut tanzten und Staub rieselte und sich Erdklumpen von der Decke lösten, um in den Schlick auf dem Tunnelboden zu fallen. Das Grollen des Kanonenschusses schien niemals aufhören zu wollen. Dann folgte ein stöhnendes Geräusch, ein Knarzen, als ob sich die Eichenstützen unter dem Gewicht der Erde bögen, das sie trugen.

«Hook?», fragte Sir John.

Hook hörte einen kratzenden Ton, so schwach, dass er sich fragte, ob er ihn sich nur eingebildet hatte, aber dann kam ein gedämpftes Knacken, dem erneute Stille folgte. Nach einer Weile begann das Kratzen erneut, und dieses Mal war Hook sicher, es wirklich gehört zu haben. Die Männer im Tunnel beobachteten ihn besorgt. Er wechselte auf die andere Wandseite des Tunnels und legte ein Ohr an das Kalkgestein.

Kratzen. Hook sah Dafydd ap Traharn an. «Wie grabt Ihr jetzt, Sir?», fragte er.

«So, wie wir es immer machen», sagte der Waliser verwirrt.

«Zeigt Ihr es mir?»

Der Waliser nahm eine Spitzhacke, ging damit zur Stirnseite des Tunnels, und statt die Spitzhacke in das weiche Gestein zu schlagen, zog er es in einer natürlichen Spalte nach unten. Er wiederholte die Bewegung, vertiefte die Spalte, drückte dann die Metallspitze seines Werkzeugs hinein und versuchte einen Brocken Gestein zu lockern. Doch das Loch war noch nicht tief genug, sodass er erneut die Stahlspitze durch die Furche zog. Er kratzte an dem Gestein. Er arbeitete leise, wollte verhindern, dass die Franzosen hören könnten, wie nahe der Stollen schon an die Bastion reichte.

Er machte dasselbe Geräusch, das Hook hörte. Beide Seiten versuchten, so leise wie möglich zu arbeiten.

«Sie sind sehr nahe», sagte Hook.

«Cymorth ni, 0 Arglwydd», murmelte einer der Stollengräber und bekreuzigte sich.

«Wie nahe?», wollte Sir John wissen, ohne auf die Bitte um Gottes Beistand einzugehen.

«Das kann ich nicht sagen, Sir John.»

«Gott verdamme diese gottverdammten Bastarde», knurrte Sir John.

«Sie könnten auch über uns sein», warf Dafydd ap Traharn ein, «oder unter uns.»

«Man weiß, wann sie wirklich nahe herangekommen sind», sagte Hook, «denn dann hört man das Kratzen genau.»

«Kratzen?», fragte der Waliser.

«Das ist es, was ich höre, Sir.»

«Und dann hacken sie die letzten paar Fuß Erde durch», sagte Dafydd ap Traharn, «und stürzen sich auf uns wie die Dämonen aus der Hölle.»

«Aber wir erwarten sie», sagte Sir John. «Wir werden diesen Tunnel nicht aufgeben! Wir brauchen ihn! Wir werden unter der Erde gegen diese Bastarde kämpfen. Dann können wir es uns auch sparen, hinterher noch Gräber für sie auszuheben, was?»

Die Langbögen waren zu lang, um im Tunnel eingesetzt zu werden, und deshalb ließ Sir John um die Mittagszeit ein halbes Dutzend Armbrüste in den Stollen bringen. «Wenn sie durchbrechen», erklärte er Hook, «dann begrüß sie damit. Und anschließend benutzt ihr eure Kriegsäxte.»

Das feindliche Kratzen war jetzt lauter geworden, so laut, dass Dafydd ap Traharn entschied, es habe keinen Zweck, sich noch länger um möglichst leises Vorgehen zu bemühen. Die Männer begannen, ihre Spitzhacken zu schwingen, und erfüllten das Ende des Tunnels mit Lärm und einem feinen Staub, der zum Husten reizte. Immer wieder traf die Spitze einer Hacke auf Flintstein, sodass eine leuchtende Funkengarbe durch den dämmrigen Stollen flog. Die Funken sahen aus wie Sternschnuppen. Sie erinnerten Hook daran, dass sich seine Großmutter bei ihrem Anblick jedes Mal bekreuzigt hatte. Dazu hatte sie hastig ein Gebet aufgesagt und behauptet, dass es von den dahinschießenden Sternen mitgenommen würde. Er schloss die Augen, wenn die Funken flogen, und betete für Melisande und für Pater Christopher und für seinen Bruder Michael. Michael wenigstens war in England, weit weg von den Perrill-Brüdern und ihrem geisteskranken Priester-Vater. «Noch ein Tag Arbeit», sagte Dafydd ap Traharn und unterbrach Hook damit in seinen Gedanken an zu Hause, «und wir können damit anfangen, die Kammer zu bauen. Und dann lassen wir den Turm der Barbakane einstürzen wie die Mauern von Jericho!»

Die Feldkämpfer und die Bogenschützen saßen an den Wänden des Tunnels und zogen ihre Füße ein, wenn die Stollengräber Erde hinaustrugen oder die Balken zum Abstützen hereinbrachten. Sie lauschten auf die Geräusche der französischen Stollengräber. Sie waren nicht mehr zu überhören, und sie hörten sich an wie eine Drohung. Sie kamen aus Richtung Norden, von wo der Feind offenkundig mit einer Gegengrabung auf den Tunnel der Engländer treffen wollte. Im staubigen Licht der schwachen Flammen beobachtete Hook die Wand des Tunnels. Jeden Moment erwartete er, dass sich dort ein großes Loch auftat, durch das ein bewaffneter Feind brechen würde. Sir John verbrachte den größten Teil des Nachmittags mit gezogenem Schwert und düsterer Miene im Tunnel. «Wir müssen sie in ihr Loch zurücktreiben», sagte er, «und dann ihren Stollen zum Einsturz bringen. Mein Gott, hier unten riecht es wie in einer Abortgrube !»

«Es ist ja auch eine Abortgrube», sagte Dafydd ap Traharn trocken. Einige der Stollengräber waren krank geworden und beschmutzten den feuchten Schlickuntergrund.

Sir John verließ den Tunnel erst am Spätnachmittag und schickte eine Stunde später einen Trupp, der die Tunnelwache ablösen sollte. Die neuen Männer kamen in gebückter Haltung durch den Tunnel und warfen im Halbdunkel monströse Schatten an die Wände. «Gott steh mir bei», knurrte eine Stimme, «diese Luft ist ja nicht zu atmen.»

«Ihr habt Armbrüste für uns, oder?», fragte eine andere Stimme.

«Ja, haben wir», bestätigte Hook, «und sie sind gespannt.»

«Gut, dann lasst sie für uns so», sagte der Mann und bemühte sich, die Bogenschützen zu erkennen, die er ablöste. «Hook? Bist du das?»

«Sir Edward!», sagte Hook. Sir Edward Derwent, Lord Slaytons Mann, der Hook in London vor dem Hausgericht und dessen unausweichlichem Urteil gerettet hatte, lächelte ihn im Halbdunkel an. «Ich habe schon gehört, dass du hier bist», sagte er, «wie geht es dir?»

«Ich lebe noch», sagte Hook und grinste.

«Gott sei's gedankt, obwohl nur Gott weiß, wie hier unten irgendwer überleben kann.»Sir Edward, dessen vernarbtes Gesicht halb von seinem Helm verdeckt wurde, lauschte auf die verdächtigen Geräusche. «Klingt, als wären sie sehr nahe!»

«Das glauben wir auch», sagte Hook.

«Aber man kann sich leicht täuschen», warf Dafydd ap Traharn ein, «sie könnten noch zehn Schritt entfernt sein. Unter der Erde sind Geräusche schwer einzuschätzen.»

«Also könnten sie ebenso gut auch nur eine Handbreit entfernt sein», stellte Sir Edward säuerlich fest.

«Ja, das wäre möglich», sagte der Waliser verdrießlich.

Sir Edward warf einen Blick auf die gespannten Armbrüste. «Und der Plan ist, sie mit Bolzen zu empfangen», fragte er, «und die Bastarde anschließend mit Kampfäxten niederzumachen ?»

«Der Plan ist, dass wir am Leben bleiben», sagte Dafydd ap Traharn. «Ihr versperrt den Tunnel, ist Euch das klar? Zu viele Leute hier unten. Wir haben zu arbeiten!»

Sir Johns Feldkämpfer waren schon gegangen, und nun schickte Hook seinen Bogenschützen hinter ihnen hinaus. Er selbst blieb noch einen Moment zurück. «Ich wünsche Euch eine ruhige Nacht», sagte er zu Sir Edward.

«Bei Gott, das wünsche ich dir auch», sagte Sir Edward. Dann grinste er. «Es ist gut, dich zu sehen, Hook.»

«Und eine Freude, Euch zu sehen, Sir», sagte Hook. «Und ich danke Euch.»

«Geh dich ausruhen», gab Sir Edward zurück.

Hook nickte. Er hängte seine Kampfaxt in den Gürtel und schob sich mit einem Nicken an Sir Edwards Männern vorbei. Einer von ihnen versuchte Hook zum Stolpern zu bringen, und Hook sah das eckige Kinn und die tiefliegenden Augen und glaubte in dem Halbdunkel einen Moment lang, er habe Sir Martin vor sich. Doch dann erkannte er den älteren Sohn des Priesters, Tom Perrill. Beide Brüder waren da, unter die Stützbalken gebeugt, doch Hook beachtete sie nicht weiter, denn er wusste, dass sie ihn nicht angreifen würden, solange Sir Edward in der Nähe war.

Er ging den Tunnel in Richtung des schwachen Tageslichts entlang, das weit vorn vom Eingang hereinschimmerte. Seine Gedanken waren bei Melisande, bei dem Eintopf, den sie für ihn bereithalten würde, und bei den Liedern, die an den Lagerfeuern gesungen wurden - als plötzlich die Welt unterging.

Lärm dröhnte in seinen Ohren. Er begann mit einem grollenden Donnern, das hinter ihm aufbrandete, dann folgte ein reißender Ton, als ob die Erde selbst aufbrechen würde, und als er sich umdrehte, quoll ihm Staub entgegen, eine dunkle Staubwolke wallte durch die Finsternis des Schachts, und in dem Dunkel bewegten sich Männer wie schattenhafte Unwesen. Dann erklangen Rufe, das Geräusch von Stahlklingen auf Rüstungen und ein lauter Schrei.

Die Franzosen waren durchgebrochen.

Im ersten Moment wollte Hook umkehren, um sich an dem Kampf zu beteiligen, doch dann dachte er an die Fässer und überlegte, ob er den Eingang des Tunnels blockieren sollte. Er zögerte. Ein Mann kreischte in der Dunkelheit auf, es war ein grauenvolles Geräusch, wie der Schrei eines Tieres, das man ungeschickt kastrierte. Dann erklang wieder Gepolter, und Hook erspähte Männer, die von oben in den Tunnel sprangen. Darauf wälzten sich neue Staubwolken auf ihn zu, sodass er nichts mehr erkennen konnte, außer einer Gestalt, die im Dunst auf ihn zukam. Es war ein Feldkämpfer mit gezogenem Schwert. Das Visier seines Helmes war geschlossen, er hielt sein Schwert mit beiden Händen, und durch die Staubwolken und das Halbdunkel sah er aus wie ein gewaltiger Erdriese aus einem grässlichen Albtraum. Seine Rüstung war mit Kalk und Erde überzogen, und Hook sah ihm erstarrt vor Grauen entgegen. Dann aber brüllte der Mann etwas, und das Geräusch holte Hook genau in dem Moment in die Wirklichkeit zurück, in dem der Mann ihm das Schwert in den Bauch rammen wollte. Hook wich seitwärts aus und ließ seine Kampfaxt gegen das stahlbewehrte Gesicht fahren. Die Speerspitze der Axt glitt an dem Visier ab, doch das hammerförmige Ende fuhr in den Helm und ließ das Metall aufbrechen. Hook hatte all seine Kraft als Bogenschütze in diesen Schlag gelegt, und der Erdriese taumelte rückwärts, Blut strömte aus den Öffnungen des Visiers. Hook erinnerte sich an all die Lektionen von Sir Johns Übungswiese. Er rückte nahe auf den Mann zu, zu nahe für den Feind, um mit dem Schwert nach ihm ausholen zu können, und rammte ihm seine Kriegsaxt wie einen Kampfstab in den Körper, sodass der Mann zu Boden ging. Hook hatte nicht genügend Platz, um mit der Axt auszuholen, doch das glich er mit seiner Kraft aus. Mit der Klinge brach er seinem Feind den Ellbogen, und dann fuhr er mit ihrem Spitzdorn in die Lücke zwischen Helm und Brustpanzer. Der Franzose trug eine Kettenhaube, um die Lücke zu schützen, doch die Stahlspitze drang ohne weiteres durch die Kettenglieder und bohrte sich in die Kehle des Mannes. Und während weitere Männer auf Hook zukamen, schrumpfte der Erdriese zu normaler Größe, wand sich auf dem Boden des Tunnels, auf dem sich sein Blut mit dem Kalk mischte. Schwarzrote Flüssigkeit lief in den weißlichen Schlick.

Die Männer, die durch den Stollen auf ihn zukamen, kämpften miteinander. Hook zog die Axtspitze aus dem Hals des Sterbenden und rammte sie gegen einen Mann in einem unbekannten Wappenrock. Das Metall glitt von der Plattenrüstung ab und riss nur den Wappenrock auf. Der feindliche Kämpfer trug einen Helm, dessen Visier wie eine Tierschnauze geformt war, und nun holte er mit dem Schwert aus. Doch es blieb in einem der Stützbalken des Tunnels hängen, und Hook ging erneut mit der Kampfaxt auf ihn los. Dieses Mal hakte er die Axtklinge um den Knöchel des Mannes ein und zog so fest daran, dass der Franzose das Gleichgewicht verlor. Ein walisischer Stollengräber wankte auf Hook zu, aus seinem zerfetzten Bauch quollen die Därme. Hook schob ihn an der Schulter zur Seite und stieß die Spitze seiner Kampfaxt unter den Brustpanzer des Mannes, der vor ihm auf dem Boden lag. Er stieß und drehte den langen Schaft, um dem Feind den Magen und die Brust von innen zu zerfetzen, doch irgendetwas blockierte den Axtkopf, und dann wurde Hook von einer weiteren Gruppe Männer zurückgeschoben. Es waren Lord Slaytons Männer, die sich vor den Franzosen zurückzogen, doch immer noch wurden sie von einer Handvoll Gegner bedrängt. Männer rangen in der Dunkelheit, stolperten über die Toten und die Sterbenden, rutschten im Schlick aus. Zwei Feldkämpfer drückten Hook an die Wand, und er stieß erneut mit der Axt wie mit einem Kampfstab zu, mit beiden Händen, doch dann wurden seine Feinde abgedrängt, als Bogenschützen und Stollengräber in Richtung Sau flohen.

«Haltet sie auf!», brüllte Sir Edward von der anderen Seite des Tunnels aus.

Die Fässer. Hook, dem gerade kein Feind zusetzte, drehte sich um und rannte in Richtung des Tunneleingangs. Er schaffte es bis an die Schräge, die zur Oberfläche führte, doch dort brachte ihn ein Fuß zum Stolpern, und er stürzte schwer auf den Kalkboden. Er drehte sich zur Seite, um aufzustehen, doch da wurde ihm heftig in den Magen getreten. Hook krümmte sich und sah Tom und Robert Perrill über sich stehen.

«Schnell», rief Tom seinem Bruder zu.

Robert hob sein Schwert mit der Spitze nach unten und zielte auf Hooks Kehle.

«Und nachher nehme ich mir deine Frau vor», sagte Tom Perrill. Hook konnte ihn über die Rufe und Schreie, die durch den Tunnel hallten, kaum hören. Noch mehr Schreie klangen von der Sau herüber, wo die Angreifer erbittert gegen die überraschten Verteidiger kämpften. Dann fuhr Robert Perrills Schwert nieder, und Hook rollte sich erneut über den Boden, warf sich gegen Roberts Beine und zerrte an ihnen, sodass Robert an die gegenüberliegende Wand taumelte. Mit der Kampfaxt in der Hand kam Hook auf die Füße und drehte sich zu Thomas Perrill um, der einfach weglief.

«Feigling!», brüllte Hook und sah auf Robert hinunter, der sinnlos mit dem Schwert um sich schlug und schrie und schrie. Und plötzlich verstand Hook, weshalb. Die Erde bebte. Und zugleich schrillte ein weiterer Schrei, dünn und scharf wie eine Klinge in Hooks Ohren.

«Runter!», sagte Sankt Crispinian.

Und jetzt schwankte die Erde, und der scharfe Schrei verlor sich in Donnern, nur dass dieser Donner nicht vom Himmel kam, sondern von der Erde, und Hook gehorchte dem Heiligen und kauerte sich neben Robert Perrill. Dann brach das Dach des Tunnels ein.

Es schien ewig zu dauern. Balken knackten, stöhnten und zerbarsten mit lautem Dröhnen, und das Erdreich stürzte herab.

Hook schloss die Augen. Der dünne Schrei war zurück, doch diesen Schrei gab es nur in seinem Kopf. Es war Angst, sein eigener Schrei, sein Grauen vor dem Tod. Er atmete Staub ein. Am Jüngsten Tag, das wusste er, würden die Toten aus der Erde auferstehen. Sie würden aus ihren Gräbern kommen, die Erde würde sich für ihr Fleisch und ihre Knochen öffnen, und sie würden sich nach Osten wenden, in Richtung der strahlenden Heiligen Stadt Jerusalem, und der Himmel im Osten würde heller leuchten als die Sonne, und ein großes Entsetzen würde die eben auferstandenen Toten ergreifen, während sie in ihren Leichentüchern über ihren Gräbern standen. Es würde Heulen und Zähneklappern geben, das Volk würde vor dem plötzlichen Schein des blendenden Lichts zusammenzucken, doch all die toten Gemeindepriester wären mit den Füßen Richtung Westen beerdigt worden, sodass sie, wenn sie aus ihren Gräbern aufstanden, vor ihrer verängstigten Gemeinde stehen und sie beruhigen würden. Und aus irgendeinem Grund musste Hook, als die Erde bebte und ihm sein Grab bereitete, an Sir Martin denken. Er fragte sich, ob dieses gehässige, sauertöpfische Gesicht mit dem kantigen Kinn das erste sein würde, das er am Jüngsten Tag zu sehen bekäme, wenn Posaunenschall die Himmel erfüllte und Gott in all Seiner Herrlichkeit kam, um Sein Volk heimzuführen.

Ein Deckenbalken stürzte herab, Erde brach nach, und Hook kauerte auf dem Boden, und alles um ihn herum war nur noch Bersten und Donnern, und der Schrei in seinem Kopf war zu einem Wimmern geworden.

Und dann Stille.

Plötzliche, vollkommene, schwarze Stille.

Hook atmete ein.

«O Gott», stöhnte Robert Perrill.

Irgendetwas drückte gegen Hooks Rücken. Es war schwer und schien völlig unbeweglich, doch es zerquetschte ihn nicht. Die Dunkelheit war ganz und gar undurchdringlich.

«O Gott, bitte», sagte Perrill.

Erneut bebte die Erde, und es war ein gedämpfter Schlag zu hören. Eine Kanone, dachte Hook, und jetzt vernahm er sogar Stimmen, doch sie waren weit entfernt. Sein Mund war voller Sand. Er spuckte aus.

Hooks rechte Hand klammerte sich immer noch an die Kampfaxt, doch er konnte sie nicht bewegen. Die Waffe hatte sich irgendwo verfangen. Er ließ sie los und tastete um sich. Es war ihm bewusst, dass er sich in einem kleinen, engen Hohlraum befand. Seine Finger fuhren über Perrills Kopf. «Hilf mir», sagte Perrill.

Hook schwieg.

Er tastete hinter sich und stellte fest, dass ein Deckenbalken halb herabgefallen war und den kleinen Hohlraum geschaffen hatte, in dem er kauerte und atmete. Der Balken stand schräg. Es war sein rohes Eichenholz, das sich gegen Hooks Rücken presste. «Was soll ich machen?», fragte er laut.

«Du bist nicht weit unter der Oberfläche», sagte Sankt Crispinian.

«Du musst mir helfen», sagte Perrill.

Wenn ich mich bewege, sterbe ich, dachte Hook.

«Nick! Hilf mir», sagte Perrill. «Bitte!»

«Schieb dich einfach nach oben», sagte Sankt Crispinian.

«Zeig ein bisschen Mut», erklang die schroffere Stimme Sankt Crispins.

«In Gottes Namen, hilf mir», stöhnte Perrill.

«Beweg dich nach rechts», sagte Sankt Crispinian, «und hab keine Angst.»

Langsam bewegte sich Hook. Erdklumpen fielen herab.

«Und jetzt grab dich nach oben», sagte Sankt Crispinian, «wie ein Maulwurf.»

«Maulwürfe sterben», sagte Hook und wollte erklären, wie sie Maulwürfe fingen, indem sie ihre Gänge verstopften und dann die verängstigten Tiere ausgruben, doch der Heilige wollte nicht zuhören.

«Du wirst nicht sterben», sagte er ungeduldig. «Nicht, wenn du dich ausgräbst.»

Also schob sich Hook nach oben, schaufelte die Erde mit beiden Händen weg, und der Boden rutschte nach, in seinen Mund, und er wollte schreien, doch er konnte es nicht, und er stieß sich mit den Beinen weiter, setzte all seine Körperkraft ein, und das Erdreich brach um ihn herum zusammen, und er war sicher, dass er hier sterben würde, nur dass er plötzlich, ganz plötzlich, reine Luft atmete. Sein Grab war sehr flach gewesen, nichts weiter als ein Leichentuch aus herabgefallenem Erdreich, und er stand halb im Freien und stellte erstaunt fest, dass es noch nicht einmal ganz dunkel geworden war. Es schien zu regnen, doch der Himmel war klar, und dann wurde ihm bewusst, dass die Franzosen mit Armbrustbolzen von der Barbakane und von den Trümmern der Stadtmauer schossen. Sie schossen nicht auf ihn, sondern auf die Männer, die aus den englischen Gräben und der Sau herausspähten.

Hook stand bis zur Hüfte in der Erde. Er griff an seinem rechten Bein hinunter und bekam Robert Perrills Lederwams zu fassen. Er zog, und die Erde war lose genug, um den hustenden Bogenschützen ins letzte Tageslicht zu zerren.

Ein Armbrustbolzen schlug eine Handbreit neben Hook in den Grund, und Robert Perrill hörte augenblicklich auf zu husten.

Sie befanden sich in einer Art Graben, dessen erhöhte Seiten ihnen einen gewissen Schutz vor den französischen Bolzen gewährte. Die Verteidiger der Stadt johlten. Sie hatten den Tunnel einstürzen sehen, und sie hatten gesehen, wie die Engländer versuchten, jeden zu retten, der diese Katastrophe überlebt hatte. Deshalb ließen sie es nun Armbrustbolzen aus der Dämmerung regnen, um die Retter zurückzudrängen.

«O Gott», seufzte Robert Perrill.

«Du lebst», sagte Hook.

«Nick?»

«Wir müssen warten», sagte Hook.

Robert Perrill würgte und spuckte Erde aus. «Warten?»

«Wir können uns hier nicht wegrühren, bevor es dunkel ist», sagte Hook, «sie schießen auf uns.»

«Mein Bruder!»

«Ist weggelaufen», sagte Hook. Er fragte sich, was aus Sir Edward geworden war. War der vordere Teil des Tunnels eingestürzt? Oder hatten die Franzosen alle Männer im Stollen getötet? Die Gegner hatten ihren eigenen Tunnel über dem englischen gegraben und waren dann durch die Decke gebrochen. Hook stellte sich den unvermittelten Kampf vor, den Tod in der Dunkelheit und den Schmerz der Sterbenden in ihrem vorbereiteten Grab. «Du wolltest mich töten», sagte er zu Robert Perrill.

Perrill erwiderte nichts. Er lag halb auf dem zerfurchten Grund, seine Beine steckten noch unter der Erde. Er hatte sein Schwert verloren.

«Du wolltest mich töten», wiederholte Hook.

«Mein Bruder wollte es tun.»

«Aber du hattest das Schwert in der Hand», sagte Hook.

