TEIL DREI Zum Fluss der Schwerter

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Auf dem Marsch waren keine schweren Wagen zugelassen. Die Lasten sollten von Männern und Packpferden getragen oder auf leichten Karren mitgenommen werden. «Wir müssen schnell vorankommen», erklärte Sir John.

«Es ist Hochmut», erklärte Pater Christopher Hook. «Nichts als Hochmut.»

«Hochmut?»

«Der König kann nicht einfach nach England zurückkommen und für all das eingesetzte Geld nichts als Harfleur vorzuweisen haben! Deshalb muss er mehr tun, als den französischen Hund zu treten, er glaubt, dass er ihn auch noch am Schwanz ziehen müsse.»

Der französische Hund schien immer noch zu schlafen. Den Berichten zufolge schwoll die feindliche Armee immer weiter an, doch nichts deutete darauf hin, dass sie sich aus der Umgebung von Rouen wegbewegen würde. Deshalb hatte der König von England beschlossen, der Christenheit zu zeigen, dass er ungestraft von Harfleur nach Calais marschieren konnte, wenn es ihm gerade einfiel. «So weit ist es nicht», erklärte Sir John seinen Männern. «Vielleicht brauchen wir eine Woche.»

«Und was gewinnen wir durch einen einwöchigen Marsch durch Frankreich?», fragte Hook Pater Christopher.

«Nichts», gab der Priester unverblümt zurück.

«Warum tun wir es dann?»

«Einfach um zu zeigen, dass wir es können. Um zu zeigen, dass uns die unfähigen Franzosen machtlos dabei zusehen müssen.»

«Und wir gehen ohne die großen Wagen?»

Pater Christopher grinste. «Wir wollen schließlich nicht, dass uns die unfähigen, machtlosen Franzosen einholen, nicht wahr? Das wäre eine Katastrophe, Hook! Also können wir nicht zweihundert schwere Gespanne mitnehmen, dadurch würden wir viel zu langsam werden. Also werden wir unseren Pferden die Sporen geben und sehen, dass wir so schnell wie möglich durchkommen. Den Letzten beißen die Hunde.»

«Hört zu, das ist wichtig!», hatte Sir John seinen Männern erklärt. Er war in die Schankstube des Paon gestürmt und hatte mit seinem Schwertgriff auf eines der Fässer getrommelt. «Seid ihr wach? Hört ihr zu? Ihr nehmt Vorräte für acht Tage mit! Und alle Pfeile, die ihr tragen könnt! Ihr nehmt Waffen, Rüstungen, Pfeile und Vorräte mit, und sonst nichts! Wenn ich irgendwen sehe, der etwas anderes als Waffen, Rüstung, Pfeile oder Vorräte dabeihat, stopfe ich ihm diesen überflüssigen Ballast in den Hals und ziehe ihn aus seinem gottverdammten Arsch wieder heraus! Wir müssen schnell sein!»

«Das war alles schon einmal da», erklärte Pater Christopher Hook am nächsten Morgen.

«Schon einmal?»

«Kennst du deine eigene Geschichte nicht, Hook?»

«Ich weiß, dass mein Großvater ermordet wurde und mein Vater auch.»

«Ach ja, das traute Leben in einer glücklichen Familie», sagte der Priester, «aber denke einmal zurück an die Zeit deines Urgroßvaters. Damals war Edward König. Der dritte Edward. Er war hier in der Normandie und hatte einen schnellen Marsch auf Calais beschlossen - nur dass man ihn auf halbem Weg einkesselte.»

«Und er ist umgekommen?»

«Guter Gott, nein! Er hat die Franzosen geschlagen! Du hast doch bestimmt von Crecy gehört, oder?»

«Natürlich habe ich von Crecy gehört!», sagte Hook. Jeder Bogenschütze wusste über Crecy Bescheid, über die Schlacht, bei der die englischen Bogenschützen den französischen Adel niedergemacht hatten.

«Also weißt du auch, dass es eine glorreiche Schlacht war, Hook, in der Gott die Engländer begünstigte, doch Gottes Gunst ist ein unstetes Ding.»

«Wollt Ihr mir sagen, dass Er nicht auf unserer Seite ist?»

«Ich sage dir, dass Gott auf der Seite desjenigen ist, der gewinnt, Hook.»

Hook dachte einen Moment über diese Worte nach. Er schärfte Pfeilspitzen, wetzte die Ahlspitzen und Breitköpfe an einem Stein. Er dachte an all die Erzählungen, die er als Kind gehört hatte, wenn die alten Männer über die Pfeilgewitter von Crecy und Poitiers geredet hatten. Er wedelte mit einem Breitkopf in Pater Christophers Richtung. «Wenn es zu einer Begegnung mit den Franzosen kommt», sagte er voll Überzeugung, «dann gewinnen wir. Wir durchlöchern ihnen damit ihre Rüstungen, Pater.»

«Ich hege den schmerzlichen Verdacht, dass der König mit dir einer Meinung ist», sagte der Priester sanftmütig. «Er glaubt wirklich, Gott sei auf seiner Seite. Sein Bruder ist offenkundig anderer Überzeugung.»

«Welcher Bruder?», fragte Hook. Der Duke of Clarence und der Duke of Gloucester waren beide in der Armee.

«Clarence», sagte Pater Christopher. «Er segelt heim.»

Hook runzelte bei dieser Neuigkeit die Stirn. Der Duke war, wenn man den Aussagen mancher Männer glauben durfte, sogar ein noch besserer Soldat als sein älterer Bruder. Hook begutachtete eine Ahlspitze. Die meisten der langen, schmalen Pfeilspitzen waren schwarz vor Rost. Diese Spitze schimmerte wieder metallisch und war höllisch scharf. Er stach damit probehalber leicht gegen seinen Handballen, dann feuchtete er seine Hände an, um die Befiederung des Pfeils zu glätten. «Warum zieht er ab?»

«Ich vermute, weil er mit der Entscheidiung seines Bruders nicht einverstanden ist», sagte Pater Christopher vage. «Öffentlich wird selbstverständlich nur gesagt, dass der Duke krank sei, doch für einen leidenden Mann hat er bemerkenswert gut ausgesehen. Natürlich darf man ebenfalls nicht vergessen, dass, wenn Henry getötet wird, was Gott verhüten möge, Clarence zu König Thomas wird.»

«Unser Henry wird nicht sterben», sagte Hook wild.

«Er könnte sogar sehr leicht sterben, wenn uns die Franzosen einholen», gab der Priester scharf zurück. «Aber sogar unser Henry ist in der Lage, sich einen Rat anzuhören. Es wurde ihm gesagt, er solle nach Hause gehen, obwohl er eigentlich auf Paris marschieren wollte, und schließlich hat er sich für Calais umentschieden. Und mit Gottes Hilfe, Hook, werden wir Calais erreichen, lange bevor uns die Franzosen einholen können.»

«Ihr lasst es klingen, als würden wir vor ihnen davonlaufen.»

«Nicht ganz», sagte der Priester, «aber beinahe. Stell dir einmal unsere liebliche Melisande vor.»

Hook runzelte überrascht die Stirn. «Melisande?»

«Die Franzosen sammeln sich an ihrem Nabel, Hook, und wir sitzen auf ihrem rechten Nippel. Was wir vorhaben, ist, zu ihrem linken Nippel hinüberzurennen, und dabei beten wir zum lieben Gott, dass es die Franzosen nicht vor uns bis in das Tal zwischen ihren Brüsten schaffen.»

«Und wenn sie es doch tun?»

«Dann wird in diesem Tal der Tod über uns die Schwingen ausbreiten», sagte Pater Christopher. «Also bete, dass wir schnell sind und die Franzosen weiterschlafen.»

«Ihr dürft euch nicht zu viel aufladen!», hatte Sir John seinen Bogenschützen im Schankraum erklärt. «Wir können die Pfeile nicht in Fässern mitnehmen, weil wir keine Wagen für die Fässer haben! Und wir können keine Haltescheiben für die Pfeile verwenden. Also bündelt die Pfeile, bündelt sie einfach!»

In den Bündeln wurden die Befiederungen zerdrückt, und zerdrückte Befiederungen ließen die Pfeilbahn ungenau werden, doch sie hatten keine andere Wahl, als die Pfeile eng zusammenzubinden, um die Bündel an den Sattel zu hängen oder einem Packpferd aufzuladen. Es dauerte zwei Tage, bis alle Bündel geschnürt waren, denn der König forderte, jeden entbehrlichen Pfeil mitzunehmen, und das bedeutete, dass Hunderttausende Pfeile zu transportieren waren. So viele wie möglich wurden auf leichte Bauernkarren getürmt, die den Zug begleiten würden, doch es waren nicht genügend von diesen Vehikeln aufzutreiben, sodass schließlich sogar Feldkämpfer den Befehl erhielten, Pfeilbündel hinter ihre Sättel zu binden. Es waren etwa fünftausend Bogenschützen, die auf Calais marschierten. Diese Männer waren imstande, innerhalb einer Minute sechzigtausend oder siebzigtausend Pfeile abzuschießen, und keine Schlacht war jemals in einer Minute gewonnen worden. «Auch wenn wir jeden Pfeil mitnehmen, den wir haben, reicht es immer noch nicht aus», murrte Thomas Evelgold. «Und wenn wir keine mehr haben, sollen wir wohl mit Steinen auf die Bastarde werfen.»

Eine Garnisonsbesatzung wurde in Harfleur zurückgelassen. Es war ein starker Verband aus über dreitausend Feldkämpfern und nahezu eintausend Bogenschützen, wenn ihnen auch Pferde fehlten, weil Henry der Garnison bis auf die erfahrenen Kampfhengste der Ritter alle Pferde abgefordert hatte, denn sie wurden gebraucht, um Pfeile zu tragen. Die neuen Verteidiger Harfleurs selbst verfügten nur über gefährlich wenige Pfeile, doch es wurde Nachschub aus England erwartet, wo Forstmänner unablässig Eschenschäfte schnitten, Schmiede Ahlspitzen und Breitköpfe herstellten und Befiederer die Gänsefedern befestigten.

«Wir werden schnell marschieren!», rief ein Priester mit dröhnender Stimme. Es war der Tag, bevor sich die Armee in Bewegung setzen sollte, und der Priester ging mit einem Pergament, auf dem die königlichen Ordres standen, durch jede einzelne Straße Harfleurs. Der Priester hatte die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jeder Mann die Anordnungen des Königs verstand. «Es werden keine Umwege und Ausflüge von der Truppe gemacht! Und vor allem ist das Eigentum der Kirche zu achten. Jeder Mann, der Kirchengut plündert, wird gehängt! Gott ist mit uns, und unser Marsch soll allen zeigen, dass wir durch Seine Gnade die Herren Frankreichs sind!»

«Ihr habt ihn gehört!», rief Sir John, während der Priester weiterging. «Haltet eure Diebsfinger vom Kirchengut fern! Schändet keine Nonnen! Das gefällt Gott nicht und mir ebenso wenig!»

An diesem Abend machte Pater Christopher Hook und Melisande in der Kirche Saint-Martin zu Mann und Frau. Melisande weinte und Hook wünschte sich, während er vor dem Altar kniete und in die flackernden Kerzen sah, Sankt Crispinian würde zu ihm sprechen, doch der Heilige schwieg. Außerdem wünschte Hook, er hätte seinen Bruder zur Kirche bestellt, doch dafür war keine Zeit gewesen. Pater Christopher hatte plötzlich darauf bestanden, dass Hook Melisande sofort zu seiner Ehefrau machen musste, und die beiden einfach zu der Kirche mit dem eingestürzten Turm gebracht. «Gott schütze euch», sagte der Priester, als die kurze Zeremonie vorüber war.

«Das hat er schon getan», sagte Melisande.

«Dann betet, dass Er euch auch weiter beschützt, denn wir haben Gottes Hilfe jetzt bitter nötig.» Der Priester wandte sich zum Altar und verbeugte sich. «Bei Gott, das haben wir», wiederholte er und fügte unheilvoll hinzu: «Die Burgunder haben sich in Marsch gesetzt.»

«Zu unserer Unterstützung?», fragte Hook. Es schien so lange her, dass er das gezackte rote Burgunderkreuz getragen und beobachtet hatte, wie französische Truppen die Bevölkerung einer Stadt niedermetzelten.

«Nein», sagte Pater Christopher. «Zur Unterstützung Frankreichs.»

«Aber...», fing Hook an und beendete den Satz nicht.

«Sie haben ihren Familienzwist beigelegt», sagte Pater Christopher, «und sich gegen uns gewandt.»

«Und dennoch marschieren wir?», fragte Hook.

«Der König besteht darauf», sagte Pater Christopher niedergeschlagen. «Wir sind eine kleine Armee am Rande eines großen Landes», fuhr er dann fort, «aber zumindest seid ihr beide nun für alle Zeit vereinigt. Sogar der Tod kann euch nicht scheiden.»

«Gott sei gedankt», sagte Melisande und bekreuzigte sich.

Am nächsten Tag, dem achten Oktober, dem Tag der heiligen Benedikta, setzte sich die Armee König Henrys V. unter einem wolkenlosen Himmel in Marsch.

Sie wandten sich nordwärts und folgten der Küstenlinie. Hook spürte, wie sich die Stimmimg in der Armee hob, je weiter sie sich von dem Gestank nach Tod und Exkrementen entfernten. Die Männer grinsten grundlos, Freunde riefen sich scherzhafte Sticheleien zu, und einige Reiter gaben ihren Pferden die Sporen, aus der schieren Lust, wieder in der offenen Landschaft unterwegs zu sein.

Sir John Cornewaille befehligte den Vortrupp der Armee, und seine Männer ritten an der Spitze dieser Vorhut. Sir Johns Banner flatterte zwischen dem Sankt-Georgs-Kreuz und der Flagge der Holy Trinity, der Heiligen Dreifaltigkeit. Sir Johns Feldkämpfer flankierten die drei Standarten, vier berittene Trommler folgten ihnen und schlugen unablässig den Takt. Die Bogenschützen ritten als Aufklärer ganz vorne und hielten nach dem Feind Ausschau. Tatsächlich entdeckten sie ihn in einem Hinterhalt. Die Franzosen hatten gewartet, bis die gut bewaffnete und wachsame Vorhut vorbeigeritten war, und dann von der befestigten Stadt Montvilliers aus angegriffen, die nahe an der Straße lag. Plötzlich schossen Armbrustschützen aus dem Wald, und eine Gruppe Feldkämpfer stellte sich dem Zug in den Weg, sodass es zu einem schnellen Kampf kam, bevor die Angreifer, die kaum fünfzig Mann zählten, zurückgeschlagen wurden. Dennoch konnten sie ein halbes Dutzend Gefangene nehmen und zwei Engländer töten.

Dieses Gefecht trug sich schon am ersten Tag zu, doch anschließend schienen die Franzosen wieder in ihren seltsamen Schlaf zu fallen, sodass die englischen Feldkämpfer ihre Rüstungen ablegten und ihre Kettenhemden und Plattenpanzer den Saumtieren aufluden. Die unterschiedlichen Farben der Westen, die die Reiter trugen, verliehen dem Zug den Anstrich eines harmlosen Ausfluges. Die Frauen, Knappen und Diener ritten hinter den Feldkämpfern und hielten die Packpferde am Zaum, die mit Waffen, Verpflegung und großen Pfeilbündeln beladen waren. Sir Johns Kompanie hatte zwei leichte Karren. Auf dem einen lagen Verpflegung und Panzerrüstungen, auf dem anderen türmten sich Pfeile. Als Hook sich im Sattel umdrehte, sah er eine zarte Staubwolke, die sich über die niedrigen Hügel und bis hinauf zum dichten Wald ausbreitete. Diese Wolke zeigte, wo die englische Armee entlangzog, während sie ihren Weg durch gewundene Täler in Richtung des Flusses Somme nahm. Hook erschien es so, als sei es eine große Armee, doch in Wahrheit bestand die kühne Truppe aus weniger als zehntausend Männern und wirkte nur so groß, weil mehr als zwanzigtausend Pferde mitzogen.

Am Sonntag kamen sie aus den niedrigen, engen Tälern in eine weitere und flachere Landschaft. Sir John hatte vermutet, dass sie an diesem Tag. die Somme erreichen würden, und hinzugefügt, dass die Somme das größte Hindernis auf ihrem Weg bilden würde. Wenn sie erst einmal diesen Fluss überquert hätten, wären sie in kaum drei Tagen in Calais. «Also gibt es keine Schlacht?», hatte Michael Hook seinen Bruder gefragt. Lord Slaytons Männer gehörten ebenfalls zur Vorhut, wenn auch Sir Martin und Thomas Perrill weiten Abstand zu Sir John und seinen Männern hielten.

«Es heißt nein», sagte Hook, «aber wer weiß?»

«Werden uns die Franzosen nicht aufhalten?»

«Offenbar haben sie es nicht vor, oder?», sagte Hook und machte eine Kopfbewegung in Richtung der menschenleeren Gegend. Er und der Rest von Sir Johns Bogenschützen wanderten eine halbe Meile vor der Kolonne und führten sie zum Fluss. «Vielleicht sind die Franzosen ja froh darüber, uns abziehen zu sehen», meinte er. «Kann sein, dass sie uns einfach in Ruhe lassen.»

«Du warst schon einmal in Calais», sagte Michael, beeindruckt davon, dass sein älterer Bruder seit ihrem letzten Treffen schon so weit herumgekommen war und so viel von der Welt gesehen hatte.

«Eine merkwürdiges Städtchen ist das», sagte Hook, «mit einer enormen Ringmauer, einer großen Festung und dicht aneinandergedrängten Häusern. Aber es liegt auf dem Weg nach Hause, Michael, auf dem Weg nach Hause!»

«Ich bin doch gerade erst hier angekommen», erwiderte Michael kläglich.

«Vielleicht kommen wir ja nächstes Jahr zurück», sagte Hook, «um unser Vorhaben zu Ende zu führen. Sieh mal!»

