Die Katakomben

Zuerst war es nur ein vorläufiger Lagerort in unmittelbarer Nähe zu Selenes kleinem Krankenhaus gewesen, oben an der Hauptschleuse und der Garage, wo die Zugmaschinen und die übrige Ausrüstung für Arbeiten an der Oberfläche abgestellt waren.

Nun stapelten sich Leichen in Metallbehältern an den kahlen Korridorwänden und warteten auf den Rücktransport zur Erde. Wenn früher auf dem Mond Tote zu beklagen waren, hatte es sich meistens um Leute gehandelt, die bei Arbeitsunfällen ums Leben gekommen waren oder um Touristen, die sich draußen auf der Oberfläche grob fahrlässig verhalten hatten. Es war kaum jemand eines natürlichen Todes gestorben, bis die Lebenszeit der ersten Siedler von Selene ablief.

Also wurden die Leichen zwecks Rücktransports zur Erde im Korridor zwischen dem Krankenhaus und der Garage deponiert, der wiederum in unmittelbarer Nähe des Tunnels zum Raumhafen verlief.

Natürlich wollten die Menschen, die ihr Leben auf dem Mond verbracht hatten, auch hier begraben werden — üblicherweise in den Farmen, die Nahrungsmittel und frischen Sauerstoff für die Gemeinde lieferten. Doch in vielen Fällen forderten irdische Familien die sterblichen Überreste der verstorbenen Angehörigen zurück, ungeachtet der Wünsche der Verblichenen. Daraus entstanden oft jahrelange Rechtsstreitigkeiten.

Also wurden die Körper in mit flüssigem Stickstoff gefüllten Behältern deponiert und tiefgekühlt, während die Anwälte sich stritten und die Gebühren in die Höhe trieben.

Der Regierungsrat von Selene brauchte ein paar Jahre für die Erkenntnis, dass ein neuer Trend eingesetzt hatte: die Kryonik. Es kamen Leute nach Selene, die sich amtlich für tot erklären und in der Hoffnung einfrieren ließen, dass eines Tages ein Heilmittel für die Krankheit gefunden würde, an der sie gestorben waren. Dann sollten sie aufgetaut und wieder belebt werden.

Kryonik war in den meisten Ländern der Erde verboten. Die Gläubigen vieler Religionen betrachteten das als Schmähung Gottes, als einen Versuch, die göttlich verfügte Lebenszeit der Menschen zu verlängern. Während man Verjüngungstherapien im Schutz der Anonymität durchzuführen vermochte, war es schwer, die kryogene Konservierung eines Körpers geheim zu halten. Wo die Erderwärmung auf der ganzen Welt Katastrophen auslöste und viele Länder kaum noch ihre Bevölkerung zu ernähren vermochten, wurden Versuche, den Tod hinauszuzögern und die Lebensspanne zu verlängern, kritisch betrachtet oder gleich ganz verboten.

Also kamen diejenigen, die dem Tod ein Schnippchen schlagen wollten und das Geld für eine Passage zum Mond hatten, nach Selene und verbrachten dort ihre letzten Jahre, Monate oder Tage. Und die Katakomben füllten sich mit immer mehr Reihen glänzender Edelstahlbehälter, von denen jeder mit flüssigem Stickstoff gefüllt war und einen menschlichen Körper enthielt, der eines Tages vielleicht wieder zum Leben erweckt werden würde.

Pancho Lane hatte ihre Schwester nach Selene gebracht, als man dem Teenager einen unheilbaren Hirntumor diagnostiziert hatte. Das Mädchen verlor die Erinnerung, die Kontrolle über die Körperfunktionen, die Fähigkeit zu sprechen und sogar zu denken. Pancho hatte sie nach Selene gebracht, ihr selbst die finale Injektion gegeben und hatte mit angesehen, wie der Körper ihrer Schwester in den kalten Behälter geglitten war, hatte gesehen, wie das medizinische Team den Behälter versiegelte und den langen, komplizierten Tiefkühlvorgang einleitete. Ihre Tränen hatten sich mit dem kalten weißen Dunst vermischt, der geisterhaft aus den Schläuchen waberte.