Perrill wischte sich Dreck aus dem Gesicht. «Es tut mir leid, Nick», sagte er.

Hook schnaubte nur.

«Sir Martin hat gesagt, er bezahlt uns dafür», gab Perrill zu.

«Euer Vater?»

Perrill zögerte, dann nickte er. «Ja.»

«Weil er mich hasst?»

«Deine Mutter hat ihn abgewiesen», sagte Perrill.

Hook lachte. «Und deine Mutter hat sich zur Hure gemacht», sagte er.

«Er hat ihr erzählt, sie würde in den Himmel kommen», sagte Perrill. «Dass man, wenn man es mit einem Priester tut, in den Himmel kommt. Das hat er ihr erzählt.»

«Er ist irr», sagte Hook ohne Umschweife, «heillos irrsinnig.»

Perrill beachtete Hooks Worte nicht. «Er hat ihr Geld gegeben, das tut er immer noch, und uns wird er auch Geld geben.»

«Damit ihr mich tötet?», fragte Hook. Allerdings taten die Franzosen gerade ihr Bestes, um Sir Martin die Ausgabe zu ersparen. Die Armbrustbolzen schlugen zischend in die Erde, einige fielen sich überschlagend in die grabenförmige Vertiefung, die durch den Einbruch des Tunnels entstanden war.

«Er will deine Frau», sagte Robert Perrill.

«Wie viel zahlt er euch?»

«Eine Mark für jeden», sagte Perrill, eifrig darum bemüht, Hook durch seine Offenheit für sich einzunehmen.

Eine Mark. Einhundertsechzig Pennys oder dreihundertzwanzig Pence, falls die Brüder bezahlt würden. Der Preis von Hooks Leben und Melisandes Elend. «Also müsst ihr mich töten?», fragte Hook. «Und dann nehmt ihr mein Mädchen?»

«Er will es so.»

«Er ist ein bösartiger, verrückter Bastard», sagte Hook.

«Er kann auch freundlich sein», sagte Perrill jämmerlich. «Erinnerst du dich an John Luttocks Tochter?»

«Natürlich erinnere ich mich an sie.»

«Er hat sie von zu Hause weggeholt, aber am Ende hat er John für sie bezahlt, er hat ihm die Mitgift für das Mädchen gegeben.»

«Einhundertsechzig Pennys dafür, dass er sie geschändet hat?»

«Nein!»Die Frage hatte Perrill überrascht. «Ich glaube, es waren zwei Pfund, vielleicht war es sogar mehr. John war sehr zufrieden.»

Es wurde nun schnell dunkel. Die Franzosen hatten ihre geladenen Kanonen für den Moment aufgespart, in dem ihre Gegengrabung den englischen Tunnel erreicht haben würde, und sie feuerten Schuss um Schuss von der Stadtmauer ab. Der Rauch stieg wie Gewitterwolken auf und verdunkelte den ohnehin schon dämmrigen Himmel noch weiter, während die Kanonensteine dröhnend und polternd auf die massiven Seiten der Sau trafen.

«Robert!», rief eine Stimme aus der Sau.

«Das ist Tom!», sagte Robert Perrill, der die Stimme seines Bruders erkannte. Er atmete tief ein, um zu antworten, doch Hook hielt ihm den Mund zu.

«Sei ruhig», knurrte Hook. Ein Armbrustbolzen schoss über den Grabenrand und traf Hooks Kettenhemd. Er hatte seine Kraft schon vorher verloren und sprang seitlich weg, während ein weiterer Bolzen aus einem Flintsteinbrocken, der neben ihnen lag, Funken schlug. «Und jetzt?», fragte Hook und zog seine Hand von Robert Perrills Mund weg.

«Was meinst du damit?»

«Ich bringe dich zurück, und du wirst wieder versuchen, mich umzubringen.»

«Nein!», sagte Perrill. «Hol mich hier raus, Nick! Ich kann mich nicht bewegen!»

«Also, was geschieht jetzt?», fragte Hook beharrlich. Armbrustbolzen trafen in so dichter Folge auf die Sau, dass es klang wie Hagel auf einem Balkendach.

«Ich werde dich nicht töten», sagte Perrill.

«Was soll ich tun?», fragte Hook.

«Zieh mich heraus, Nick, bitte», sagte Perrill.

«Ich habe nicht mit dir gesprochen. Was soll ich tun?»

«Was glaubst du denn?», sagte Sankt Crispin, der strengere Bruder, spöttisch.

«Das ist Mord», sagte Hook.

«Ich werde dich nicht töten!», beharrte Perrill.

«Denkst du, wir haben das Mädchen gerettet, damit sie jetzt geschändet werden kann?», fragte Sankt Crispinian.

«Hol mich aus diesem Dreck heraus», sagte Perill. «Bitte!»

Doch stattdessen streckte Hook seinen Arm nach einem der verschossenen Armbrustbolzen aus. Er war so lang wie sein Unterarm, zwei Daumen dick und mit steifen Lederstreifen befiedert. Die Spitze war rostig, aber immer noch scharf.

Er tötete Perrill mühelos. Er versetzte ihm einen schweren Hieb auf den Kopf, und während der Bogenschütze sich noch von dem Schlag erholte, rammte er ihm den Bolzen in ein Auge. Das Metall drang ganz leicht ein, schürfte an der Augenhöhle entlang, und Hook trieb den dicken Schaft so tief in Perrills Hirn, bis die rostigen Spitze an der Innenwand von Perrills Schädel kratzte. Der Bogenschütze wand und krümmte sich, würgte und zitterte, doch er starb recht schnell.

«Robert!», rief Tom Perrill erneut von der Sau aus.

Ein Springarden-Bolzen fuhr in einen gemauerten Kamin, der über den verkohlten Resten eines verbrannten Hauses emporragte. Der Bolzen wirbelte, sich überschlagend, in die Dämmerung und schoss über die englischen Gräben, um weit dahinter niederzugehen. Hook wischte seine verletzte Rechte an Robert Perrills Wappenrock ab, rieb sich die Schmiere von den Fingern, die aus dem Auge des sterbenden Mannes gespritzt war, und zog sich dann ganz aus der Erde. Es war nun beinahe dunkel, und der Rauch der Kanonen verhüllte das letzte bisschen Tageslicht. Hook stieg mit einem großen Schritt über Perrill hinweg und ging mit unsicheren Schritten zu der Sau, bis seine Beine ihre Kraft wiederfanden. Armbrustbolzen jagten an ihm vorbei, doch sie wurden nicht mehr gezielt abgeschossen. Er hielt sich beim Laufen die Seiten und stolperte schließlich keuchend in die Sicherheit der Saugrube. Laternen beleuchteten sein schmutzverkrustetes Gesicht, und die Männer starrten ihn an.

«Wie viele andere haben überlebt?», fragte ein Feldkämpfer.

«Weiß nicht», sagte Hook.

«Hier.»Ein Priester reichte ihm einen Krug, und Hook trank. Er hatte nicht bemerkt, wie durstig er war, bis er das Ale schmeckte.

«Und mein Bruder?»Thomas Perrill gehörte zu den Männern, die vor Hook standen.

«Von einem Armbrustbolzen getötet», sagte Hook knapp und sah Perrill ins Gesicht. «Genau durchs Auge», fügte er unbarmherzig hinzu. Perrill starrte ihn ungläubig an, und dann drängte sich Sir John Cornewaille durch die kleine Gruppe.

«Hook!»

«Ich lebe, Sir John.»

«Danach siehst du aber nicht aus. Komm.»Sir John packte Hooks Arm und führte ihn zum Lager. «Was ist passiert?»

«Sie sind von oben gekommen», sagte Hook. «Ich war auf dem Weg nach draußen, als die Decke eingestürzt ist.»

«Ist sie auf dich gestürzt?»

«Ja, Sir John.»

«Irgendwer liebt dich, Hook.»

«Sankt Crispinian liebt mich», sagte Hook, und dann sah er Melisande im Licht des Lagerfeuers und sank in ihre Umarmung.

Und später, während der Nacht, hatte er Albträume.

Das Sterben unter Sir Johns Männern begann am nächsten Morgen. Ein Feldkämpfer und zwei Bogenschützen waren mit der Krankheit geschlagen, die das Gedärm in eine Ableitung für eine dünnflüssige Dreckbrühe verwandelte. Alice Godewyne starb. Ein Dutzend weitere Feldkämpfer waren krank, ebenso wie mindestens zwanzig Bogenschützen. Die Armee wurde von dieser Plage schwer heimgesucht, und der Gestank nach Exkrementen hing über dem Lager. Die Franzosen erhöhten jede Nacht ihre Schutzwälle, und in der Dämmerung mühten sich die Männer in die Kanonengruben und Schutzgräben, wo sie sich übergaben und ihre Eingeweide entleerten.

Auch Pater Christopher steckte sich an. Melisande fand ihn in seinem Zelt, wo er zitternd und mit bleichem Gesicht in seinem eigenen Schmutz lag und zu schwach war, um sich zu bewegen. «Ich habe ein paar Nüsse gegessen», erklärte er ihr.

«Nüsse?»

«Les noix», erklärte er mit einer Stimme, die kaum mehr war als ein schwaches Keuchen. «Ich wusste es nicht.»

«Wusste es nicht?»

«Jetzt erzählten die Ärzte, dass man keine Nüsse und keinen Kohl essen soll. Nicht, wenn die Krankheit herrscht. Ich habe Nüsse gegessen.»

Melisande wusch ihn. «Du machst mich nur noch kränker», beschwerte er sich, doch er war zu kraftlos, um sich zu wehren. Sie suchte ein Laken für ihn, doch Pater Christopher schob es zur Seite, als die Hitze des Sommertages unerträglich wurde. Ein großer Teil der Senke, in der Harfleur lag, war immer noch überflutet, und die Hitze flirrte über dem seichten Wasser und ließ die Luft feucht und schwer werden. Die Kanonen feuerten weiter, aber nicht mehr so häufig, denn auch die holländischen Kanoniere waren mit dem Blutfluss geschlagen. Niemand war davor sicher. Männer aus dem Gefolge des Königs wurden krank, bedeutende Lords wurden von der Plage niedergeworfen, und die Todesengel schwebten mit dunklen Flügeln über dem englischen Lager.

Melisande fand einige Brombeeren und erbat sich ein bisschen Gerste von den Vorratsmeistern Sir Johns. Sie kochte die Brombeeren und die Gerste zu einem Brei, süßte ihn mit Honig und fütterte Pater Christopher damit. «Ich sterbe», murmelte er mit schwacher Stimme.

«Nein», verkündete sie entschieden, «Ihr sterbt nicht.»

Der Arzt des König selbst, Master Colnet, kam zu Pater Christophers Zelt. Er war jung und ernsthaft, mit blassem Gesicht und einer kleinen Nase, mit der er an Pater Christophers Fäkalien roch. Er sagte nichts dazu, was er aus den Gerüchen geschlossen hatte, sondern ließ den Priester nur eilig und stark zur Ader. «Die Fürsorge des Mädchens wird Euch nicht schaden», sagte er.

«Gott segne sie», sagte Pater Christopher entkräftet.

«Der König schickt Euch Wein», sagte Master Colnet.

«Dankt Seiner Majestät in meinem Namen.»

«Es ist ein ausgezeichneter Wein», sagte Colnet, während er geschickt den Arm verband, «wenn er auch dem Bischof nicht mehr geholfen hat.»

«Bangor ist tot?»

«Nicht Bangor, Norwich. Er ist gestern gestorben.»

«Gütiger Gott», sagte Pater Christopher.

«Ich habe auch ihn zur Ader gelassen», sagte Master Colnet, «und ich habe geglaubt, er würde überleben, doch Gott hat anders entschieden. Ich werde morgen wieder zu Euch kommen.»

Die Leiche des Bischofs von Norwich wurde gevierteilt und dann in einem riesigen Zuber gekocht, um das Fleisch von den Knochen zu lösen. Die trübe, dampfende Brühe wurde weggeschüttet, die Knochen dagegen wurden in Leinen gewickelt und in einen Sarg eingenagelt, der feierlich zum Strand getragen wurde, sodass der Bischof nach Hause gebracht werden konnte, um in dem Sprengel beerdigt zu werden, in dem er sich zu Lebzeiten so wenig wie möglich aufgehalten hatte. Die meisten anderen Toten warf man jedoch einfach in Gruben, die überall ausgehoben wurden, wo ein Stück Grund hoch genug lag, um ein trockenes Grab anlegen zu können. Doch als immer mehr Männer starben, wurden diese Totengruben aufgegeben und die Leichname stattdessen bei Ebbe ins Watt getragen und in die seichten Wasserläufe geworfen, wo sie den wilden Hunden, den Möwen und der Ewigkeit überlassen blieben. Der Gestank der Leichen und der Gestank der Exkremente und der beißende Rauch schwelender Feuer erfüllte das Lager.

Am zweiten Morgen nachdem Hook von dem eingebrochenen Tunnel weggetaumelt war, erhob sich mit einem Mal der Lärm von Kanonenschüssen von der Stadtmauer Harfleurs. Die Garnison hatte ihre Kanonen geladen und feuerte sie alle gleichzeitig ab, sodass sich ein Ring aus Rauch um die halbzerstörte Stadt legte. Die Verteidiger jubelten von der Stadtmauer herunter und schwenkten höhnisch ihre Banner.

«Ein Schiff ist zu ihnen durchgekommen», erklärte Sir John.

«Ein Schiff?»

«Bei Gott dem Allmächtigen, du wirst doch wohl wissen, was ein Schiff ist!»

«Aber wie haben sie es geschafft?»

«Unsere gottverdammte Flotte hat geschlafen, so haben sie es geschafft! Jetzt haben die gottverdammten Bastarde neue Verpflegung. Gott verdamme diese Bastarde.»Es schien so, als habe Gott die Seiten gewechselt, denn die Verteidigungsanlagen Harfleurs, mochten sie auch eingebrochen und zerschossen sein, wurden ständig ausgebessert und wiederaufgebaut. Neue Festungswälle wurden hinter den alten errichtet, und jede Nacht vertieften die Männer der Garnison den Wassergraben und schlossen die Breschen in der Stadtmauer mit neuen Hindernissen. Der Beschuss mit Armbrustbolzen nahm nicht ab - also war die Stadt entweder sehr gut gerüstet gewesen, oder das Schiff, das durch die Blockade gekommen war, hatte neuen Vorrat mitgebracht. Die englische Seite dagegen litt immer stärker unter der Krankheit. Sir John duckte sich unter Pater Christophers Zelteingang hindurch und sah auf den Priester hinab. «Wie geht es ihm?», fragte er Melisande.

Sie zuckte mit den Schultern. Hook hätte ohnehin gesagt, der Priester sei schon tot, so unbeweglich lag er auf dem Rücken, den schlaffen Mund leicht geöffnet und die Haut so blassgrau wie die Dämmerung.

«Atmet er?», wollte Sir John wissen.

Melisande nickte.

«Gott steh uns bei», sagte Sir John und schob sich rückwärts aus dem Zelt hinaus. «Gott steh uns bei», wiederholte er und starrte nach Harfleur hinüber. Die Stadt hätte schon vor zwei Wochen fallen sollen, doch da lag sie, immer noch trotzte sie der Belagerung, und die Trümmer ihrer Stadtmauer und ihrer Wachtürme beschützten die neuen Befestigungen, die dahinter errichtet worden waren.

Es gab allerdings auch gute Nachrichten. Sir Edward Derwent war nicht tot, sondern als Gefangener in Harfleur, ebenso wie Dafydd ap Traharn. Die Herolde, die von einem weiteren vergeblichen Versuch zurückkamen, die Garnison zur Aufgabe zu bewegen, berichteten, wie die Männer an der Stirnseite des Tunnels in der Falle gesessen und sich ergeben hatten. Der eingestürzte Tunnel war aufgegeben worden, wenn auch an der östlichen Seite Harfleurs, wo der Bruder des Königs die Belagerung anführte, weitere Schächte in Richtung der Stadtmauer gegraben wurden. Die beste Nachricht bestand darin, dass die Franzosen keine Anstrengungen unternahmen, die Stadt zu entsetzen. Englische Trupps ritten auf der Suche nach Getreide weit ins Landesinnere und entdeckten keinerlei Hinweis auf eine feindliche Armee, die anrückte, um die von der Krankheit geschwächten Engländer zu schlagen.

Harfleur, so schien es, war seinem Untergang überlassen worden, auch wenn man mittlerweile glauben konnte, dass die Belagerer zuerst ans Ende ihrer Kräfte kommen würden.

«All das Geld», sagte Sir John niedergeschlagen, «und wir haben nichts weiter getan, als ein paar Meilen weit vorzurücken, um die Herren über Gräber und Abortgruben zu werden.»

«Warum lassen wir es dann nicht einfach?», fragte Hook. «Wir könnten doch einfach abziehen.»

«Eine gottverdammt tölpelhafte Frage», sagte Sir John. «Die Stadt könnte sich ja schon morgen ergeben! Und die gesamte Christenheit blickt auf uns. Wenn wir die Belagerung aufgeben, sehen wir wie Schwächlinge aus. Und übrigens, selbst wenn wir ins Landesinnere einrücken, werden wir nicht unbedingt auf die französische Armee treffen. Sie haben gelernt, die englischen Kampftruppen zu fürchten, und sie wissen, dass sie uns am schnellsten loswerden, wenn sie sich in ihre Festungen zurückziehen. Also könnten wir nur diese Belagerung aufgeben, um eine andere anzufangen. Nein, wir müssen diese gottverdammte Stadt in die Hand bekommen.»

«Und warum greifen wir dann nicht an?», fragte Hook.

«Weil wir dabei zu viele Männer verlieren würden», sagte Sir John. «Stell es dir selbst vor, Hook: Armbrüste, Springarden, Kanonen, alles schießt auf uns, während wir vorrücken. Sie töten uns, während wir einen Damm über den Wassergraben aufschütten, und wenn wir dann über die Trümmer der Stadtmauer gestiegen sind, haben wir einen neuen Graben vor uns, einen neuen Wall und noch mehr Armbrüste, mehr Kanonen, mehr Katapulte. Wir können es uns nicht leisten, hundert Mann an den Tod zu verlieren und vierhundert zu Krüppeln werden zu lassen. Wir sind hierhergekommen, um Frankreich zu erobern, nicht um in diesem verdreckten Scheißloch zu krepieren.»Er stieß mit dem Fuß einen Stein weg und starrte dann auf die See hinaus. Sechs englische Schiffe ankerten am Eingang des Hafens. «Wenn ich den Befehl über die Garnison von Harfleur hätte», sagte er trübsinnig, «dann wüsste ich genau, was ich tun würde.»

«Und was wäre das?»

«Angreifen», sagte Sir John. «Auf uns eindreschen, während wir ohnehin schon fast am Boden sind. Wir reden immer von Ritterlichkeit, Hook, und wir sind auch ritterlich. Wir kämpfen ja so artig! Aber weißt du, wie man eine Schlacht gewinnt?»

«Mit einem schmutzigen Kampf, Sir John.»

«Ja, mit einem schmutzigen, schäbigen Kampf, Hook. Man muss kämpfen wie von wilden Furien besessen und die ganze Ritterlichkeit zum Teufel fahrenlassen. Er ist kein Narr.»

«Der Teufel?»

Sir John schüttelte den Kopf. «Nein, Raoul de Gaucourt. Er hat den Befehl über die Garnison.»Sir John nickte in Richtung Harfleur. «Er ist ein Edelmann, Hook, aber er ist auch ein Kämpfer. Und er ist kein Narr. Und wenn ich Raoul de Gaucourt wäre, würde ich mich genau jetzt auf uns stürzen.»

Und ebendas tat Raoul de Gaucourt am nächsten Tag.


*

***

*****

***

*


Wach auf, Nick!»Thomas Evelgold brüllte nach ihm. Der Centenar rüttelte so stark an Hooks Unterstand, dass totes Laub und Moos auf Hook und Melisande rieselten. «Gottverflucht, wach endlich auf!», brüllte Evelgold wieder.

Hook öffnete die Augen. Es war noch dunkel. «Tom?», rief er, doch Evelgold war schon weitergegangen, um die anderen Bogenschützen zu wecken.

Eine zweite Stimme rief die Männer zur Versammlung. «Rüstung! Bewaffnung! Schnell! Sofort! Gottverdammt, ich will euch alle jetzt sofort hier haben!»

«Was ist?», fragte Melisande.

«Weiß nicht», sagte Hook. Er tastete nach seinem Kettenhemd. Der Gestank des Lederfutters war überwältigend, als er es über den Kopf zog. Er zerrte das unhandliche Hemd vor seiner Brust herunter. «Wo ist mein Schwertgürtel?»

«Hier.»Melisande hatte sich hingekniet. Die Lagerfeuer waren wieder entfacht worden, und ihre Flammen spiegelten sich in Melisandes weit aufgerissenen Augen.

Hook legte den Wappenrock mit dem Sankt-Georgs-Kreuz an, dem Wappen, das jeder Mann der Belagerungstruppe tragen musste. Dann zog er seine Stiefel an, diese einstmals guten Stiefel, die er sich in Soissons gekauft hatte, deren Nähte sich nun aber aufzulösen begannen. Er schloss den Gürtel, ließ den Bogen aus der Hülle gleiten und griff nach einer Pfeiltasche. An die Kampfaxt hatte er einen langen Lederstreifen geknotet, an dem er sie nun über seine Schulter hängte. Dann duckte er sich in die Nacht hinaus. «Ich komme zurück», rief er Melisande zu.

«Casque!», rief sie hinter ihm her. «Casque!»Er drehte noch einmal um und ließ sich von ihr den Helm reichen. Mit einem Mal hatte er das Bedürfnis, ihr zu sagen, dass er sie liebte, doch Melisande war schon wieder im Unterstand verschwunden, und so sagte Hook nichts. Er spürte, dass die Nacht kurz vor ihrem Ende stand. Die Sterne waren blass, und das bedeutete, dass die Dämmerung bald den Himmel über der widerspenstigen Stadt hell färben würde. Vor ihm herrschte Aufruhr. Die Flammen in den Belagerungsanlagen schlugen hoch und warfen groteske Schatten auf das aufgewühlte Erdreich.

«Kommt zu mir! Kommt zu mir!», rief Sir John neben dem größten Lagerfeuer. Die Bogenschützen waren sofort bei ihm, während die Feldkämpfer, die mehr Zeit brauchten, um ihre Panzerrüstungen anzuschnallen, etwas später kamen. Sir John hatte sich entschlossen, auf seine kostspielige Panzerrüstung zu verzichten, und war ebenso wie die Bogenschützen in Kettenhemd und Polsterwams gekleidet. «Evelgold! Hook! Magot! Candeler! Brutte!», rief Sir John. Walter Magot, Piers Candeler und Thomas Brutte waren die drei anderen Ventenare.

«Hier, Sir John!», meldete Evelgold.

«Die Bastarde haben einen Ausfall gemacht», sagte Sir John ernst. Das erklärte die Rufe und das Geräusch sich kreuzender Stahlklingen an den vorderen Gräben. Harfleurs Garnison hatte einen Ausbruch gewagt, um die Sau und die Kanonengruben anzugreifen. «Wir müssen die Bastarde töten», sagte Sir John. «Wir greifen gleich in Richtung Sau an. Jedenfalls ein Teil von uns. Du nicht, Hook. Du weißt, wo die Savage steht?»

«Ja, Sir John», sagte Hook und rückte die Schließe seines Schwertgürtels zurecht. Die Savage war ein Katapult, ein großes hölzernes Monstrum, mit dem Steine auf Harfleur geschleudert wurden, und sie stand am rechten Ende der englischen Linie als letztes der Belagerungsgeräte dicht am Meer.

«Bring deine Männer dorthin», sagte Sir John, «und dann arbeitest du dich zur Sau vor. Verstanden?»

«Ja, Sir John», sagte Hook erneut. Er bespannte den Bogen, indem er ein Ende auf dem Boden abstützte, sodass er die Sehnenschlinge über die obere Kerbe ziehen konnte.

«Dann geh! Geh jetzt!», knurrte Sir John. «Und töte die Bastarde.»Er wandte sich um. «Wo ist mein Banner? Ich will mein Banner! Bringt mir sofort mein gottverdammtes Banner!»