Er deutete nach vorn, wo sich in der braunen, goldenen und gelben Herbstlandschaft ein schimmernder Streifen zeigte. «Das könnte der Fluss sein.»

«Oder ein See», sagte Michael.

«Der Ort, zu dem wir wollen, heißt Blanchetaque», sagte Hook.

«Die haben hier wirklich komische Namen», bemerkte Michael grinsend.

«Bei Blanchetaque gibt es eine Furt», sagte Hook. «Dort gehen wir über den Fluss und sind so gut wie zu Hause.»

Dann wurde hinter ihnen Hufschlag laut, und als Hook sich umdrehte, sah er Sir John mit einem halben Dutzend Feldkämpfer auf sich zugaloppieren. Sir John, barhäuptig und im Kettenhemd, zügelte Lucifer. Er warf einen Blick nach links, wo hinter einer leichten Erhebung das Meer sichtbar war. «Siehst du das, Hook?», fragte er gut gelaunt.

«Sir John?»

Sir John deutete auf einen winzigen weißen Fleck weit vor ihnen am Meer. «Gris-Nez! Die Graue Nase, Hook.»

«Was ist das, Sir John?»

«Eine Landzunge. Sie liegt nur einen halben Tagesritt von Calais entfernt! Siehst du, wie nahe wir schon sind?»

«Drei Tagesritte?», fragte Hook.

«Zwei, auf einem Pferd wie Lucifer», sagte Sir John und fuhr seinem Schlachtross durch die Mähne. Dann richtete er seinen Blick auf die nähere Umgebung. «Ist das dort der Fluss?»

«Ich denke schon, Sir John.»

«Dann kann Blanchetaque nicht mehr weit sein! Dort hat der dritte Edward auf seinem Weg nach Crecy die Somme überquert! Vielleicht war dein Urgroßvater auch dabei, Hook.»

«Er war nur ein Schäfer, Sir John, und hat in seinem ganzen Leben keinen Bogen angefasst.»

«Er hat eine Schlinge benutzt», sagte Michael, der wie üblich im Gespräch mit Sir John etwas unsicher klang.

«Wie bei David und Goliath, was?», gab Sir John zurück und bückte wieder zu der Landspitze weit vor ihnen hinüber. «Wie ich höre, bist du jetzt ein verheirateter Mann, Hook!»

«Ja, Sir John.»

«Die Frauen mögen das eben», sagte Sir John etwas trübselig, «und wir mögen die Frauen!» Er lachte. «Sie ist ein gutes Mädchen, Hook.» Er nahm die Umgebung in Augenschein. «Kein einziger gottverdammter Franzose in Sicht.»

«Da unten ist ein Reiter», wagte Michael leise zu widersprechen.

«Was ist da?», knurrte Sir John.

«Da unten», sagte Michael und deutete auf eine Baumgruppe etwa eine Meile vor ihnen. «Ein Reiter, Sir.»

Sir John starrte angestrengt zu den Bäumen, ohne einen Reiter ausmachen zu können, doch Hook sah den Mann jetzt auch, der regungslos im tiefen Schatten des Blattwerks auf seinem Pferd saß. «Er ist wirklich da, Sir John», bestätigte Hook.

«Der Bastard beobachtet uns. Kannst du ihn aufscheuchen, Hook? Er weiß vielleicht, ob die gottverdammten Franzosen die Furt bewachen. Du sollst ihn also nicht verjagen, sondern auf uns zu treiben.»

Hook warf einen prüfenden Blick über die Landschaft zu seiner Rechten, um festzustellen, wie er ungesehen einen Bogen schlagen konnte, um hinter den Reiter zu kommen.

«Ich glaube, das kann ich schaffen, Sir John», sagte er dann.

«Also tu's schon!»

Hook nahm seinen Bruder, Scoyle den Londoner und Tom Scarlet mit. Sie ritten von dem halbverborgenen Reiter weg, rückwärts an der Armeekolonne entlang und dann in eine leichte Senke, sodass sie aus der Sicht des Mannes verschwanden. Danach wandten sie sich ostwärts. Hook gab Raker die Sporen, um über einen breiten Wiesenstreifen zu galoppieren. Ihr Opfer konnte sie hier immer noch nicht sehen. Vor den vier Reitern lagen Unterholz und Dickicht. Die Felder in dieser Gegend besaßen keine Hecken, nur Gräben, und die Pferde setzten ohne Schwierigkeiten darüber hinweg. Das Land war zwar flach, doch die vier Bogenschützen fanden immer wieder genügend leichte Erhebungen und Senken, um sich vor dem Reiter zu verbergen, und arbeiteten sich jetzt Richtung Norden weiter. Auf einem Feld zu seiner Rechten pflügte ein Mann. Seine zwei Ochsen legten sich schwer ins Geschirr, um den großen Pflug voranzuziehen, den der Bauer tief im Boden angesetzt hatte, weil der Winterweizen immer tiefer ausgesät werden musste als die Frühlingssaat. «Er braucht ein bisschen Regen!», rief Michael.

«Könnte helfen!», gab Hook zurück.

Die Pferde nahmen eine beinahe immerkliche Steigung, und die Landschaft, die sich Hook zuvor eingeprägt hatte, wurde wieder sichtbar. Er wandte sich nicht in Richtung des Wäldchens, in dem sich der Reiter versteckte, sondern hielt sich nordwärts, um dem Mann den Weg zur Somme abzuschneiden. War er vielleicht schon davongeritten? Aller Wahrscheinlichkeit nach war es nur ein Edelmann aus der Gegend, der beobachten wollte, wie das feindliche Heer vorbeizog, doch der Adel wusste mehr darüber, was in den Nachbarregionen vorging als die Bauern, und deshalb wollte Sir John diesen Mann befragen.

Raker wurde müde und schnaubte unwillig, und Hook zügelte ihn. «Bogen», sagte er, zog seinen eigenen Bogen aus der Hülle und bespannte ihn, wobei er ein Ende in den Steigbügel stellte.

«Ich dachte, wir sollen ihn nicht töten», sagte Tom Scarlet.

«Wenn der Bastard ein Adliger ist», sagte Hook, und da der Mann auf einem Pferd saß, war er das vermutlich, «dann kann er mit einem Schwert umgehen. Wenn du ihn mit einer Klinge angreifet, hat er dir sofort den Kopf abgeschlagen. Aber gegen einen Pfeil kann er nichts tun, oder?» Er legte einen Pfeil auf den Bogen und hielt ihn mit dem linken Daumen fest.

Dann tätschelte er Rakers Hals und trieb das Pferd wieder an. Jetzt kamen sie von der anderen Seite der Straße aus auf die Baumgruppe zu. Hook sah, dass Sir John auf der leichten Erhöhung geblieben war, um den Mann nicht aus seinem Versteck zu treiben, doch der einsame Franzose hatte wohl gespürt, dass etwas nicht stimmte, oder vielleicht hatte er auch einfach genug davon, den Zug der Feinde zu betrachten, denn mit einem Mal brach er aus der Deckung und galoppierte auf seinem Pferd nordwärts in Richtung des Flusses. «Verflucht», sagte Hook.

Sir John sah den Mann wegreiten und jagte augenblicklich mit seinen Feldkämpfern los. Doch die englischen Pferde waren erschöpft, während das Tier des Franzosen gut ausgeruht war. «Sie werden ihn niemals einholen», sagte Scoyle.

Hook beachtete ihn nicht. Stattdessen ließ er Raker umdrehen und drückte ihm die Fersen in die Flanken. Der Franzose folgte der Straße, die eine weite Rechtskurve beschrieb, und Hook konnte über die Fläche in der Mitte galoppieren. Er wusste, dass er nicht schneller sein konnte als der Mann und ihn niemals einholen würde, doch er konnte ihm nahe genug kommen, um den Bogen einzusetzen. Der Mann wandte sich im Sattel um, sah Hook und seine Männer und gab seinem Tier die Sporen. Auch Hook trieb Raker an, und die Hufen hämmerten auf den Boden, und Hook sah, dass der Flüchtende in ein paar Momenten hinter einer Baumgruppe verschwinden würde. Deshalb zügelte er Raker, ließ die Füße aus den Steigbügeln gleiten und rutschte aus dem

Sattel. Er stolperte, fiel auf ein Knie, und schon hob sich der Bogen, und er fasste die Sehne, hängte den Pfeil in die Kerbe und spannte.

«Zu weit», sagte Scoyle und ließ sein Pferd halten, «verschwende den guten Pfeil nicht.»

«Viel zu weit», bemerkte auch Michael.

Doch der Bogen war gewaltig. Hook dachte nicht an das Ziel seines Schusses. Er beobachtete einfach nur den Reiter, bestimmte mit schierer Willenskraft, wohin der Pfeil fliegen sollte, dann spannte er und gab den Pfeil frei, und die Sehne schnellte zitternd nach vorn und rieb an seinem ungeschützten Handgelenk entlang, und der Pfeil flatterte einen Augenblick lang, bevor die Befiederung seinen Flug beruhigte.

«Zwei Pence, dass du mehr als zwanzig Schritt vorbeischießt», sagte Tom Scarlet.

Der Pfeil zog seine Kurvenbahn über den Himmel, seine weiße Befiederung ein immer schwächer werdendes Flimmern im Herbstlicht. Der Reiter galoppierte weit vor ihnen, ohne etwas von dem Breitkopf zu ahnen, der sich hoch in die Luft hob, bevor er begann, zischend niederzufahren. Er kam schnell herunter, sank, verlor Schub, und der Reiter drehte sich erneut nach seinen Verfolgern um, und während er das tat, traf der Pfeil den Bauch seines Pferdes, und der Breitkopf mit den Widerhaken bohrte sich in Blut und Fleisch. Das Pferd zuckte heftig zusammen, und der Mann verlor das Gleichgewicht und fiel aus dem Sattel.

«Jesus!», sagte Michael voller Bewunderung.

«Los, kommt!» Hook nahm Rakers Zügel, schwang sich in den Sattel und drückte seinem Pferd die Fersen in die Flanken, noch bevor er seine Füße in den Steigbügeln hatte, und einen Moment lang dachte er schon, er würde selbst herunterfallen, doch dann schob er seinen rechten Stiefel in den Steigbügel und sah, dass der Franzose wieder aufs Pferd stieg. Hook hatte das Pferd verwundet, nicht getötet, doch das Tier blutete, denn der Breitkopf mit seinen Widerhaken riss die Wunde immer weiter auf, und je härter der Franzose sein Pferd antrieb, desto mehr Blut würde es verlieren.

Der Reiter spornte sein verwundetes Tier an, tun hinter den Bäumen außer Sicht zu kommen. Einen Augenblick später war Hook auf der Straße und zwischen den Bäumen, und er sah den Franzosen hundert Schritt vor sich. Sein Pferd schwankte und hinterließ eine Blutspur auf der Straße. Der Mann sah seine Verfolger und glitt aus dem Sattel, denn sein Pferd konnte nicht mehr weiter. Er drehte sich um, weil er in den Wald laufen wollte, und Hook rief: «Non!»

Er ließ Raker anhalten. Hooks Bogen war gespannt, und der nächste Pfeil hing in der Sehne, und dieser Pfeil zielte auf den Reiter. Der nickte niedergeschlagen. Er trug ein Schwert, aber keine Rüstung. Seine Kleidung war, wie Hook beim Näherkommen feststellte, von erlesener Qualität; feines schwarzes Tuch, ein feingewobenes Leinenhemd und kostspielige Stiefel. Er war ein gutaussehender Mann von etwa dreißig Jahren, mit einem breiten Gesicht, einem gepflegten Bart und blassgrünen Augen, die auf die Pfeilspitze starrten. «Bleibt einfach, wo Ihr seid!», sagte Hook. Der Mann mochte kein Englisch sprechen, aber die Botschaft des gespannten Bogens mit seinem Breitkopfpfeil verstand er auch so. Er gehorchte und streichelte seinem sterbenden Pferd die Nase. Das Tier gab ein erbärmliches Wiehern von sich, dann knickten seine Vorderbeine ein, und es fiel auf den Weg. Der Mann ging neben ihm in die Hocke, streichelte es weiter und sprach leise mit dem sterbenden Tier.

«Du hättest ihn beinahe entkommen lassen, Hook!», rief Sir John, als er bei der Gruppe angekommen war.

«Beinahe, Sir John.»

«Also stellen wir fest, was dieser Bastard weiß», sagte Sir John und glitt aus dem Sattel. «Und jemand soll dieses arme Pferd töten!», setzte er hinzu. «Erlöst das Tier von seiner Qual!»

Der schwere Hieb einer Kampfaxt auf die Stirn tötete das Pferd. Dann sprach Sir John mit dem Gefangenen. Er behandelte den Mann mit ausgesuchter Höflichkeit, und der Franzose erwies sich als sehr gesprächig, doch es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass, was immer er auch enthüllen mochte, Sir Johns Unwillen erregte. «Ich will ein Pferd für Sir Jules», wandte sich Sir John an die Bogenschützen. «Er soll mit dem König sprechen.»

Sir Jules wurde zum König gebracht. Die Armee wartete.

Die Vorhut war nur noch fünf Meilen von der Furt bei Blanchetaque entfernt, und Calais lag nur drei Tagesmärsche nördlich dieser Furt. In drei Tagen, also acht Tage nachdem sie Harfleur verlassen hatten, hätte die Armee in Calais einziehen sollen, und Henry hätte, wenn auch keinen Sieg, so zumindest eine Demütigung der Franzosen für sich vermelden können. Doch diese Demütigung hing von der Überquerung der breiten Gezeitenfurt bei Blanchetaque ab.

Und die Franzosen waren schon dort. Charles d'Albret, Konnetabel von Frankreich, war bereits am Nordufer der Seine, und der Gefangene, der in den Diensten des Konnetabels stand, beschrieb, dass die Furt mit angespitzten Stangen versperrt worden war und auf dem jenseitigen Ufer sechstausend Männer darauf warteten, die Engländer an der Überquerung des Flusses zu hindern.

«Es ist nicht zu schaffen», sagte Sir John an diesem Abend entmutigt. «Die Bastarde erwarten uns.»

Die Bastarde hatten die Furt gesperrt, und als es Abend wurde, zündeten sie ihre Lagerfeuer an, deren Widerschein sich an den niedrig dahinziehenden Wolken zeigte. «Die Furt kann nur bei Ebbe überquert werden», erklärte Sir John, «und selbst dann können nur zwanzig Mann nebeneinandergehen. Und zwanzig Mann können nicht gegen sechstausend ankämpfen.»

Einen Moment lang sagte niemand etwas. Dann stellte Pater Christopher die Frage, die jeder Mann aus Sir Johns Kompanie stellen wollte, auch wenn sie die Antwort fürchteten. «Also, was tun wir jetzt, Sir John?»

«Wir suchen eine andere Furt.»

«Und wie? Sollen wir sie herbeibeten?»

«Weiter im Land», sagte Sir John grimmig.

«Also marschieren wir auf den Nabel zu», sagte Pater Christopher.

«Was tun wir?», fragte Sir John und sah den Priester an, als sei er närrisch geworden.

«Nichts, Sir John, nichts!», sagte Pater Christopher.

Also musste die englische Armee mit Verpflegung für nur drei weitere Tage tief ins Innere Frankreichs einrücken, um einen Fluss zu überqueren. Und wenn sie den Fluss nicht würde überqueren können, dann würden die Männer sterben, und wenn sie den Fluss überqueren würden, könnten sie immer noch sterben, denn ins Landesinnere zu gehen würde Zeit kosten, und diese Zeit hätten die Franzosen, um aufzuwachen und ihr Heer in Marsch zu setzen. Die hastige Jagd an der Küste entlang war gescheitert, und nun mussten Henry und seine kleine Armee ins französische Inland ziehen.

Und am nächsten Morgen wandten sie sich unter einem schweren grauen Himmel ostwärts.

In der Armee hatte bisher Hoffnung geherrscht, doch nun verbreitete sich Mutlosigkeit. Die Krankheit kehrte zurück. Ständig zügelten Männer ihre Pferde, stiegen ab, rannten an den Straßenrand und ließen ihre Hosen herunter, sodass die Nachhut durch eine Wolke aus Exkrementengestank reiten musste. Die Männer waren schweigsam und missmutig. Regenschwaden zogen von der Meerseite herein und überzogen die Kolonne mit triefender Nässe.

Jede Furt über die Somme war mit Pfählen gesperrt und bewacht. Die Brücken waren zerstört worden, und inzwischen behielt ein französischer Truppenverband die englische Armee im Blick. Es war nicht die große Armee, nicht die enorme Menge von Feldkämpfern und Armbrustschützen, die sich bei Rouen gesammelt hatte, sondern eine kleinere Truppe, die aber ausreichte, um jede Flussüberquerung zu verhindern. Sie waren jeden Tag in Sichtweite, Feldkämpfer und Armbrustschützen, alle beritten. Sie hielten sich auf dem Nordufer des Flusses bereit und richteten ihre Geschwindigkeit an der englischen Armee auf dem Südufer des Flusses aus. Mehr als einmal trieb Sir John Bogenschützen und Feldkämpfer zu einem überraschenden Galopp an, um eine Furt zu besetzen, bevor die Franzosen dort waren, doch jedes Mal wurden sie schon von ihren Gegnern erwartet. Jeder Flussübergang war von bewaffneten Kräften gesichert.

Die Verpflegung wurde knapp, auch wenn die Bewohner kleiner Städte, die nicht von einer Stadtmauer gesichert waren, unwillig Körbe mit Brot, Käse und Räucherfisch herausgaben, um einen Angriff zu vermeiden. Jeden Tag wuchs der Hunger in der englischen Armee, und jeden Tag marschierte sie tiefer ins feindliche Land.

«Warum gehen wir nicht einfach zurück nach Harfleur?», knurrte Thomas Evelgold.

«Weil wir dann Hasenfüße wären», sagte Hook.