Sechs Jahre ist das her, sagte Pancho sich, während sie langsam den stillen Gang entlangging und an den langen Reihen der Metallzylinder, die an den kahlen Steinwänden lehnten, nach dem Namen ihrer Schwester Ausschau hielt.

Sie hatte Gerüchte gehört, wonach es wirklich gelungen war, Menschen wieder aufzutauen und aus dem Kälteschlaf ins Leben zurückzuholen. Und anderen, dunklen Gerüchten zufolge hatten diese wieder Auferstandenen die Erinnerung und das Bewusstsein überhaupt verloren. Sie waren wie Neugeborene und mussten sogar die Benutzung der Toilette neu erlernen.

Egal, sagte Pancho sich, als sie vorm Behälter ihrer Schwester stehen blieb. Ich werde dich wieder aufziehen. Ich werde dir alles wieder beibringen, was zum Leben gehört, das schwöre ich, Schwester. Egal, wie lang es dauert. So lang ich lebe, wirst du nicht sterben.

Sie betrachtete die kleine metallene Namensplakette am Zylinderdeckel. SUSAN LANE. Mehr stand nicht dort. Neben dem Namen war ein Strichcode, der alle vitalen Daten ihrer Schwester in maschinenlesbarer Form enthielt. Wenig Inhalt für ein Menschenleben, auch wenn es nur siebzehn Jahre zählte.

Die Armbanduhr summte penetrant. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und sah die Meldung der Uhr: Sie hatte noch eine Stunde, um zu duschen, sich umzuziehen und zu Humphries' Anwesen zu begeben. Mit Amanda.


Mandy trug jungfräuliches Weiß: eine ärmellose Bluse mit Mandarinkragen und einen knielangen Rock, wobei diese sehr feminine Ausstattung ihre Kurven perfekt zur Geltung brachte. Das Haar hatte sie nach der neusten Mode zu einer Turmfrisur arrangiert — die neoklassische Interpretation eines Hair-Stylisten. Pancho hatte ihren besten Hosenanzug angezogen. Er war perlgrau mit neonblauen Umschlägen, die fast den gleichen Farbton hatten wie Elly. Neben Amanda kam sie sich trotzdem wie ein Zombie vor.

Sie hatte Humphries ein paarmal angerufen, um Amanda zu avisieren, war aber jedes Mal auf dem Anrufbeantworter gelandet. Erst als sie schon zu den Katakomben unterwegs war, hatte Humphries sie zurückgerufen und in ruppigem Ton gefragt, wer diese Amanda Cunningham überhaupt sei und wieso Pancho sie zur Besprechung mitbringen wolle.

Es war nicht leicht, ein vernünftiges Gespräch über das Armband-Telefon zu führen, doch schließlich hatte Pancho die Information rüberzubringen vermocht, dass Amanda ihre Co-Pilotin auf der Mission sei und dass er vielleicht daran interessiert wäre, sie ebenfalls anzuheuern, um Pancho die Spionagetätigkeit zu erleichtern.

Auf dem winzigen Monitor des Armband-Telefons hatte sie den Ausdruck in Humphries' Gesicht nicht erkannt, aber seine Stimme war deutlich genug gewesen.

»In Ordnung«, sagte er widerwillig. »Bringen Sie sie mit, wenn Sie glauben, dass sie eine Hilfe für uns wäre. Machen Sie aber keinen Fehler.«

Pancho lächelte lieb, bedankte sich bei ihm und schaltete das Telefon aus. Keinen Fehler, wie?, sagte sie sich und lachte in sich hinein. Er wird seine Meinung schon noch ändern, wenn er Mandy erst einmal sieht. Da wird er richtig ins Sabbern kommen.

Pancho überbrückte die Zeit auf den Rolltreppen zu Selenes unterster Ebene, indem sie Mandy alles erzählte, was sie über Humphries wusste. Alles außer dem Umstand, dass er sie engagiert hatte, um Dan Randolph auszuspionieren.