Hook führte sechzehn Männer. Es hätten dreiundzwanzig sein sollen, doch sieben waren krank oder tot. Er fragte sich, wie sich siebzehn Männer durch Gräben und Kanonengruben kämpfen sollten, wenn der Feind zum Angriff aus dem Leure-Tor schwärmte. Es war offensichtlich, dass die Franzosen schon lange Abschnitte der Belagerungsanlage besetzt hatten, denn während Hook seine Männer in südliche Richtung führte, sah er noch mehr Feuer in den englischen Kanonengruben auflodern, vor denen Männer wie schwarze Umrisse umherhasteten. Gruppen von Feldkämpfern und Bognern kreuzten Hooks Weg, alle liefen in Richtung des Kampfes. Hook hörte das Klirren von Schwertern.

«Was machen wir, Nick?», fragte Will of the Dale.

«Du hast gehört, was Sir John gesagt hat: Fangt an der Sa-vage an und arbeitet euch heran», sagte Hook. Er war überrascht, wie selbstbewusst er klang. Sir Johns Befehle waren unklar gewesen und hastig erteilt worden, und Hook hatte einfach gehorcht, indem er seine Männer zur Savage führte, doch erst jetzt überlegte er, was von ihm erwartet wurde. Sir John sammelte seine Feldkämpfer und hatte die meisten Bogenschützen bei sich behalten. Vermutlich wollte er bei der Sau angreifen, die dem Feind in die Hände gefallen zu sein schien, doch warum hatte er Hook allein losgeschickt? Weil, beschloss Hook, Sir John Flankendeckung brauchte. Sir John und seine Männer waren die Treiber, und sie würden Hook die Beute geradewegs vor die Bögen hetzen, sodass sie nur noch schießen mussten. Als Hook die Einfachheit dieses Plans aufging, erfüllte ihn Stolz. Sir John hätte seinen Centenar Tom Evelgold schicken können oder einen der anderen Ventenare, die alle älter und erfahrener waren, doch Sir John hatte ihn ausgewählt.

Bei der Savage brannten Feuer, aber sie waren nicht von den Franzosen entzündet worden. Es waren die Lagerfeuer der Männer, die zur Bewachung der Katapult-Grube abgestellt waren. Die Flammen beleuchteten das hoch aufragende, unheimliche Balkenwerk der enormen Maschine. Ein Dutzend Bogenschützen, die über Nacht zum Wachdienst eingeteilt waren, hielten ihre Bögen zum Schießen bereit, und als sie Männer über die Schräge in die Grube kommen sahen, richteten sie ihre Bögen auf Hook. «Sankt Georg!», rief Hook. «Sankt Georg!»

Die Bögen wurden gesenkt. Die Wächter waren unruhig. «Was geht vor ?», fragte einer von ihnen.

«Die Franzosen haben einen Ausfall gemacht.»

«Ich weiß, aber was geht genau vor ?»

«Das weiß ich nicht!», schnauzte Hook und drehte sich weg, um seine Männer zu zählen. Er tat es auf Bauernart, wie ein Schäfer, der seine Herde zählte, genau wie sein Vater es ihm beigebracht hatte. Yain, tain, eddero, zählte er und kam zu bumfit, was fünfzehn bedeutete, also sah er nach dem fehlenden Mann, hatte jedoch zwei vor sich. Tain-o-bumfit? Dann fiel ihm auf, dass der siebzehnte Mann sehr klein und schlank war und eine zierliche Armbrust trug. «Zum Teufel, geh zurück, geh wieder zurück!», rief er. Und dann vergaß er Melisande wieder, weil Tom Scarlet eine Warnung brüllte. Hook fuhr herum und sah eine Gruppe Männer durch den breiten Graben in Richtung der Savage rennen, der sich von der nächsten Kanonengrube aus zu dem Katapult wand. Einige der herankommenden Männer hatten Fackeln bei sich, die einen Funkenschleier hinter sich herzogen, und die hellen Flammen spiegelten sich in Helmen, Schwertern und Äxten.

«Keine Kreuze!», rief Tom Scarlet warnend und meinte damit, dass keiner der Männer im Graben das Sankt-Georgs-Kreuz trug. Es waren Franzosen, und als sie die Bogenschützen im Licht der Lagerfeuer in der Savage-Grube vor sich sahen, begannen sie herausfordernd zu brüllen. «Sankt Denis! Harfleur!»

«Bögen!», schrie Hook, und seine Männer fächerten sich zu einer Linie auf. «Tötet sie!», rief er.

Die Entfernung war kurz, weniger als fünfzig Schritt, und die Angreifer hatten sich zu leichten Zielen gemacht, indem sie durch den Graben liefen, dessen Wände sie nun einengten. Die ersten Pfeile bohrten sich in sie, und der dumpfe Ton, mit dem die Breitköpfe auftrafen, brachte die Rufe des Feindes augenblicklich zum Verklingen. Das Geräusch der Bögen war scharf, jedes Freigeben der Sehne wurde von einem kurzen Flattern gefolgt, wenn die Federn durch die Luft sirrten. Die Federn schnellten als weißes Zucken durch die Dunkelheit, das abrupt gestoppt wurde, wenn die Pfeile auftrafen. Hook erschien es so, als habe sich die Zeit verlangsamt. Er zog Pfeile aus seiner Tasche, legte sie über den Bogenschaft, hob den Bogen, spannte die Sehne, gab sie frei, und er empfand keine Erregung, keine Angst und kein Hochgefühl. Schon bevor er einen Pfeil auch nur aus der Tasche zog, wusste er genau, wohin er fliegen würde. Er zielte auf die Bäuche der heranstürmenden Männer und sah sie im Licht der Flammen taumeln und fallen, wenn seine Pfeile sie trafen.

Es war, als seien die Franzosen gegen eine Steinmauer gerannt. Der Graben war breit genug für etwa sechs Männer, und alle Angreifer aus der ersten Linie waren von Pfeilen getroffen zu Boden gegangen, sodass die Männer hinter ihnen über sie stolperten und ebenfalls getroffen wurden. Einige Pfeile glitten an Plattenrüstungen ab, doch andere bohrten sich durch das Metall, und auch wenn ein Pfeil die Rüstung nicht durchbohrte, hatte er ausreichend Kraft, um den Mann rückwärtsstraucheln zu lassen. Wenn der Feind seine Linie hätte auseinanderziehen können, wäre es ihm vielleicht möglich gewesen, bis zur Savage vorzudringen, doch die Franzosen wurden von den Grabenwänden eingeengt, die gefiederten Breitköpfe schnellten aus der Dunkelheit auf sie zu, und deshalb machte die Angriffstruppe kehrt und ließ eine verschlungene Masse aus Körpern hinter sich, von denen sich manche noch rührten. «Denton! Furnays! Cobbold!», rief Hook. «Sorgt dafür, dass diese Bastarde auch wirklich tot sind. Der Rest kommt mir nach!»

Die drei Männer sprangen in den Graben hinunter, zogen ihre Schwerter und näherten sich den verwundeten Feinden. Hook indessen ging mit schussbereitem Bogen oben am Rand des Grabens weiter. In einiger Entfernung sah er Männer bei der Sau und in der breiten Grube, in der die größte Kanone, die «Königstochter», eingegraben war. Helle Flammen loderten neben ihr empor, doch darum hatte sich Hook nicht zu kümmern. Er hatte Sir Johns Flanke zu schützen.

Der Boden war uneben, aufgewühlt vom Graben und von den Einschlägen französischer Geschosse. Die Felsbrocken, die mit den großen Katapulten von Harfleur aus geschleudert worden waren, lagen im Weg, ebenso wie die Trümmer der Häuser, die zu Beginn der Belagerung niedergebrannt worden waren. Inzwischen kroch das schwache Licht der Dämmerung über den Horizont im Osten, sodass die Hindernisse leichte Schatten warfen. Ein Armbrustbolzen zischte an Hooks Kopf vorbei, und er ahnte, dass er aus der nächstgelegenen Kanonengrube gekommen war, wo die Kanone namens «Erlöser»aufgebaut worden war. «Will! Sorg dafür, dass diese Bastarde beschäftigt sind!»

«Welche Bastarde?»

«Die den gestürmt haben!», sagte Hook. Er packte Will of the Dale am Arm und drehte ihn in Richtung Kanonengrube, die als schwarzer Schatten zwanzig Schritt jenseits des Grabens lag. Sie war vor den Springarden und Kanonen aus Harfleur mit einem der ausgeklügelten, hoch in die Dunkelheit ragenden Holzschirme geschützt worden, doch der kippbare Schirm hatte die Feinde nicht daran gehindert, die Kanone zu erobern. «Schieß so viele Pfeile in die Grube wie möglich», sagte Hook zu Will, «aber hör auf zu schießen, wenn wir die Grube erreicht haben.»Im Weitergehen schob Hook sechs Männer in Wills Richtung. «Ihr gehorcht Will», erklärte er ihnen, «und du passt auf Melisande auf», fügte er, an Will gewandt, hinzu, denn sie war immer noch bei der Gruppe. «Alle anderen mir nach.»

Ein weiterer Armbrustbolzen sirrte ganz nahe vorbei, doch Hook und seine Männer bewegten sich jetzt sehr schnell. Will of the Dale und sein halbes Dutzend Männer rückten ostwärts vor, um ihre Pfeile von der ungedeckten Rückseite aus in die Grube zu schießen, während Hook zur Flanke des «Erlösers»rannte. Er sprang in den breiten Graben hinunter und wartete, bis seine sechs Leute an seiner Seite angekommen waren. «Ab jetzt keine Pfeile mehr», erklärte er ihnen.

«Keine Pfeile? Wir sind Bogenschützen!», knurrte Will Sclate. Will Sclate knurrte immer nur. Er war nicht sehr beliebt; zu mürrisch, um eine angenehme Gesellschaft zu sein, und zu langsam im Kopf, um sich an dem unaufhörlichen Geschwatze der Bogenschützen zu beteiligen Aber er war groß und besaß enorme Kraft. Er war auf einem von Sir Johns Anwesen aufgewachsen, ein Tagelöhnersohn, dem es beschieden war, sein Leben lang auf den Feldern zu arbeiten, doch Sir John hatte gesehen, wie stark der Junge war, und darauf bestanden, dass er am Langbogen ausgebildet wurde. Jetzt, als Bogenschütze, verdiente er mehr als jeder Tagelöhner, doch er war so zäh und widerspenstig wie die lehmige Erde, die er früher mit Haue und Grabstock bearbeitet hatte.

«Du bist Soldat», schnauzte Hook ihn an, «und du wirst die Handwaffen benutzen.»

«Was werden wir tun?», fragte Geoffrey Horrocks. Er war der jüngste unter Sir Johns Bogenschützen, erst siebzehn, und der Sohn eines Falkners.

«Wir werden diese Bastarde töten», sagte Hook. Er hängte sich den Bogen über die Schulter und nahm die Kampfaxt in die Hand. «Und wir rücken so schnell wie möglich vor! Mir nach! Jetzt!»

Er kletterte die Schräge des Grabens hinauf und über die Reste der mit Erde gefüllten Weidenkörbe, die als Brustwehr des Grabens gedient hatten. Er sah die hellen Flammen in der Grube des «Erlösers»und hörte zu seiner Linken das scharfe, dünne Sirren, mit dem die Männer Will of the Dales von dem steinernen Stumpf eines eingestürzten Kamins aus die Bogensehnen freigaben. Ein Schrei hallte aus der Grube, dann noch einer, und dann hörte man ein kreischendes Geräusch, als eine Pfeilspitze an der Kanonenflanke entlangschrammte. In einer Minute konnten sie mit Leichtigkeit sechzig oder siebzig Pfeile abschießen. Diese Pfeile zuckten durch das Halbdunkel, sodass die Franzosen in Deckung gehen mussten.

Hook und seine Männer näherten sich von der Flanke aus. Die Franzosen sahen sie nicht kommen, weil ein zischender Pfeilregen auf sie niederging und sie niederkauerten und die wenigen Deckungsmöglichkeiten nutzten, die in der Grube vorhanden waren. Der schwere hölzerne Schirm bot gegen Angriffe von Harfleur aus hervorragenden Schutz, doch die Grube war nie dazu angelegt worden, Männer gegen Angriffe von hinten zu schützen, von wo aus jetzt Will seine Pfeile abschoss. Dann sprang Hook über die Brustwehr an der Seite der Grube und betete dabei, dass der Pfeilbeschuss aufhören möge.

Und er musste aufgehört haben, denn keiner seiner Männer wurde von einem Pfeil getroffen, als sie ihm hinterhersprangen. Die Bogenschützen brüllten, und sie brüllten immer noch, als sie mit dem Töten begannen. Er schwang die Kampfaxt und ließ die mit Blei beschwerte Hammerseite auf den Helm eines am Boden kauernden Franzosen niederfahren. Hook spürte mehr, als dass er es sah, wie das Metall unter dem schweren Hieb nachgab und sich in den Schädel und das Hirn des Mannes drückte. Ein Mann griff ihn von rechts an, doch Sclate trieb ihn mit spöttischer Leichtigkeit zurück, während Hook der Länge nach auf der anderen Seite der Kanone landete. Er war über das Rohr des «Erlösers»gesprungen.

Er schlug sehr hart auf, und eisige Angst schoss ihm durch die Adern. Auf dem Boden liegend, konnte er sich sehr schlecht gegen einen Angriff wehren. Er betete, dass er bei dem Sprung seinen Bogen nicht beschädigt hatte, der über seinem Rücken hing. Später, als er an den Kampf zurückdachte, wurde ihm klar, dass er gleichzeitig ein Hochgefühl empfunden hatte. In der Erinnerung verschwamm alles zu einem Durcheinander aus schreienden Männern, blitzenden Klingen und hell klingendem Metall, doch in diesem wirbelnden Rausch aus Eindrücken hatte er sich vollkommen kaltblütig gefühlt. Hook war wieder auf die Füße gekommen. Dann hatte er vorne in der Grube einen Feldkämpfer gesehen. Der Mann trug eine Panzerrüstung, die halb von einem Wappenrock verdeckt war, auf dem eine brennende Lanze ein rotes Herz durchbohrte. Er hielt ein Schwert in der Hand. Sein Visier war hochgeklappt, und in seinen Augen spiegelten sich klein die Flammen der zu Boden gefallenen Fackeln. Hook erkannte Angst in diesen Augen, doch diese Angst flößte ihm kein Mitleid ein. Töte oder werde getötet, sagte Sir John immer, also rannte Hook, die Kampfaxt mit beiden Händen haltend, auf den Mann zu, achtete nicht auf die schwache Abwehrbewegung des Schwertes und rammte ihm den Spitzdorn der Axt in die Magengrube. Er schrammte kreischend über die Unterkante des Brustpanzers und den Plattenschurz, diese beweglichen, auf Leder genähten Metallstreifen, die einen Schwerthieb in den Unterbauch verhindern sollten. Doch kein Plattenschurz hatte gegen den wuchtigen Hieb einer Kampfaxt Bestand, und Hook sah das Entsetzen in den weit aufgerissenen Augen des Mannes und seinem vor Schrecken offenstehenden Mund, als die Spitze der Axt durch Stahl, Leder, Kettenhemd, Tuch, Haut, Muskeln, Eingeweide und schließlich in das Rückgrat des Mannes fuhr. Der Franzose gab einen leise klagenden Laut von sich, und Hook brüllte, als sein Stoß den Gegner an die Stirnseite der Kanonengrube zurückwarf. Hook zog die Kampfaxt zurück, und der zuckende Mann wurde mitgezogen, weil sich seine Eingeweide im Axtkopf verfangen hatten. Hook stellte seinen Fuß in das Gemenge aus Blut und Metall, stützte sich mit dem anderen Bein ab und zerrte, bis die Axt frei war. Erneut stieß er zu, doch der Mann brach schon zusammen. Hook fuhr herum, bereit, sich gegen den nächsten Feind zu stellen, aber der Kampf war vorüber. Es waren nur acht Männer in der Grube gewesen. Sie mussten zu der größeren französischen Angriffstruppe gehört haben, die gegen die Savage vorrückte, und als diese Truppe von den Pfeilen zurückgedrängt worden war, hatte man die acht vergessen. Sie hatten die Aufgabe gehabt, die Kanone zu zerstören, und es mit einer riesigen Axt versucht, die nun verloren neben der Winde lag, mit deren Hilfe der Schutzschirm um seine klobige Achse gekippt wurde. Es war ihnen gelungen, die Winde zu zerhacken, doch nun waren alle bis auf einen tot.

«Man kann doch mit einer Axt nichts gegen eine Kanone ausrichten!», sagte Tom Scarlet verächtlich. Der überlebende Franzose stöhnte.

«Jemand verletzt?», fragte Hook.

«Ich habe mir den Knöchel verrenkt», sagte Horrocks. Er humpelte, und in seinen Augen stand Verwunderung oder Angst.

«Das wird wieder», sagte Hook kurz angebunden. «Sind alle da?»Seine Männer waren vollständig, und Will of the Dale rannte mit Melisande und seinen sechs Bogenschützen am Graben entlang. Der verwundete Franzose wimmerte und zog die Beine an den Körper. Er hatte bis auf ein gepolstertes Kettenhemd keine Rüstung getragen, und Will Sclate hatte ihm die Axt tief in den Brustkorb gerammt, sodass die Leinenpolsterung des Kettenhemdes herausgequollen war und sich mit Blut vollgesogen hatte. Hook warf einen Blick auf die Masse aus Lunge und gesplitterten Rippenknochen. Blut lief Blasen werfend aus dem Mund des Mannes, wenn er stöhnte. «Erlöst ihn von diesem Elend», verlangte Hook, doch seine Bogenschützen starrten ihn einfach nur an. «Also gut», sagte Hook. Er stieg über einen Leichnam hinweg, stellte die Spitze der Kampfaxt auf die Kehle des Verwundeten, stieß einmal zu und erledigte die Aufgabe damit selbst.

Will of the Dale starrte auf das Blutbad in der Grube hinunter. «Das war das letzte Mal, dass diese dummen Bastarde so etwas versucht haben!», sagte er. Er wollte unbeschwert klingen, indem er Sir John nachahmte, doch ein schriller Ton schwang in seiner Stimme mit, und in seinen Augen flackerte das Grauen.

Melisande stand dicht hinter Will. Schweigend betrachtete sie den toten Franzosen, der neben Hooks tropfender Kampfaxt lag. Dann hob sie den Blick und sah ihn an. «Du solltest nicht hier sein», sagte er schroff.

«Ich kann nicht im Lager bleiben», sagte sie. «Dieser Priester könnte kommen.»

«Wir passen auf sie auf», sagte Will of the Dale, die Stimme immer noch verzerrt. Er trat einen Schritt vor und hob eine der zu Boden gefallenen Fackeln auf, auch wenn inzwischen genügend Tageslicht von Osten kam, um die Fackeln überflüssig zu machen. «Seht euch an, was sie getan haben», sagte er.

Die Franzosen hatten mit ihrer großen Axt die ringförmigen Eisenbänder durchgehackt, die um das Rohr des «Erlösers»gelaufen waren. Hook hatte diesen Schaden noch nicht wahrgenommen, doch nun sah er, dass zwei der Metallringe glatt durchgehauen worden waren, was bedeutete, dass die Kanone vermutlich nicht mehr zu gebrauchen war. Wenn sie abgefeuert würde, würde sich das Rohr ausdehnen, bersten und jeden Mann in der Grube töten. «Durchsucht die Bastarde», befahl er seinen Leuten. Drei Bogenschützen hatten schon die anderen französischen Opfer nach Beute durchsucht und Silberketten, Münzen, Broschen und einen Dolch mit juwelenbesetztem Griff gefunden. Die Kostbarkeiten waren in einer Pfeiltasche gesammelt worden, und nun kamen weitere Reichtümer hinzu. «Wir teilen es später auf», verkündete Hook. «Und jetzt los, raus hier! Bogen!»

Sein Bogen war bei dem Sturz nicht beschädigt worden. Er nahm ihn in die Linke, hängte sich die Kampfaxt über die Schulter und legte einen Pfeil über den Bogenschaft. Dann stieg er aus der Grube und blickte in einen grauen Morgenhimmel, über den schwarze Rauchwolken zogen.

Vor ihm wütete rund um die Sau und die Grube mit der «Königstochter»der Kampf. Die Franzosen hatten beides erobert, doch immer mehr Engländer waren aus dem Lager geströmt. Inzwischen übertraf ihre Zahl den französischen Stoßtrupp bei weitem, und sie drängten ihn unerbittlich zurück. Dann wurden Trompeten geblasen, das Zeichen für die Franzosen, den Kampf abzubrechen und sich nach Harfleur zurückzuziehen. Flammen leckten an den schweren Balken der Sau und an dem schwenkbaren Schutzschirm der Kanone. Feldkämpfer hackten aufeinander ein, ihre Klingen blitzten im Licht, während sie zustießen. Hook suchte nach Sir Johns Banner mit dem aufsteigenden Löwen und entdeckte es zu seiner Linken. Sir Johns Männer kämpften im Hauptgraben und trieben eine große Gruppe Franzosen zurück, die jetzt den linken Flügel der Angreifer bildete. «Bogen!», rief Hook.

Er zog die Sehne bis zu seinem rechten Ohr zurück. Die Franzosen hatten schon den Befehl zum Rückzug in die Stadt erhalten, doch sie wagten sich nicht umzudrehen, weil sie die englischen Verfolger fürchteten. Also kämpften sie unablässig, um Sir Johns Männer in den Graben zurückzutreiben. Sie waren halb von Hook abgewandt und ahnten nicht, dass er ihre Flanke bedrohte. «Zielt genau», rief Hook. Dann gab er die Sehne frei und zog die nächste Ahlspitze aus der Tasche. Die Sehne für diesen Pfeil war erst halb gespannt, als der erste schon in den Rücken eines Feindes fuhr. Hook zog die Sehne wieder ganz zurück, sah, wie sich ein Franzose nach ihnen umsah, gab die Sehne frei, und der Pfeil traf den Mann im Gesicht. Und dann war der Feind plötzlich in Bewegung. Der unerwartete Angriff von der Flanke aus schlug die Männer in die Flucht.

Ein Armbrustbolzen zuckte an Hook vorbei. Ein Springarden-Bolzen, viel größer, ließ Erde emporspritzen, und zugleich feuerte eine Kanone aus Harfleur. Der Stein schlug kurz hinter den Bogenschützen ein, und immer mehr Bolzen zischten durch die rauchgeschwängerte Luft. Die Armbrustbolzen machten ein flatterndes Geräusch. Hook vermutete, dass ihre lederne Befiederung zerdrückt war, vielleicht waren sie schlecht gelagert gewesen. Mit den Bolzen konnte der Feind also nicht genau zielen, aber sie waren dennoch gefährlich nahe. Hook sah zur Barbakane hinüber und entdeckte Armbrustschützen, die von ihrer Brustwehr aus auf sie zielten. Er drehte sich um, schoss einen Pfeil in ihre Richtung und rief seinen Männern zu: «Aufhören zu schießen! Geht zum Graben!»

Die Franzosen zogen sich jetzt eilig zurück, doch sie hatten ihr Ziel erreicht: Die Belagerungsanlagen waren beschädigt. Drei der Kanonen einschließlich der «Königstochter»würden nie mehr feuern, und die gesamte Grabenlinie entlang waren Brustwehre niedergerissen und Männer getötet worden. Und jetzt verhöhnten die Verteidiger von den zertrümmerten Mauern aus die Engländer, während der zurückkehrende Stoßtrupp den tiefen Wassergraben vor der eingebrochenen Barbakane hinter sich brachte. Noch immer wurden die Franzosen mit Pfeilen beschossen, und einige Männer rutschten tödlich getroffen in den Graben, doch der Ausfall war erfolgreich gewesen. An der englischen Belagerungsanlage brannte es.

«Bastarde», knurrte Sir John wiederholt. «Sie haben uns im Schlaf überrascht, die Bastarde!»

«Der Savage konnten sie nichts anhaben», berichtete Hook ungerührt, «aber der ist zerstört.»

«Wir kriegen sie, die gottverdammten Bastarde!», presste Sir John zwischen den Zähnen hervor.

«Und keiner von uns wurde verletzt», fügte Hook hinzu.