«Immer noch besser, als zu sterben», erwiderte Evelgold.

Auch auf der englischen Seite des Flusses befanden sich feindliche Krieger. Französische Feldkämpfer beobachteten die Kolonne von niedrigen, südlicher gelegenen Hügeln aus. Gewöhnlich waren es nur kleine Gruppen, vielleicht sechs oder sieben Mann, und wenn ein paar englische Ritter sie stellen wollten, zogen sie sich zurück, auch wenn zuweilen einer der Feinde eine Lanze hob, um anzuzeigen, dass er einen Zweikampf anbot. Dann konnte es sein, dass ein Engländer den Kampf annahm, die beiden aufeinander zugaloppierten, die Lanzen mit den Eisenspitzen laut gegen die Panzerrüstungen fuhren, und danach kippte einer der Männer langsam aus dem Sattel. Einmal spießten zwei Männer sich gegenseitig auf, und beide starben, während ihnen die jeweils feindliche Lanze aus dem Körper ragte. Gelegendich griff ein französischer Verband an, vierzig oder fünfzig Feldkämpfer, die sich einen Schwachpunkt in der Kolonne gesucht hatten und ein paar Männer töteten, bevor sie wieder davongaloppierten.

Andere Franzosen sorgten schon weit vor der Kolonne für Schwierigkeiten, indem sie die Ernte fortbringen ließen, sodass die Eindringlinge nichts mehr vorfanden. Die Nahrungsmittel, die sie aus Scheunen und Getreidespeichern der Bauern holten, wurden nach Amiens gebracht. Die Engländer umgingen diese Stadt an dem Tag, an dem sie nach dem ursprünglichen Plan in Calais hätten eintreffen sollen. Ihre Verpflegungsbeutel waren leer. Hook hatte durch den dünnen Sprühregen auf den weißen Schemen der Kathedrale von Amiens weit vor ihm gestarrt, und er hatte an all die Nahrungsmittel hinter den Stadtmauern gedacht. Er war hungrig. Sie alle waren hungrig.

Am nächsten Tag lagerten sie in der Nähe einer Burg, die sich auf einem weißen Kalksteinkliff erhob. Sir Johns Feldkämpfer hatten ein paar feindliche Ritter gefangen genommen, die der Vorhut zu nahe gekommen waren, und die Gefangenen hatten mit prahlerischen Worten ausgemalt, wie die Franzosen Henrys kleine Armee schlagen würden. Sie hatten diese Prahlerei auch vor Henry selbst wiederholt, und danach brachte Sir John seinen Bogenschützen neue Befehle des Königs. Er stand bei den Lagerfeuern und sagte: «Morgen früh schneidet jeder einen Stock von der Länge eines Bogenschafts. Und wenn möglich noch länger! Ihr sucht euch Äste von der Dicke eines Arms und spitzt beide Enden an.»

Regentropfen verzischten in den Flammen. Hooks Bogenschützen hatten ein kümmerliches Mahl hinter sich: einen Hasen, den Tom Scarlet mit einem Pfeil gejagt und Melisande über dem Feuer geröstet hatte. Dazu gab es flache Brote aus einer Mischung von Hafer und Eichelmehl. Außerdem hatten sie ein paar Nüsse und einige wenige harte grüne Äpfel gehabt. Ale war keines mehr da, ebenso wenig wie Wein, also tranken sie Wasser aus dem Fluss. Nun hatte sich Melisande in Hooks großes Kettenhemd gewickelt und kauerte neben ihm.

«Stöcke?», fragte Thomas Evelgold verhalten nach.

«Die Franzosen, sie mögen in der Hölle verrotten», sagte Sir John, während er näher an das größte Feuer trat, «haben beschlossen, euch zu schlagen. Euch! Die Bogenschützen! Sie furchten euch! Hört ihr mir alle zu?»

Die Bogenschützen betrachteten ihn schweigend. Sir John trug einen Lederhut und einen dicken Ledermantel. Regen tropfte ihm von der Krempe und den Säumen. In einer Hand hielt er eine gekürzte Lanze, die eingesetzt werden konnte, wenn ein Kämpfer dicht vor seinem Feind auf dem Feld stand. «Wir hören, Sir John», brummte Evelgold.

«Es sind Anweisungen aus Rouen gekommen!», verkündete Sir John. «Der Marschall von Frankreich hat einen Plan! Und der Plan ist, zuerst euch zu töten, die Bogenschützen, und dann den Rest von uns.»

«Und die Adligen gefangen zu nehmen, meint Ihr», sagte Evelgold, doch so leise, dass es Sir John nicht hören konnte.

«Sie stellen eine Truppe Ritter auf gerüsteten Pferden zusammen», sagte Sir John, «und die Reiter selbst werden den besten Harnisch tragen, den es gibt! Mailändische Panzerrüstungen! Und über mailändische Rüstungen wisst ihr ja alle Bescheid.»

Hook wusste, dass die Rüstungen aus Mailand, wo immer dieser Ort liegen mochte, den Ruf hatten, die besten der Christenheit zu sein. Es wurde erzählt, dass die mailändischen Panzerungen auch dem durchschlagkräftigsten Breitkopf widerstanden, doch gottlob waren solche Rüstungen selten, denn sie waren außerordentlich kostspielig. Hook hatte gehört, dass eine vollständige Panzerrüstung aus Mailand beinahe hundert Pfund kostete, und das war mehr, als ein Bogenschütze in zehn Jahren an Sold erhielt. Auch für die Feldkämpfer war das eine beträchtliche Ausgabe. Die meisten wähnten sich schon reich, wenn sie über vierzig Pfand jährlich verfügten.

«Also werden sie ihre Pferde mit gepolsterten Umhängen und Kopfhauben rüsten und selbst mailändische Harnische tragen», fahr Sir John fort, «und dann werden sie euch, die Bogenschützen, angreifen! Sie wollen mit Schwertern und Keulen zwischen euch reiten.» Die Bogenschützen hörten nun aufmerksam zu und stellten sich vor, wie die großen Tiere mit den stählernen Kopfmasken und den schwer gepolsterten Flanken in ihre Reihen einbrachen. «Wenn sie mit tausend Reitern kommen und ihr Glück habt, könnt ihr vielleicht hundert von ihnen aufhalten. Und die anderen werden euch ganz einfach abschlachten, nur dass sie das nicht können,. denn ihr habt die Stöcke!» Um zu zeigen, was er meinte, hob er die Lanze und stieß den Schaft in den feuchten Boden, sodass die Eisenspitze etwa in Brusthöhe aufragte. «So rammt ihr die Stöcke in den Boden», erklärte er. «Wenn ein Pferd angreift, spießt es sich selbst auf, und damit wehrt ihr auch einen Mann in einer mailändischen Rüstung ab. Deshalb schneidet ihr euch morgen früh alle einen Stock. Ein Mann ein Stock, und ihr spitzt beide Enden an.»

«Morgen, Sir John?», fragte Thomas Evelgold. Aus seiner Stimme klang Zweifel. «Sind sie so nahe?»

«Sie könnten überall sein», sagte Sir John. «Von morgen früh an reitet ihr mit Lederwams und Kettenhemd, ihr tragt Helme, ihr sorgt dafür, dass die Bogensehnen trocken sind, und ihr habt den Stock dabei.»

Am nächsten Morgen schnitt Hook einen Ast von einer Eiche und schärfte das grüne Holz mit dem Blatt seiner Kampfaxt. «Als wir aus England lossegelten», sagte Will of the Dale bitter, «sagten sie, wir seien die schlagkräftigste Armee, die je zusammengezogen wurde! Und was haben wir jetzt noch? Feuchte Bogensehnen, Eichelbrote und Holzstöcke!»

Der lange Eichenstock war beim Reiten hinderlich. Die Pferde waren entkräftet, verschwitzt und hatten nicht genug Futter, der Regen setzte wieder ein, stärker dieses Mal, wurde ihnen vom Wind in den Rücken getrieben und prasselte in Myriaden winziger Tropfen ins Wasser des Flusses. Die Franzosen standen auf der anderen Uferseite. Immerzu waren sie auf der anderen Seite des Flusses.

Dann kamen neue Anweisungen vom König. Die Vorhut wandte sich vom Fluss ab und arbeitete sich einen langen, feuchten Hang hinauf, der zu einer trostlosen, durchnässten Hochfläche führte. «Wohin gehen wir jetzt?», fragte Hook, als der Fluss außer Sicht war.

«Das weiß Gott», sagte Pater Christopher.

«Und erzählt er es Euch, Pater?»

«Verrät dir dein Heiliger irgendetwas?»

«Kein Wort.»

«Also weiß Gott allein, wo wir hier sind», sagte Pater Christopher, «und niemand außer Gott.» Die Hochebene bestand aus Lehmerde. Bald war der Grund nichts weiter als morastiger Schlick, auf den es unaufhörlich weiterregnete. Es wurde kälter, und auf dem Plateau wuchsen nur wenige Bäume, sodass es kaum Feuerholz gab. Bogenschützen aus einer anderen Kompanie verbrannten bereits ihre Stöcke, um in der Nacht etwas Wärme zu haben, und die Armee wurde angehalten, damit alle zusahen, wie diese Männer ausgepeitscht wurden. Ihrem Ventenar wurden die Ohren abgeschnitten.

Die französischen Reiter spürten die wachsende Hoffnungslosigkeit von Henrys Armee. Sie verfolgten sie Richtung Süden, und die englischen Feldkämpfer waren zu ausgelaugt, und ihre Pferde hatten zu lange nicht gefressen, um die Herausforderung der erhobenen Lanzen anzunehmen. So wurden die Franzosen kühner und kamen immer näher heran. «Verschwendet eure Pfeile nicht!», ermahnte Sir John seine Bogenschützen.

«Ein Franzose weniger, den wir in der Schlacht töten müssen», meinte Hook.

Sir John lächelte müde. «Es ist eine Frage der Ehre, Hook.» Er nickte in Richtung eines Franzosen, der sein Pferd kaum eine Viertelmeile entfernt neben ihnen hertraben ließ. Der Mann war allein und lud mit seiner Lanze einen Engländer zum Zweikampf ein. «Er hat geschworen, eine bedeutungsvolle Ehrentat zu vollbringen», erklärte Sir John, «wie etwa mich oder einen anderen Ritter zu töten, und das ist ein nobles Streben.»

«Und es schützt ihn vor einem Pfeil?», gab Hook verdrießlich zurück.

«Ja, Hook, das tut es. Lass ihn am Leben. Er ist ein tapferer Mann.»

Weitere tapfere Männer zeigten sich an diesem Nachmittag, doch noch immer ging kein Engländer auf ihre Herausforderung ein, und so wurden die Franzosen noch kühner und ritten so nahe heran, dass sie Männer erkennen konnten, mit denen sie sich in den großen Turnieren in ganz Europa gemessen hatten. Sie plauderten miteinander. Es waren immer mindestens ein Dutzend französischer Ritter in Sicht, und einer von ihnen, der ein großes, lebhaftes schwarzes Pferd ritt, das kraftvoll über den schweren Lehmgrund trabte, spornte sein Tier an, bis er die Spitze der englischen Vorhut erreicht hatte. «Sir John!», rief der Reiter. Es war Seigneur de Lanferelle, sein langes, geöltes Haar fiel ihm glatt über den Rücken.

«Lanferelle!»

«Wenn ich Euch Hafer für Euer Pferd gebe, stellt Ihr Euch dann meiner Lanze?»

«Wenn Ihr mir Hafer gebt», rief Sir John zurück, «werden ihn meine Bogenschützen essen!»

Lanferelle lachte. Sir John ritt an die Seite des Franzosen, und die beiden unterhielten sich leutselig. «Sie wirken wie Freunde», sagte Melisande.

«Vielleicht sind sie es auch», meinte Hook.

«Und dennoch würden sie sich in einer Schlacht töten?»

«Engländer!» Es war Lanferelle, der Hook rief und nun auf die Bogenschützen zuritt. «Sir John sagt, du hast meine Tochter geheiratet!»

«Das habe ich», sagte Hook.

«Und das ohne meinen Segen», sagte Lanferelle, aber er klang belustigt. Dann sah er Melisande an. «Hast du den Wappenrock, den ich ihm für dich gegeben habe?»

«Oui», sagte sie.

«Dann trag ihn», sagte ihr Vater barsch, «wenn es zur Schlacht kommt, dann trägst du ihn.»

«Weil er mich schützen wird?», fragte sie spitz. «In Soissons hat mich die Novizentracht auch nicht geschützt.»

«Verdammt sei Soissons, Mädchen», sagte Lanferelle, «und was dort geschehen ist, erwartet auch diese Männer. Sie sind dem Tode geweiht!» Mit einer weit ausholenden Geste bezeichnete er den gesamten Zug, der sich durch den Schlamm kämpfte. «Die Gottverfluchten sind alle dem Tod geweiht! Ich mache mir ein Vergnügen daraus, dich zu retten.»

«Und was soll dann kommen?»

«Dann kommt, was auch immer ich für dich entscheide. Du hast deine Freiheit gehabt, und nun sieh dir an, wohin sie dich geführt hat!» Er lächelte, und seine erstaunlich weißen Zähne blitzten auf. «Warum kommst du nicht gleich mit? Ich bringe dich weg von hier, bevor wir diese Armee niedermachen.»

«Ich bleibe bei Nicholas», sagte sie.

«Dann bleib bei den Gottverfluchten», sagte Lanferelle schroff, «und ich bringe dich weg, wenn dein Nicholas tot ist.» Er trieb sein Pferd an und ritt, nach ein paar weiteren Worten mit Sir John, nach Süden.

«Die Gottverfluchten?», fragte Hook.

«So nennen die Franzosen euch Engländer», sagte sie. Dann sah sie Sir John an. «Sind wir dem Tod geweiht?», fragte sie.

Sir John lächelte freudlos. «Das hängt davon ab, ob ihre Armee uns einholt, und wenn sie uns einholt, ob sie uns schlagen kann. Bisher leben wir noch!»

«Und werden sie uns einholen?», fragte Melisande.

Sir John deutete nordwärts. «Am Nordufer des Flusses ist immer ein französischer Truppenverband mit uns gezogen», erklärte er. «Sie haben dafür gesorgt, dass wir die Somme nicht überqueren konnten. Sie haben uns ihrer großen Armee entgegengetrieben. Aber hier, meine Liebe, beschreibt der Fluss eine Schleife nach Norden. Weit nach Norden! Wir können die Strecke abkürzen, indem wir über Land reiten, aber der französische Truppenverband muss die ganze Nordkurve abreiten, und das wird die Franzosen drei oder vier Tage kosten. Wir aber werden vor ihnen wieder am Fluss sein, und dann werden keine Franzosen auf der anderen Seite sein, und wenn wir eine Furt finden oder, so Gott will, eine Brücke, dann gehen wir über die Somme und machen uns auf zu den Gasthäusern von Calais! Dann gehen wir nach Hause!»

Doch jeden Tag wurde die Strecke, die sie bewältigen konnten, kürzer. Es gab keine Wiesen, auf denen die Pferde grasen konnten, keinen Hafer, und jeden Tag stiegen mehr Männer aus dem Sattel, um ihre erschöpften, entkräfteten Tiere am Zügel zu führen. Während der ersten Woche ihres Marsches hatten die Städte Verpflegung an die durchziehende Armee abgegeben, doch nun schlossen die wenigen kleinen Städte am Weg ihre Stadttore und verweigerten ihre Unterstützung. Die Stadtoberen wussten, dass die Engländer keine Zeit hatten, um ihre Befestigungen anzugreifen, wie schwach diese auch immer sein mochten, und so beobachteten die Bürger nur, wie die trostlose Kolonne vorbeizog, und beteten zu Gott, er möge die geschwächten Eindringlinge endgültig zugrunde gehen lassen.

Und Gottes Missfallen war das Letzte, was Henry auf sich ziehen wollte. Also befahl er der Armee an ihrem letzten Tag auf dem Hochplateau, vor dem Abstieg in das Tal der Somme zu halten, weil ein Priester die Beschwerde vorgebracht hatte, einer der Engländer habe die Pyxis aus seiner Kirche gestohlen. Centenare und Ventenare wurden angewiesen, ihre Männer zu durchsuchen. Die fehlende Pyxis war ein vergoldetes Kupferkästlein, in dem die geweihten Hostien aufbewahrt wurden. Es hatte keinen großen Wert, doch der König war entschlossen, es zu finden. «Wahrscheinlich hat es ein armer Kerl gestohlen, um an die Hostien zu kommen», vermutete Tom Scarlet, «und dann hat er die Hostien gegessen und das Kästchen weggeworfen.»

«Nun, Hook?», fragte Sir John.

«Keiner von uns hat es, Sir John.»

«Eine gottverdammte Pyxis», knurrte Sir John, «die Pocken auf diese Pyxis, Pater!»

«Wenn Ihr meint, Sir John», sagte Pater Christopher.

«Wir geben den Franzosen wegen einer gottverdammten Pyxis die Gelegenheit, uns einzuholen!»

«Gott wird uns belohnen, wenn wir sie finden», sagte Pater Christopher. «In der Tat. Er hat uns jetzt schon von diesem Regen erlöst!» Und das stimmte. Mit dem Beginn der Suche hatte es aufgehört zu regnen, und eine schwache Sonne blitzte durch die Wolken auf das durchweichte Land.

Und dann wurde die Pyxis gefunden.

Sie war im Jackenärmel eines Bogenschützen versteckt, es war eine zusätzliche Jacke, die er zusammengerollt und an seinen Sattelknauf gebunden hatte, wenn er auch behauptete, er habe weder die Jacke noch die Pyxis je zuvor gesehen. «Sie beteuern immer, sie wären unschuldig», erklärte ein königlicher Kaplan seinem König Henry, «hängt ihn einfach, Sire.»

«Wir werden ihn hängen», stimmte der König aufgebracht zu, «und wir lassen alle anderen Männer dabei zusehen! Das geschieht denjenigen, die sich gegen Gott versündigen ! Hängt ihn!»