»Er ist wirklich ein Milliardär?« Amandas große blaue Augen wurden noch größer, als Pancho Humphries' Untergrund-Palazzo beschrieb.

»Humphries Biotech«, sagte Pancho. »Der Humphries Trust und Gott weiß was nicht noch alles. Auf den Finanz-Webseiten des Internets findest du alles über ihn.«

»Und du triffst dich mit ihm!«

Pancho runzelte die Stirn wegen ihrer Ungläubigkeit und sagte: »Ich sagte dir doch, das ist rein geschäftlich. Er… äh… er versucht mich von Astro abzuwerben.«

»Wirklich?« Dieses eine Wort troff nur so von Zweifel und Überheblichkeit.

Pancho grinste sie an. »Mehr oder weniger.«

Schließlich traten sie durch die schleusenartige Tür in Humphries' Untergrund-Garten. Amanda verschlug es schier die Sprache. »Einfach himmlisch!«

»Ja, ganz nett«, bestätigte Pancho.

Humphries stand in der offenen Tür des Hauses und wartete auf sie. Er musterte Amanda, während sie und Pancho den Weg entlanggingen.

»Martin Humphries«, unternahm Pancho den Versuch einer formellen Vorstellung, »ich möchte Ihnen…«

»Ms. Amanda Cunningham«, sagte Humphries mit einem entzückten Lächeln. »Ich habe in Ihrem Dossier geblättert, nachdem ich von Pancho die Mitteilung erhalten hatte, dass Sie uns heute Abend Gesellschaft leisten möchten.«

Pancho nickte beeindruckt. Humphries hat Zugang zu Astros Personaldaten. Er muss Dans Büros mit Schnüfflern regelrecht unterwandert haben.

Humphries ergriff Amandas ausgestreckte Hand, verneigte sich und hauchte ihr einen Handkuss auf die alabasterfarbene Haut. Amanda machte den Eindruck, als ob sie jeden Moment in Ohnmacht fallen wollte.

»Treten Sie ein, meine Damen«, sagte Humphries und hakte sich bei Amanda unter. »Treten Sie ein und seien herzlich willkommen.«

Zu Panchos Erstaunen wurde Humphries nicht zudringlich gegenüber Amanda. Zumindest nicht allzu offensichtlich. Ein menschlicher Diener kredenzte Aperitifs in der Biblio-Vidiothek, und Humphries zeigte ihnen stolz seine Sammlung von Erstausgaben.

»Ein paar sind ziemlich selten«, sagte er mit gelinder Angabe. »Ich bewahre sie wegen des Klimaregulierungs-Systems hier auf. Zuhause in Connecticut käme es ziemlich teuer, den alten Familiensitz auf einer konstanten Temperatur und Luftfeuchtigkeit zu halten. Hier in Selene geschieht das automatisch.«

»Oder wir atmen Vakuum«, bemerkte Pancho. Amanda schaute sie mit einem bezeichnenden Blick an.

Der Butler führte sie ins Esszimmer, wo die Frauen zu beiden Seiten von Humphries Platz nahmen. Zwei kompakte Roboter mit platten Oberflächen rollten zwischen Küche und Esszimmer hin und her und brachten Teller und Gläser. Pancho verfolgte gebannt, wie die gepolsterten Greifer der Roboter mit dem Porzellan und Kristallglas hantierten. Sie ließen kein einziges Teil fallen, obwohl ein Roboter beim Abtragen der Salatteller Panchos Gedeck nur um den Bruchteil eines Millimeters verfehlte und es fast vom Tisch gefegt hätte. Bevor das Malheur aber passierte, fing der Roboter sich, packte den Teller und legte ihn in den Sammelbehälter.

»Sie haben ein gutes optisches Erkennungssystem«, sagte Pancho.

»Ich glaube nicht, dass es ein optisches System ist«, wischte Amanda ihr eins aus. »Oder doch?«, wandte sie sich an Humphries.