«Aber wir werden sie noch verletzen, bei Gott, das werden wir», schwor Sir John. Seine Miene war wutverzerrt. Es reichte schon aus, dass die Belagerung nicht weiterkam, und nun hatte der Feind den englischen Hoffnungen auch noch einen weiteren schweren Schlag versetzt. Sir John überlief ein Schauer, als ein feindlicher Feldkämpfer, der gefangen genommen worden war, durch den Graben geführt wurde. Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle er seinen Zorn auf diesem Unglückseligen entladen, doch dann entdeckte er Melisande und ließ seine Unzufriedenheit an ihr aus. «Was zum Teufel hat sie hier zu suchen?», wollte er von Hook wissen. «Bei Gott, bist du denn von Sinnen? Kannst du es nicht eine einzige Minute ohne deine Frau aushalten?»

«Nick ist nicht schuld!», rief Melisande trotzig aus. Sie hielt immer noch die Armbrust, auch wenn sie nicht damit geschossen hatte. «Nick ist nicht schuld», wiederholte sie, «er hat mir sogar gesagt, dass ich weggehen soll.»

Sir Johns Galanterie gegenüber Frauen war stärker als sein Ärger. Er knurrte etwas, das man für eine Entschuldigung halten konnte, und dann erklärte Melisande ihr Verhalten in schnellem Französisch. Sie deutete zum Lager hinüber, und während sie sprach, flammte in Sir Johns Miene neuer Zorn auf. Er wandte sich an Hook. «Warum hast du mir nichts davon gesagt?»

«Was gesagt, Sir John?»

«Dass ein gewisser Schweinepriester sie bedroht hat!»

«Ich schlage meine eigenen Schlachten», sagte Hook mürrisch.

«Nein!»Sir John ließ seine behandschuhte Hand auf Hooks Schulter niederfahren. «Du schlägst meine Schlachten, Hook.»Ein weiterer Hieb auf Hooks Schulter. «Dafür bezahle ich dich. Aber wenn du meine schlägst, dann schlage ich deine, verstehst du? Wir sind eine Kompanie!»Sir John brüllte die letzten vier Worte so laut, dass sich die Männer noch fünfzig Schritt den Graben hinunter nach ihm umdrehten. «Wir sind eine Kompanie! Keiner bedroht einen von uns, ohne zugleich uns alle zu bedrohen! Eure Mädchen sollen in der gesamten Armee nackt herumlaufen können, ohne dass es auch nur ein Mann wagt, sie anzurühren, weil sie nämlich zu uns gehören! Sie gehören zu unserer Kompanie! Bei Gott, dafür bringe ich diesen frömmlerischen Bastard um! Ich reiße ihm das Rückgrat durch seinen gottverdammten Hals aus dem Körper und verfüttere seinen ausgetrockneten Schwanz an die Hunde! Keiner bedroht uns! Keiner!»

Sir John, dessen eigentliche Feinde sicher hinter ihren rauchverhüllten Festungsanlagen saßen, suchte Streit. Und gerade hatte ihm Hook einen Anlass geliefert.

Hook sah zu, wie Melisande Pater Christopher mit Honig fütterte. Der Priester saß an ein Fass mit Räucherhering gelehnt, das aus England gekommen war. Sein Gesicht war blass und ausgezehrt, er war dünn wie ein Gerippe und schwach wie ein frischgeschlüpfter Vogel, aber er lebte.

«Cobbett ist tot», sagte Hook, «und Robert Fletcher.»

«Der arme Robert», sagte Pater Christopher, «wie geht es seinem Bruder?»

«Lebt noch», sagte Hook, «aber die Krankheit hat er auch.»

«Sind noch andere gestorben?»

«Pearson ist tot, Hull auch, und Borrow und John Taylor.»

«Gott sei ihnen allen gnädig», sagte der Priester und bekreuzigte sich. «Und bei den Feldkämpfern?»

«John Gaffney, Peter Dance, Sir Thomas Peters», zählte Hook auf, «alle tot.»

«Gott hat Seinen Blick von uns abgewandt», sagte Pater Christopher niedergeschlagen. «Spricht dein Heiliger immer noch zu dir?»

«Im Augenblick nicht», gab Hook zu.

Pater Christopher seufzte. Einen Moment lang schloss er die Augen. «Wir haben gesündigt», sagte er grimmig.

«Uns wurde gesagt, Gott sei auf unserer Seite», erwiderte Hook eigensinnig.

«Das haben wir auch geglaubt», sagte der Priester, «wir alle haben es geglaubt, und mit dieser Überzeugung im Herzen sind wir ausgezogen. Und nun offenbart sich Gott. Wir hätten nicht hierherkommen sollen.»

«Wirklich, das hättet Ihr nicht», sagte Melisande nachdrücklich.

«Harfleur wird fallen», beharrte Hook.

«Das wird es wahrscheinlich», räumte Pater Christopher ein und hielt inne, während ihm Melisande einen Tropfen Honig vom Kinn wischte. «Wenn die Franzosen nicht noch zu seiner Befreiung kommen, ja, dann wird es schließlich fallen. Und was dann? Wie viel ist von unserer Armee noch übrig?»

«Genug», sagte Hook.

Pater Christopher lächelte matt. «Genug wofür? Um auf Rouen zu marschieren und die nächste Belagerung anzufangen? Oder um Paris einzunehmen? Wir würden uns kaum selbst verteidigen können, falls die Franzosen mit einer Entsetzungstruppe hier auftauchten. Also, was werden wir tun? Wir ziehen in Harfleur ein, bauen seine Stadtmauer wieder auf, und anschließend segeln wir nach Hause. Wir sind gescheitert, Hook. Wir sind gescheitert.»

Hook schwieg. Eine der übriggebliebenen englischen Kanonen feuerte, und das Geräusch klang schwach durch die warme Luft. Irgendwo im Lager sang ein Mann. «Wir können nicht einfach nach Hause gehen», sagte er nach einer Weile.

«Doch, das können wir», erwiderte Pater Christopher, «und sehr wahrscheinlich werden wir auch genau das tun. All das viele Geld für nichts! Für Harfleur vielleicht. Und was wird es uns noch kosten, diese Mauern wieder aufzurichten?»Er zuckte mit den Schultern.

«Vielleicht sollten wir die Belagerung aufgeben», schlug Hook missmutig vor.

Der Priester schüttelte den Kopf. «Das wird Henry niemals tun. Er muss gewinnen! Auf diese Weise kann er beweisen, dass er in Gottes Huld steht, und davon abgesehen würde es ihm als Schwäche ausgelegt, wenn er die Belagerung aufgäbe.»Er schwieg einen Moment lang und fuhr dann stirnrunzelnd fort: «Sein Vater hat den Thron mit Gewalt an sich gebracht, und Henry fürchtet, dass andere das Gleiche tun könnten, falls er die geringste Schwäche zeigt.»

«Esst, redet nicht», sagte Melisande nachdrücklich.

«Ich habe genügend gegessen, meine Liebe», sagte Pater Christopher.

«Ihr solltet noch etwas mehr essen.»

«Das werde ich. Heute Abend. Merci.»«Gott verschont Euch, Pater», sagte Hook.

«Vielleicht will Er mich nicht im Himmel haben», vermutete Pater Christopher mit einem schwachen Lächeln, «oder vielleicht gibt Er mir Zeit, um ein besserer Priester zu werden.»

«Ihr seid ein guter Priester», sagte Hook flammend.

«Das werde ich Sankt Petrus sagen, wenn er mich fragt, ob ich es verdiene, in den Himmel zu kommen. Frag Nick Hook, werde ich sagen. Und Sankt Petrus wird mich fragen: Wer ist Nick Hook? Oh, werde ich antworten, er ist ein Dieb, ein Gauner und wahrscheinlich auch ein Mörder, aber frag ihn trotzdem.»

Hook grinste. «Ich bin jetzt ehrlich, Pater.»

«Du bist nicht fern vom Reiche Gottes, Hook, aber lasst uns hoffen, dass es noch viele lange Tage dauert, bis wir uns dort begegnen. Wenigstens wird uns dort die Gesellschaft Sir Martins erspart bleiben.»

Melisande schnaubte. «Er ist ein Feigling. Un poltron!»«Die meisten Männer werden zu Feiglingen, wenn sie Sir John begegnen», sagte Pater Christopher milde.

«Er hat sich nicht verteidigt!», sagte Melisande.

Sir John war zu den Unterständen von Lord Slaytons Männern gegangen. Er hatte Hook und Melisande mitgenommen und durchs Lager gebrüllt, dass jeder Mann, der Hook umbringen wolle, es hier und jetzt tun könne. «Kommt und nehmt euch seine Frau», hatte Sir John gerufen. «Wer von euch will sie?»

Lord Slaytons Bogenschützen, seine Feldkämpfer und seine anderen Gefolgsleute waren gerade dabei, ihre Rüstungen zu säubern, das Essen vorzubereiten oder sich einfach nur auszuruhen, doch nun wandten sich alle Sir John zu, um nichts zu verpassen. Sie beobachteten ihn schweigend.

«Los kommt, holt sie euch!», hatte Sir John gerufen. «Sie gehört euch! Ihr könnt euch abwechseln wie die Köter an einer Hündin! Macht schon! Sie ist hübsch! Wollt ihr euch mit ihr vergnügen? Sie gehört euch!»Er hatte gewartet, doch keiner von Lord Slaytons Männern hatte sich gerührt. Dann hatte Sir John auf Hook gedeutet. «Ihr könnt sie alle haben! Aber vorher müsst ihr meinen Ventenar töten!»

Noch immer hatte sich niemand bewegt, und alle hatten darauf geachtet, Sir John nicht direkt anzusehen.

«Welcher Mann soll dafür bezahlt werden, dass er dich tötet?», hatte Sir John Hook gefragt.

«Der dort», hatte Hook geantwortet und auf Tom Perrill gedeutet.

«Dann komm her», hatte Sir John einladend zu Perrill gesagt. «Komm und töte ihn. Ich gebe dir seine Frau, wenn du es tust.»Perrill hatte sich nicht gerührt. Er hatte sich halb hinter William Snoball versteckt, der als Lord Slaytons Verwalter über einen gewissen Einfluss verfügte, sich aber dennoch nicht gegen Sir John zu stellen wagte. «Da ist nur eins», hatte Sir John hinzugefügt, «und zwar, dass du sowohl Hook als auch mich töten musst, bevor du die Frau bekommst. Also los! Als Erstes kämpfst du gegen mich!»Er hatte sein Schwert gezogen und gewartet.

Niemand hatte sich bewegt, niemand hatte auch nur ein Wort gesagt. Sir Martin hatte das Geschehen hinter einigen Feldkämpfern stehend verfolgt. «Ist das der Priester?», hatte Sir John Hook gefragt.

«Das ist er.»

«Mein Name ist John Cornewaille», hatte Sir John gerufen, «und einige von euch wissen, wer ich bin. Und Hook ist mein Mann. Er ist mein Mann! Er steht unter meinem Schutz, ebenso wie dieses Mädchen!»Er hatte seinen freien Arm um Melisandes Schulter gelegt und dann mit der Spitze seines Schwertes auf Sir Martin gedeutet.

«Ihr! Priester! Kommt hierher.»

Sir Martin hatte sich nicht gerührt.

«Ihr könnt herkommen», hatte Sir John gesagt, «oder ich kann kommen und Euch holen.»

Sir Martin, dessen langes Gesicht zuckte, hatte sich von den Feldkämpfern weggeschoben, die schützend vor ihm standen. Er hatte sich umgeblickt, als suchte er nach einem Ort, an den er sich flüchten könnte, doch Sir John hatte ihn angeknurrt, er solle endlich näher kommen, und er hatte gehorcht. «Er ist ein Priester!», hatte Sir John gerufen. «Also ist er der Zeuge des Schwurs, den ich jetzt ablege. Ich schwöre bei diesem Schwert und bei den Gebeinen von Sankt Credan, dass ich, wenn Hook auch nur ein Haar gekrümmt wird, wenn er angegriffen wird, wenn er verletzt wird, wenn er getötet wird, Euch ausfindig machen und töten werde.»

Sir Martin hatte Sir John beäugt, als wäre er eines dieser merkwürdigen Geschöpfe, die auf den Jahrmärkten ausgestellt wurden. Eine fünfbeinige Kuh vielleicht, oder eine Frau mit einem Bart. Dann, immer noch mit verblüffter Miene, hatte der Priester beide Hände gen Himmel erhoben. «Vergib ihm, Herr, vergib ihm!», hatte er gerufen.

«Priester!», hatte Sir John begonnen.

«Ritter!», war er von Sir Martin mit überraschender Lautstärke unterbrochen worden. «Der Teufel reitet das eine Pferd und Christus das andere. Wisst Ihr, was das bedeutet?»

«Ich weiß, was das bedeutet.»Sir John hatte sein Schwert auf die Kehle des Priesters gerichtet. «Es bedeutet, dass jeder von euch furzenden, Ziegen vögelnden Scheißhaufen, der Hook oder seine Frau anrührt, es mit mir zu tun bekommt. Und dann werde ich ihm mit meinen eigenen Händen seine stinkenden Gedärme aus dem dreckigen Arsch ziehen. Ich werde ihn leiden lassen, solange ich kann, und dann werde ich seine verdorbene Seele zur Hölle fahren lassen!»

Stille. Man hatte sogar das Geräusch gehört, mit dem Sir Johns Schwert in die Scheide zurückglitt. Er hatte Sir Martin angestarrt, wollte den Priester zu einer Herausforderung reizen, doch Sir Martin hatte sich wieder einmal in seine Gedanken zurückgezogen. «Lasst uns gehen», hatte Sir John gesagt und, als sie außer Hörweite der Unterstände waren, zu lachen begonnen. «Das ist geklärt.»

«Danke», hatte Melisande mit sichtbarer Erleichterung gesagt.

«Du willst dich bedanken? Ich habe das genossen, Mädchen.»

«Er hat es vermutlich wirklich genossen», hatte Pater Christopher gesagt, als er von der Geschichte hörte, «aber er hätte es noch mehr genossen, wenn einer von ihnen ihn zum Kampf gefordert hätte. Er liebt Zweikämpfe.»

«Wer ist Sankt Credan?», hatte Hook gefragt.

«Er war Sachse», hatte Pater Christopher gesagt, «und als die Normannen kamen, meinten sie, er könne keinesfalls ein Heiliger sein, weil er eben ein sächsischer Landmann wie du war, Hook. Also haben sie seine Gebeine verbrannt, aber die Knochen verwandelten sich in Gold. Sir John mag ihn, ich habe keine Ahnung, warum.»Er runzelte die Stirn. «Er ist nicht von so schlichtem Gemüt, wie er sich gerne darstellt.»

«Er ist ein guter Mensch», sagte Hook.

«Das ist er wahrscheinlich», stimmte Pater Christopher zu, «aber lass ihn das lieber nicht hören.»

«Und Ihr erholt Euch, Pater.»

«Dank sei Gott und deiner Frau, Hook ja, das tue ich.»Der Priester ergriff Melisandes Hand. «Und es wird Zeit, dass ich eine ehrbare Frau aus ihr mache, Hook.»

«Ich bin ehrbar», sagte Melisande.

«Dann ist es Zeit, dass du Master Hook zähmst», sagte Pater Christopher. Melisande sah Hook an, und einen Moment lang verriet ihre Miene nicht das Geringste, doch dann nickte sie. «Vielleicht hat mich Gott deshalb verschont», sagte Pater Christopher, «damit ich euch beide verheirate. Wir sollten es tun, Hook, bevor wir Frankreich wieder verlassen.»

Und es schien so, als müsse das schon bald sein, denn Harfleur war unbesiegt, Englands Armee siechte dahin, und das Jahr verstrich unaufhaltsam. Es war mittlerweile schon September geworden. In ein paar Wochen würde der Herbstregen einsetzen, und dann würde die Kälte kommen, und die Ernte läge sicher hinter Festungsmauern, und damit wäre das Kriegsjahr vorbei. Die Zeit lief ab.

England war in den Krieg gezogen. Und schien zu verlieren.

Am gleichen Abend warf Thomas Evelgold einen großen Sack in Hooks Richtung. Hook zuckte zur Seite weg, weil er dachte, der Sack würde ihn umwerfen, doch er war erstaunlich leicht und rollte ihm bloß über die Schulter. «Werg», sagte Evelgold zur Erklärung.

«Werg?»

«Werg», sagte Evelgold, «für Brandpfeile. Ein Bündel Pfeile für jeden Bogenschützen. Sir John will, dass sie um Mitternacht fertig sind, und wir müssen vor der Morgendämmerung im Graben sein. Belly kocht das Pech für uns.»

Belly war Andrew Belcher, Sir Johns Verwalter, der die Küchenknechte und Packpferde beaufsichtigte. «Hast du schon mal einen Brandpfeil gemacht?», fragte Evelgold.

«Noch nie», gab Hook zu.

«Nimm einen Breitkopf, binde eine Handvoll Werg um die Pfeilspitze, tauche sie in Pech und ziele hoch. Jeder braucht zwei Dutzend.»Evelgold trug auch zu den anderen Gruppen Säcke, während Hook etwas von dem fettigen Werg in die Hand nahm, einfache ungewaschene Rohwolle vom Schaf. Ein Floh sprang aus der Wolle und verschwand in seinem Ärmel.

Er teilte das Werg in siebzehn gleiche Haufen, und jeder seiner siebzehn Bogner teilte seinen Haufen in vierundzwanzig kleinere, ein Klümpchen Wolle für jeden Pfeil. Hook zerschnitt Bogensehnen aus dem Vorrat, seine Männer banden mit den Stücken die schmutzige Wolle an die Pfeilspitzen und tauchten dann der Reihe nach das Werg in Bellys Kessel ins kochende Pech. Dann stellten sie die Pfeile aufrecht an Baumstümpfe oder Fässer, um das klebrige Pech fest werden zu lassen. «Was geschieht morgen früh?», fragte Hook Evelgold.

«Heute Morgen haben uns die Franzosen in den Arsch getreten», sagte Evelgold grimmig, «also sind morgen früh wir dran.»Er zuckte mit den Schultern, als erwarte er davon keinen besonders großen Erfolg. «Hast du heute noch mehr Männer verloren ?»

«Cobbett und Fletch. Matson hält vermutlich auch nicht mehr lange durch.»

Evelgold fluchte. «Gute Leute», sagte er finster, «und wofür sterben sie?»Er spuckte in Richtung eines Lagerfeuers. «Wenn das Pech trocken ist», fuhr er dann fort, «zieht es ein bisschen auseinander. Dann ist es leichter anzuzünden.»

Im Lager ging es die ganze Nacht geschäftig zu. Männer trugen Bündel zum vordersten Graben, der am dichtesten an der Barbakane des Feindes lag. Die Bündel bestanden aus Holzstangen, die mit Seil umwunden waren. Ein Wassergraben schützte die Barbakane und würde gefüllt werden müssen, wenn ihn die Engländer überqueren wollten, um das Vorwerk anzugreifen.

Sir Johns Männern wurde befohlen, in voller Rüstung zu kämpfen. Dreißig Feldkämpfer waren an dem Tag, an dem die glücksverheißenden Schwäne zwischen den Schiffen der Flotte hindurchgeflogen waren, mit ihm von Southampton Water losgesegelt, doch nun waren nur neunzehn zum Kampf bereit. Sechs waren gestorben, und die anderen kotzten, schissen und zitterten. Den gesunden Feldkämpfern halfen Junker und Knappen, die Platten der Rüstung an die gepolsterten Lederwesten zu schnallen, die mit Fett abgewischt worden waren, damit sich das Metall leichter bewegte. Schwertgürtel wurden über Wappenröcken angelegt, wenn auch die meisten Feldkämpfer eine Kampfaxt oder Kurzlanzen bevorzugten. Ein Priester aus Sir William Porters Hausstand nahm Beichten ab und erteilte den Segen. Sir William war Sir Johns engster Freund und auch sein Waffenbruder, was bedeutete, dass sie Seite an Seite kämpften und sich geschworen hatten, einander zu schützen, füreinander das Lösegeld zu sammeln, falls einer von ihnen das Unglück hätte, gefangen genommen zu werden, und die Witwe des anderen zu beschützen, wenn einer von ihnen sterben sollte. Sir William wirkte mit seinem schmalen Gesicht wie ein Gelehrter. Bevor er seinen Helm mit dem schnauzenförmigen Visier aufsetzte, konnte man sein dünner werdendes Haar sehen. Die Rüstung schien gar nicht zu ihm zu passen, er sah aus, als ob seine natürliche Umgebung eine Bibliothek oder vielleicht ein Gerichtssaal sei, doch er war Sir Johns Kriegsgefährte, und das sagte genug aus über seinen Mut. Er rückte seinen Helm zurecht und schob das Visier noch einmal hoch, um Sir Johns Bogenschützen einen Gruß zuzunicken.

Die Bogenschützen hatten sich gerüstet und bewaffnet. Die meisten trugen wie Hook über einer gepolsterten Jacke ein Kettenhemd. Sie hatten Helme und manche auch Kettenhauben, die unter dem Helm getragen wurden und bis über die Schultern reichten. Ihr Bogenarm war mit einer Armschiene geschützt, sie waren mit Schwertern gegürtet und mit drei Pfeiltaschen ausgerüstet, von denen zwei die Brandpfeile mit den vorbereiteten Spitzen enthielten. Manche hatten sich zusätzlich für ein Beil entschieden, doch die meisten zogen die Kampfaxt vor. Alle Männer, mochten sie nun Lords, Ritter, Feldkämpfer oder Bogenschützen sein, trugen das rote Sankt-Georgs-Kreuz auf ihren Wappenröcken.

«Gott schütze euch», grüßte Sir William die Bogenschützen, die eine respektvolle Erwiderung murmelten.

«Und der Teufel hole die Franzosen!», rief Sir John, als er aus seinem Zelt kam. Er war in Hochstimmung, die Aussicht auf einen Kampf brachte seine Augen zum Leuchten. «Unsere Aufgabe heute Morgen ist nicht schwer», sagte er wegwerfend. «Wir müssen diesen Bastarden nur die Barbakane abjagen! Am besten erledigen wird das noch vor dem Frühstück!»

Melisande hatte Hook einen Streifen Speck und ein Stück Brot gegeben, das er aß, während Sir Johns Kompanie zu den Belagerungsgräben hinunterging. Es war noch dunkel. Ein lebhafter, kühler Wind aus Osten trug den Geruch der Salzmarsch herüber und vertrieb den süßlichen Gestank der Toten. Die Pfeile klapperten aneinander, während die Bogenschützen dem gewundenen Pfad folgten. Feuer glommen an der Belagerungslinie und auf den Verteidigungsanlagen von Harfleur, wo, wie Hook wusste, die Garnisonsbesatzung gerade die Schäden des Vortages ausbesserte. «Gott segne euch», rief ein Priester, als die Bogenschützen vorbeikamen. «Gott steh euch bei! Gott schütze euch!»

Die Franzosen mussten geahnt haben, dass sich Unheil zusammenbraute, denn sie katapultierten zwei Lichtbälle über die Stadtmauer. Es waren große Kugeln aus Stoff, Zunder und Weidenzweigen, die in Schwefel gewälzt, mit Pech getränkt und dann angezündet worden waren. Sie wirbelten in hohem Bogen funkensprühend durch den Nachthimmel, fielen dann lichterloh brennend herab und brachen beim Auftreffen in gleißender Helligkeit auseinander. Die Flammen spiegelten sich in den Helmen der Engländer und verrieten, dass sie in den Gräben saßen. Also begannen die Armbrustschützen von der Stadtmauer aus zu schießen. Die Bolzen jagten über die Köpfe der Engländer hinweg oder schlugen in die Brustwehr der Gräben ein. Höhnische Rufe wurden von der Stadtmauer aus laut, doch sie klangen halbherzig, als ob auch die Garnisonsbesatzung erschöpft und angespannt wäre.

Im vordersten englischen Graben drängten sich die Männer. Die Bogenschützen mit den Brandpfeilen waren ganz nach vorn befohlen worden, und hinter ihnen warteten weitere Bogenschützen mit den Bündeln aus Holzstangen. Sir John Holland, der Neffe des Königs, führte den Angriff, wenn er auch seinen Stiefvater, Sir John Cornewaille, an der Seite hatte. «Wenn ich den Befehl gebe», sagte der jüngere Sir John, «dann schießen die Bogenschützen ihre Brandpfeile auf die Barbakane. Sie soll brennen!»