«Nein!», begehrte Hook auf.

Denn der Mann, der zu dem Baum gezerrt wurde, an dem ihn der König und sein Gefolge erwarteten, war sein Bruder Michael.

Auf ihn wartete der Strang.

Die Männer des Königs schleppten Michael zu der Ulme, neben der Henry und seine Höflinge auf ihren Pferden saßen, während der Gemeindepriester, der über den Diebstahl seiner Pyxis Beschwerde geführt hatte, an ihrer Seite stand. Der Armee war ein Halt befohlen worden, und die Männer standen in einem großen Kreis um den Baum, wenn auch nur diejenigen in den vorderen Reihen sehen konnten, was geschah. Zwei Soldaten in Kettenhemden, über denen sie den Wappenrock des Königs trugen, hatten Michael an den Armen gefesselt und zogen ihn vor den König. Sie mussten keine Gewalt einsetzen, denn Michael ging bereitwillig mit. Er wirkte verwirrt.

«Nein!», rief Hook.

«Halt den Mund», knurrte Thomas Evelgold.

Wenn der König Hooks Widerspruch gehört hatte, so zeigte er es nicht. Seine Miene war unbewegt, hart und unerbittlich.

«Er...», begann Hook, weil er sagen wollte, dass sein Bruder niemals eine Pyxis gestohlen haben konnte, doch Evelgold drehte sich zu ihm herum und rammte ihm die Faust in den Magen, sodass Hook die Luft ausging.

«Nächstes Mal breche ich dir den Kiefer», sagte Evelgold.

«Mein Bruder», keuchte Hook, während er versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

«Ruhe!», knurrte Sir John, der vor seiner Kompanie stand.

«Du erzürnst Gott, und du gefährdest unseren gesamten Kriegszug!», sagte der König mit rauer Stimme zu Michael. «Wie können wir darauf hoffen, dass Gott auf unserer Seite ist, wenn wir Ihn erzürnen? Du hast ganz England in Gefahr gebracht.»

«Ich habe sie nicht gestohlen!», verteidigte sich Michael.

«Zu wessen Kompanie gehört er?», verlangte der König zu wissen.

Sir Edward Derwent trat vor. «Er ist einer von Lord Slaytons Bogenschützen, Sire», sagte er mit einer Verbeugung seines ergrauten Hauptes, «und ich bezweifle, Sire, dass er der Dieb ist.»

«Die Pyxis befand sich bei ihm?»

«Sie wurde bei seinen Sachen gefunden, Sire», sagte Sir Edward mit Bedacht.

«Die Jacke gehört mir nicht, Herr!», sagte Michael.

«Seid Ihr sicher, dass sich die Pyxis unter seinen Habseligkeiten befand?», fragte der König Sir Edward, ohne auf den blonden Bogenschützen zu achten, der vor ihm auf die Knie gefallen war.

«Sie war dort, Sire, doch wie sie dorthin gekommen ist, kann ich nicht sagen.»

«Wer hat sie gefunden?»

«Sire, das war ich, Sire.» Sir Martin trat in seiner lehmbespritzten Priesterkutte aus der Menge. «Ich war es, Sire», wiederholte er und ließ sich auf ein Knie hinab. «Und er ist ein guter Junge, Sire, ein gottesfürchtiger Junge.»

Sir Edward hätte den ganzen Tag Michaels Unschuld beteuern und den König dennoch zu keinem Zweifel bewegen können, doch das Wort eines Priesters wog viel schwerer. Henry nahm die Zügel in eine Hand und beugte sich aus dem Sattel vor. «Wollt Ihr damit sagen, dass er die Pyxis nicht genommen hat?»

«Er...», begann Hook erneut, und Evelgold versetzte ihm einen so heftigen Fausthieb in den Magen, dass er sich zusammenkrümmte.

«Die Pyxis wurde unter seinen Sachen gefunden, Sire», sagte Sir Martin.

«Also?», fing der König an und unterbrach sich wieder. Er wusste offenkundig nicht, was er davon halten sollte. In einem Moment hatte der Priester nahegelegt, dass Michael unschuldig war, und im nächsten tat er das Gegenteil.

«Es ist unbestreitbar, Sire», sagte Sir Martin, dem es gelang, seine Stimme bekümmert klingen zu lassen, «dass die Pyxis bei seinen Sachen gefunden wurde. Das betrübt mich sehr, Sire, es macht mir das Herz schwer.»

«Und mich erzürnt es!», rief der König. «Und es erzürnt Gott! Wir riskieren Sein Missfallen, Seinen Zorn, und all das für einen Kupferkasten! Hängt ihn!»

«Sire!», schrie Michael verzweifelt, doch es gab kein Erbarmen, keine Berufung und keine Hoffnung. Der Strick war schon um einen Ast gelegt, dann wurde die Schlinge um Michaels Hals festgezogen, und zwei Männer hängten sich ans andere Ende des Stricks, um den Verurteilten in die Höhe zu ziehen.

Hooks Bruder machte würgende Geräusche, während sich sein Körper wand, seine Beine zuckten und um sich traten, und langsam, sehr langsam, verwandelte sich das Treten in krampfartige Bewegungen, in Zittern, und das würgende Geräusch wurde zu einem keuchenden Ringen um Atem, das schließlich zu nichts verklang. All das dauerte zwanzig Minuten, und der König verfolgte jedes Zucken, und erst als er zufrieden feststellen konnte, dass der Dieb tot war, wandte er seinen Blick von ihm ab. Dann stieg er vom Pferd und ließ sich vor seiner Armee und dem überraschten Priester auf ein Knie nieder. «Wir erbitten Eure Vergebung», sagte er laut und auf Englisch, eine Sprache, die der Priester nicht verstand, «und die Vergebung des Allmächtigen Gottes.» Er hielt die Pyxis in seinen Händen, und der Priester, erschrocken über die Vorgänge, deren Zeuge er geworden war, nahm sie verunsichert entgegen. Dann malte sich Erstaunen auf sein Gesicht, denn das Kästchen war viel schwerer als zuvor. Der König von England hatte es mit Münzen gefüllt.

«Lasst den Toten hängen!», befahl Henry, während er wieder aufstand. «Und setzt euch in Marsch! Wir marschieren weiter!» Er nahm die Zügel seines Pferdes, stellte einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich gewandt in den Sattel. Dann ritt er mit seinem Gefolge weg, und Hook wollte zu dem Baum, an dem die Leiche seines Bruders hing.

«Wohin zum Teufel gehst du?», fragte Sir John schroff.

«Ich beerdige ihn.»

«Du bist ein gottverdammter Narr, Hook», sagte Sir John und schlug ihn mit seiner Hand im Panzerhandschuh ins Gesicht. «Willst du es immer noch tun?»

«Er war es nicht!», begehrte Hook auf.

Sir John schlug ihn erneut, härter dieses Mal, sodass sich auf Hooks Wange blutige Striemen zeigten. «Es kommt nicht darauf an, ob er es war», knurrte er. «Gott hat ein Opfer gebraucht, und Er hat es bekommen. Vielleicht sind wir noch am Leben, weil dein Bruder gestorben ist.»

«Er hat nicht gestohlen, er hat noch nie gestohlen, er ist ehrlich!», sagte Hook.

Die behandschuhte Hand traf Hooks andere Wange. «Und du wirst dich hüten, den Entscheidungen unseres Königs zu widersprechen», sagte Sir John. «Und du wirst ihn nicht beerdigen, weil der König nicht will, dass er beerdigt wird! Du kannst dich glücklich schätzen, Hook, dass du nicht mit heruntergelaufener Pisse an deinen gottverdammten Beinen neben deinem Bruder hängst. Jetzt steig auf dein Pferd und reite.»

«Der Priester hat gelogen!»

«Das ist nicht deine Angelegenheit», sagte Sir John, «und meine auch nicht, und es ist ganz bestimmt nicht die Angelegenheit des Königs. Steig auf dein Pferd, oder ich lasse dir deine gottverdammten Ohren abschneiden.»

Hook stieg auf sein Pferd. Die anderen Bogenschützen gingen ihm aus dem Weg. Nur Melisande ritt an seiner Seite.

Sir Johns Männer waren die ersten, die sich auf den Weg machten. Hook, der sich vor Bitterkeit und Entsetzen wie betäubt fühlte, bemerkte nicht, dass er an Lord Slaytons Männern vorbeiritt, bis Melisande ihn durch ein Zischen aufmerksam machte. Dann erst sah er die Bogenschützen, die einst seine Gefährten gewesen waren. Thomas Perrill grinste triumphierend und deutete auf sein Auge, um Hook zu zeigen, dass er ihn für den Mörder seines Bruders hielt, während Sir Martin Melisande anstarrte und dann seinen Blick zu Hook hinüberwandern ließ. Er konnte sein Lächeln nicht unterdrücken, als er die Tränen des Bogenschützen sah.

«Du wirst sie alle umbringen», versprach Melisande. Wenn die Franzosen mir nicht die Arbeit abnehmen, dachte Hook. Sie ritten den Hügel hinunter auf die Somme und die einzige Hoffnung der Armee zu: eine imbewachte Furt oder eine Brücke.

Der Regen setzte wieder ein.


*

***

*****

***

*


Sie fanden nicht eine Furt über die Somme, sondern zwei, und, noch besser, keine davon wurde bewacht. Der französische Truppenverband, der ihnen am Nordufer gefolgt war, hatte den Weg um die weite Flussschleife noch nicht bewältigt, und die Engländer hatten, als sie an dem breiten Sumpfstreifen am Ufer der Somme ankamen, jenseits des Flusses eine menschenleere Landschaft vor sich.

Als die ersten Kundschafter von den Furten zurückkehrten, berichteten sie, der Wasserstand des Flusses sei hoch, aber nicht so hoch, dass eine Überquerung unmöglich wäre. Doch um die Furten zu erreichen, musste die Armee zwei Dammwege hinter sich bringen, die pfeilgerade durch den Sumpfstreifen bis zum Fluss führten. Diese Dammwege waren über eine Meile lang. Es waren Zwillingswege, die auf dem Sumpfland aufgeschüttet worden waren, und die Franzosen hatten beide unpassierbar gemacht, indem sie sie etwa auf der Hälfte eingerissen hatten, sodass breite Lücken mit unsicherem Grund und saugendem Morast entstanden waren. Die Kundschafter hatten diese sumpfigen Abschnitte überquert, doch sie meldeten, dass ihre Pferde bis über die Knie eingesunken waren und dass die Karren der Armee keinesfalls hinüberzubringen wären. «Dann setzen wir die Dammwege eben wieder instand», befahl der König.

Das dauerte fast einen ganzen Tag. Ein großer Teil der Männer wurde losgeschickt, um ein nahegelegenes Dorf einzureißen, sodass die Balken, Dachträger und Dielen als Fundament für die Instandsetzung der Dammwege benutzt werden konnten. Dann wurden Strohbündel, Zweige und Erde auf die Balken geschichtet, um die Lücken der Dämme ganz zu schließen, während sich die Männer der Nachhut zu einer Kampflinie aufstellten, um die Arbeiten vor einem Überraschungsangriff aus südlicher Richtung zu schützen. Doch es gab keinen Angriff. Französische Reiter beobachteten das Geschehen aus der Entfernung, doch es waren nicht viele, und sie unternahmen keinen Störversuch.

Hook war nicht an den Arbeiten beteiligt, weil der Vorhut schon vor Beginn der Instandsetzungen befohlen worden war, den Fluss zu überqueren. Sie ließen ihre Pferde stehen, liefen auf dem Dammweg bis zur Lücke, sprangen in den Morast, kämpften sich bis zur anderen Seite und gingen auf dem zweiten Teil des Dammwegs zum Ufer des Flusses. Dann wateten sie in die Somme. Die Bogenschützen hielten ihre Bögen und Pfeiltaschen über den Kopf. Hook zitterte, als er weiter in den Fluss ging. Er konnte nicht schwimmen, und die Angst kroch in ihm empor, als das Wasser seine Hüften und schließlich seine Brust erreichte, doch dann, als er sich gegen die Strömung stemmte, stieg das Flussbett wieder sanft an. Der Grund war recht sicher, wenn auch einige Männer ausglitten und ein Feldkämpfer flussabwärts getrieben wurde. Seine Schreie verhallten schnell, denn das schwere Kettenhemd zog ihn unter Wasser. Dann watete Hook durch einen Schilfgürtel und erklomm ein morastiges Steilufer, um auf die nördliche Seite des Flusses zu kommen. Die ersten Männer hatten die Somme überquert.

Sir John befahl seinen Bogenschützen, eine halbe Meile nordwärts zu gehen, wo sich in der Mitte einer ausgedehnten Weidefläche eine Hecke und ein Bachlauf entlangwanden. «Wenn die gottverdammten Franzosen kommen», sagte Sir John missgestimmt, «dann bringt sie einfach um.»

«Erwartet Ihr, dass die französische Armee anrückt, Sir John?», fragte Thomas Evelgold.

«Der Verband, der uns auf der Nordseite der Somme gefolgt ist?», sagte Sir John. «Diese Bastarde werden bestimmt bald hier sein. Aber die andere, die große Armee? Das weiß nur Gott. Hoffen wir, dass sie glauben, wir wären immer noch auf der Südseite des Flusses.»

Und selbst wenn nur der kleinere französische Armeeverband käme, dachte Hook, dann hatten die paar Bogenschützen der Vorhut nicht die geringste Aussicht, sie aufzuhalten. Er setzte sich neben den Bachlauf unter eine abgestorbene Erle, sah blicklos nach Norden und ließ seine Gedanken schweifen. Er war ein schlechter Bruder gewesen. Er hatte sich nie richtig um Michael gekümmert, und wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass ihn Michaels vertrauensseliges Wesen und seine unendliche Lebensfreude manchmal gereizt hatten. Er nickte kurz, als sich Tom Scarlet, der seinen Zwillingsbruder an Lanferelles Schwert verloren hatte, neben ihn hockte. «Es tut mir leid um Michael», sagte Scarlet unbeholfen. «Er war ein guter Kerl.»

«Das war er», sagte Hook.

«Matt war auch so.»

«Stimmt, das war er. Und ein guter Bogenschütze.»

«Das war er», sagte Scarlet. «Das war er.»

Schweigend sahen sie nach Norden. Sir John hatte gesagt, dass der erste Hinweis auf einen französischen Truppenverband berittene Kundschafter sein würden. Doch es waren keine Reiter zu sehen.

«Michael hat immer die Sehne schnappen lassen», sagte Hook. «Ich habe versucht, es ihm richtig beizubringen, aber er konnte es nicht lassen. Er hat sie immer schnappen lassen. Damit hat er sich die Treffgenauigkeit verdorben, das habe ich ihm immer wieder gesagt.» «Das passiert, wenn man die Sehne schnappen lässt», sagte Scarlet.

«Er hat es nie gelernt», sagte Hook, «und er hat auch nie diesen gottverdammten Kasten gestohlen.»

«Er kam einem nicht vor wie ein Dieb.»

«Er war auch keiner! Aber ich weiß, wer den Kasten gestohlen hat, und ich schneide ihm seine dreckige Kehle durch.»

«Dafür lohnt es sich nicht, gehängt zu werden, Hook.»

Hook verzog das Gesicht. «Wenn uns die Franzosen einholen, ist es ohnehin gleich, oder etwa nicht? Dann werde ich entweder gehängt oder niedergemetzelt.» Mit einem Mal sah Hook wieder das Bild der qualvoll sterbenden, gefolterten Bogenschützen vor der kleinen Kirche in Soissons vor sich. Ein Schauder lief ihm den Rücken hinab.

«Aber wir sind über den Fluss», sagte Scarlet nachdrücklich, «und das ist gut. Wie weit ist es jetzt noch?»

«Pater Christopher meint, von hier aus müssen wir noch eine Woche lang marschieren, vielleicht auch einen oder zwei Tage länger.»

«Das haben sie vor ein paar Wochen auch schon erzählt», sagte Scarlet freudlos. «Aber das macht nichts. Wir können ja eine Woche marschieren, ohne etwas zu essen.»

Geoffrey Horrocks, der jüngste Bogenschütze, brachte einen Helm voller Haselnüsse. «Hab ich an der Hecke gesammelt. Wollt Ihr sie verteilen?», fragte er Hook.

«Das machst du selbst, mein Freund. Erzähl ihnen, das ist das Abendessen.»

«Und zugleich das Frühstück für morgen», setzte Scarlet hinzu.

«Wenn wir ein Netz hätten, könnte ich ein paar Spatzen fangen», sagte Hook.

«Spatzenpastete», murmelte Scarlet sehnsüchtig.

Sie verfielen in Schweigen. Es hatte aufgehört zu regnen, doch der schneidende Wind ließ die durchnässten Bogenschützen bis auf die Knochen frieren. Ein Schwarm schwarzer Stare, die so dicht beisammenflogen, dass sie an eine dahintreibende Wolke erinnerten, hoben und senkten sich über einem Feld in der Nähe. Hinter Hook, auf der anderen Seite des Flusses, arbeiteten die Männer an der Instandsetzung der Dammwege.

«Er war ein erwachsener Mann, musst du wissen.»

«Was hast du gesagt, Tom?», fragte Hook, den die Worte aus seinen Gedanken gerissen hatten.

«Nichts», erwiderte Scarlet. «Ich war gerade dabei einzuschlafen, da hast du mich geweckt.»

«Er war ein sehr guter Mensch», sagte die Stimme leise, «und jetzt hat er im Himmel seinen Frieden gefunden.»

Sankt Crispinian, dachte Hook, und sein Blick auf die Landschaft war verschleiert von Tränen. Du bist immer noch bei mir, wollte er sagen.

«Im Himmel gibt es keine Tränen», fuhr der Heilige fort, «und keine Krankheit. Dort gibt es kein Sterben und keine Dienstherren. Und dort gibt es keinen Hunger. Michael genießt die himmlischen Freuden.»