»Sehr gut beobachtet, Amanda«, sagte er beeindruckt. »Sehr gut. Das Geschirr ist an der Unterseite mit monomolekularen Signaturen versehen. Die Roboter erfassen die Mikrowellen-Signale.«

Pancho hob das Wasserglas und musterte angestrengt den Boden.

»Der Chip ist zu klein, als dass er mit dem bloßen Auge zu erkennen wäre«, sagte Humphries.

»Und wie wird er aktiviert?«

»Durch die Wärme des Essens oder des Getränks. Bei kalten Getränken… und Ihrem Salat hapert es allerdings etwas mit der Erkennung.«

»Das Geschirr nimmt doch die Restwärme auf, wenn wir damit hantieren, oder?«, fragte Pancho nach kurzem Nachdenken.

»Das ist richtig.«

Pancho lächelte, als der andere Roboter einen dampfenden Teller mit Froschschenkeln vor ihr abstellte. Ich wollte Humphries nur mal zeigen, dass Mandy nicht das einzige Schlauköpfchen hier ist.

Beim Essen gab Humphries sich charmant, gesprächsbereit und gut gelaunt. Er widmete Pancho fast genauso viel Aufmerksamkeit wie Amanda, wobei er Mandy sogar ermunterte, aus dem Nähkästchen zu plaudern. Nachdem sie die anfängliche Zurückhaltung überwunden hatte, erzählte sie, dass sie in London aufgewachsen sei und ein Stipendium für die Internationale Weltraum-Universität gewonnen habe.

»Es war nicht leicht«, sagte Amanda mit einer beinahe naiv anmutenden Offenheit. »Die Männer schienen alle zu glauben, dass ich mich eher zum Fotomodell als zur Astronautin eignen würde.«

Humphries artikulierte ein mitfühlendes Murmeln. Pancho nickte und sagte sich erneut, dass Mandys gutes Aussehen Segen und Fluch zugleich war.

«Aber ich habe es geschafft«, sagte sie fröhlich, »und da sind wir nun.«

»Ich freue mich für Sie«, sagte Humphries und tätschelte ihr die Hand. »Sie haben sich gut geschlagen.«

Als das Dessert serviert wurde — frisches Obst aus dem botanischen Garten mit Eiscreme aus Sojamilch —, fragte Amanda, wo die Toilette sei.

Nachdem sie den Raum verlassen hatte, beugte Pancho sich zu Humphries hinüber und fragte mit gesenkter Stimme: »Na, was meinen Sie?«

Er runzelte irritiert die Stirn. »Wozu?«

»Zu Mandy.« Sie Trottel, hätte sie fast noch hinzugefügt, verkniff sich das aber lieber.

»Sie ist wunderbar«, sagte Humphries strahlend. »Schön und klug dazu. So etwas sieht man nicht allzu oft.«

Frauen gehen mit ihrem Verstand nicht unbedingt hausieren, sagte Pancho sich; zumindest dann nicht, wenn sie mit ihrem Aussehen bestechen können.

»Dann glauben Sie also, sie sei die Richtige, um sich an Dan Randolph ranzumachen?«

»Nein!«, rief er.

»Nein?«, fragte Pancho erstaunt. »Wieso denn nicht?«

»Ich will nicht, dass sie in Randolphs Nähe kommt. Er wird sie in einem schwachen Moment verführen.«

Pancho starrte den Mann an. Ich dachte, das sei gerade der Sinn der Sache, sagte sie sich. Dass Mandy Randolph ins Bett bekommt. Ich dachte, darum würde es ihm gehen.

»Sie ist eine viel zu feine Frau, um auf diese Art und Weise benutzt zu werden«, fügte Humphries hinzu.

Da brat mir doch einer 'nen Storch, sagte Pancho sich. Er ist in sie verschossen! Dieser Kerl, der Frauen wie Büroklammern sammelt und sie nach Gebrauch wegwirft, ist nicht nur scharf auf Mandy. Er hat sich in sie verliebt. Knall auf Fall!

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