Eiserne Kohlenpfannen waren alle paar Schritte am Graben entlang aufgestellt worden. Sie waren mit brennender Seekohle gefüllt, die einen stechenden Rauch verbreitete.

«Überschüttet sie mit Feuerregen!», spornte Sir John Holland die Bogenschützen an. «Räuchert sie aus wie Ratten! Und wenn sie vor lauter Rauch nichts mehr sehen können, werfen wir die Bündel in den Graben, überqueren ihn und nehmen die Barbakane ein!»Es klang alles ganz einfach.

Die übriggebliebenen englischen Kanonen waren mit pechumhüllten Steinen geladen worden, und die holländischen Kanoniere warteten mit glimmenden Ladestöcken darauf, sie abzufeuern. Eine Ewigkeit ließ die Dämmerung auf sich warten. Die Verteidiger wurden es müde, Armbrustbolzen abzuschießen, und auch die Hohnrufe verhallten. Beide Seiten warteten ab. Da ertönte ein Hahnenschrei im Lager, und bald danach zwitscherten die Vögel. Knappen warteten mit zusätzlichen Pfeilbündeln in den Gruben hinter der vordersten Linie, wo Priester die Messe lasen oder die Beichte abnahmen. Die Männer knieten sich nacheinander vor sie, um die Hostie und den Segen Gottes zu empfangen. «Ich spreche dich von deinen Sünden los», murmelte ein Priester Hook zu, der hoffte, dass dies auch stimmte. Er hatte den Mord an Robert Perrill nicht gebeichtet, und als er die Hostie nahm, fragte er sich, ob diese Verheimlichung zu seiner ewigen Verdammnis fuhren würde. Beinahe wäre er mit seiner Schuld herausgeplatzt, doch da winkte der Priester bereits den nächsten Mann zu sich, sodass Hook einfach aufstand und davonging. Die Hostie klebte ihm am Gaumen, und er schickte ein kurzes Stoßgebet zu Sankt Crispinian. Hatte Harfleur auch einen Schutzpatron, fragte sich Hook, und flehte dieser Heilige vielleicht Gott an, die Engländer zu töten? Eine Bewegung in der Menge lenkte Hooks Aufmerksamkeit ab. Der König drängte sich durch die dichten Reihen. Er war in voller Kampfrüstung, nur den Helm hatte er noch nicht aufgesetzt. Über Brust- und Rückenpanzer hing der Wappenrock mit den königlichen Farben, über die das rote Sankt-Georgs-Kreuz lief. Er trug eine Kriegsaxt mit breitem Blatt, und an seinem Gürtel hing ein Schwert in der Scheide. Er hatte keinen Schild, ebenso wenig wie die anderen Ritter oder Feldkämpfer. Ihr Plattenharnisch bot Schutz genug; eisenbeschlagene Schilde waren unpraktisch und ein Überbleibsel aus vergangenen Tagen. Der König nickte den Bogenschützen freundlich zu. «Nehmt die Barbakane ein», sagte er, während er durch den Graben ging, «dann fällt auch die Stadt. Gott steh euch bei.»Er wiederholte diese Sätze ununterbrochen auf seinem Weg den Graben entlang. Sein Gefolge bestand nur aus einem Junker und zwei Feldkämpfern. «Wenn Gott mich dazu ausersehen hat, Frankreich zu regieren, dann wird Er uns schützen! Gott schützt euch! Bleibt an meiner Seite, meine Getreuen, wenn wir uns zurückholen, was nach dem Recht unser ist!»

«Bespannt eure Bögen», sagte Sir John Holland, als der König vorbeigegangen war. «Es wird jetzt nicht mehr lange dauern!»Hook stützte ein Ende seines langen Bogens mit seinem rechten Fuß ab und bog das Holz, sodass er die Sehnenschlinge in die Kerbe am oberen Ende des Bogenschaftes einhängen konnte.

« Schießt mit den Brandpfeilen höher als sonst!», brummte Thomas Evelgold. «Und ihr könnt die Sehne nicht ganz spannen, sonst verbrennt ihr euch die Hand! Denkt daran, hoch schießen! Und passt auf, dass das Pech richtig brennt, bevor ihr die Pfeile abschießt!»

Das Grau der Morgendämmerung wurde langsam heller. Hook, der zwischen zwei Gabionen der angeschlagenen Brustwehr hindurchspähte, sah die großen Schäden an der Barbakane. Die enormen, mit Eisenbändern verstärkten Balken, die eine unüberwindlich scheinende Wand gebildet hatten, waren geborsten und von englischen Kanonensteinen eingedrückt. Der Feind hatte die Lücken mit neuen Balken ausgefüllt, sodass die gesamte Außenseite des Vorwerks nun an einen hässlichen Hügel erinnerte, auf dem altes Holz lagerte. Die Höhe, die anfänglich nahezu vierzig Fuß betragen hatte, war auf die Hälfte geschrumpft. Dennoch war die Barbakane immer noch ein beeindruckendes Hindernis. Die Vorderseite ragte steil empor, der Graben war tief, und auf der abgeflachten Oberseite war Platz für vierzig oder fünfzig Armbrustschützen und Feldkämpfer. Banner mit Heiligen und Wappen hingen an der beschädigten Vorderseite herab. Hin und wieder spähte ein behelmter Kämpfer oben an einem Balken der Brustwehr vorbei, um festzustellen, ob der erwartete Angriff bald kommen würde.

«Ihr fangt mit dem Abschießen eurer Brandpfeile an, wenn die Kanonen feuern!», erinnerte Sir John Cornewaille seine Männer. «Das ist das Zeichen! Schießt stetig, bis ihr keine Brandpfeile mehr habt! Und wenn ihr seht, wie einer von den Bastarden die Feuer ersticken will, dann tötet ihn!»

Die Kohlen in der nächsten Kohlenpfanne rutschten in sich zusammen und sandten dabei eine Stichflamme und einen Funkenregen aus. Ein Knappe kauerte neben der eisernen Schale und hielt Späne bereit, die er auf die Kohlen werfen wollte, wenn die pechgetränkten Pfeile angezündet werden sollten. Ein Möwenschwarm kreiste über der Salzmarsch, auf der die Körper der Toten in die Gezeitenkanäle geworfen wurden. Die Möwen der Normandie fraßen sich fett an den englischen Toten. Die Hostie klebte noch immer an Hooks Gaumen.

«Es geht jeden Moment los», sagte Sir William Porter, als ob das eine Beruhigung für die wartenden Männer wäre.

Dann erklang ein kreischendes Geräusch, und als Hook nach links blickte, sah er Männer an der Winde des Kippschirms drehen, der die nächste Kanone schützte. Die Franzosen hatten es ebenfalls bemerkt, und ein Springarden-Bolzen schnellte von der Stadtmauer weg und schlug auf den Schirm. Ein Kanonier zog die Gabione vor der schwarzen Öffnung des Kanonenrohrs weg.

Und dann feuerte die Kanone.

Das Pech, das den Stein umhüllte, hatte durch die Explosion des Schießpulvers Feuer gefangen, sodass der Kanonenstein aussah wie ein Klumpen aus Licht, als er aus dem Rauch herausschnellte, über den aufgewühlten Grund flog und in die Barbakane einschlug.

«Jetzt!», rief Sir John Holland, und der Knappe häufte die Holzspäne auf die Kohlen, sodass helle Flammen aus der Kohlenpfanne schlugen. «Achtet darauf, ,dass sich die Pfeile nicht berühren», wies Evelgold die Bogner an, die die ersten Geschosse in das neuentfachte Feuer hielten. Noch mehr Kanonen wurden abgefeuert. Ein Balken der Barbakane zersplitterte, und Erde rutschte über die steile Vorderseite hinab. Hook wartete, bis seine Pfeilspitze richtig brannte, und legte dann den Pfeil ein. Er fürchtete, dass der Eschenschaft durchbrennen könnte, deshalb spannte er eilig die Sehne, zuckte zusammen, als die Flammen seine linke Hand versengten, zielte weit nach oben und ließ den Pfeil abschnellen. Andere Brandpfeile flogen schon ihn hohen Bögen langsam und schwankend auf die Barbakane zu, Hooks eigener Pfeil sprang von der Sehne und zog einen Funkenschwanz hinter sich her. Dann fiel er vor der Barbakane zu Boden. Andere Pfeile schlugen in die gesplitterten Balken ein. Der Kanonenrauch breitete sich wie ein Vorhang zwischen den Bogenschützen und ihrem Ziel aus.

«Weiterschießen!», rief Sir John Holland.

Hook zog den Lappen, mit dem er seinen Bogen einwachste, aus einem Beutel und umwickelte damit seine linke Hand, um sie vor den Flammen zu schützen. Sein zweiter Pfeil folgte treu seiner Bahn und schlug in einen der Balken ein, mit denen die Barbakane ausgebessert worden war. Flammentropfend flogen die brennenden Geschosse durch das erste Licht des Morgens, und schnell war die Barbakane mit kleinen Feuerzungen übersät. Immer noch gingen neue Pfeile nieder. Hook sah die Verteidiger hinter der behelfsmäßigen Brustwehr und glaubte, sie würden mit Wasser oder Erde versuchen, die Feuer zu löschen. Also nahm er einen Breitkopf und schoss schnell und zielgenau. Dann ließ er seinen letzten Brandpfeil abschnellen und sah, wie sich die Flammen auf der Barbakane ausbreiteten und an hundert Stellen Rauch aufstieg. Eines der Banner brannte, hell loderte das Leinen auf. Er schoss drei weitere Breitköpfe auf die Brustwehr, als einige Schritte den Graben hinunter eine Trompete geblasen wurde. Darauf drängten sich die Männer mit den Holzbündeln an ihm vorbei, stiegen über die Brustwehr und rannten los.

«Ihnen nach!», rief Sir John Holland. «Und weiterschießen!»

Die Bogner und Feldkämpfer stürmten aus dem Graben. Hook schoss jetzt über die Köpfe der Männer vor ihm hinweg. Er zielte auf die Armbrustschützen, die in großer Zahl hinter der Brustwehr auf der rauchumhüllten Barbakane aufgetaucht waren, «Pfeile!», brüllte er, und ein Knappe brachte ihm eine neue Tasche. Er schoss jetzt, ohne zu denken, sandte Ahlspitze um Ahlspitze gegen die Verteidiger, die für ihn kaum mehr waren als Schatten im immer dichter werdenden Rauch. Vom Rand des Wassergrabens klangen Rufe herüber. Dort starben Männer, doch ihre Holzbündel füllten die tiefe Furche.

«Für Harry und Sankt Georg!», rief Sir John Cornewaille. « Standartenträger!»

«Hier!», antwortete ein Junker, dem die Aufgabe anvertraut worden war, Sir Johns Banner zu tragen.

«Vorwärts!»

Die Feldkämpfer brüllten Herausforderungen, während sie mit Sir John über den aufgewühlten Grund vorrückten. Die Bogenschützen kamen direkt hinter ihnen. Immer noch wurde die Trompete geblasen. Die Männer aus anderen Kompanien befanden sich rechts und links von Sir Johns Leuten. Die Bogenschützen, die mit den Holzbündeln zum Wassergraben gelaufen waren, hatten sich nun seitlich zurückgezogen und beschossen die Brustwehr. Mancher Angreifer wurde von einem Armbrustbolzen getroffen. Einer von Sir Johns Männern riss plötzlich den Mund auf, fasste sich an den Bauch und stürzte, ohne einen Ton von sich zu geben, auf die Erde. Einem anderen Feldkämpfer, dem Sohn eines Earls, tropfte das Blut vom Helm, und ein Bolzen ragte aus seinem hochgeklappten Visier. Er stolperte und brach in die Knie. Dann schüttelte er Hooks Hand ab, die dieser ihm zur Hilfe gereicht hatte, und kam, mit dem Bolzenschuss im Gesicht, wieder hoch und stürmte weiter.

«Ruft lauter, ihr Bastarde!», schrie Sir John, und die Angreifer brüllten erneut ihr heiseres «Sankt Georg». «Lauter!»

Eine Kanone ließ eine stinkende Rauchwolke über der Stadtmauer aufsteigen, und ihr Stein raste schräg über die Fläche, auf der die Angreifer vorrückten. Ein Feldkämpfer wurde an der Seite getroffen, wirbelte herum, und Blut spritzte bis weit oben auf seinen Wappenrock. Der Kanonenstein flog weiter, riss einem Knappen den Bauch auf, und immer noch flog der Stein weiter, mit Blut beschmiert, bis er irgendwo über dem Marschland verschwand. Einem Bogenschützen brach der Bogenschaft, als er gerade die Sehne spannte, und er fluchte. «Lasst den Bastarden keine Zeit! Tötet sie!», brüllte Sir John Cornewaille, während er auf die Holzbündel sprang, die nun an einer Stelle den Wassergraben ausfüllten.

Und jetzt hörte das Schreien gar nicht mehr auf, denn die ersten Angreifer gingen tastend über die schwankenden Holzbündel im Wassergraben. Armbrustbolzen zischten auf sie herab, und dann warfen die Verteidiger Steine und Balken von der Brustwehr. Zwei weitere Kanonen feuerten von der Stadtmauer aus. Rauch quoll empor, doch die Kanonensteine schlugen hinter den Angreifern ein, ohne ihnen gefährlich zu werden. In Harfleur wurden Trompeten geblasen, und immer neue Armbrustbolzen sirrten von der Stadtmauer herüber. Solange sich die Angreifer an der Vorderseite der Barbakane befanden, konnten ihnen die Geschosse aus der Stadt nichts anhaben, doch einige Männer versuchten schon, an den teilweise abgerutschten Seiten hinaufzusteigen, direkt vor den Augen der Franzosen.

Hook schoss so lange auf die Männer hinter der Brustwehr der Barbakane, bis er keine Pfeile mehr hatte. Dann sah er sich nach einem Knappen mit Nachschub um, doch es stand keiner in der Nähe. «Horrocks», rief er seinem jüngsten Bogenschützen zu, «schaff mir Pfeile her!»Ein paar Schritte entfernt saß ein verwundeter Bogenschütze, der nicht zu seinen Leuten gehörte, auf dem Boden. Er zog ein paar Pfeile aus der Tasche des Verletzten, legte einen davon über den Bogenschaft und hielt ihn mit dem Daumen fest. Die englischen Banner wehten nun am Fuß der Barbakane, und die meisten Feldkämpfer kletterten zwischen den lodernden Flammen hinauf, deren Rauch den Verteidigern die Sicht nahm. Es war, als wolle man ein bröckelndes Steilufer erklimmen, aber ein Steilufer, auf dem es brannte. Die Franzosen brüllten trotzige Herausforderungen. Ihre wirksamsten Waffen waren nun Steine, die sie an der Vorderseite der Barbakane herunterwarfen. Hook sah einen Feldkämpfer rücklings stürzen, sein Helm halb eingedrückt von einem Steinbrocken. Der König war auch dort, jedenfalls hob sich seine Standarte leuchtend gegen den grauen Rauch ab. Hook fragte sich, ob der Mann, den er mit dem eingedrückten Helm hatte fallen sehen, womöglich der König selbst gewesen war. Was würde geschehen, wenn der König starb? Doch es war gut, dass er hier war, mitten im Kampf, und plötzlich erfüllte es Hook mit Stolz, dass England einen König besaß, der in der Schlacht kämpfte, und keinen halbnärrischen Monarchen, der sich mit Tuchstreifen umwickelte, weil er glaubte, er bestehe aus Glas.

Sir Johns Banner war jetzt auf der rechten Seite zu sehen, und ganz in der Nähe flatterten Sir William Porters drei Glocken. Hook rief seinen Männern zu, dass sie ihm folgen sollten, und rannte zum Wassergraben. Als er hineinstieg, trat er als Erstes auf die Leiche eines Mannes in Plattenrüstung. Ein Armbrustbolzen hatte die Kettenhaube des Mannes durchbohrt und ein blutiges Loch in seine Kehle gerissen. Irgendwer hatte dem Toten schon das Schwert und den Helm genommen. Hook überwand die schwankenden Holzbündel und zog sich auf der anderen Seite, über der dichter Rauch lag, aus dem Wassergraben. Er schoss drei Pfeile ab, dann legte er seinen letzten über den Bogenschaft. Die Flammen loderten nun hoch aus den zerborstenen Balken der Barbakane, und diese Feuer, deren Rauch den Verteidigern die Sicht hatte rauben sollen, wurde nun zu einem Hindernis für die Angreifer. Pfeile zischten über Hooks Kopf, was bedeutete, dass die Knappen endlich neue Vorräte herbeigeschafft hatten, doch Hook wollte nur noch vorrücken, deshalb ging er nicht zurück, um seine Pfeiltasche aufzufüllen. Er hastete nach rechts, lief um Leichen herum und achtete nicht auf die Armbrustbolzen, die um ihn herum niedergingen. Er sah Sir John schwankend oben auf einem der eisenbeschlagenen Balken hocken, von wo er zu den französischen Männern hinaufstarrte, die Schmähungen zu den Angreifern hinunterriefen. Einer der Verteidiger tauchte kurz hinter der Brustwehr auf und wuchtete einen Steinbrocken über seinen Kopf, um ihn auf Sir John zu schleudern. Hook hielt inne, spannte die Sehne, gab sie frei, und sein Pfeil traf den Mann in die Achselhöhle, sodass er sich langsam um sich selbst drehte und dann rücklings außer Sicht kippte.

Eine Bö von Osten vertrieb den Rauch von der rechten Seite der Barbakane. Hook entdeckte eine Öffnung. Es war eine kleine Aushöhlung in dem halb zusammengerutschten Turm, der die seewärts gerichtete Seite verteidigt hatte. Er hängte sich den Bogen über den Rücken und nahm die Kampfaxt aus dem Riemen. Während er rannte, schrie er Unzusammenhängendes und sprang an der Vorderseite der Barbakane hoch. Mit dem Fuß suchte er Halt zwischen steil aufragenden Balkentrümmern und rieselndem Erdwerk. Von der rechten Seite des Vorwerks aus konnte er den südlichen Teil von Harfleur mit dem Hafen sehen. Die Verteidiger auf der Stadtmauer konnten ihn ebenso gut sehen, doch als ihre Armbrustbolzen in die Barbakane einschlugen, hatte sich Hook schon in die Aushöhlung gerollt, die nur ein Sims aus Erdwerk war, das von zerborstenen Balken geschützt wurde. Hook konnte sich kaum um sich selbst drehen, denn er hatte kaum mehr Platz als ein wilder Hund in seinem Unterschlupf. Die Armbrustbolzen jagten zischend vor seiner engen Zuflucht vorbei. Er hörte die Schreie von Männern, und es erschien ihm so, als seien die Schreie der Franzosen lauter, und das war ein Hinweis darauf, dass sie den Kampf zu gewinnen glaubten. Er beugte sich leicht vor, um festzustellen, wo Sir John war, doch im selben Moment trieb der Wind eine dicke Wolke heran, die Hooks Adlerhorst einhüllte.

Was er dennoch erkennen konnte, waren rechts von ihm, in Richtung der Vorderseite der Barbakane, drei der Metallreifen, mit denen die gewaltigen Baumstämme zusammengehalten wurden. Diese Reifen, so fand er, lagen wie Leiterstufen übereinander. Der Rauch verhüllte ihn gnädig, und so sprang er mit einem Satz hinüber und hielt sich mit der Linken an dem Stamm fest, während er mit dem Fuß einen schmalen Halt auf einem der Eisenringe fand. Dann hob er die Kampfaxt über den Kopf, hakte sie im nächsten Ring ein und zog sich daran hinauf und noch weiter hinauf, und schon war er beinahe ganz oben, und die Franzosen hatten ihn nicht entdeckt, wegen des Rauchs und weil sie die johlende Masse von Engländern beobachteten, die an der weniger abschüssigen Mitte der Barbakane emporzuklettern versuchten. Bolzen, Steine und Balkenstücke regneten auf sie hinunter, während zur Antwort englische Pfeile durch den Rauch sirrten.

«Hook!», brüllte eine Stimme hinter ihm. «Hook, du Bastard! Zieh mich hoch!»

Es war Sir John Cornewaille. Hook streckte ihm die Kampfaxt entgegen, sodass er sich an ihrem Kopf festhalten konnte, und zog ihn dann auf die Balken.

«Du rückst nicht schneller vor als ich, Hook», knurrte Sir John. «Und außerdem, was hast du überhaupt hier verloren? Du solltest die Bastarde mit deinen Pfeilen aufspießen!»

«Ich wollte wissen, wie es auf der anderen Seite dieser Ruine aussieht», sagte Hook. Flammen leckten an den Balken empor und hatten schon fast Sir Johns Füße erreicht.

«Du wolltest wissen ...», fing Sir John an und lachte dann laut auf. «Ich werde hier geröstet, verdammt. Zieh mich höher rauf.»Hook zog Sir John mit der Kampfaxt bis ganz oben auf die Balken. Die beiden saßen wie Fliegen auf einer angebrochenen, brennenden Säule, sie hockten inzwischen direkt unter der eilig instandgesetzten Brustwehr der Barbakane, waren aber von den Verteidigern noch nicht entdeckt worden. «Beim Allmächtigen und all seinen pissesaufenden Heiligen, das wäre nicht der schlechteste Ort zum Sterben», sagte Sir John und zog seine Kampfaxt an ihrer Lederschlaufe von der Schulter. «Und was ist mit dir? Wirst du mit mir sterben, Hook?»

«Sieht ganz danach aus, Sir John.»

«Guter Mann. Schieb mich zuerst hoch, dann kommst du nach, lass uns gut sterben, Hook, lass uns sehr gut sterben.»

Hook packte Sir John hinten am Schwertgürtel, und nach einem bestätigenden Nicken begann er zu schieben. Sir John verschwand nach oben, stolperte über die Brustwehr und stieß seinen Kampfruf aus. «Harry und Sankt Georg!»Und Hook folgte für Harry, Sankt Georg und Sankt Crispinian.

Und schrie.


*

***

*****

***

*


Du wirst hier nicht sterben», sagte Sankt Crispinian. Hook konnte die Stimme kaum hören, denn er brüllte teils aus Angst und teils in einem überwältigenden Rausch einen ohrenbetäubenden Kriegsruf.

Hook und Sir John hatten die Plattform auf der Spitze der Barbakane erreicht. Die englischen Kanonensteine hatten die Vorderseite der Bastion schwer beschädigt, sodass Erdwerk und Geröll abgerutscht waren, und was einmal die Kampfplattform gewesen war, bestand nun lediglich aus einer grob geglätteten Fläche. Die rückwärtige Seite der Barbakane, die zum Leure-Tor hin ausgerichtet war, hatte wesentlich geringere Schäden davongetragen, und die hoch aufragenden Balken wirkten wie ein Schild, der den Verteidigern auf der Stadtmauer von Harfleur die Sicht auf die Geschehnisse im Bereich der Plattform nahm. Überall lagen Erdhaufen, Steine und brennende Balken, um die sich Armbrustschützen und Feldkämpfer drängten. Hook und Sir John waren von ihrer linken Flanke gekommen, und nun griff Sir John an wie ein Racheengel.

Er war schnell. Deshalb war er auch der gefürchtetste Turnierkämpfer der Christenheit. In der Zeit, die ein Mann brauchte, um einen Hieb niederfahren zu lassen, führte Sir John zwei aus. Hook bemerkte das, weil sich für ihn die Zeit verlangsamt zu haben schien. Er bewegte sich an Sir Johns rechte Seite, und dabei ging ihm plötzlich auf, dass Sankt Crispinian sein Schweigen gebrochen hatte, und eine Welle der Erleichterung überflutete ihn. Sankt Crispinian war immer noch sein Schutzpatron! Hook stieß mit der Spitze seiner Kampfaxt zu, während Sir John seine zweischneidige Axt zu kurzen, schnell ausgeführten Hieben einsetzte. Der erste zerschmetterte den metallenen Knieschutz eines Feldkämpfers, der zweite, ein Rundumhieb, riss einem Armbrustschützen den Bauch auf, und der dritte fällte den Mann, dessen Knie er zuvor gebrochen hatte. Ein anderer Feldkämpfer wollte Sir John mit dem Schwert angreifen, doch Hooks Kampfaxt bohrte sich in seine Seite, durchstieß den Rand seines Brustpanzers und ließ ihn auf den Mann taumeln, der hinter ihm stand. Hook stemmte sich weiter gegen die Kampfaxt, trieb den Mann noch weiter zurück, bis er ihn und seinen Kampfgefährten zu Fall gebracht hatte, und Sir John machte ein jauchzendes Geräusch, ein Ausdruck reiner Freude. Hook brüllte, auch wenn er sich dessen nicht bewusst war, und setzte seine gewaltigen Bogenschützenkräfte ein, um den Feind zurückzudrängen, während Sir John ihre Verwirrung ausnutzte, um auf sie einzuhacken, sie zu verwunden und sie zu töten.