«Alles in Ordnung, Nick?», fragte Tom Scarlet.

«Ja», sagte Hook und dachte, dass Crispinian alles über Brüder wusste. Er hatte mit seinem eigenen Bruder Crispin gelitten, und er war mit ihm gestorben, und nun war Michael bei ihnen, und das erschien Hook gut.

Es dauerte den größten Teil des Tages, die zwei Dammwege wieder instand zusetzen, und dann begann die Armee in zwei langen Reihen aus Pferden und Karren und Bogenschützen und Dienern und Frauen den Fluss zu überqueren. Der König, prächtig anzusehen in seiner Rüstung und mit der schmalen Krone, galoppierte an Hooks Bachlauf vorbei. Er wurde gefolgt von einer Gruppe Adliger, die ihren Pferden die Sporen gaben und ebenso wie Hook nordwärts Ausschau hielten. Doch die Franzosen, die sie zuvor vom Nordufer aus beobachtet hatten, waren weit zurückgefallen, und es war kein Feind in Sicht. Die Engländer hatten es über den Fluss geschafft und befanden sich nun in einer Region, auf die der Herzog von Burgund Anspruch erhob, wenngleich sie immer noch in Frankreich waren. Doch zwischen Henrys Truppen und England lag nun kein größeres Hindernis mehr, es sei denn, die französische Armee schaltete sich ein.

«Wir marschieren weiter», erklärte Henry seinen Kommandeuren.

Sie würden weiter nach Norden marschieren, nach Norden und etwas nach Westen. Sie würden in Richtung Calais marschieren, in Richtung England und in Richtung Sicherheit. Und sie marschierten los.

Sie ließen die breite Somme hinter sich, doch am nächsten Tag ordnete der König einen Halt an, denn die Männer seiner Armee waren krank, hungrig und hatten wunde Füße. Der Regen war abgezogen, und die Sonne brach durch den Wolkenschleier. Die Armee befand sich nun in bewaldetem Gelände, sodass ausreichend Feuerholz zur Verfügung stand, und das Lager wirkte wie das eines harmlosen Vergnügungsausflugs, als die Männer ihre Kleidung zum Trocknen über behelfemäßige Gestelle hängten. Späher wurden losgeschickt, doch es schien so, als sei die englische Armee ganz allein in der Weite Frankreichs. Nicht ein Franzose wurde gesichtet. Die Männer durchstreiften auf der Suche nach Nüssen, Pilzen und Beeren die Wälder. Hook hoffte, auf ein Reh oder einen Eber zu treffen, doch Tiere waren, ebenso wie der Feind, nirgendwo zu finden.

«Vielleicht sind wir ihnen gerade noch entkommen», sagte Pater Christopher, als Hook von seiner vergeblichen Jagd zurückkehrte.

«Der König scheint es zu glauben», gab Hook zurück.

«Warum?»

«Weshalb sollte er uns sonst einen Tag Rast gönnen?»

«Unser gütiger König», sagte der Priester, «ist so närrisch, dass er möglicherweise darauf hofft, die Franzosen würden uns einholen.»

«Närrisch? Wie der französische König?»

«Der französische König ist wirklich närrisch», sagte Pater Christopher. «Nein, unser König ist einfach nur davon überzeugt, dass er in Gottes Gunst steht.»

«Und das ist Narrheit?»

Pater Christopher hielt inne, als Melisande zu ihnen trat. Sie lehnte sich an Hook, ohne etwas zu sagen. Sie war magerer, als Hook sie je gesehen hatte, allerdings war die ganze Armee inzwischen abgemagert, die Männer waren hungrig und krank. Irgendwie waren Hook und seine junge Frau von der Durchfallkrankheit verschont geblieben, doch viele andere litten noch darunter, und das Lager stank nach Exkrementen. Hook legte seinen Arm um Melisande, drückte sie an sich und dachte auf einmal, dass sie das Kostbarste war, was er auf der Welt besaß. «Ich hoffe bei Gott, dass wir ihnen entkommen sind», sagte Hook.

«Und halb hofft das auch unser König», sagte Pater Christopher, «aber halb hofft er, dennoch beweisen zu können, dass er in Gottes Gunst steht.»

«Und das ist seine Narrheit?»

«Man sollte sich vor zu viel Gewissheit hüten. In der französischen Armee, Hook, gibt es ebenfalls Männer, die genau wie Henry davon überzeugt sind, dass Gott auf ihrer Seite ist. Auch das sind gute Männer. Sie beten, sie geben Almosen, sie beichten ihre Sünden, und sie schwören, niemals neue Sünden zu begehen. Es sind sehr gute Männer. Können sie sich in ihrer Gewissheit täuschen?»

«Das müsst Ihr mir sagen, Pater.»

Pater Christopher seufzte. «Wenn ich Gott verstünde, Hook, dann würde ich alles auf der Welt verstehen, denn Gott ist alles. Er ist die Sterne und der Sand, der Wind und die Stille, der Spatz und der Sperber. Er weiß alles. Er kennt mein Schicksal, und Er kennt dein Schicksal, und wenn ich all das verstünde, was wäre ich dann?»

«Dann wärt Ihr Gott», sagte Melisande.

«Und das kann nicht sein», sagte Pater Christopher, «denn wir können nicht alles verstehen. Nur Gott tut das, also hüte dich vor einem Mann, der sagt, er kenne Gottes Willen. Er ist wie ein Pferd, das glaubt, es könne seinen Reiter lenken.»

«Und unser König glaubt das?»

«Er glaubt, dass er von Gott bevorzugt wird», sagte Pater Christopher, «und vielleicht stimmt das auch. Immerhin ist er ein gesalbter und gesegneter König.»

«Gott hat ihn zum König gemacht», sagte Melisande.

«Das Schwert seines Vaters hat ihn zum König gemacht», sagte Pater Christopher scharf, «aber es kann freilich sein, dass Gott dieses Schwert geführt hat.» Er bekreuzigte sich. «Dennoch gibt es Stimmen», er sprach nun sehr leise, «die sagen, sein Vater hatte kein Recht auf den Thron. Und die Sünden der Väter suchen die Söhne heim.»

«Ihr sagt also...», begann Hook, doch dann hütete er lieber seine Zunge, denn dieses Gespräch bewegte sich in gefährlicher Nähe zum Hochverrat.

«Ich sage», sagte Pater Christopher nachdrücklich, «dass ich um unsere Heimkehr nach England bete, ohne dass uns die Franzosen finden.»

«Sie haben unsere Spur verloren», sagte Hook und hoffte, dass er recht hatte.

Um Pater Christophers Lippen spielte ein leises Lächeln. «Sie mögen nicht wissen, wo wir sind, Hook, aber sie wissen, wohin wir gehen. Also müssen sie uns gar nicht finden, nicht wahr? Alles, was sie tun müssen, ist, mit ihrer Armee vor uns zu ziehen und sich von uns finden zu lassen.»

«Und wir machen einen Tag Rast», sagte Hook grimmig.

«Das tun wir», sagte der Priester, «und deshalb müssen wir beten, dass unser Feind wenigstens zwei Tagesmärsche hinter uns ist.»

Am nächsten Tag ritten sie weiter. Hook war einer der Späher, die zwei Meilen vor der Vorhut nach dem Feind Ausschau hielten. Er mochte es, als Späher eingesetzt zu werden. Es bedeutete, dass er seinen angespitzten Stock auf einen Karren werfen und vollkommen frei vor der Armee reiten konnte. Am Himmel zogen sich wieder Wolken zusammen, und der Wind war kalt. Als sie erwacht waren, hatte weißer Reif auf dem Gras gelegen, wenn er auch recht schnell wieder verschwunden war. Das Grün des Buchenlaubs hatte sich in ein mattes Rotgold verwandelt, und die Eichenblätter waren bronzefarben, während einige Bäume bereits ihr gesamtes Laub abgeworfen hatten. Die niedriger gelegenen Weiden standen nach den jüngsten Regenfällen halb unter Wasser, während sich durch die Felder, die schon für den Winterweizen gepflügt worden waren, lange silbrige Wasserstreifen zogen. Hooks Männer folgten einem Viehtreiberpfad, der an Dörfern vorbeiführte, doch die Hütten waren alle verlassen. Es gab kein Vieh und kein Korn mehr. Irgendwer, dachte Hook, wusste, dass die Engländer hier entlangkommen würden, und hatte das Land leer gefegt. Doch wer immer es gewesen war, er war verschwunden. Nirgendwo war ein Hinweis auf den Feind zu sehen.

Mittags hatte der Regen wieder eingesetzt. Es war nur ein Tröpfeln, doch die Feuchtigkeit drang Hook bis auf die Haut. Raker, sein Pferd, wurde immer langsamer. Die ganze Armee wurde immer langsamer. Sie kamen an einer Stadt vorbei, und Hook, der inzwischen völlig abgestumpft auf seinem Pferd saß, warf kaum einen Blick auf die weiße Stadtmauer mit ihren trotzig wehenden, leuchtend bunten Bannern. Er ritt einfach nur weiter, folgte dem Weg, ließ die Stadt mit ihren Befestigungsanlagen hinter sich, bis er, mit einem Mal, genau wusste, dass sie alle Todgeweihte waren.

Er hatte mit seinen Männern eine kleine Anhöhe erreicht, und vor ihnen erstreckte sich ein weites grünes Tal, dessen entferntere Seite sich sanft dem Horizont entgegenhob. Dort waren ein Kirchturm und ein Wäldchen zu erkennen. Das Tal war Weidegrund, wenn auch kein Tier zu sehen war, doch durch die Talsohle zog sich der Beweis dafür, dass sie alle nichts als den Tod zu erwarten hatten.

Hook zügelte Raker und versenkte sich in den Anblick.

Quer vor ihm, von Osten nach Westen, zog sich ein schlammiger Streifen, eine riesige, breite Narbe aus aufgewühltem Boden, auf dem kein Grashalm stehengeblieben war. Wasser glitzerte in den unzähligen Vertiefungen, die von den Pferdehufen hinterlassen worden waren. Der Grund war zerstampft, aufgebrochen, zerfurcht und von Räderspuren durchzogen, weil eine Armee durch dieses Tal gezogen war.

Es musste eine große Armee gewesen sein, dachte Hook. Tausende Pferde hatten diese frischen Spuren hinterlassen. Er ritt an den Rand der Narbe und hatte so deutliche Hufabdrücke vor sich, dass er an manchen sogar die punktförmigen Stellen erkennen konnte, an denen die Nägel in die Hufeisen eingeschlagen worden waren. Er sah nach Westen, wohin die Armee verschwunden war, doch er konnte nichts entdecken, nur den Weg, über den Tausende von Männern gezogen waren. Die Erdnarbe beschrieb am Ende des Tals einen Bogen nach Norden.

«Lieber Herr Jesus», sagte Tom Scarlet ehrfürchtig, «dort müssen Tausende von den Bastarden sein.»

«Reite zurück», wies Hook Peter Scoyle an, «such Sir John und erzähl ihm von alldem hier.»

«Von alldem hier?», fragte Scoyle.

Hook fiel wieder ein, dass Scoyle aus London stammte. «Wofür hältst du das hier?» Er deutete auf die zerfurchte Erde.

«Für einen Schlammstreifen», sagte Scoyle.

«Sag Sir John, dass der Feind innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden hier war.»

«Sie waren hier?»

«Geh schon!», drängte Hook ungeduldig. Dann wandte er sich wieder den Myriaden von Hufabdrücken zu. Es waren Abertausende, so viele, dass sie das Tal in ein sumpfiges Moor verwandelt hatten. Er hatte die Viehtreiberpfade in England gesehen, nachdem die großen Herden zum Schlachten nach London getrieben worden waren, und als Junge hatte ihn die Größe dieser Herden überwältigt. Doch die Spuren hier vor ihm waren viel zahlreicher. Jeder einzelne Mann in Frankreich, dachte er, und vielleicht auch jeder Mann aus Burgund, war durch dieses Tal geritten, und sie waren innerhalb des letzten Tages hier durchgezogen. Also wartete irgendwo im Westen oder Norden, irgendwo zwischen dieser Stelle und Calais, das übermächtige Feindesheer.

«Bestimmt beobachten sie uns», sagte er.

«Lieber Herr Jesus», sagte Tom Scarlet erneut und bekreuzigte sich. Die beiden blickten aufmerksam zum Wald hinüber, doch kein Aufblitzen verriet einen Mann in Rüstung. Dennoch war Hook sicher, dass der Feind Späher hatte, die den erschöpften Feind beobachteten.

Sir John kam mit einem Dutzend Feldkämpfer. Er sagte nichts, als er die Spuren in Augenschein nahm, und dann, ebenso wie Hook es getan hatte, blickte er nach Westen und dann nach Norden. «Sie sind also hier», sagte er schließlich schicksalsergeben.

«Das ist nicht der kleine Truppenverband, der uns den Fluss entlang gefolgt ist», sagte Hook.

«Natürlich ist er das gottverdammt nochmal nicht», knurrte Sir John und ließ seinen Blick über die aufgewühlte Weide schweifen. «Das ist die gesamte Streitmacht Frankreichs, Hook», setzte er gallig hinzu.

«Und sicher beobachten sie uns, Sir John», sagte Hook.

«Du solltest dir einmal wieder den Bart abschaben, Hook», sagte Sir John schroff. «Du siehst aus wie ein gottverdammter Vagabund.»

«Ja, Sir John.»

«Und ganz gewiss beobachten uns diese furzenden Kohlfresser. Also lassen wir die Banner flattern! Und verdammt sollen sie sein! Verdammt sollen sie sein! Verdammt sollen sie sein!» Er brüllte diese schwachen Flüche laut heraus und erschreckte damit Lucifer, der mit den Ohren zuckte. «Verdammt sollen sie sein, und wir ziehen weiter!», sagte Sir John.

Denn sie hatten keine Wahl. Und am nächsten Tag, auch wenn immer noch kein Zeichen von der feindlichen Armee zu sehen war, erhielten sie den Beweis dafür, dass die Franzosen genau wussten, wo die Engländer waren. Drei Herolde erwarteten sie am Wegesrand. Sie trugen ihre bunten Kittel und die langen weißen Amtsstäbe. Hook grüßte sie freundlich und sandte erneut nach Sir John, und Sir John brachte die drei Herolde zum König.

«Was wollen diese aufgeblasenen Bastarde?», fragte Will of the Dale.

«Sie wollen uns alle zusammen zum Frühstück einladen», sagte Hook. «Schinken, Brot, gebratene Gänseleber, Erbsenbrei und gutes Ale.»

Will grinste. «Ich würde für eine Schüssel Bohnen glatt meine Mutter verkaufen, nur für eine ganz einfache Schüssel Bohnen.»

«Bohnen, Brot und Schinken», sagte Hook sehnsüchtig.

«Ochs vom Spieß», sagte Will, «an dem das Fett heruntertropft.»

«Ein Stück Brot würde es auch tun», sagte Hook. Er wusste, dass die drei Franzosen bei diesem Besuch sehr viel vom Zustand der englischen Armee mitbekommen würden. Herolde sollten normalerweise über den Konflikten der Streitgruppen stehen, sie sollten reine Boten sein, doch die drei Männer würden den französischen Befehlshabern sicherlich berichten, dass die englischen Männer den Zug verließen, um ihre Hosen herunterzulassen und sich die Seele aus dem Leib zu scheißen, und von den erschöpften Pferden würden sie erzählen, von der ganzen schlammverkrusteten, schweigenden Armee, die langsam nach Nordwesten zog.

«Sie haben uns zur Schlacht herausgefordert», sagte Pater Christopher, nachdem die Herolde wieder davongeritten waren. Wie zu erwarten, wusste der Priester, was bei dem Treffen der drei Herolde mit dem König besprochen worden war. «Es ging überaus höflich zu», erzählte er Hook und seinen Bogenschützen, «alle haben sich hübsch verbeugt, reizende Komplimente ausgetauscht, übereinstimmend festgestellt, dass das Wetter überaus unfreundlich ist, und dann haben unsere Gäste ihre Herausforderung übergeben.»

«Wie gesittet von ihnen», bemerkte Hook bissig.

«Es ist sehr wichtig, sich gesittet zu verhalten», sagte der Priester tadelnd. «Man tanzt nicht mit einer Frau, ohne sie zuvor aufgefordert zu haben, jedenfalls nicht in einer artigen Gesellschaft, und jetzt fordern uns der Konnetabel von Frankreich und der Duc de Bourbon und der Duc d'Orleans zum Tanz auf.»

«Wer sind sie?», fragte Tom Scarlet.

«Der Konnetabel ist Charles d'Albret, und du kannst beten, dass er nicht mit dir tanzt, Tom, und die Ducs sind bedeutende Männer. Der Duc de Bourbon ist übrigens ein alter Freund von dir, Hook.»

«Von mir?»

«Er hat die Armee geführt, die Soissons zerstört hat.»

«Mein Gott», sagte Hook, und wieder dachte er an die geblendeten Bogenschützen, die auf dem Kopfsteinpflaster verblutet waren.

«Und jeder dieser Ducs», fuhr Pater Christopher fort, «führt vermutlich eine Truppe, die größer ist als unsere gesamte Armee.»

«Und hat der König ihre Aufforderung angenommen?», fragte Hook.

«Oh, mit Freuden!», sagte Pater Christopher. «Er liebt den Tanz, wenn er es auch abgelehnt hat, einen Ort für dieses Vergnügen zu nennen. Er sagte, die Franzosen hätten zweifellos keinerlei Schwierigkeiten, uns ausfindig zu machen.»

Und jetzt, weil die Franzosen diese Schwierigkeit nicht hatten und weil seine Armee jederzeit in den Kampf verwickelt werden konnte, befahl der König, dass sämtliche Männer in voller Rüstung reiten sollten. Also trugen sie Rüstungen und Wappenröcke, doch die meisten Rüstungen und Wappenröcke waren mittlerweile so fleckig oder verrostet, dass dieser Aufzug wohl kaum einen Feind zu beeindrucken vermochte, ganz davon zu schweigen, einen Feind einzuschüchtern. Doch immer noch zeigte sich kein Feind.