Hook zog die Kampfaxt zurück, doch die Spitze hatte sich in der Rüstung des Mannes verfangen. «Nimm diese!», sagte Sir John bestimmt und drückte Hook seine Axt mit den zwei Schneiden in die Hand, und später, viel später, als der Kampf vorbei war, bewunderte Hook Sir Johns vollkommene Ruhe inmitten des Kampfes. Sir John hatte Hooks Lage erkannt und Abhilfe geschaffen, obwohl er selbst gerade angegriffen wurde. Er gab Hook die Axt, und in der Zeit, in der Hook sie in die Hand nahm, zog Sir John sein Schwert. Es war sein bevorzugtes Schwert, er nannte es Liebling, und seine Klinge war schwerer als die meisten anderen und stark genug, um harte Stöße durch Stahlplatten zu überstehen. Sir John setzte es ein, um die Feinde aus dem Gleichgewicht zu bringen, und überließ Hook das Töten. Hooks erster Hieb trieb die Klinge der Axt in einen Helm und riss die Halterung des Visiers ab, sodass es seitwärts abstand. «Billiger Stahl!», sagte Sir John, und sein Schwert zuckte vor den Gesichtern der Männer auf, sodass sie zurückwichen. Hook schlug die Klinge in einen Bauchpanzer und sah das Blut hell und in schnellen Stößen hervorquellen. «Flagge!», schrie Sir John. «Wo ist meine gottverdammte Flagge?»

Hook stand mit gespreizten Beinen da und ließ die Axt auf die Männer niederfahren, die sich kaum wehrten, denn die Toten und Verletzten auf dem Boden behinderten sie im Kampf. Sir Johns Geschick und schiere Grausamkeit jagte ihnen zusätzlich Entsetzen ein. Ein entschlossener Mann hätte Sir Johns Schwert und Hooks Axt etwas entgegensetzen können, doch stattdessen versuchten die Verteidiger vor den Klingen zurückzuweichen, während sie von ihren weiter hinten kämpfenden Gefährten nach vorne gedrängt wurden. «Trois!»Sir John zählte die Männer, die er verwundet oder getötet hatte. «Quatre! Kommt schon, ihr gottverdammten Bastarde! Ich will kämpfen!»Hooks Axt war die gefährlichere Waffe. Ihre Klinge zerdrückte Panzerrüstungen wie Pergament und hackte sich in Körper wie ein Schlachterbeil, und Hook verzog das Gesicht, während er mit der Axt ausholte, und die Feinde dachten, er lächle, und dieses Lächeln ängstigte sie noch mehr als die Axt. Das Gedränge machte es den französischen Armbrustschützen unmöglich zu zielen, während die weitgehend intakte rückwärtige Seite der Barbakane und der Rauch den Kampf vor den Bogenschützen auf den Türmen des Leure-Tores verbarg. Sir John schrie, und Hook gab ein irrsinniges Heulen von sich. Ihre Klingen waren rot. Hook versuchte nun nicht mehr zu töten, sondern drängte den Feind zurück und ließ Männer zu Boden gehen, um die Kämpfer dahinter bei ihrem Angriff zu behindern. Ein Feldkämpfer machte vom Boden aus einen Aufwärtsstoß mit seinem Schwert, doch Hook hatte es gesehen, wich seitlich aus, schmetterte die Axt in das Visier des Mannes, hörte ein gurgelndes Geräusch, während sich die schwere Metallklinge ins Fleisch grub, schwang die Axt zurück, um den Brustpanzer eines Mannes einzudrücken, und stieß sie dann vor, um einen dritten Mann zu Fall zu bringen.

«Meine Flagge!», brüllte Sir John erneut. «Diese Bastarde sollen wissen, wer sie umbringt!»

Unvermittelt stolperte sein Standartenträger über die Brustwehr auf die Plattform, und hinter ihm folgten weitere Feldkämpfer mit Sir Johns Löwen auf dem Waffenrock. «Tötet die Bastarde!», schrie Sir John, doch die Bastarde hatten schon genug. Sie verschwanden durch eine Lücke an der rückwärtigen Seite der Barbakane, stiegen hastig eine Leiter hinunter und stolperten eilig den Rest der Schräge hinab, um dann durch die Rauchwolken auf das Leure-Tor zuzurennen? Die aufgehende Sonne leuchtete durch den Rauch. Brüllende Engländer töteten die letzten Verteidiger, die es nicht mehr zu der Lücke geschafft hatten. Ein Mann hielt seinen Handschuh als Zeichen der Ergebung vor sich, doch ein Bogenschütze schlug ihn mit einem langstieligen Hammer nieder, und ein anderer spießte ihn mit der Spitze seiner Kampfaxt auf.

«Genug!», schrie eine Stimme. «Genug! Genug!»«Aufhören!», rief Sir John. «Aufhören, hab ich gesagt.»«Gott sei gedankt!», sagte der Mann, der zuerst gerufen hatte, dass der Kampf beendet werden sollte, und Hook sah, dass es der König war, der sich nun, mit dem Schwert in der Hand, unvermittelt hinkniete und sich bekreuzigte. Der Wappenrock des Königs, sein strahlendes Wappen mit dem roten Sankt-Georgs-Kreuz darüber, war stark versengt. Ein Springarden-Bolzen fuhr in einen der Balken auf der Stadtseite und ließ das Holz beben. «Löscht die Flammen!», rief der König, nachdem er wieder aufgestanden war. Er zog seinen Helm und seine lederne Unterhaube aus. Sein dickes kurzgeschnittenes Haar stand in verschwitzten Büscheln von seinem Kopf ab. «Und jemand erbarme sich dieses Mannes!»Er deutete auf den Franzosen, der sich hatte ergeben wollen und der nun zuckend und stöhnend auf dem Boden lag, während Blut über seinen Plattenschurz unterhalb des Brustpanzers lief. Die Kampfaxt steckte noch immer in seinem Bauch. Ein Feldkämpfer zog ein Messer, tastete am Hals des Mannes nach der Lücke in der Rüstung, stach einmal zu und drehte dann die Klinge in der Wunde um. Der Mann verkrampfte sich, blasiges Blut lief aus den Löchern seines Visiers, dann krümmte er sich ein letztes Mal zusammen und blieb reglos liegen. «Gott sei gedankt», sagte der König erneut. Da fiel ein Bogenschütze auf die Knie, und Hook dachte, er wolle beten, doch stattdessen übergab er sich. Armbrustbolzen trafen die rückwärtige Seite der Barbakane und klangen beim Einschlagen wie Dreschflegel auf der Tenne. Nun flatterte das Banner des Königs über der Barbakane, und das schwere Tuch zuckte, wenn ein Bolzen es traf und an dem Gewebe riss. «Sir John», sagte der König. «Ich muss Euch danken.»

«Dafür, dass ich meine Pflicht getan habe, Sire?», fragte Sir John und ließ sich auf ein Knie nieder. «Und dieser Mann hat mir dabei geholfen», fügte er hinzu und deutete auf Hook.

Hook kniete ebenfalls nieder. Der König warf ihm einen Blick zu, zeigte aber kein Erkennen. «Euch allen meinen Dank», sagte Henry knapp und wandte sich dann um. «Sendet Herolde!», befahl er jemandem aus seinem Gefolge. «Die Franzosen sollen die Stadt ausliefern! Und lasst Wasser zum Löschen bringen!»

Wasser wurde auf die Flammen geschüttet, doch das Feuer hatte sich tief in die zersplitterten Stämme der Barbakane gegraben. Sie schwelten weiter und hüllten die Bastion in beißenden Rauch. Ihre Plattform war nun mit Bogenschützen besetzt, und über Nacht wurde eine der kleineren Kanonen, der «Bote», nach oben gehievt. Diese Kanone ließ die Balken des Leure-Tores beim ersten Schuss splittern.

Die Herolde waren nach der Besetzung der Barbakane zum Tor geritten und hatten geduldig erklärt, dass die Engländer nun das große Tor und seine Türme zerstören würden, dass der Fall Harfleurs somit unausweichlich war und dass die Garnisonsführung infolgedessen mit Vernunft, ja ehrenhaft handeln würde, wenn sie die Stadt übergeben würde, ohne dass noch weitere Männer sterben müssten. Sollte die Ergebung jedoch abgelehnt werden, so erklärten die Herolde, dann bestimme das Recht Gottes, dass die Engländer mit jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind von Harfleur nach ihrem Gutdünken verfahren konnten. «Denkt an eure schönen Töchter!», mahnte einer der Herolde die Garnisonsführer. «Um ihretwillen ergebt euch!»

Doch sie ergaben sich nicht, und deshalb hoben die Engländer neue Kanonengruben näher an der Stadt aus, und sie beschossen das Leure-Tor, zerstörten die Türme zu seinen beiden Seiten, brachten seinen Steinbogen zum Einsturz. Immer noch kämpften die Verteidiger weiter.

Und mit dem ersten kühlen Wind, der das Ende des Sommers ankündigte, kam Regen.

Die Krankheit hörte nicht auf zu wüten. Henrys Armee starb in Blut, Erbrochenem und wässrigen Exkrementen.

Und Harfleur blieb französisch.

Alles musste noch einmal begonnen werden. Es würde einen weiteren Angriff geben, dieses Mal von den Trümmern des Leure-Tores aus. Um sicherzustellen, dass die Verteidiger ihre Kräfte nicht an der Südwestseite der Stadtmauer zusammenziehen konnten, würde der Duke of Clarence zur gleichen Zeit das Montivilliers-Tor auf der anderen Seite der Stadt angreifen.

Dieses Mal, sagte Sir John, würden sie in die Stadt einrücken. «Die gottverdammten Bastarde wollen sich nicht ergeben! Also wisst ihr, was ihr mit diesen Bastarden machen könnt! Was einen Schwanz hat, das tötet ihr, was Titten hat, dem macht ihr die Beine breit! Alles, was sich in dieser Stadt befindet, gehört euch! Jede Münze, jeder Ale-Krug, jede Frau! Es gehört euch! Also holt es euch!»

Und so strömten die Angreifer von zwei Seiten über die Wassergräben, es regnete Pfeile vom Himmel, und die Trompeten bliesen eine Herausforderung zur Sonne hinauf, die gleichgültig ihre Bahn zog, und das Töten begann erneut. Und wieder war es Sir John Holland, der den Angriff führte, was bedeutete, dass Sir John Cornewailles Männer in der ersten Linie kämpften, wo sie ohne weiteres die Trümmer des Leure-Tores einnahmen. Dann wurden sie unvermittelt gestoppt.

Das Tor hatte in eine enge Straße geführt. Die einander gegenüberliegenden Häuser hatten sich beinahe berührt, doch die Garnison hatte diese Gebäude niedergerissen, um einen Kampfplatz zu schaffen. An dessen Ende hatten die Franzosen eine neue Barrikade errichtet, die durch die Reste der alten Stadtmauer und des Tores vor den englischen Kanonensteinen weitgehend geschützt war. Der «Bote»hatte von der Plattform der Barbakane aus die neue Befestigung mit einigen Steinen getroffen, doch er konnte nur drei Mal am Tag schießen, und die Franzosen besserten den jeweiligen Schaden zwischen den Schüssen schnell aus. Die neue Mauer bestand aus Mauersteinen, Dachbalken und mit Steinen gefüllten Weidenkörben, und dahinter hockten Armbrustschützen, und sobald die englischen Feldkämpfer durch das zerstörte Leure-Tor gekommen waren, flogen wieder die Bolzen.

Die Bogenschützen schossen zurück, aber die Franzosen waren schlau gewesen. In der neuen Mauer waren Spalten und Löcher gelassen worden, durch die ihre Armbrustschützen schießen konnten, die aber gleichzeitig so klein waren, dass man sie mit einem Pfeil kaum treffen konnte. Hook, der hinter den Trümmern des Tores in Deckung gegangen war, schätzte, dass für jeden Armbrustschützen drei oder vier Männer zusätzliche Armbrüste spannten, sodass der Bolzenbeschuss niemals aussetzte. Die meisten Armbrustschützen konnten sich glücklich schätzen, wenn sie es schafften, zwei Bolzen in der Minute abzuschießen, doch die Bolzen aus den Schießscharten folgten viel schneller aufeinander, und noch weitere Geschosse zischten von den oberen Fenstern der halb eingestürzten Häuser hinter der neuen Befestigung herüber. So, dachte Hook, hätte Soissons verteidigt werden sollen.

«Wir müssen eine Kanone herbringen», ertönte Sir Johns Stimme. Er war hinter der Stadtmauer in Deckung gegangen. Doch stattdessen führte er einen Angriff auf die Barrikade und brüllte seinen Bogenschützen zu, es Pfeile regnen zu lassen. Das taten sie auch, doch die Armbrustbolzen flogen unaufhörlich weiter, und auch wenn die Bolzen keine Rüstungen durchschlugen, ließen sie einen Mann durch ihre bloße Wucht zurücktaumeln. Als endlich ein halbes Dutzend Männer die Barrikade erreicht hatten und versuchten, sich an ihren Steinen und Balken emporzuziehen, erschien ein Kessel über dem Rand, und ein Strom kochenden Fischöls ergoss sich über die Angreifer. Rennend und humpelnd zogen sie sich zurück, manche stöhnten laut, so sehr schmerzten die Verbrühungen, und Sir John, die Panzerrüstung voll mit glitschigem Öl, fluchte vor ohnmächtiger Wut. Die Franzosen johlten höhnisch und schwenkten herausfordernd ihre Flaggen. Hinter der Barrikade schien die Luft zu schwimmen, ein Zeichen dafür, dass in noch vielen anderen Kesseln Öl gekocht wurde, mit dem sie weitere Angreifer empfangen wollten. Die Engländer versuchten, die neue Mauer mit ihren Katapultsteinen zu treffen, doch die meisten Geschosse flogen zu weit und schlugen krachend in ohnehin schon zerstörte Häuser ein.

Die Sonne stieg jetzt höher. Die Spätsommerhitze war zurückgekehrt, und sowohl Angreifer als auch Verteidiger fühlten sich in ihrer Kampfkleidung, als würden sie geröstet. Knappen brachten Wasser und Ale. Feldkämpfer, die in der Deckung des Leure-Tores saßen, hatten ihre Helme abgenommen. Ihr Haar klebte ihnen am Schädel, und über ihre Gesichter lief der Schweiß in Strömen. Die Bogenschützen kauerten hinter den Steinen und schossen nur noch, wenn sich ein Gegner zeigte. Manchmal flog von beiden Seiten für lange Zeit kein Pfeil oder Bolzen mehr.

«Bastarde», knurrte Sir John.

Hook sah zwei Verteidiger, die einen erdgefüllten Korb aus der Barrikade zogen. Er richtete sich etwas auf und ließ einen Pfeil abschnellen, ebenso wie seine Kameraden. Die beiden Männer fielen rücklings um, jeder von mehreren Pfeilen getroffen, doch sie rissen den Korb mit, und da sah Hook ein Kanonenrohr, breit und niedrig, und er konnte sich gerade noch mit dem Rücken an die Ruinen des Leure-Tors pressen, als die Kanone auch schon feuerte. Ein Kreischen und Pfeifen fuhr durch die Luft, Steinsplitter zischten durch den Rauch, und ein Mann stieß einen langen, grauenvollen Schrei aus, der sich in ein Wimmern verwandelte, während der Platz vor der Barrikade von dicken Qualmwolken verhüllt wurde. «O mein Gott», sagte Will of the Dale.

«Bist du verletzt, Will?»

«Nein. Ich habe es nur satt hier.»

Die Franzosen hatten ihre Kanone mit kleinen Steinen und Steinsplittern beladen. Ein Feldkämpfer war tot, ein kleines Loch in seinem Helm war die einzige Spur, die der Steinsplitter hinterlassen hatte. Ein Bogenschütze taumelte zurück zur Barbakane, die Hand über die leere, blutige Augenhöhle gelegt.

«Wir werden alle hier sterben», sagte Will.

«Nein», erwiderte Hook erbittert, wenn er sich auch selbst kaum glaubte. Der Rauch der Kanone verzog sich langsam, und Hook sah, dass der mit Erde gefüllte Korb die Schussöffnung für die Kanone wieder verschloss.

«Bastarde!», knurrte Sir John erneut.

«Wir werden nicht aufgeben!», rief der König. Er wollte möglichst viele Feldkämpfer zu einem Angriff versammeln, um die neue Befestigungsmauer mit der schieren Zahl seiner Männer zu bezwingen, und seine Leute trugen Befehle an die Engländer weiter, die sich bei den Trümmern der alten Stadtmauer verteilt hatten. «Bogenschützen an die Flanken!», rief ein Mann. «An die Flanken!»

Ein französischer Trompeter spielte eine kurze, abgehackte Melodie. Es waren drei Noten, die sich hoben und wieder fielen, und er wiederholte sie ohne Unterlass. Es lag etwas Herausforderndes in diesen Klängen.

«Tötet den Bastard!», schrie Sir John, doch der Bastard stand hinter der neuen Mauer.

«Los!», rief der König.

Hook atmete tief ein, dann rannte er nach rechts. Es schnellten keine Armbrustbolzen mehr aus der Verteidigungsanlage. Sie warten, dachte er. Vielleicht gingen ihnen bald die Bolzen aus, und sie sparten für den nächsten Angriff auf, was sie noch hatten. Er duckte sich hinter einem Mauerstumpf, und dann sah er den französischen Trompeter auf der neuen Mauer stehen und sein Instrument an die Lippen heben. Hook richtete sich auf, schon lag die Bogensehne an seinem rechten Ohr, er gab sie frei, die Sehne fuhr an seinem Armschutz entlang, und der weißbefiederte Pfeil schnellte in sein Ziel. Die Ahlspitze traf den Trompeter in die Kehle, bohrte sich durch seinen Hals und trat im Genick wieder aus. Der letzte Ton aus der Trompete klang wie ein Eselsschrei und brach dann unvermittelt ab, als der Mann von der Mauer stürzte. Noch mehr englische Pfeile zischten über ihn hinweg, als er endgültig hinter der Mauer verschwand und der Ton seiner Trompete über dem Platz nachhallte.

«Gut gemacht, Bogenschütze!», rief Sir John.

Hook wartete. Der Tag wurde immer wärmer. Die Sonne rollte wie ein Feuerball über einen Himmel, an dem nur die Rauchwolken der belagerten Stadt standen. Die Franzosen hatten den Beschuss vollständig eingestellt, was Hook nur in der Vermutung bestärkte, dass sie ihre Geschosse für einen neuen Angriff der Engländer aufsparten. Priester gingen langsam an den Trümmern der alten Stadtmauer entlang, segneten die Toten und nahmen den Sterbenden die Beichte ab, während sich vor der alten Stadtmauer, auf der Fläche zwischen dem zerschossenen Leure-Tor und der zusammengefallenen Barbakane, die Feldkämpfer unter den Bannern ihrer Lords sammelten. Diese Angriffstruppe, mindestens vierhundert Mann stark, war für die Verteidiger leicht zu sehen, doch sie schossen immer noch nicht.

Einer von Sir Johns Knappen, ein Junge von zehn oder elf Jahren mit einem dichten Schopf hellblonden Haares und riesigen blauen Augen, brachte den Bogenschützen zwei Schläuche mit Wasser. «Wir brauchen Pfeile, Junge», erklärte ihm Hook.

«Ich bringe welche», sagte der Junge.

Hook setzte den Schlauch an den Mund. «Warum setzen sich die Feldkämpfer nicht in Marsch?», fragte er darauf, an niemand im Besonderen gewandt. Der König hatte seine Angriffstruppe versammelt, und die Bogenschützen waren in Stellung, dennoch hatte eine merkwürdige Trägheit von ihnen Besitz ergriffen.

«Ein Bote ist gekommen», sagte der Knappe angespannt. Er war ein Knabe hoher Herkunft, der in Sir Johns Hausstand das Kriegshandwerk lernen sollte, und eines Tages würde aus ihm sicherlich ein großer Herr mit schimmernder Rüstung auf einem gepanzerten Pferd werden, doch noch beunruhigten ihn die hartgesottenen Bogenschützen, die er eines Tages befehligen würde.

«Ein Bote?»

«Vom Duke of Clarence», sagte der Knappe und nahm den leeren Wasserschlauch wieder entgegen.

Der Duke hatte sein Lager auf der anderen Seite Harfleurs aufgeschlagen und griff die Stadt von dort an. Doch kein Laut aus dieser Richtung verriet, dass dort gekämpft wurde. «Und was hat uns der Bote mitgeteilt?», fragte Hook den Knappen.

«Dass der Angriff gescheitert ist», sagte der Junge.

«Mein Gott», sagte Hook ärgerlich. Das bedeutete, so vermutete er, dass der König wartete, bis sein Bruder einen neuen Angriff vorbereitet hatte, und dann würden die Engländer gleichzeitig von Osten und von Westen aus einen letzten Versuch unternehmen, um die hartnäckigen Verteidiger zu bezwingen. Also warteten Hook und seine Bogenschützen weiter. Wenn der König neue Befehle an seinen Bruder geschickt hatte, würden sie mindestens zwei Stunden brauchen, um ihn zu erreichen, denn der Bote musste in weitem Bogen nördlich um die Stadt reiten und mit einem Boot über den Fluss setzen.

«Was geht vor?», fragte Sclate, der einfältige Feldarbeiter mit den Kräften eines Riesen.

«Ich weiß es nicht», gab Hook zu. Der Schweiß lief ihm übers Gesicht und brannte in seinen Augen. Staub hing in der Luft, kratze ihn in der Kehle und ließ ihn sofort wieder durstig werden. Das Licht, das von den zerbrochenen Kalksteintrümmern der Stadtmauer zurückgeworfen wurde, blendete ihn. Er war müde. Er nahm die Sehne vom Bogen, um den Schaft zu entspannen.

«Greifen wir wieder an?», fragte Sclate.

«Ich vermute, dass wir angreifen, wenn der Duke von der anderen Seite aus vorrückt», sagte Hook. «Dauert aber vielleicht noch ein paar Stunden.»

«Bis dahin sind sie auf uns vorbereitet», gab Sclate finster zurück.

Denn dann wäre die Garnison bereit zum Kampf. Ihre Kanonen wären bereit und ihre Armbrüste und Springarden und ihr kochendes Öl. Das war es, was die Männer mit dem roten Kreuz erwartete. Die Feldkämpfer saßen inzwischen auf dem Boden, um sich auszuruhen, bis sie in die Schlacht gerufen wurden. Die leuchtenden Banner hingen schlaff von den Stangen herab, und eine merkwürdige Stille hüllte Harfleur ein.

Warten. Warten.

«Wenn wir angreifen», unterbrach Sir Johns Stimme die Stille. Er lief mit langen Schritten an den Trümmern der alten Stadtmauer entlang, hinter denen seine Bogenschützen in Deckung gegangen waren. Es schien ihn nicht zu kümmern, dass er sich schutzlos und in voller Sicht des Feindes bewegte. Doch die französischen Armbrustschützen, die zweifellos den Befehl erhalten hatten, ihre Bolzen aufzusparen, taten nichts. «Wenn wir angreifen», rief er erneut, «dann rückt ihr vor! Und ihr schießt ohne Pause! Aber dabei rückt ihr immer weiter vor! Wenn wir über die neue Mauer gehen, will ich Bogenschützen bei mir haben! Wir werden diese Bastarde in ihren gottverdammten Straßen jagen müssen! Ich will euch alle dort haben. Und viel Erfolg bei der Jagd! Heute ist der rechte Tag, um die Feinde unseres Königs zu töten, also tötet sie!»

Und wenn das Töten vorbei wäre, fragte sich Hook, wie viele Engländer wären dann wohl noch übrig? Schon die Armee, die von Southampton Water losgesegelt war, hätte größer sein können, aber jetzt? Jetzt, so schätzte er, war die ursprüngliche Armee auf die Hälfte geschrumpft, und von diesen Männern waren viele krank. Und diese halbe Armee wurde nun in die Ruinen von Harfleur geschickt, während sich die französische Armee schließlich doch noch sammelte, um zum Kampf um die Stadt zu kommen. Den Gerüchten zufolge war die feindliche Armee riesig. Eine enorme Masse von Kriegern, die nichts lieber wollten, als die dreisten englischen Eindringlinge niederzumachen. Auch wenn ihnen Gott diese Mühe offenkundig ersparen wollte, indem er den Engländern die Krankheit geschickt hatte.

«Lasst es uns endlich hinter uns bringen», brummte Will of the Dale.

«Oder wir lassen ihnen die verdammte Stadt einfach», schlug Tom Scarlet vor. «Sie ist ohnehin nur noch ein Trümmerhaufen.»

Was, wenn der Angriff scheiterte? Was, wenn Harfleur nicht fiel? Dann würden die Reste von Henrys Armee nach England zurücksegeln. Sie wären geschlagen. Der Kriegszug hatte so gut begonnen, mit diesem Meer aus flatternden Bannern und all den hochfliegenden Erwartungen, und nun gab es nur noch Blut und Exkremente und Verzweiflung.

Ein anderer Trompeter in der Stadt spielte wieder dieselbe höhnische Weise. Sir John, der sich gerade wieder von seinen Bogenschützen entfernen wollte, wandte sich um und schnauzte in Richtung der Verteidiger. «Ich will diesen schwanzlutschenden Bastard tot sehen! Ich will ihn tot sehen!»Die letzten vier Worte hatte er so laut geschrien, dass ihn jeder Franzose hinter der neuen Mauer hören konnte.

Dann, ganz unerwartet, kletterte ein Mann auf die neue Mauer. Es war nicht der Trompeter, der immer noch hinter der Mauer spielte. Der Mann auf der Mauer war unbewaffnet. Er richtete sich auf und winkte den Engländern mit beiden Händen zu.

Einige Bogenschützen standen auf und spannten die Sehnen.

«Nein!», brüllte Sir John. «Nein! Nein! Nein! Bögen runter! Bögen runter!»

Der Trompetenton zitterte etwas und verklang dann vollständig.

Der Mann auf der Mauer streckte seine leeren Hände weit über den Kopf.

Und wunderbarerweise, unerwarteterweise, erstaunlicherweise war alles vorbei.

Die Soldaten der Garnison von Harfleur wollten sich nicht ergeben, doch die Stadtbevölkerung hatte genug gelitten. Die Leute hungerten, ihre Häuser waren nach dem Beschuss der Engländer eingestürzt oder verbrannt, Krankheiten verbreiteten sich, sie sahen die Niederlage unvermeidlich kommen und wussten, dass rachlustige Feinde ihre Töchter schänden würden. Deshalb beharrte der Rat der Stadt auf der Unterwerfung. Ohne die Unterstützung der Männer von Harfleur, die von den Stadtmauern aus mit Armbrüsten schossen, und ohne die Frauen, die das Essen für die Garnison kochten, konnte der Kampf nicht weitergehen.

Seigneur de Gaucourt, der die Verteidigung geleitet hatte, bat um einen dreitätigen Waffenstillstand, um einen Boten mit der Frage zum französischen König zu schicken, ob Truppen zur Unterstützung der Stadt kommen würden oder nicht. Wenn nicht, dann würde er sich unter der Bedingung ergeben, dass die englische Armee die Stadt nicht plünderte und die Bevölkerung von Harfleur in Frieden ließe. Henry erklärte sich damit einverstanden, und so versammelten sich Priester und Edelleute am Leure-Tor, und die führenden Männer kamen aus der Stadt. Sie alle schworen feierlich, dass sie sich an die Bedingungen des Waffenstillstandes halten würden. Danach -und nachdem Henry Geiseln genommen hatte, um sicherzugehen, dass die Garnisonsbesatzung Wort halten würde - ritt ein Herold dicht an der Stadtmauer entlang, auf der die Bürger von Harfleur gestanden hatten, um die Zeremonie mitzuverfolgen. Auf Französisch rief er ihnen zu: «Ihr habt nichts zu befürchten! Der König von England ist nicht gekommen, um euch zu töten! Wir sind gute Christen. Harfleur ist nicht Soissons! Ihr habt nichts zu befürchten!»

Der Wind trieb den Rauch von der Stadt weg, und er löste sich im Spätsommerhimmel auf. Es war fast seltsam, dass keine Kanonen mehr feuerten, keine Triböcke mehr Geschosse schleuderten und dass der Kampf tatsächlich zu Ende war. Das Sterben allerdings hörte nicht auf. Immer noch wurden Leichen in die Wasserläufe geworfen, wo die Möwen an ihnen pickten, und es schien so, als ob die Krankheit niemals enden wollte.

Es kam keine französische Unterstützung.

Die französische Armee sammelte sich zwar im Osten, doch sie würde nicht zur Entsetzung von Harfleur kommen. Am nächsten Sonntag, dem Tag von Sankt Vincent, ergab sich die Stadt.

Auf dem Hang hinter dem englischen Lager wurde ein Pavillon errichtet. Unter den Baldachin stellte man einen Thron und behängte ihn mit goldfarbenem Stoff. Englische Banner flatterten zu beiden Seiten des Pavillons, in dem sich der Hochadel in seinen besten Gewändern drängte. Vor dem Pavillon bildeten zwei Reihen Bogenschützen eine Gasse, die über die Reste der Besatzungsanlagen bis zum zertrümmerten Stadttor reichte, das so vielen Angriffen standgehalten hatte. Hinter den Bogenschützen hatten sich die Reste von Henrys Kampftruppen versammelt, um den Ereignissen beizuwohnen.

Der König von England, bekrönt nur mit einem schlichten Goldreif, trug einen Wappenrock mit dem Hoheitszeichen des französischen Königshauses und saß schweigend auf dem Thron. Er beobachtete das Geschehen, vielleicht fragte er sich auch, was er als Nächstes tun sollte. Er war in die Normandie gekommen, um die Unterwerfung dieser Stadt zu erkämpfen, doch der Sieg hatte ihn seine halbe Armee gekostet.

Hook war am Leure-Tor, wo Sir John eine Truppe von zehn Feldkämpfern und vierzig Bogenschützen befehligte. Sir John, angetan mit seiner Rüstung, die man so lange abgerieben hatte, bis sie schimmernd glänzte, saß auf seinem großen Kampfhengst Lucifer. Das Tier war in einen prächtigen Leinenüberwurf gehüllt, auf dem Sir Johns Wappen prangte, und der gleiche Löwe erhob sich zähnefletschend aus Holz geschnitzt und bemalt auf Sir Johns Helmspitze. Die Feldkämpfer trugen ebenfalls Rüstungen, die Bogenschützen dagegen waren mit Lederwesten und fleckigen Kniehosen angetan. Sie hielten einfache Halfterstricke in der Hand, von der Art, die etwa ein Bauer dazu benutzen würde, um eine Kuh zum Markt zu führen. «Behandelt sie mit Respekt», erklärte Sir John seinen Bogenschützen. «Sie haben gut gekämpft. Sie sind wahre Männer!»

«Ich dachte, sie sind allesamt Scheiße fressende Kohlfurzer», sagte Will of the Dale leise - aber nicht leise genug.

Sir John wandte sich auf Lucifer um. «Das sind sie auch!», sagte er. «Aber sie haben trotzdem wie Engländer gekämpft. Also behandelt sie wie Engländer!»

Ein Abschnitt der neuen Mauer war eingerissen worden, und in demselben Moment, in dem Sir John sprach, tauchten aus der Lücke ungefähr drei Dutzend Männer auf. Es war ihnen befohlen worden, barfuß, in einfachen Leinenkitteln und schlichten Hosen vor den König von England zu treten. Nun gingen sie voll banger Ahnungen langsam und vorsichtig auf die wartenden Bogenschützen zu.

«Schlingen!», befahl Sir John.

Hook und die anderen Bogenschützen knüpften Schlingen in die Stricke. Sir John winkte einen Junker herbei, gab ihm seine Zügel und glitt vom Sattel. Er tätschelte Lucifers Hals, und dann ging er den Franzosen entgegen.

Er wandte sich an einen großgewachsenen Mann mit Hakennase und einem kurzen schwarzen Bart. Der Mann war blass, und Hook hielt ihn für krank, aber dennoch zwang er sich dazu, an der Spitze der Franzosen aus der Stadt zu gehen und sich so an Stolz zu bewahren, was ihm geblieben war. Der bärtige Mann hieß seine Gefährten mit einer Geste zu warten, während er allein weiter auf Sir John zuging. Die beiden Männer blieben einen Schritt voneinander entfernt stehen, der Engländer in großartigem Aufzug und mit allen Zeichen seines Standes, das Heft seines Schwertes poliert, seine Rüstung schimmernd, der Franzose dagegen in der schlechtsitzenden Kleidung der gewöhnlichen Leute, die König Henry ihm befohlen hatte. Sir John, der sein Helmvisier hochgeklappt hatte, sagte etwas, das Hook nicht hören konnte. Dann umarmten sich die beiden Männer.

Sir John ließ seinen rechten Arm um die Schultern des Franzosen liegen, während er ihn zu den Bogenschützen führte. «Hier vor euch steht Seigneur de Gaucourt», verkündete er, «der Befehlshaber unserer Feinde während der letzten fünf Wochen. Er hat tapfer gekämpft! Er verdient etwas Besseres als dies, doch unser König befiehlt, und wir müssen gehorchen. Hook, gib mir die Schlinge!»

Hook streckte ihm das Halfter entgegen. Der Franzose warf ihm einen abschätzenden Blick zu, und Hook fühlte sich versucht, respektvoll den Kopf zu senken.

«Es tut mir leid», sagte Sir John auf Französisch.

«Es ist notwendig», gab Raoul de Gaucourt rau zurück.

«Ist es das?», fragte Sir John.

«Wir müssen gedemütigt werden, damit das übrige Frankreich weiß, was es zu erwarten hat, wenn es Eurem König Widerstand leistet», sagte de Gaucourt. Er lächelte schwach und ließ seinen Blick dann über die englische Armee schweifen, die darauf wartete, seinen erniedrigenden Gang zum Thron des Königs mit ansehen zu können. «Ich bezweifle, dass Euer König jetzt noch die Macht besitzt, Frankreich in Schrecken zu versetzen», fuhr er fort. «Nennt Ihr dies einen Sieg, Sir John?», fragte er und deutete auf die zertrümmerte Stadtmauer, die er so tapfer verteidigt hatte. Sir John antwortete nicht. Stattdessen hob er die Schlinge, um sie de Gaucourt über den Kopf zu ziehen, doch der Franzose nahm sie ihm aus der Hand. «Gestattet», sagte er und legte sich die Schlinge selbst um den Hals.

Den anderen Franzosen legten die Bogenschützen die Schlingen um den Hals. Danach zog sich Sir John wieder auf Lucifers Sattel hinauf. Er nickte de Gaucourt zu und galoppierte die Gasse entlang, die die englischen Soldaten gebildet hatten.

Die Franzosen gingen in vollkommenem Schweigen durch diese Gasse. Manche waren ältere Männer, während andere, zumeist Soldaten, jung und stark waren. Es waren Ritter und Bürger, die Männer, die dem König von England getrotzt hatten, und die Schlingen um ihre Hälse zeigten, dass ihr Leben nun von Henrys Gnade abhing. Sie gingen den Abhang hinauf und knieten sich bescheiden vor den mit goldfarbenem Tuch verhüllten Thron. Henry betrachtete sie lange. Der Wind spielte mit den seidenen Bannern und trieb den letzten Rauch von den Ruinen der Stadt. Die versammelten englischen Edelleute schwiegen. Sie erwarteten, dass der König das Todesurteil über die knienden Männer fällte. «Ich bin der rechtmäßige König über dieses Reich», sagte Henry, «und euer Widerstand war Verrat.»

Ein schmerzlicher Ausdruck flog über de Gaucourts Miene. Aber er ging auf die Anschuldigung nicht ein und hielt stattdessen einen schweren Schlüsselbund hoch. «Die Schlüssel von Harfleur, Sire», sagte er. «Sie sind Euer.»

Der König nahm die Schlüssel nicht. «Eure Auflehnung», sagte er eindringlich, «war gegen das irdische und das göttliche Gesetz.»Einige der älteren Händler schüttelten die Köpfe. Einem von ihnen liefen Tränen über die Wangen. «Aber Gott», fuhr Henry gemessen fort, «ist gnädig.»Er nahm die Schlüssel. «Und auch Wir werden gnädig sein. Ihr habt euer Leben nicht verwirkt.»

Jubel stieg aus der englischen Armee auf, als das Sankt-Georgs-Kreuz über der Stadt aufgezogen wurde. Am nächsten Tag ging Henry von England barfuß zur Kirche Saint-Martin, um Gott für den Sieg zu danken, wenn auch viele bei seinem demütigen Pilgergang fanden, Henrys Triumph sei in Wahrheit eine Niederlage gewesen. Wie viel Zeit hatte er vor Harfleurs Mauern verschwendet, wie hatte die Krankheit seine Armee geschwächt - und nun war das Kriegsjahr beinahe vorüber! Die englische Armee zog in die Stadt. Die Männer brannten ihr Lager nieder und zogen Katapulte und Kanonen durch das zertrümmerte Stadttor. Sir Johns Leute quartierten sich in einer Reihe Herbergen und Lagerhallen bei der Ringmauer des Hafens ein. Hook fand einen Platz auf dem Speicher eines Gasthauses namens Le Paon. «Le paon ist ein Vogel», hatte Melisande erklärt, «mit einem großen Schwanz!»Dazu hatte sie ihre Arme weit ausgebreitet.

«Kein Vogel hat so einen großen Schwanz!», sagte Hook.

«Le paon aber schon», beharrte sie.

«Dann muss das ein französischer Vogel sein», sagte Hook, «kein englischer.»

Harfleur war nun englisch. Das Sankt-Georgs-Kreuz hing am eingestürzten Turm der Kirche Saint-Martin, und die Bürger der Stadt, die so viel gelitten hatten, mussten noch mehr leiden.

Sie wurden vertrieben. In der Stadt, so erklärte der König, würden Engländer angesiedelt, ebenso wie es in Calais geschehen war, und um Platz für diese neuen Bewohner zu schaffen, wurden über zweitausend Männer, Frauen und Kinder aus der Stadt vertrieben. Die Kranken lagen auf Karren, die anderen gingen zu Fuß, und zweihundert berittene Engländer bewachten diesen traurigen Zug entlang des Nordufers der Seine, um die Flüchtlinge vor ihren eigenen Landsleuten zu schützen, die sie sonst ausgeraubt und geschändet hätten. Feldkämpfer führten die Kolonne, und Bogenschützen flankierten sie.

Auch Hook gehörte zu diesen Bogenschützen. Er hatte nun wieder seinen schwarzen Wallach Raker, der so unruhig war, dass er ständig gezügelt werden musste. Hooks Wappenrock war sauber gewaschen, wenn auch das Rot des Sankt-Georgs-Kreuzes zu einem trüben Rosa verblichen war. Unter dem Wappenrock trug er ein gutes Kettenhemd, das er einem französischen Toten abgenommen, und eine Kettenhaube, die ihm Sir John gegeben hatte, und darüber hatte er jetzt einen Bacinet gestülpt, der ebenfalls von einer Leiche stammte. Das war ein Helm mit breiter Krempe, die abwärtsgerichtete Schwerthiebe ablenken sollte, doch Hook hatte die Krempe an der rechten Seite abgehackt, weil sie ihn beim Spannen der Bogensehne störte. An seiner Seite hing das Schwert, sein Bogen stak in der Hülle über seiner Schulter, und seine Pfeiltasche war am Sattelknopf befestigt. Zu seiner Rechten, jenseits der Flüchtlinge, glitzerte der schmaler werdende Fluss in der Sonne, während sich auf der linken Seite verwaiste Weiden erstreckten. Die Herden waren schon lange von englischen Versorgungstrupps mitgenommen worden. Hinter den Weiden wellten sich sanfte, bewaldete Hügel noch im tiefen Grün des Sommers. Melisande war in Harfleur geblieben, doch Pater Christopher hatte darauf bestanden, die Vertriebenen zu begleiten. Er ritt Sir Johns großen Hengst Lucifer. Sir John wollte, dass das Pferd bewegt wurde, und Pater Christopher erfüllte ihm diesen Wunsch nur allzu gerne. «Ihr hättet nicht mitkommen sollen, Pater», stellte Hook fest.

«Bist du jetzt auch noch unter die Quacksalber gegangen?»

«Ihr solltet Euch Ruhe gönnen, Pater.»

«Ruhe kann ich mir noch mehr als genug im Himmel gönnen», sagte Pater Christopher fröhlich. Zwar war er noch blass, doch er aß wieder richtig. Er trug seit seiner Genesung wieder häufiger eine Priesterkutte. «Diese Krankheit hat mich wirklich etwas erkennen lassen», sagte der Priester in scheinbarem Ernst.

«Ach ja? Und was denn?»

«Im Himmel, Hook, muss man bestimmt nicht scheißen.»

Hook lachte. «Aber Frauen gibt es dort schon, oder nicht, Pater?»

«In Hülle und Fülle, Hook, aber was ist, wenn das alles gute, sittsame Frauen sind?»

«Ihr meint, die schlechten Frauen werden alle zum Teufel hinabfahren, Pater?»

«Das wäre ein Grund zur Sorge», sagte Pater Christopher mit einem verschmitzten Lächeln, «aber ich vertraue darauf, dass Gott passende Vorkehrungen trifft.»Er grinste, froh, am Leben zu sein und unter der Septembersonne neben einer Brombeerhecke entlangzureiten, an der die reifen Früchte schimmerten. Der kratzende Ruf eines Wachtelkönigs hallte von den Hügeln wider. Kurz nach der Morgendämmerung, als die protestierenden Menschen aus Harfleur getrieben worden waren, war ein Hirsch mit prächtigen neuen Geweihenden an der Straße nach Rouen aufgetaucht. Hook hatte das als gutes Omen genommen, doch nun entdeckte Pater Christopher, als er in die dunklen Zweige einer abgestorbenen Ulme hinaufsah, ein unheilverkündendes. «Die Schwalben sammeln sich früh dieses Jahr», sagte er.

«Dann wird es ein harter Winter», gab Hook zurück.

«Es bedeutet, dass der Sommer zu Ende ist, Hook, und mit ihm gehen unsere Hoffnungen dahin. Ebenso wie diese Schwalben werden wir von hier verschwinden.»

«Zurück nach England?»

«Und zur Enttäuschung», sagte der Priester niedergeschlagen. «Der König hat Schulden zu begleichen, und das kann er nicht. Wenn er siegreich heimgekehrt wäre, würde das keine Rolle spielen.»

«Wir haben gewonnen, Pater», sagte Hook. «Wir haben Harfleur erobert.»

«Wir haben eine Meute Wolfshunde gebraucht, um ein Häschen zu töten», sagte Pater Christopher, «und dort draußen», er nickte in Richtung Osten, «rottet sich gerade eine viel größere Hundemeute zusammen.»

Ein paar dieser Hunde zeigten sich gegen Mittag. An einer Flussaue stockte die Spitze der langen Kolonne plötzlich, und der übrige Flüchtlingszug staute sich dahinter auf. Eine Gruppe feindlicher Reiter hinderte sie am Weiterkommen. Sie versperrte ihnen die Straße an einer Stelle, an der sie durch ein Tor in eine ummauerte Stadt führte. Die Leute aus der Stadt beobachteten das Geschehen von der Ringmauer aus. Der Feind hatte ein einziges Banner: Es war eine große weiße Flagge, auf der ein Adler seine gewaltigen Krallen spreizte. Die französischen Feldkämpfer waren zur Schlacht gerüstet, ihre Panzerrüstungen glänzten unter den hellen Wappenröcken, doch nur wenige von ihnen trugen Helme, und diese wenigen hatten die Visiere hochgeklappt, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie keinen Kampf erwarteten. Hook schätzte die Zahl der Gegner auf etwa hundert, und sie waren unter den Bedingungen des Waffenstillstands da, um die Flüchtlinge zu empfangen, die mit den Schuten, die am Nordufer des Flusses ankerten, nach Rouen gebracht werden sollten. «Gütiger Gott», sagte Pater Christopher und starrte das Adlerbanner an, das sich in dem gleichen Wind hob und senkte, der langgezogene Wellen über den Fluss trieb. «Das ist der Marschall», erklärte Pater Christopher und bekreuzigte sich.

«Der Marschall ?»

«Jean de Maingre, Herr von Boucicaut, Marschall von Frankreich.»Pater Christopher sprach die Namen und Titel langsam aus. Seine Stimme verriet Bewunderung für den Mann mit dem Adler im Wappen.

«Nie von ihm gehört, Pater», sagte Hook leichthin.

«Frankreich wird von einem Geisteskranken regiert», sagte der Priester, «und die königlichen Herzöge sind jung und eigenwillig, doch unsere Feinde haben ihren Marschall, und diesen Marschall gilt es zu fürchten.»

Sir William Porter, Sir John Cornewailles Waffenbruder, führte das englische Kontingent an, und nun ritt er barhäuptig zur Begrüßung des Marschalls. Der gab seinem Pferd die Sporen, um Sir William entgegenzureiten. Der Franzose war großgewachsen und saß auf einem Pferd mit sehr hohem Stockmaß, sodass er den Engländer bei der Unterhaltung überragte. Hook erschien es aus der Entfernung so, als würden sie miteinander lachen. Dann lud Sir William den Marschall mit einer höflichen Geste ein, die englischen Truppen abzureiten. Ohne einen weiteren Blick auf die französischen Zivilisten ritt er an der Reihe aus Feldkämpfern und Bogenschützen entlang.

Der Marschall trug keinen Helm. Sein Haar war dunkelbraun, achtlos kurz geschnitten und begann an den Schläfen zu ergrauen. Es umrahmte ein Gesicht von solcher Grausamkeit, dass Hook zusammenzuckte. Es war kantig, roh, vernarbt, und die Nase musste schon einmal gebrochen gewesen sein. Der Marschall war von den Spuren des Lebens und vieler Schlachten gezeichnet, doch er hatte sich nicht besiegen lassen. Es war ein hartes Gesicht, das Gesicht eines Mannes, eines Kriegers, mit scharfen dunklen Augen, die er über Männer und Pferde gleiten ließ, um ihre Verfassung einzuschätzen. Sein Mund bildete eine grimmige Linie, doch als er Pater Christopher sah, lächelte er plötzlich, und in diesem Lächeln erkannte Hook einen Mann, der andere zu großer Treue und großen Siegen bewegen konnte. «Ein Priester auf einem Kampfhengst!», sagte der Marschall erheitert. «Wir lassen unsere Priester auf altersschwachen Stuten reiten, nicht auf Kampfhengsten!»

«Wir Engländer haben so viele Kampfhengste, Sire», gab Pater Christopher zurück, «dass wir auch für die Männer Gottes welche entbehren können.»

Der Marschall blickte Lucifer bewundernd an. «Ein gutes Pferd», sagte er. «Wem gehört es?»

«Sir John Cornewaille», antwortete der Priester.

«Aah!», der Marschall war erfreut. «Richtet dem guten Sir John mein Kompliment aus! Sagt ihm, ich sei sehr glücklich darüber, dass er sich Zeit für einen Besuch in Frankreich genommen hat. Ich hoffe, er wird schöne Erinnerungen mit zurück nach England nehmen. Und zwar soll er sie sehr bald mit zurück nach England nehmen!»Der Marschall lächelte Pater Christopher an und wandte seinen aufmerksamen Blick dann Hook zu. Er sah sich genau an, mit welchen Waffen und welcher Rüstung der Bogenschütze ausgerüstet war, und streckte dann seine Hand im Stahlhandschuh aus. «Erweise mir die Ehre», sagte er, «und leihe mir deinen Bogen.»

Pater Christopher übersetzte für Hook, der den Marschall zwar verstanden, aber nicht geantwortet hatte, weil er nicht recht wusste, wie er reagieren sollte. «Lass ihm deinen Bogen, Hook», sagte Pater Christopher, «und bespann ihn vorher.»