Es zeigte sich kein Feind am Tag von Sankt Cordula, der britischen Jungfrau, die von Heiden abgeschlachtet worden war, und auch nicht am darauffolgenden Tag, dem Fest von Sankt Felix, den man geköpft hatte, weil er sich geweigert hatte, die heiligen Schriften aus seinem Besitz herauszugeben. Die Armee marschierte nun seit mehr als zwei Wochen, und der nächste Tag war der Tag von Sankt Raphael, von dem Pater Christopher sagte, er sei einer der Erzengel, die vor dem Thron Gottes stehen. «Und weißt du, was morgen ist?», fragte Pater Christopher Hook am Tag von Sankt Raphael.

Hook musste nachdenken, weil er keine rechte Antwort wusste. «Ein Mittwoch?», fragte er schließlich unsicher.

«Nein», sagte Pater Christopher lächelnd. «Morgen ist ein Freitag.»

«Also ist morgen Freitag», sagte Hook grinsend, «das bedeutet doch, dass Ihr uns alle zwingt, Fisch zu essen, nicht wahr? Vielleicht eine schöne fette Forelle? Oder einen Aal?»

«Morgen», sagte Pater Christopher freundlich, «ist der Tag von Sankt Crispin und Sankt Crispinian.»

«O mein Gott», sagte Hook und fühlte sich, als sei sein Herz unvermittelt in kaltes Wasser getaucht worden, wenn er auch nicht sagten konnte, ob dieses Gefühl Angst war oder die unvermittelte Sicherheit, dass solch ein Tag eine wahrhaft segensreiche Bedeutung haben musste.

«Und es könnte ein guter Tag zum Beten sein», legte ihm der Priester nahe.

«Beten werde ich, Pater», versprach Hook, und augenblicklich begann er zu beten. Lass uns deinen Tag erleben, betete er zu Sankt Crispinian, ohne den Franzosen zu begegnen, dann weiß ich, dass wir sicher sind. Lass uns entkommen, betete er, und bring uns sicher nach Hause. Lass die Franzosen blind für unsere Anwesenheit sein, flehte er, und er wiederholte dieses Gebet für Sankt Raphael, den Schutzpatron der Blinden. Bring uns nur sicher nach Hause, betete er, und er schwor Sankt Crispinian, dass er eine Pilgerreise nach Soissons unternehmen würde, wenn der Heilige ihn nach Hause brachte, und dass er Geld in den Kupfertopf in der Kathedrale legen würde, ausreichend Geld, um das Altartuch zu bezahlen, das John Wilkinson vor so langer Zeit zerrissen hatte. Bring uns einfach nur nach Hause, betete er, bring uns alle nach Hause und lass uns in Sicherheit sein.

Und an diesem Tag, dem Tag von Sankt Raphael, dem vierundzwanzigsten Oktober 1415, einem Donnerstag, schienen Hooks Gebete erhört zu werden.

Sie ritten durch eine Landschaft mit niedrigen, steilen Hügeln und schnellfließenden Flüsschen. Sie wurden von einem Einheimischen geführt, einem Walker, der sich in dem verwirrenden Wegenetz dieser Gegend auskannte. Er führte Hook und die Späher des Vortrupps auf einem Karrenweg zwischen Bäumen hindurch. Die Straße nach Calais lag etwas westlich von ihnen, doch das nützte nichts, denn sie führte durch Hedin, eine Stadt mit Befestigungsanlagen am Ufer eines kleinen Flusses. Die Brücke, die dort den Fluss überspannte, wurde von einer Barbakane geschützt, sodass der Walker Hook zu einem anderen Übergang führte. «Auf der anderen Seite des Flusses geht Ihr nach Norden», sagte der Mann, «wenn Ihr einfach nordwärts weitergeht, trefft Ihr wieder auf die Straße. Habt Ihr verstanden?» Er fürchtete sich vor den Bogenschützen und noch mehr vor den Feldkämpfern des Königs, die knapp hinter ihnen ritten und darüber zu entscheiden hatten, ob der Walker vertrauenswürdig war.

«Ich verstehe», sagte Hook.

«Geht einfach nach Norden», wiederholte der Mann. Der Pfad senkte sich zu einem Tal hinab, in dem ein Dorf am südlichen Ufer eines Flusses lag. «La Riviere Ternoise», sagte der Mann und deutete dann zum jenseitigen Ufer hinüber, an dem die Hügel steil anstiegen. «Dort geht Ihr hinauf», sagte er, «dann findet Ihr die Straße nach Saint-Omer.»

«Saint-Omer?»

«Oui!», sagte der Führer, und Hook erinnerte sich an seine Reise mit Melisande, auf der Saint-Omer ihr Ziel und Calais nicht weit entfernt davon gewesen war. So nahe sind wir schon, dachte er. Der verängstigte Walker sagte noch etwas, und Hook, der nur halb hingehört hatte, bat ihn, es zu wiederholen. «Die Leute aus der Gegend hier», sagte der Mann, «nennen die Ternoise den Fluss der Schwerter.»

Dieser Name ließ Hook erschauern. «Warum?»

Der Mann zuckte mit den Schultern. «Sie sind alle nicht ganz bei Trost», sagte er. «Das ist ein ganz gewöhnlicher Fluss.»

Der Fluss war trotz des ausgiebigen Regens der letzten Tage seicht, und der Ritter, der die Feldkämpfer befehligte, ordnete an, dass Hook seine Bogenschützen über die Furt und den Hügel auf der anderen Seite hinaufführen sollte. «Wartet, wenn ihr oben angekommen seid», sagte er, und gehorsam gab Hook Raker die Sporen und wandte sich zum Fluss der Schwerter. Seine Bogenschützen folgten ihm, spritzend ritten sie durch das Wasser, das ihren Pferden kaum bis zu den Bäuchen reichte. Der Abhang auf der anderen Seite war steil. Hook und seine Männer kamen auf ihren erschöpften Pferden nur langsam voran. Der Dauerregen hatte aufgehört, wenn ihnen der Wind auch bisweilen noch ein paar Tropfen aus Wolken entgegenblies, die sich immer finsterer zusammenballten. Diese Wolken hingen niedrig am Himmel und waren nahezu schwarz, und der Horizont im Osten hatte die Farbe von Ruß. «Gleich wird es wie aus Kübeln schütten», sagte Hook zu Will of the Dale.

«Sieht ganz danach aus», gab Will unbehaglich zurück. Die Luft war drückend, lastete schwer auf ihnen und fühlte sich merkwürdig bedrohlich an.

Hook war kaum die Hälfte des Abhangs hinaufgeritten, als eine große Truppe Feldkämpfer durch den Fluss kam und ihre Pferde hinter ihm den Hügel hinauftrieben. Hook wandte sich um und sah, dass die Kolonne die Ternoise erreicht hatte. Es wirkte, als sei die Armee mit einem Mal von dem Gefühl der Dringlichkeit erfasst worden. Sir John, seinen Standartenträger dicht hinter sich, galoppierte an Hook vorbei auf den Hügelkamm zu, der sich als dunkle Linie von dem schiefergrauen Himmel abhob, und einen Moment später galoppierte der König selbst auf einem nachtschwarzen Pferd denAbhang hinauf.

«Was ist denn plötzlich los?», fragte Tom Scarlet.

«Weiß der Himmel», sagte Hook. Der König, sein Gefolge und jeder andere Feldkämpfer hatten ihre Pferde auf dem Hügelkamm gezügelt und ihren Blick starr nach Norden gerichtet.

Dann kam Hook selbst auf den Hügelkamm. Und auch sein Blick wurde starr.

Vor ihm fiel das Land zu einem schmalen grünen Tal hin ab. Eine Straße wand sich von einem Dorf aus zu einer weiten Fläche hinauf, die als nackte Erde unter dem düsteren Himmel lag. Die nackte Ebene war gepflügt worden, und auf jeder Seite endeten die frischen Furchen an dichtem Wald. Die Mauern einer kleinen Burg waren eben noch über den Bäumen im Westen zu sehen. Ein Banner flatterte von den Turmzinnen, doch es war zu weit entfernt, um das Wappen darauf zu erkennen.

Etwas an dieser Fläche erschien Hook bekannt. «Ich war schon einmal hier», sagte er zu niemandem im Besonderen. «Melisande und ich, wir waren schon einmal hier.»

«Wirklich?», gab Tom Scarlet ohne echte Aufmerksamkeit zurück.

«Wir sind hier einem Reiter begegnet», sagte Hook und starrte weiter wie betäubt nach Norden, «und er hat uns gesagt, wie dieser Ort hier heißt, aber ich kann mich nicht mehr an den Namen erinnern.»

«Irgendwie wird er schon heißen», sagte Scarlet abwesend.

Weitere Engländer erreichten die Hügelkuppe, hielten an und starrten nach vorn. Es wurde kaum gesprochen, und manche bekreuzigten sich.

Denn vor ihnen, und so zahlreich wie die Sandkörner am Strand und die Sterne am Himmel, lag der Feind. Die Kräfte Frankreichs und Burgunds standen am gegenüberliegenden Ende der gepflügten Fläche, und sie bildeten eine unüberschaubare Menge. Ihre leuchtenden Banner kündeten von ihrer Zahl, und es waren unzählige Banner.

Die versammelten Mächte Frankreichs blockierten den Weg nach Calais, und die Engländer saßen in der Falle.

Henry, den Earl of Chester, den Duke von Aquitanien, den Lord von Irland und den König von England, erfüllte der Anblick des Feindes mit neuem und wildem Kampfgeist. «Schlachlinie bilden!», rief er. «Schlachtlinie bilden!» Er galoppierte vor seiner Armee endlang, die sich zum Kampf ordnete. «Folgt den Befehlen eurer Anführer! Sie wissen, wo ihr euch aufstellen müsst, sammelt euch bei ihren Standarten! Durch Gottes Gnade werden wir heute kämpfen! Schlachtlinie bilden!»

Die Sonne stand niedrig hinter den tiefhängenden Wolken, und die französische Armee sammelte sich weiter unter einem wahren Wald aus Bannern. «Wenn jedes Banner einen Lord bedeutet», sagte Thomas Evelgold, «und wenn jeder Lord zehn Männer führt, wie viele Männer sind das?»

«Tausende, verdammt», sagte Hook.

«Und zehn ist noch niedrig geschätzt», fuhr der Centenar fort, «sehr niedrig. Wahrscheinlich kämpfen eher hundert Männer unter einem Banner, vielleicht sogar zweihundert!»

«Gütiger Gott», sagte Hook und mühte sich, die feindliche Flaggen zu zählen, doch es waren zu viele. Die feindliche Armee war riesenhaft und die englische Armee klein. «Gott helfe uns», kam ihm über die Lippen, und erneut überlief ihn bei dem Gedanken an das Blut und die Schreie in Soissons ein Schauder.

«Ja, irgendwer sollte uns hier tatsächlich helfen», sagte Evelgold nachdrücklich. Darauf wandte er sich an seine Bogenschützen. «Wir stehen auf der rechten Seite. Steigt von den Pferden! Stöcke und Bögen! Bewegt euch! Und die Jungs sollen sich um die Tiere kümmern! Los, trödelt nicht! Setzt eure verdammten Knochen in Bewegung! Wir haben ein bisschen Sterben vor uns!»

Die Pferde ließen sie auf den Weiden beim Dorf zurück. Die Armee stieg den sanften Abhang zu der höhergelegenen Fläche hinauf. Der Feind war von dem schmalen Tal aus nicht zu sehen, doch als Hook auf dem gepflügten Feld angekommen war, hatte er die Franzosen wieder vor sich, und all seine Ängste kehrten zurück. Was er sah, war eine echte Armee. Kein von Krankheit geschwächter, zerlumpter Trupp Flüchtender, sondern eine stolze, starke Armee, die angerückt war, die Männer zu strafen, die es gewagt hatten, in Frankreich einzumarschieren.

Die englische Vortruppe stand nun auf der rechten Seite und ihre Bogenschützen ganz rechts außen, wo sie von der Hälfte derjenigen Bogenschützen unterstützt wurde, die zuvor in der Mitte der Armee mitgezogen war. Die andere Hälfte hatte sich der Nachhut angeschlossen, die nun ganz auf der linken Seite der englischen Armee stand. So wurden die Flügel der Armee von Bogenschützen gebildet, während die Reihen der Feldkämpfer zwischen ihnen Aufstellung genommen hatten.

«Lieber Gott», sagte Tom Scarlet und deutete auf die Feldkämpfer «ich habe schon mehr Männer auf einem Pferdemarkt versammelt gesehen.»

Es waren kaum tausend Männer, und sie bildeten eine jämmerlich kurze Linie in der Mitte der Schlachtordnung. Die Bogenschützen waren bei weitem zahlreicher. Über zweitausend standen nun an jeder Flanke. «Stöcke!» Ein Ritter mit einem grünen Wappenrock galoppierte vor den Bogenschützen entlang. «Rammt eure Stöcke in den Boden, Männer!»

Sir John, der mit den Feldkämpfern in der Mitte der Kampflinie stand, kam zu den Bogenschützen, die ihre Stöcke vorbereiteten. «Wir warten ab, ob sie angreifen», erklärte er, «und wenn sie es nicht tun, kämpfen wir morgen gegen sie.»

«Warum laufen wir nicht einfach weg, wenn es dunkel ist?», fragte ein Mann.

«Das habe ich nicht gehört!», brüllte Sir John. Dann ging er an der Linie entlang und warnte die Männer, sie sollten mit einem Angriff der Franzosen rechnen.

Die Bogenschützen standen in loserer Kampfordnung als die Feldkämpfer, die Rüstung an Rüstung vier Reihen tief Aufstellung genommen hatten. Sie brauchten Platz, um ihre langen Bogenschäfte zu spannen, und waren dem Befehl gefolgt, einige Schritte vorzurücken, wo sie sich verteilten, sodass jeder Mann genügend Raum hatte, um die Bogensehne zurückzuziehen. Hook stand mit den übrigen Männern Sir Johns ganz vorne. Er schätzte, dass etwa zweihundert Bogenschützen mit in seiner Kampflinie standen. Die anderen hatten sich in einem Dutzend loser Reihen hinter ihm aufgestellt, wo sie nun ihre Stöcke schräg in den Boden hämmerten, sodass die Spitzen auf die Franzosen zeigten. Danach mussten sie die aufragende Spitze erneut schärfen, weil sie durch die hämmernden Schläge mit der Kriegsaxt stumpf geworden waren. «Stellt euch vor eure Stöcke!», rief der Mann mit dem grünen Wappenrock. «Die Feinde sollen die Stöcke nicht sehen!»

«Die Bastarde sind doch nicht blind!», knurrte Will of the Dale, «sie haben schon längst gesehen, was wir machen.»

Denn die Franzosen beobachteten sie. Sie waren eine halbe Meile entfernt, und immer noch kamen weitere Männer dazu. Es war eine bunte Masse auf Pferderücken, über denen die Banner heller als der Himmel leuchteten. Der war noch finsterer geworden, die dunkle Wolkendecke wurde dichter und dichter. Die meisten Franzosen hielten sich in einiger Entfernung, wo Zelte für ein Lager errichtet wurden, doch einige ritten näher an die Engländer heran, um ihre Armee in Augenschein zu nehmen.

«Ich wette, die Bastarde lachen über uns», sagte Tom Scarlet. «Die bepissen sich vor Lachen.»

Einige der feindlichen Reiter waren bis auf eine Viertelmeile herangekommen, wo sie im Sattel saßen oder ihre Pferde auf dem Feld umherführten, und alle hatten ihren Blick auf die kleine Armee gerichtet, die vor ihnen stand. Auf der rechten und der linken Seite wirkte der Wald nahezu schwarz im schwindenden Licht. Einige Bogenschützen gingen, nachdem sie ihren Stock in den Boden getrieben hatten, zum Wald hinüber, um in dem dichten Unterholz aus Weißdorn, Stechpalme und Haselgebüsch ihre Notdurft zu verrichten, doch die meisten starrten einfach nur den Feind an. Hook vermutete, dass Tom Scarlet recht hatte. Die Franzosen mussten sich ja krümmen vor Lachen! Es kamen jetzt schon zumindest vier oder fünf von ihnen auf jeden Engländer, und noch immer strömten neue Kräfte auf das nördliche Ende des Feldes. Hook ließ sich auf dem feuchten Grund auf ein Knie nieder, bekreuzigte sich und betete zu Sankt Crispinian. Er war nicht der einzige Bogenschütze, der betete. Dutzende Männer knieten. Priester gingen zwischen den todgeweihten Männern umher und spendeten den Segen, während die Franzosen ihre Pferde über das Feld führten. Als Hook die Augen wieder vom Gebet hob, stellte er sich ihr Gelächter vor, ihren Spott auf diese jämmerliche Armee, die sie herausgefordert hatte, ihnen zu entkommen versucht hatte und die sie jetzt gestellt hatte. «Rette uns», betete er zu Sankt Crispinian, doch der Heilige sagte nichts zu ihm, und Hook glaubte, sein Gebet sei in der großen dunklen Leere jenseits der unheilschwangeren Wolken verlorengegangen.

Dann setzte heftiger Regen ein. Es war ein kalter, schwerer Regen, und als der Wind nachließ, fielen die Tropfen mit tückischer Dichte, sodass die Bogenschützen eilig ihre Bögen abspannten und die Sehnen zusammengerollt unter ihre Kappen und Helme schoben, um sie trocken zu halten. Englische Herolde waren vor die Kampflinie geritten, wo sie ihre französischen Amtsbrüder trafen, und Hook sah, wie sich die Männer im Sattel voreinander verbeugten. Nach einer Weile ritten die englischen Herolde zurück, ihre grauen Pferde von den Hufen bis zum Bauch mit Schlamm bespritzt.