Hook zog den großen Bogenschaft aus der Hülle, stemmte das untere Ende in seinen linken Steigbügel und zog die Schlinge über die obere Nocke. Er spürte die schiere Spannungskraft in dem Eibenholz. Der Bogen schien vor Erwartung zu zittern. Der Marschall hielt weiter die Hand ausgestreckt, und Hook reichte ihm den Bogen hinüber.

«Das ist ein großer Bogen.»Boucicaut hatte, die Worte suchend, englisch gesprochen.

«Einer der größten, die ich je gesehen habe», sagte Pater Christopher, «und er gehört einem sehr starken jungen Bogenschützen.»

Ein Dutzend französischer Feldkämpfer waren dem Marschall gefolgt, und die Männer betrachteten aus ein paar Schritten Entfernung, wie er den Bogen in die Linke nahm und versuchsweise mit der Rechten an der Sehne zog. Seine Augenbrauen hoben sich vor Überraschung, als er bemerkte, welche Kraft dieser Bogen erforderte, und er warf Hook einen anerkennenden Blick zu. Anschließend untersuchte er den Bogen, zögerte und hob ihn dann an, als läge ein Pfeil auf der Sehne. Er atmete tief ein. Dann zog er an der Sehne.

Die englischen Bogenschützen sahen ihm mit einem unterdrückten Lächeln zu, denn sie wussten, dass nur ein geübter Bogenschütze solch eine Sehne voll ausziehen konnte. Die Sehne nahm den halben Weg und blieb stehen, dann zog Boucicaut erneut, und die Sehne wanderte weiter zurück, bis sie neben seinem Mund angekommen war. Hook sah die Anstrengung im Gesicht des Franzosen, doch Boucicaut war noch nicht fertig. Er schnitt eine kleine Grimasse, zog erneut und holte die Sehne zurück bis zu seinem rechten Ohr. Er hielt sie dort in voller Spannung, richtete seinen Blick auf Hook und zog eine Augenbraue empor.

Hook konnte nicht anders. Er lachte, und mit einem Mal jubelten die englischen Bogenschützen dem französischen Marschall zu, dessen Gesicht reines Entzücken ausstrahlte, während er dem Gegenzug der Bogensehne langsam nachgab und Hook anschließend den Bogen zurückreichte. Hook nahm ihn grinsend und verbeugte sich halb in seinem Sattel. «Engländer!», rief Boucicaut. «Hier!»Er warf Hook eine Münze zu, und immer noch entzückt lächelnd, ritt er die Linie der Beifall klatschenden Bogenschützen zu Ende ab.

«Ich habe es dir ja gesagt», meinte Pater Christopher, «er ist ein Mann.»

«Und ein großzügiger Mann», sagte Hook und starrte auf die Münze in seiner Hand. Sie war aus Gold, so groß wie ein Schilling, und er schätzte, dass sie ein Jahreseinkommen wert war. Er schob sie in seinen Beutel, in dem er zusätzliche Pfeilspitzen und drei zusätzliche Bogensehnen aufbewahrte.

«Ein guter und großzügiger Mann», stimmte Pater Christopher zu, «aber kein Mann, den man zum Feind haben will.»

«Ebenso wenig wie mich», unterbrach ihn eine Stimme. Hook wandte sich im Sattel um und erkannte in einem der Feldkämpfer, die dem Marschall gefolgt waren, Seigneur de Lanferelle, der sich nun auf seinen Sattelknopf lehnte, um Hook anzustarren. Er warf einen Blick auf Hooks Rechte, deren kleiner Finger fehlte, und die Andeutung eines Lächelns zeigte sich auf seinem Gesicht. «Bist du schon mein Schwiegersohn ?»

«Nein, Sire», sagte Hook und nannte Pater Christopher Lanferelles Namen.

Der Franzose sah den Priester abschätzend an. «Ihr wart krank, Pater.»

«Das war ich», pflichtete ihm Pater Christopher bei.

«Lautet so der Richterspruch Gottes? Hat Er in Seiner Gnade Eure Armee für die Sündhaftigkeit Eures Königs mit der Krankheit geschlagen?»

«Sündhaftigkeit?», fragte Pater Christopher sanft.

«Indem er nach Frankreich gekommen ist», sagte Lanferelle und straffte sich in seinem Sattel. Sein geöltes Haar hing glatt und rabenschwarz bis zu seiner Mitte herab, um die sich ein silberbeschlagener Schwertgürtel schloss. Sein auffallend schönes Gesicht war nach dem Sommer noch tiefer gebräunt, sodass seine Augen unnatürlich hell wirkten. «Doch Ihr, so hoffe ich, bleibt in Frankreich, Pater.»

«Ist das eine Einladung?»

«Allerdings!»Lanferelle lächelte und zeigte dabei sehr weiße Zähne. «Wie viele Männer habt Ihr jetzt?»

«Wir sind so zahlreich wie die Sandkörner am Meeresstrand», antwortete der Priester fröhlich, «und so unüberschaubar wie die Sterne am Firmament und so unzählbar viele, wie bissige Flöhe im Schritt einer französischen Hure hausen.»

«Und ebenso gefährlich», sagte Lanferelle, ohne sich von den herausfordernden Worten des Priesters beeindrucken zu lassen. «Also, wie viele seid ihr jetzt? Weniger als zehntausend? Und wie ich höre, schickt Eurer König die kranken Männer nach Hause.»

«Er schickt Männer nach Hause», sagte Pater Christopher, «weil wir genügend haben, um alles zu tun, was auch immer getan werden muss.»

Hook überlegte, woher Lanferelle wusste, dass die Kranken nach Hause geschickt wurden, dann wurde ihm klar, dass französische Kundschafter Harfleur von den Hügeln aus beobachten mussten. Sie hatten gesehen, dass Bahren mit Kranken zu den englischen Schiffen getragen worden waren, die mittlerweile in dem Hafen mit der Ringmauer ankerten.

«Und Euer König bringt Verstärkung her», sagte Lanferelle, «aber wie viele einer Männer muss er in Harfleur zur Bewachung der Ruinen abstellen? Eintausend?»Erneut lächelte er. «Ihr habt wirklich nur eine sehr kleine Streitmacht, Pater.»

«Zumindest aber kämpft sie», sagte Pater Christopher, «während Eure Armee in Rouen liegt und schläft.»

«Aber die Männer unserer Armee», sagte Lanferelle, und seine Stimme klang mit einem Mal schroff, «sind tatsächlich so zahlreich wie die Flöhe im Schritt einer Pariser Hure.»Er raffte die Zügel zusammen. «Ich hoffe, dass Ihr bleibt, Pater, und auch einmal dorthin kommt, wo sich die französischen Flöhe von englischem Blut ernähren.»Er nickte Hook zu. «Richte Melisande meinen Gruß aus.»Dann wandte er sich im Sattel um. «Jean! Venez!»Derselbe einfältige Junker, der im Wald über Harfleur Melisande angestarrt hatte, eilte zu seinem Herrn und streifte auf Lanferelles Geheiß den Wappenrock ab. Seigneur de Lanferelle nahm das bunte Gewand mit seiner leuchtenden Sonne und dem stolzen Falken, wickelte es zu einem Ball und warf es Hook zu. «Wenn es zur Schlacht kommt», sagte er, «dann sag Melisande, sie soll das anziehen. Vielleicht reicht es, um sie zu schützen. Ich würde ihren Tod bedauern. Einen guten Tag euch beiden.»Und damit ritt er los, um den Marschall einzuholen.

Am nächsten Tag ballten sich die Wolken am Himmel, türmten sich über der See und trieben über Harfleur hinweg wie ein graues Bahrtuch. Die Bogenschützen hatten viel damit zu tun, die Stadtmauer behelfsmäßig instand zu setzen. Sie errichteten Balkenpalisaden in den Lücken, die zur Verteidigung genügen mussten, bis Mauersteine aus England kamen, mit denen die Befestigungsanlage vollständig wiederhergestellt werden konnte. Noch immer wurden Männer krank, und in den trümmerübersäten Straßen stank es nach Jauche, die in den Fluss Lezarde sickerte. Er floss wieder frei durch den Steinkanal, der die Stadt in der Mitte durchquerte, bis er in das enge Hafenbecken mündete, aus dem es stank wie aus einer Abortgrube.

Die König sandte dem Dauphin eine Herausforderung. Er bot ihm einen Kampf Mann gegen Mann an, dessen Gewinner Nachfolger des närrischen Königs Charles auf dem französischen Thron werden sollte. «Darauf wird er nicht eingehen», sagte Sir John Cornewaille. Sir John war gekommen, um zu überwachen, wie die Bogenschützen Pfähle zur Unterstützung der neuen Palisade in den Boden rammten. «Der Dauphin ist ein fetter, fauler Bastard, unser Henry dagegen ist ein Krieger. Es ist, als würde man ein Ferkel gegen einen Wolf kämpfen lassen.»

«Und wenn sich der Dauphin wirklich auf keinen Kampf einlässt, Sir John?», fragte Thomas Evelgold.

«Dann gehen wir nach Hause, vermute ich», sagte Sir John unzufrieden. Das war die herrschende Überzeugung in der englischen Armee. Die Tage wurden kürzer und merklich kühler, bald würden die herbstlichen Regenfälle über das Land ziehen, und all das bedeutete, dass die Zeit der Feldzüge für dieses Jahr vorüber war. Und selbst wenn Henry den Feldzug hätte fortsetzen wollen, war seine Streitmacht zu klein, und die französische Armee war zu groß. Vernünftige Männer, erfahrene Männer, erklärten, dass es nur ein Narr mit all diesen Schwierigkeiten zugleich aufnehmen würde. «Wenn wir noch sechstausend oder siebentausend Mann mehr hätten», sagte Sir John, «dann wagte ich zu behaupten, dass wir ihnen ihre gottverdammten Nasen einschlagen könnten, aber das werden wir nicht. Wir lassen eine Truppe in Harfleur, turn dieses Loch von einer Stadt zu verteidigen, und der Rest von uns segelt heim.»

Zwar kam noch immer Verstärkung an, doch es waren nicht sehr viele Männer, in jedem Fall nicht annähernd genug, um die Zahl der Toten und Kranken auszugleichen. Doch die Schiffe brachten sie in den stinkenden Hafen, und die verunsicherten Neuankömmlinge liefen den Plankengang herunter und starrten mit aufgerissenen Augen die eingestürzten Dächer und die zertrümmerten Kirchen und die verkohlten Ruinen an. «Die meisten von uns werden bald nach Hause gehen», erklärte Sir John seinen Männern, «und die Neuen werden Harfleur verteidigen.»Er war in düsterer Stimmung. Die Besetzung Harfleurs reichte bei weitem nicht aus, um das viele Geld oder die vielen Leben zu rechtfertigen, die der Kampf gekostet hatte. Sir John wollte mehr, und Gerüchte besagten, dass auch der König mehr wollte, doch alle anderen bedeutenden Lords, die königlichen Dukes, die Earls, die Bischöfe, die Militärführer - alle rieten dem König, nach Hause zu gehen.

«Wir haben keine Wahl», erklärte Thomas Evelgold Hook am Abend. Die bedeutendsten Lords hielten mit Henry einen Kriegsrat ab. Sie wollten ihrem König mit den hochfliegenden Plänen Vernunft beibringen, und die Armee wartete auf den Beschluss des Rates. Der Abend war wundervoll, und die untergehende Sonne warf lange Schatten über den Hafen. Hook und Evelgold saßen an einem Tisch vor dem Le Paon und tranken Ale, das man mit dem Schiff aus England gebracht hatte, weil alle Brauereien in Harfleur zerstört worden waren. «Wir müssen nach Hause», sagte Evelgold, der an die hitzigen Auseinandersetzungen dachte, die zweifellos gerade im Zunfthaus neben der Kirche Saint-Martin geführt wurden.

«Könnten wir nicht als Teil der Garnisonsbesatzung bleiben?», sagte Hook.

«Nur das nicht!», erwiderte Evelgold sofort und bekreuzigte sich. «Diese gottverdammte Riesenarmee der Franzosen wird Harfleur problemlos zurückerobern! In drei Tagen haben sie unsere Palisaden niedergerissen, und dann töten sie jeden Mann in der Stadt.»

Hook sagte nichts. Er hielt den Blick auf die enge Hafeneinfahrt gerichtet. Gerade versuchte man, ein Schiff durch die hohen Dünungswellen zu steuern. Der schwache Wind reichte nicht, um die Segel einzusetzen. Möwen kreisten über dem Einmaster und den hohen, reich vergoldeten Kastellen. «Die Holy Ghost», sagte Evelgold und nickte in Richtung des Schiffes.

Die Holy Ghost, die «Heiliger Geist», war ein neues Schiff. Der König hatte es zur Unterstützung seiner Armee bauen lassen, doch nun wurde es hauptsächlich eingesetzt, um kranke Männer nach England zurückzubringen. Es schob sich immer näher an den Kai. Hook sah Männer an Deck, doch es waren nicht annähernd so viele, wie das Schiff auf seiner vorherigen Reise mitgebracht hatte. Vielleicht waren dies überhaupt die letzten Männer, die der König aufbieten konnte.

«Fünfzehnhundert Schiffe waren nötig, um unsere Armee hierherzubringen», sagte Evelgold, «aber um uns zurückzubringen, brauchen wir lange nicht so viele.»Er lachte bitter auf. «Wir haben diesen gottverdammten Sommer vollkommen verschwendet.»Die Sonne spiegelte sich glitzernd in den beiden vergoldeten Kastellen auf der Holy Ghost. Die Männer auf Deck starrten zum Land herüber. «Willkommen in der Normandie», sagte Evelgold. «Geht deine Frau wieder mit dir nach England?»

«Ja, das tut sie.»

«Ich habe gedacht, ihr wollt heiraten.»

«Das tun wir wahrscheinlich auch.»

«Aber macht es in England, Hook.»

«Warum in England?»

«Weil es Gottes Land ist, nicht wie diese verfluchte Gegend hier.»

Centenare und Feldkämpfer waren an den Kai gekommen, um festzustellen, ob einer der Neuankömmlinge zu ihrer Kompanie gehörte. Lord Slaytons Centenar, William Snoball, war ebenfalls dabei, und er grüßte Hook höflich. «Es hat mich überrascht, Euch hier zu sehen, Master Snoball», sagte Hook.

«Weshalb?»

«Wer verwaltet das Gut, während Ihr hier seid?»

«John Willetts. Er kommt ganz gut ohne mich zurecht. Und Seine Lordschaft wollte, dass ich nach Frankreich gehe.»

«Weil Ihr ein erfahrener Mann seid», warf Evelgold ein.

«Ja, deshalb auch», stimmte Snoball zu. «Und Seine Lordschaft wollte, dass ich ein Auge auf», er zögerte, «Ihr wisst schon wen habe.»

«Sir Martin?», fragte Hook. «Und warum in Gottes Namen hat er ihn hierhergeschickt?»

«Was denkst du wohl?», sagte Snoball schroff.

Hook tat mit einer Geste so, als zöge er sich ein Messer durch die Kehle. «Das hofft er also?»

«Er hofft, dass sich Sir Martin um unser Seelenheil kümmert», erwiderte Snoball zurückhaltend, und dann, vielleicht weil er glaubte, schon zu viel gesagt zu haben, ging er ein paar Schritte den Kai hinunter.

Hook sah zu, wie die Holy Ghost immer näher kam. «Erwarten wir neue Männer?», fragte er.

«Nicht dass ich wüsste. Sir John hat jedenfalls nichts davon gesagt.»

«Er ist unzufrieden.»

«Weil er toll ist, so toll wie ein mondsüchtiger Hund.»Thomas Evelgold brütete einen Moment lang vor sich hin. «Er will einfach immer weiter ins Land eindringen! Der Mann ist toll! Er will, dass wir alle sterben. Aber für ihn wäre trotzdem alles in Ordnung, oder etwa nicht?»

«Alles in Ordnung?»

«Er würde ja nicht draufgehen, oder? Was geschieht denn, wenn wir weiter ins Inland ziehen und es zur Schlacht kommt? Die Adligen werden nicht getötet, Hook, sie werden nur gefangen genommen! Aber für dich und mich zahlt niemand Lösegeld. Deswegen werden wir abgeschlachtet, Hook, während Ihre Lordschaften auf ein behagliches Schloss gebracht werden, wo man sie mit Essen, Trinken und Huren versorgt. Sir John will einfach nur kämpfen. Aber er weiß, dass er eine Schlacht wahrscheinlich überleben würde. Doch er sollte auch an uns denken.»Evelgold leerte seinen Ale-Krug. «Allerdings passiert es ja nicht. Am Sankt-Martins-Tag sind wir alle wieder zu Hause.»

«Der König will auch weiterkämpfen», sagte Hook.

«Der König kann ebenso gut zählen wie du und ich», sagte Evelgold herablassend, «und er wird nicht weiterkämpfen.»

Vom Deck der Holy Ghost aus wurden den Männern auf dem Kai Taue zugeschleudert, und dann zogen sie das große Schiff langsam und vorsichtig an die Kaimauer. Plankengänge wurden herabgelassen, und die Neuankömmlinge, die geradezu unnatürlich sauber wirkten, wurden an Land geschickt. Es waren etwa sechzig Bogenschützen, alle trugen ihre eingehüllten Bögen, Pfeiltaschen und Kleiderbündel bei sich. Die roten Sankt-Georgs-Kreuze auf ihren Wappenröcken strahlten. Ein Priester kam den nächsten Plankengang herunter, fiel am Kai auf die Knie und bekreuzigte sich. Ihm folgten vier Bogenschützen mit dem Mond und den Sternen Lord Slaytons, und einer von ihnen hatte lockiges goldfarbenes Haar, das unter dem Rand seines Helmes hervorlugte. Einen Moment lang traute Hook seinen Augen nicht, dann stand er auf und rief: «Michael! Michael!»

Es war sein jüngerer Bruder. Michael sah ihn und grinste. «Mein Bruder», sagte Hook erklärend zu Evelgold und ging Michael entgegen. Sie umarmten sich. «Mein Gott, du bist es wirklich», sagte Hook.

William Snoball rief Michaels Namen, doch Hook wandte sich zu dem Verwalter um und sagte: «Er kommt nach, Master Snoball. Wo habt Ihr Euer Quartier?»

Snoball erklärte es ihm widerwillig, und Hook versprach, seinen Bruder hinzubringen. Dann ging er mit Michael an den Tisch und schenkte ihm einen Krug Ale ein. Thomas Evelgold ließ die beiden allein. «Was in Gottes Namen tust du hier?», fragte Hook.

«Lord Slayton schickt seine letzten Bogenschützen», sagte Michael. Dann grinste er. «Er vermutet, dass ihr hier Hilfe brauchen könntet. Ich wusste nicht einmal, dass du hier bist!»

Sie erzählten sich, was in der letzten Zeit geschehen war. Hook berichtete, dass Robert Perrill bei der Belagerung umgekommen war, wenn er auch nicht verriet, wie, und Michael erzählte, dass ihre Großmutter gestorben war. Es berührte Hook nicht im Mindesten. «Sie war ein bösartiges altes Weib», sagte er.

«Sie hat sich trotzdem um uns gekümmert», wandte Michael ein.

«Sie hat sich um dich gekümmert, um mich nicht.»

Dann kam Melisande aus dem Gasthaus, und Hook stellte sie seinem Bruder vor, und plötzlich spürte Hook ein wildes, ungewohntes Glück in sich. Die beiden Menschen, die er am meisten liebte, waren bei ihm, er hatte die Taschen voller Geld, und alles auf der Welt schien gut zu sein. Der Feldzug in Frankreich mochte vorüber sein, und zwar, bevor sie einen großen Sieg errungen hatten, aber Hook war dennoch glücklich. «Ich frage Sir John, ob er dich in seine Kompanie aufnimmt», schlug er Michael vor.

«Ich glaube nicht, dass Lord Slayton das erlaubt», sagte Michael.

«Vielleicht nicht, aber fragen kann ich ja trotzdem.»

«Und wie sehen die Pläne für die Armee aus?», wollte Michael wissen.

«Ich vermute, ein paar arme Schweine müssen hierbleiben und die Stadt verteidigen», sagte Hook, «und der Rest von uns geht heim.»

«Heim?»Michael runzelte die Stirn. «Wir sind doch gerade erst angekommen!»

«Das wird jedenfalls erzählt. Die Lords sind gerade dabei, eine Entscheidung zu treffen. Auf jeden Fall ist es zu spät im Jahr, um weiter ins Land einzurücken, und abgesehen davon ist die französische Armee zu groß. Wir gehen heim.»

«Ich hoffe nicht», sagte Michael. Er grinste. «Ich bin nicht den ganzen Weg hierhergekommen, um einfach wieder heimzugehen. Ich will kämpfen.»

«Nein, willst du nicht», sagte Hook, und seine Worte überraschten ihn selbst. Melisande war ebenfalls erstaunt und sah ihn neugierig an.

«Ich will es nicht?»

«Es ist blutig», sagte Hook, «und die Männer schreien nach ihren Müttern. Es ist alles nur Schreien und Schmerz und Bastarde in Metallpanzern, die dich umbringen wollen.»

Michael war verblüfft. «Aber sie haben gesagt, wir schießen nur mit Pfeilen auf die Franzosen.»

«Ja, das tust du auch, aber es kommt immer der Moment, Bruder, in dem du ihnen doch nahe kommen musst. Nahe genug, dass du ihnen in die Augen sehen kannst. Nahe genug, dass du sie mit einem Messer töten kannst.»

«Und darin ist Nicholas gut», sagte Melisande.

«Aber nicht jeder Mann ist darin gut», sagte Hook, der vermutete, dass Michael mit seinem freundlichen und vertrauensvollen Wesen nicht kaltblütig genug sein würde, um sich an jemanden heranzukämpfen und ihn ohne einen weiteren Gedanken niederzumetzeln.

«Vielleicht nur eine Schlacht», sagte Michael sehnsüchtig. «Es muss ja keine große sein.»

Hook brachte Michael bei Sonnenuntergang in die Stadt. Lord Slaytons Männer hatten sich in der Nähe des Montvilliers-Tors in ein paar Häusern einquartiert. Hook ging mit seinem Bruder in den Innenhof eines Händlerhauses. Von Sir Martin war nichts zu sehen, doch Thomas Perrill saß finster vor sich hin grübelnd an einer Wand und starrte die beiden Hooks ausdruckslos an.

«Michael kommt zu euch», verkündete Hook laut, «und Sir John Cornewaille lässt euch wissen, dass mein Bruder unter seinem Schutz steht.»Sir John hatte nichts dergleichen gesagt, aber keiner von Lord Slaytons Männern konnte das wissen.

Tom Perrill lachte höhnisch auf, sagte jedoch nichts. William Snoball kam zu Hook. «Es wird keinen Ärger geben», sagte er.

«Es wird ganz bestimmt keinen Ärger geben!», wiederholte eine Stimme. Als Hook sich umwandte, hatte er am Eingang des Hofes Sir Edward Derwent vor sich, Lord Slaytons Befehlshaber, der in dem unterirdischen Gang gefangen genommen worden war. Sir Edward war nach der Unterwerfung der Stadt freigelassen worden, und Hook vermutete, dass er direkt vom Kriegsrat kam, denn er trug seine besten Gewänder. Nun ging Sir Edward mit großen Schritten bis zur Mitte des Hofes. «Es wird keinen Arger geben!», sagte er erneut. «Ihr werdet nicht untereinander kämpfen, weil es eure Aufgabe ist, gegen die Franzosen zu kämpfen!»

«Ich dachte, wir gehen heim», sagte Snoball überrascht.

«Nun, das tun wir nicht», sagte Sir Edward. «Der König will mehr, und was der König will, das bekommt er.»

«Wir bleiben hier?», fragte Hook ungläubig. «In Harfleur?»

«Nein, Hook», sagte Sir Edward. «Wir setzen uns in Marsch.»Er klang grimmig, so als missbillige er die Entscheidung. Aber Henry war der König, und, ganz wie Sir Edward gesagt hatte, was der König wollte, bekam er auch.

Und was Henry wollte, war mehr Krieg.

Und deshalb würde die Armee ins französische Inland ziehen.

Загрузка...