«Kein Kampf heute, Männer!» Diese Nachricht brachte Sir John den Bogenschützen wenig später. «Wir bleiben, wo wir sind! Keine Feuer hier oben! Ihr sollt euch ruhig verhalten! Der Feind gibt uns die Ehre, morgen gegen uns zu kämpfen, also versucht zu schlafen! Heute gibt es keinen Kampf mehr!» Er ritt an der Linie der Bogenschützen entlang, und seine Stimme verklang im Rauschen der Regentropfen.

Hook kniete immer noch. «Ich werde an deinem Tag kämpfen», erklärte er dem Heiligen, «an deinem Gedenktag. Behüte uns. Lass Melisande sicher sein. Lass uns alle sicher sein. Ich bitte dich. Im Namen des Vaters bitte ich dich. Bring uns sicher nach Hause.»

Er erhielt keine Antwort. Da war nur das laute Zischeln des Regens und ein Donnergrollen in der Ferne.

«Auf den Knien, Hook?» Es war Tom Perrill, der dies mit höhnischer Stimme fragte.

Hook stand auf und drehte sich zu seinem Feind herum, doch schon hatte sich Thomas Evelgold zwischen die beiden gestellt. «Hast du etwas mit Hook zu regeln?», fragte der Centenar herausfordernd.

«Ich hoffe, dass du den morgigen Tag überlebst, Hook», sagte Perrill, ohne auf Evelgold zu achten.

«Ich hoffe, wir alle werden den morgigen Tag überleben», gab Hook zurück. Ein unbändiger Hass auf Perrill erfüllte ihn, doch er war zu erschöpft, um in dieser nassen Dämmerung mit ihm zu streiten.

«Weil wir noch nicht miteinander fertig sind», sagte Perrill.

«Das sind wir nicht», stimmte Hook zu.

«Und du hast meinen Bruder umgebracht», sagte Perrill und funkelte Hook böse an. «Du sagst zwar, du hättest es nicht getan, aber du hast es getan, und der Tod deines Bruders gleicht das noch nicht aus. Ich habe meiner Mutter etwas versprochen, und du kennst dieses Versprechen.» Regen tropfte vom Rand seines Helms herunter.

«Ihr solltet euch verzeihen», sagte Evelgold. «Wenn wir morgen kämpfen, sollten wir Freunde sein. Wir haben auch so schon genügend Feinde.»

«Ich habe ein Versprechen zu erfüllen», sagte Perrill starrsinnig.

«Das du deiner Mutter gegeben hast?», sagte Hook. «Zählt ein Versprechen gegenüber einer Hure überhaupt?» Diese höhnische Bemerkung hatte er sich nicht verkneifen können.

Perrill verzog das Gesicht, doch er beherrschte sich. «Sie hasst deine Familie, und sie will alle tot sehen. Und jetzt bist nur noch du übrig.»

«So wie es aussieht, werden die Franzosen deiner Mutter zu ihrem Glück verhelfen», sagte Evelgold.

«Irgendwer wird es tun», sagte Perrill. «Entweder sie oder ich.» Er nickte in die Richtung der feindlichen Armee, ließ Hook dabei jedoch nicht aus den Augen. «Aber ich werde dich nicht töten, wenn sie gegen uns kämpfen. Dafür bin ich gekommen, um dir das zu sagen. Du hast ja so schon die Hosen voll», sagte er verächtlich, «auch wenn du dich nicht ständig umdrehen musst, um zu sehen, was hinter deinem Rücken vorgeht.»

«Du hast gesagt, was du zu sagen hattest. Also geh jetzt.» Evelgold wollte das Gespräch beenden.

«Also treffen wir ein Abkommen», sprach Perrill weiter, ohne den Centenar zu beachten. «Wir greifen uns nicht an, bis das hier vorbei ist.»

«Ich werde dich nicht umbringen, solange sie gegen uns kämpfen», stimmte Hook zu.

«Und heute Nacht auch nicht», forderte Perrill.

«Und heute Nacht auch nicht», sagte Hook.

«Dann schlafe wohl, Hook. Es könnte deine letzte Nacht auf Erden sein», fügte Perrill an, bevor er davonging.

«Warum dieser Hass gegen dich?», fragte Evelgold.

«Das reicht zurück bis zu meinem Großvater. Wir hassen uns eben. Die Hooks und die Perrills, sie hassen sich einfach.»

«Nun gut, morgen um diese Zeit seid ihr sowieso beide tot», sagte Evelgold heftig, «ebenso wie wir alle. Also beichte noch einmal und geh zur Messe. Und heute Nacht übernehmen deine Leute eine Wache. Walters Leute übernehmen die erste, du die zweite. Ihr geht bis zur Hälfte des Feldes», Evelgold machte eine Kopfbewegung in Richtung der gepflügten Fläche, «und ihr macht nicht den geringsten Lärm. Keiner von euch. Kein Rufen, kein Singen, keine Musik.»

«Warum nicht?»

«Woher zum Teufel soll ich das wissen? Wenn ein Edelmann Lärm macht, nimmt ihm der König die Rüstung und das Pferd ab, und wenn ein Bogenschütze herumschreit, lässt er ihm die Ohren abschneiden. Königliche Anordnung. Also stehst du Wache, und Gott helfe dir, wenn die Franzosen kommen.»

«Das werden sie nicht, oder? Nicht bei Dunkelheit.»

«Sir John glaubt es nicht. Aber er will trotzdem Wachen auf dem Feld haben.» Evelgold zuckte mit den Schultern, als wolle er sagen, dass Wachen nun auch nichts weiter nützten, dann drehte er sich um und ging weg.

Weitere Franzosen kamen auf das Feld, um sich den Feind anzusehen, bis es zu dunkel dafür wurde. Regen fegte über

den gepflügten Acker, und das Geräusch erstickte das Gelächter der Feinde. Morgen kam der Tag von Sankt Crispin und Sankt Crispinian, und Hook vermutete, dass es sein letzter werden würde.

Es regnete die ganze Nacht. Kalt und unablässig fielen die Tropfen. Sir John Cornewaille rannte unter dem Regen zu dem Häuschen in Maisoncelles, in dem der König sein Quartier hatte. Doch obwohl die Brüder des Königs, Humphrey, Duke of Gloucester, und Edward, Duke of York, in dem winzigen, verräucherten Raum waren, wusste niemand, wo der König von England war.

«Vermutlich ist er beten gegangen, Sir John», sagte der Duke of York.

«Gottes Ohren befinden sich heute Nacht wahrlich im Belagerungszustand, Euer Gnaden», sagte Sir John verdrießlich.

«Dann fügt Ihr dieser Katzenmusik am besten Eure Stimme auch noch hinzu», sagte der Duke. Er war der Enkel des dritten Edward, und er war der Cousin Richards des Zweiten gewesen, dessen Thron sich Henrys Vater angeeignet hatte, doch der Duke hatte seine Loyalität dem Sohn des Thronräubers gegenüber bewiesen, und da seine Frömmigkeit ebenso groß war wie die des Königs, genoss er Henrys vollstes Vertrauen. «Ich glaube, Seine Hoheit ist gerade draußen unterwegs, um festzustellen, welche Stimmung unter den Männern herrscht.»

«Er kann auf die Männer zählen», sagte Sir John. Er fühlte sich nicht recht wohl in der Gesellschaft des Duke, dessen Gelehrtheit und tiefe Frömmigkeit ihm etwas Unnahbares verliehen. «Sie frieren», fuhr er fort, «sie murren, sie sind vom Regen durchnässt, sie haben Hunger, sie sind krank, aber sie werden dennoch wie tolle Hunde kämpfen. Ich hätte sie ungern zum Feind.»

«Ihr würdet also davon abraten...», begann Humphrey, der Duke of Gloucester, und brach dann zögernd seinen Satz ab. Sir John wusste, welche Frage er hatte stellen wollen. Würde er dem König raten, sich über Nacht zurückzuziehen? Nein, das würde er nicht, doch diese Ansicht behielt er für sich. Der König würde sich nicht davonmachen, nicht in dieser Situation. Der König glaubte, dass er Gott an seiner Seite hatte, und um das zu beweisen, würde Gott am nächsten Tag ein Wunder abgefordert werden.

«Ich gehe nun, damit Eure Gnaden sich zum Kampf rüsten können», sagte Sir John.

«Habt Ihr eine Nachricht für Seine Hoheit?», fragte der Duke of York.

«Nur, dass ich ihm Gottes Segen wünsche», sagte Sir John. In Wahrheit hatte er wissen wollen, in welcher Gemütslage der König war, doch im Grunde zweifelte er nicht an Henrys Entschlossenheit. Er verabschiedete sich und ging wieder zu dem Kuhstall, in dem, er selbst Quartier bezogen hatte. Es war eine erbärmliche, stinkende Hütte, aber Sir John wusste, dass er sich glücklich schätzen konnte, in dieser Nacht, in der die meisten Männer unter freiem Himmel Donner, Blitz, Regen und winterliche Kälte ertragen mussten.

Regen trommelte auf das altersschwache Dach, rann durch das Stroh und lief zu einer Pfütze auf dem Boden zusammen, auf dem ein dürftiges Feuer mehr Rauch als Licht und Wärme abgab. Richard Cartwright, Sir Johns Waffenmeister, wartete schon auf ihn. Er wirkte priesterlicher als jeder Priester mit seiner ernsten, würdigen Miene und seiner altertümlichen Höflichkeit. «Jetzt, Sir John?», fragte er.

«Jetzt», sagte Sir John und warf seinen nassen Mantel neben dem Feuer zu Boden.

Er hatte seine Rüstung zuvor abgelegt, und Cartwright hatte sie getrocknet, nach Roststellen gesucht und sie abgerieben. Nun benutzte er Tücher, die er in einer Satteltasche trocken gehalten hatte, um Sir Johns lederne Kniehosen und die Weste trocken zu reiben. Die beiden kostspieligen Kleidungsstücke waren von einem Londoner Schneider aus feinstem Hirschleder gefertigt worden, und sie passten Sir John wie eine zweite Haut. Schweigend wischte Cartwright mit Händen voller Wollfett über das Hirschleder.

Sir John war in Gedanken versunken. Er hatte dies schon so oft getan: mit ausgestreckten Armen dastehen, während Cartwright für die Geschmeidigkeit seiner ledernen Ärmel und Hosen sorgte, sodass sich die Panzerrüstung darüber leicht bewegte. Er dachte an die Turniere und Schlachten zurück und an den Rausch der Begeisterung, der ihnen jedes Mal vorausgegangen war, doch an diesem Abend fühlte er keinen Rausch und keine Begeisterung. Der Regen prasselte, der kalte Wind fegte Tropfen durch die Türöffnung des Kuhstalls, und Sir John dachte an die Tausende Franzosen, deren Waffenmeister ihnen nun ebenfalls halfen, sich auf die Schlacht vorzubereiten. So viele Tausend, dachte er. Zu viele.

«Habt Ihr etwas gesagt, Sir John?», fragte Cartwright.

«Habe ich das?»

«Sicherlich habe ich mich verhört, Sir John. Hebt Eure Arme, bitte.» Cartwright ließ ein Kettenhemd über Sir Johns Kopf gleiten. Es bestand aus eng miteinander verknüpften Ringen, war ärmellos und reichte bis über Sir Johns Schritt. Die Ärmellöcher waren weit, sodass sie ihn nicht behinderten. «Vergebt mir, Sir John», murmelte Cartwright wie immer, wenn er sich vor seinen Herrn kniete, um die Vorderseite des Kettenhemdes mit der Rückseite zwischen Sir Johns Beinen durch Lederschnüre zusammenzubinden. Sir John sagte nichts.

Cartwright schwieg ebenso, als er die Oberschenkelstücke der Rüstung festschnallte. Die vorderen überlappten die hinteren leicht, und Sir John beugte das Knie, um zu prüfen, ob die stählernen Platten widerstandslos übereinanderrutschten.

Er musste nicht um eine Korrektur bitten, denn Cartwright wusste genau, was er tat. Als Nächstes kamen die eisernen Beinröhren zum Schutz der Unterschenkel, die runden Kniekacheln für die Knie und dann die eisenbeschlagenen Stiefel, die an die Beinröhren geschnallt wurden.

Dann erhob sich Cartwright und zog das Rüsthemd zurecht. Das Hemd bestand aus Leder und war an seinem unteren Rand mit überlappenden Stahlstreifen besetzt, um Sir Johns Schritt zu schützen. Sir John dachte an seine Bogenschützen, die im strömenden Regen zu schlafen versuchten. Morgen würden sie müde und durchnässt sein und frieren, doch er hatte keinen Zweifel daran, dass sie kämpfen würden. Wie von ferne hörte er Steine über Klingen schaben. Pfeile, Schwerter und Äxte wurden gewetzt.

Als Nächstes kamen die Brustplatte und die Rückenplatte. Das waren die schwersten Stücke seiner Rüstung, gefertigt aus echtem Bordeaux-Stahl, ebenso wie die übrigen Panzerteile. Cartwright zog geschickt die Schnallen zu und befestigte dann das Armzeug, das aus Armröhren für Oberarme und Unterarme und runden Stücken für die Ellbogen bestand. Anschließend hielt er Sir John mit einer Verbeugung die ledergefütterten Eisenhandschuhe entgegen, die auf der Seite der Handfläche ein Loch hatten, sodass Sir John Hautkontakt mit seinen Waffen hatte. Übergangsstücke schützten die empfindliche Stelle, an der sich die Brustplatte und die Rückenplatte trafen, und dann schnallte Cartwright den Halsschirm mit den zwei Scharnieren um Sir Johns Hals fest. Einige Männer trugen eine Kettenhaube, um diese empfindliche Stelle zu schützen, doch der fein geschmiedete Halsschirm war besser als jede Kettenrüstung, obwohl Sir John gereizt die Stirn runzelte, als er versuchte, den Hals zu drehen.

«Soll ich die Schnallen lockern, Sir John?»

«Nein, nein», sagte Sir John.

«Eure Arme, Sir John», sagte Cartwright höflich, und nachdem Sir John erneut die Arme gehoben hatte, zog er seinem Herrn den Wappenrock über den Kopf, half ihm, die Arme in die weitgeschnittenen Ärmel zu stecken, und zog dann das Leinen glatt, auf das der gekrönte Löwe gestickt war, den das Sankt-Georgs-Kreuz begleitete. Cartwright schloss den Schwertgürtel um Sir Johns Hüften und hängte das große Schwert ein, den Liebling, den er zum Kampf bevorzugte. «Werdet Ihr mir morgen die Schwertscheide anvertrauen, Sir John?», fragte Cartwright.

«Gewiss.» Sir John legte die Schwertscheide vor jedem Kampf ab, denn eine Schwertscheide konnte ihren Träger zum Stolpern bringen. Wenn die Schlacht heranrückte, würde der Liebling mit blanker Klinge in einer Lederschlaufe hängen.

Dann wurde eine lederne Kapuze über Sir Johns Kopf gestreift. Die Kapuze würde als Polsterung für den Helm dienen, den Sir John entgegennahm, um ihn jedoch gleich darauf an Cartwright zurückzureichen. «Nimm das Visier ab», befahl er.

«Aber...»

«Nimm es ab!»

Einmal, bei einem Turnier in Lyon, war es Sir John bei einer Ausfallbewegung gelungen, das Visier eines gegnerischen Schwertkämpfers herunterzuklappen. Darauf war der Mann halb blind gewesen und hatte leicht besiegt werden können. Morgen, so dachte Sir John, musste ein Engländer auch noch den kleinsten Vorteil nutzen, der sich ihm bot.

«Ich denke, der Feind wird wohl Armbrustschützen haben», bemerkte Cartwright bescheiden.

«Nimm es ab.»

Er nahm das Visier ab, und mit einer kleinen Verbeugung reichte Cartwright den Helm an Sir John zurück. Sir John würde ihn später aufsetzen, und Cartwright würde den Helm an die Rüstung schnallen, doch für den Augenblick war Sir John fertig.

Es regnete. Draußen in der nächtlichen Dunkelheit wieherte ein Pferd, und Donner rollte über den Himmel. Sir John nahm den Schal aus purpurrot und weiß gestreifter Seide, den ihm seine Frau als Zeichen ihrer Liebe gegeben hatte, und küsste ihn, bevor er die Seide in den engen Spalt zwischen Halsschirm und Brustplatte schob. Einige Männer banden sich solche Liebesbeweise ihrer Frau um den Hals, und Sir John hatte einmal solch ein Tuch packen können, den Feind daran vom Pferd gezogen und ihn anschließend getötet. Wenn am nächsten Tag ein Gegner an der purpurrot und weiß gestreiften Seide zöge, würde das Tuch leicht herausrutschen und Sir John nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Jeder kleine Vorteil. Sir John beugte prüfend die Arme. Er war mit seiner Rüstung vollkommen zufrieden und schenkte seinem Waffenmeister ein grimmiges Lächeln. «Danke, Cartwright», sagte er.

Cartwright senkte den Kopf und sprach die Worte, die er immer gesprochen hatte, schon als er seinen Herrn das erste Mal zum Kampf gerüstet hatte. «Sir John», sagte er, «Ihr seid zum Töten bereit.»

Ebenso wie dreißigtausend Franzosen.

«Du weißt, was du tun solltest, oder?», sagte Hook zu Melisande. «Du solltest weggehen. Geh heute Nacht. Nimm alle unsere Münzen, alles, was du tragen kannst, und geh.»

«Wohin?», fragte sie.

«Such deinen Vater», antwortete Hook. Sie waren im englischen Lager, das in der Talsenke südlich des gepflügten Feldes lag. Die kleinen Hütten des Dorfes waren von Lords besetzt worden, und Hook hörte, wie auf Stahl gehämmert wurde. Die Waffenmeister nahmen die letzten Anpassungen an den teuren Plattenrüstungen vor. Das durchdringende Geräusch übertönte sogar das Rauschen des nicht enden wollenden Regens. Östlich des Dorfes waren die Karren der Armee abgestellt, ihre Speichenräder wurden von den wenigen Feuern beleuchtet, die der Niederschlag noch nicht ausgelöscht hatte. Die französische Armee war von dem Tal aus nicht sichtbar, doch ihre Anwesenheit zeigte sich im schwachen Widerschein ihrer Lagerfeuer an den niedrig hängenden Wolken. Mit einem Mal wurden diese Wolken in blendende Helligkeit getaucht, denn ein gezackter Blitz fuhr in das östlich gelegene Waldstück. Einen Augenblick später ertönte ein Donnerschlag, der das ganze Universum auszufüllen schien, so als sei eine gewaltige Kanone abgefeuert worden.

«Ich habe mich dafür entschieden, bei dir zu bleiben», sagte Melisande dickköpfig.

«Wir werden sterben», sagte Hook.

«Nein», widersprach sie ohne rechte Überzeugung.

«Du hast doch mit Pater Christopher gesprochen», fuhr Hook unerbittlich fort, «und er hat mit den Herolden gesprochen. Er schätzt, dass da draußen dreißigtausend Franzosen auf uns warten. Wir haben sechstausend Mann.»

Melisande schmiegte sich noch enger an Hook, um etwas mehr Schutz unter dem Mantel zu finden, den sie über sich gezogen hatten. Sie saßen mit dem Rücken an eine Eiche gelehnt, doch der Baum hielt den Regen kaum ab. «Melisande war mit einem König von Jerusalem verheiratet», sagte sie. Hook erwiderte nichts, er wollte sie sagen lassen, was immer sie sagen wollte. «Und der König ist gestorben», fuhr sie fort, «und alle Männer haben gesagt, sie soll ins Kloster gehen und beten, aber das hat sie nicht getan! Sie tat sich selbst zur Königin gemacht, und sie ist eine große Königin geworden!»

«Du bist meine Königin», sagte Hook.

Melisande beachtete das plumpe Kompliment nicht.

«Und wie war es, als ich im Kloster war? Ich hatte eine einzige Freundin. Sie war älter, viel älter, Schwester Beatrice, und sie hat mir gesagt, dass ich weggehen soll. Sie hat mir gesagt, ich soll mir mein eigenes Leben suchen, und ich habe nicht geglaubt, dass ich das kann, aber dann bist du gekommen. Und jetzt werde ich tun, was Königin Melisande getan hat. Ich tue, was ich will.» Sie erschauerte. «Ich bleibe bei dir.»

«Ich bin Bogenschütze», sagte Hook niedergeschlagen, «nur ein Bogenschütze.»

«Nein, du bist Ventenar! Und morgen, wer weiß, bist du vielleicht Centenar. Und eines Tages wirst du Land haben. Wir werden Land haben.»

«Morgen ist Sankt-Crispinian-Tag», sagte Hook, der sich nicht vorstellen konnte, irgendwann eigenes Land zu besitzen.

«Und er hat dich nicht vergessen! Morgen wird er bei dir sein», sagte Melisande.

Hook hoffte sehr, dass sie recht behalten möge. «Aber tu eins für mich», sagte er, «trag den Wappenrock deines Vaters.»

Sie zögerte, dann fühlte er ihr Nicken. «Ich tue es», versprach sie.

«Hook!», bellte Thomas Evelgold irgendwo in der Dunkelheit. «Zeit, dass du mit deinen Männern nach vorne gehst!» Tom Evelgold hielt inne und wartete auf eine Antwort. Melisande klammerte sich an Hook. «Hook!», rief Evelgold erneut.

«Ich komme!»

«Ich sehe dich noch», sagte Melisande, «bevor...», ihre Stimme erstarb.

«Du siehst mich noch», sagte Hook, und er küsste sie heftig, bevor er unter dem Mantel hervorkroch. «Ich komme!», rief er Tom Evelgold noch einmal zu.

Keiner seiner Bogenschützen hatte geschlafen, weil unter diesem Regen und Donner niemand schlafen konnte. Sie murrten vor sich hin, während sie Hook die leichte Anhöhe hinauf zu der nachtschwarzen Fläche des gepflügten Feldes folgten, auf dem sie eine ganze Weile herumstolperten, bevor sie die Wache fanden, die sie ablösen sollten. Endlich entdeckte Hook Walter Magot und seine Leute hundert Schritte vor den angespitzten Stöcken, die immer noch im Acker steckten. «Sag mir, dass du mir ein großes Feuer angezündet und einen Topf Brühe bereitgestellt hast», lautete Magots Gruß.

«Dicke Suppe, Walter, mit Gerste, Rindfleisch und Kohl. Ein paar Rüben sind auch drin.»

«Man hört die Franzosen», sagte Magot. «Sie führen ihre Pferde herum. Wenn sie zu nahe kommen, dann pfeift ihr ein bisschen, und sie ziehen sich zurück.»

Hook spähte in Richtung Norden. Die Feuer im französischen Lager brannten trotz des Regens hell, und ihr Widerschein spiegelte sich zuckend in den Pflugfurchen, die voller Wasser standen. Die gleichen Feuer ließen als schwarze Schattenrisse Männer erkennen, die auf dem Feld ihre Pferde umherführten. «Sie wollen, dass die Tiere morgen früh nicht ausgekühlt sind», sagte Hook.

«Die Bastarde wollen uns angreifen, was?», sagte Magot. «Beim Morgengrauen, all diese riesigen Kerle auf ihren verdammten Riesenpferden.»

«Dann bete, dass es aufhört zu regnen», sagte Hook.

«Bei Gott, und du betest darum, dass ich erhört werde», sagte Magot wild. Bei solchem Regen wurden die Bogensehnen feucht und schwach und nahmen damit den Bögen ihre Kraft. «Halte dich warm», sagte Magot noch und führte dann seine Männer zu den kümmerlichen Annehmlichkeiten ihres nassen Lagers.

Hook zog unter dem peitschenden Wind und dem Regen die Schultern hoch. Blitze zuckten in das Tal hinter dem französischen Lager hinunter, und in ihrem plötzlichen Lichtschein hatte Hook das Bild von Zelten und Bannern vor sich. So viele Zelte, so viele Banner, so viele Männer waren zu diesem Schlachtfeld gezogen. Ein Pferd wieherte. Dutzende von Pferden wurden auf dem Feld herumgeführt, und Hook konnte, wenn sie ihm nahe kamen, das schmatzende Geräusch hören, mit dem sie ihre schweren Hufe aus dem matschigen Grund hoben. Zwei Mal kamen ihm ein paar Männer sehr nahe, und beide Male rief er eine kurze Warnung, worauf sich die französischen Knappen augenblicklich weiter entfernten. Bisweilen ließ der Regen nach. Dann hob sich der Geräuschschleier aus Rauschen und Tropfen, und Hook konnte deutlich Gelächter und Singen aus dem feindlichen Lager hören. Im englischen Lager war es still. Hook bezweifelte, dass viele Männer aus den beiden Lagern in dieser Nacht Schlaf fanden. Nicht allein das Wetter hielt sie wach, sondern auch das Wissen, dass sie am nächsten Morgen kämpfen mussten. Waffenknechte würden die Klingen schärfen. Hook überlief ein eisiger Schauer, als er daran dachte, was die Morgendämmerung bringen würde. «Beschütze mich», betete er zu Sankt Crispinian, und dann erinnerte er sich an den Rat, den er von dem Priester in der Kathedrale von Soissons erhalten hatte: dass der Himmel nämlich mehr auf Gebete achtete, die zugunsten anderer verrichtet wurden, und so betete er dafür, dass Melisande und Pater Christopher die Wirren des kommenden Tages überleben würden!

Blitze zuckten über die Wolken, grell und weiß, und der Donner explodierte mit einem Knacken über ihren Köpfen, und der Regen wurde noch unerträglicher und noch heftiger, sodass die Lichter aus dem französischen Lager kaum noch zu erkennen waren. «Wer ist da?», rief Tom Scarlet plötzlich.

«Ein Freund!», rief eine Männerstimme zurück.

Der nächste Blitz tauchte einen Feldkämpfer in gleißendes Licht, der sich ihnen vom englischen Lager aus näherte. Er hatte ein Kettenhemd an und gepanzertes Beinzeug, und in dem kurzen Aufleuchten des Blitzes sah Hook, dass der Mann keinen Wappenrock trug und, statt eines Helmes, einen breitkrempigen Lederhut. «Wer seid Ihr?», forderte Hook Auskunft.

«Swan», sagte der Mann. «John Swan. Wessen Männer führt Ihr?»

«Sir John Cornewailles», antwortete Hook.

«Wenn jeder Mann wäre wie Sir John», sagte Swan, «dann wären die Franzosen klug beraten, möglichst schnell Reißaus zu nehmen!» Er schrie fast, um sich über die Geräusche des Regens hinweg verständlich zu machen. Keiner der Bogenschützen sagte etwas darauf. «Sind eure Bögen bespannt?», fragte Swan.

«Bei diesem Wetter, Sir? Nein!», antwortete Hook.

«Und was ist, wenn es morgen immer noch so regnet?»

Hook zuckte mit den Schultern. «Dann kürzen wir die Sehnen und schießen trotzdem. Aber die Sehnen werden sich erneut ausdehnen.»

«Und irgendwann werden sie reißen», fügte Will of the Dale hinzu.

«Die Verwirbelung löst sich auf», erklärte Tom Scarlet.

«Was wird also morgen früh geschehen?», fragte Swan. Er hatte sich zu den Bogenschützen gekauert. Doch die fühlten sich in der Gesellschaft dieses Fremden seltsam unbehaglich.

«Das müsst Ihr uns sagen, Sir», sagte Hook.

«Ich möchte aber wissen, wie ihr darüber denkt», drängte Swan. Verlegenes Schweigen breitete sich aus. Keiner der Bogenschützen wollte über seine Ängste sprechen. Lachen und Hochrufe brandeten vom französischen Lager herüber.

«Morgen», sagte Swan, «werden viele Franzosen betrunken sein. Wir aber sind nüchtern.»

«Aber nur, weil wir kein Ale haben», sagte Tom Scarlet.

«Also, was, glaubt ihr, wird geschehen?», fragte Swan beharrlich.

Erneutes Schweigen. «Die gottverdammten besoffenen Bastarde werden uns angreifen», sagte Hook schließlich.

«Und dann?»

«Dann werden wir die gottverdammten besoffenen Bastarde umbringen», sagte Tom Scarlet.

«Und so die Schlacht gewinnen?», fragte Swan.

Alle schwiegen. Hook fragte sich, weshalb sich Swan ausgerechnet seine Männer für dieses Gespräch ausgesucht hatte. Dann, als keiner der anderen etwas sagte, antwortete Hook. «Das liegt in Gottes Hand, Sir», sagte er steif.

«Gott ist auf unserer Seite», erwiderte Swan mit großem Nachdruck, «denn die Sache unseres Königs ist gerecht. Und auch wenn sich in der Morgendämmerung die Tore der Hölle auftun und die Legionen des Satans gegen uns kämpfen würden, dann wäre der Sieg dennoch unser. Denn Gott ist auf unserer Seite.»

Hook erinnerte sich an den weit zurückliegenden, sonnenüberglänzten Tag in Southampton Water, an dem die beiden Schwäne mit rauschenden Flügeln zwischen den Schiffen der Flotte hindurchgeflogen waren, und er erinnerte sich auch, dass der Schwan eines der Wappentiere Henrys war. Henry, König von England.

«Glaubt ihr das?», fragte Swan, «dass die Sache unseres Königs gerecht ist?»

Keiner der Bogenschützen antwortete. Doch jetzt verstand Hook. «Ich weiß nicht, ob die Sache des Königs gerecht ist», sagte er schroff.

Einige Augenblicke herrschte Schweigen, und Hook spürte, wie der Mann, der sich Swan nannte, vor Empörung erstarrte. «Warum sollte sie es nicht sein?», fragte er mit eisiger Stimme.

«Weil der König an dem Tag, bevor wir die Somme überquert haben», sagte Hook, «einen Mann als Dieb aufgehängt hat.»

«Der Mann hatte von der Kirche gestohlen», sagte Swan herablassend, «also war ihm der Tod gewiss.»

«Aber er hat dieses Kästchen niemals gestohlen», sagte Hook.

«Das hat er nicht», bestätigte Tom Scarlet.

«Er hat dieses Kästchen niemals gestohlen», wiederholte Hook schroff, «und dennoch hat ihn der König gehängt. Und einen unschuldigen Mann zu hängen ist eine Sünde. Warum also sollte Gott auf der Seite eines Sünders sein? Erklärt Ihr mir das, Sir? Erklärt Ihr mir, warum Gott einen Mann begünstigen sollte, der einen Unschuldigen ermordet hat?»

Wieder breitete sich Schweigen aus. Der Regen hatte etwas nachgelassen, und Hook hörte die Musik aus dem französischen Lager, der wildes Gelächter folgte. Sie mussten Lampen in ihren Zelten haben, denn das Zelttuch schimmerte gelblich. Der Mann namens Swan bewegte sich leicht, seine Beinpanzerung rieb sich kratzend aneinander. «Wenn der Mann unschuldig war», sagte Swan leise, «dann hat der König falsch gehandelt.»

«Er war unschuldig», beharrte Hook, «darauf setze ich mein Leben.» Er hielt inne, fragte sich, ob er es wagen konnte, noch weiter zu gehen, und beschloss, das Wagnis auf sich zu nehmen. «Zum Teufel, Sir, ich würde sogar das Leben des Königs darauf setzen!»

Mit einem Zischen sog der Mann namens Swan den Atem ein, doch er sagte nichts.

«Er war ein guter Junge», sagte Will of the Dale.

«Und er hat nicht einmal eine Verhandlung bekommen!», sagte Tom Scarlet entrüstet. «Zu Hause bei uns, Sir, dürfen wir vor dem Hausgericht zumindest unseren Teil sagen, bevor man uns hängt!»

«Ja! Wir sind Engländer», sagte Will of the Dale, «und wir haben Rechte!»

«Kennt ihr den Namen des Mannes?», fragte Swan nach einem Moment.

«Michael Hook», sagte Hook.

«Wenn er unschuldig war», sagte Swan langsam, als ob er beim Sprechen über seine Antwort nachdächte, «dann wird der König für ihn Messen lesen lassen, er wird ein Seelenamt für ihn stiften, und er selbst wird jeden Tag für die Seele Michael Hooks beten.»

Ein weiterer greller Blitz fuhr zur Erde nieder, und Hook sah die dunkle Narbe neben der Nase des Königs, wo ihn bei Shrewsbury eine Ahlspitze getroffen hatte. «Er war unschuldig, Sir», sagte Hook, «und der Priester, der etwas anderes gesagt hat, ist ein Lügner. Es ging um eine Familienfehde.» '

«Dann werden die Messen gelesen, das Seelenamt gestiftet, und Michael Hook wird mit den Gebeten eines Königs in den Himmel einziehen», versprach der König. «Und morgen, mit Gottes Gnade, werden wir gegen diese Franzosen kämpfen und sie lehren, dass man über Gott und die Engländer nicht spottet. Wir werden gewinnen. Hier», er schob Hook etwas zu, und als Hook es nahm, stellte er fest, dass es sich um einen gefüllten Lederschlauch handelte. «Wein», sagte der König, «um euch für den Rest der Nacht warm zu halten.» Dann ging er davon. Seine gepanzerten Stiefel machten ein schmatzendes Geräusch auf dem schlammigen Boden.

«Das war aber ein verdammt merkwürdiger Patron», sagte Geoffrey Hoorocks, als der Mann namens Swan außer Hörweite war.

«Ich hoffe bloß, dass er recht hat», bemerkte Tom Scarlet.

«Gottverdammter Regen», knurrte Will of the Dale. «Mein Gott, wie ich diesen Regen hasse.»

«Wie sollen wir wohl morgen gewinnen?», sagte Scarlet bedrückt.

«Du schießt gut, Tom, und du hoffst, dass Gott dich liebt», sagte Hook, und er wünschte, Sankt Crispinian würde sein Schweigen brechen, doch der Heilige sagte nichts.

«Wenn die gottverdammten Franzosen morgen in unsere Reihen einbrechen...», sagte Tom Scarlet und unterbrach sich dann.

«Was, Tom?», fragte Hook.

«Nichts.»

«Sag es!»

«Ich wollte sagen, dass ich dich töte und du mich, bevor sie anfangen können, uns zu foltern, aber das wäre gar nicht so einfach, was? Ich meine, du wärst ja tot, und es würde dir vermutlich ziemlich schwerfallen, mich zu töten, wenn du tot bist.» Scarlet hatte ernst geklungen, doch dann begann er zu lachen, und mit einem Mal brachen sie alle in hilfloses Gelächter aus, auch wenn keiner wusste warum. Es war Totengelächter, aber das, dachte Hook, war immer noch besser, als zu heulen.

Sie teilten sich den Wein, der sie keineswegs wärmte, und langsam, so grau wie ein Kettenhemd, verdrängte die Dämmerung das Dunkel der Nacht. Hook ging in den östlich angrenzenden Wald, um sich zu erleichtern, und sah ein Dorf jenseits der Bäume. Französische Feldkämpfer hatten sich in den Hütten einquartiert, und nun stiegen sie auf ihre Pferde, um zum Hauptlager zu reiten. Zurück auf dem Feld, beobachtete Hook, wie die Franzosen sich unter ihren feuchten Standarten zur Schlachtordnung formierten.

Und die Engländer taten das Gleiche. Neunhundert Feldkämpfer und fünftausend Bogenschützen kamen in der Morgendämmerung auf das Feld von Azincourt und wurden auf der anderen Seite der tiefgepflügten Furchen für den Winterweizen von dreißigtausend Franzosen erwartet. Um am Sankt-Crispins-Tag eine Schlacht zu schlagen.

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