Dan musste durch den Mundschutz schreien, um sich bei dem Lärm auf der Baustelle überhaupt Gehör zu verschaffen.
»Zack, meine Frage lautet nur, ob er dazu imstande ist oder nicht.«
Er kannte Zack Freiberg seit mehr als zwanzig Jahren. Zack war damals ein engagierter junger Planeten-Geochemiker gewesen, der sich der Erforschung der Asteroiden gewidmet hatte, und Dan hatte ihn von der Universität abgeworben. Freiberg hatte von seinen akademischen Freunden herbe Kritik einstecken müssen, weil er sich beim großen bösen Dan Randolph verdingt hatte, dem gierigen Kapitalisten und Vorstandsvorsitzenden von Astro Manufacturing. Doch im Lauf der Zeit hatte ein gegenseitiger Respekt sich zu einer vertrauensvollen Freundschaft vertieft. Und es war Zack gewesen, der Dan als Erster vorm Treibhauseffekt und den Auswirkungen auf das Erdklima gewarnt hatte.
Schließlich hatte der Treibhauseffekt die kritische Grenze erreicht, und die Politiker und Wirtschaftsführer der Erde hatten sie blindlings überschritten, worauf der Planet einen Klimakollaps erlitt. Zack war nicht mehr der pausbäckige Jüngling, den Dan kennen gelernt hatte. Sein rotblondes Haar war stahlgrau geworden, obwohl es noch immer voll und dicht gelockt war. In den letzten Jahren war er zäher geworden, schlanker und härter und hatte den Babyspeck verloren. Sein Gesicht war auch härter geworden, während er sah, wie seine Gleichungen und Grafiken unermessliches menschliches Leid abbildeten.
Die beiden Männer standen auf einem kahlen Bergrücken und schauten über ein ödes kohlschwarzes Tal, in dem tausende chinesischer Arbeiter unaufhörlich schufteten. Bei allen Göttern, sagte Dan sich, sie sehen wirklich aus wie eine wimmelnde Ameisenarmee. In der Mitte des Tals bliesen vier hohe Schornsteine eines großen Kraftwerks dunkelgraue Rauchwolken in den diesigen Himmel. Berge von Kohle türmten sich entlang des Schienenstrangs, der neben dem Kraftwerk verlief. Am Horizont hinterm gegenüberliegenden Höhenzug schimmerte der Jangtse-Fluss im trüben Licht der Morgensonne wie eine tödliche Würgeschlange, die langsam auf ihr Opfer zukroch. Eine schwache warme Brise trug den Geruch von Kohle und Diesel heran.
Dan schauderte und fragte sich, wie viele Milliarden Mikroben sich wohl einen Weg durch den Mundschutz und die Nasenstopfen bahnten und sich an seinem geschwächten Immunsystem vorbeizuschleichen versuchten, um sich in seinem Körper einzunisten.
«Dan, dafür habe ich wirklich keine Zeit«, schrie Freiberg gegen das Dröhnen eines riesigen Lastkraftwagens an, der auf Rädern, die beide Männer zu Zwergen degradierten, zwanzig Tonnen Schmutz und Geröll ins Tal transportierte.
»Ich muss nur ein paar Stunden deiner Zeit beanspruchen«, sagte Dan, der schon ganz heiser war von dem Geschrei. »Mein Gott, ich bin den ganzen Weg hierher gekommen, um dich nach deiner Meinung zu fragen.«
Es war ein Zeichen für die späte Erkenntnis der chinesischen Regierung, dass der Treibhauseffekt nicht nur dem Rest der Welt, sondern auch China schaden würde, dass sie Freiberg gebeten hatten, persönlich ihr gewaltiges Bau-Projekt zu leiten. An einem Ausgang des Tals errichteten chinesische Ingenieure und Arbeiter einen Damm, um das Kraftwerk vor dem anschwellenden Jangtse zu schützen. Am andern Ausgang baute eine Mannschaft von Yamagata Industries eine komplexe Pumpstation, um das Kohlendioxid abzusaugen, das von den Kraftwerksschornsteinen emittiert wurde, und es tief unter der Erde in den ausgebeuteten Flözen der Kohle-Lagerstätte zu speichern, die Brennstoff für die Generatoren geliefert hatte.
»Hör zu«, sagte Freiberg mit einem genervten Stirnrunzeln, »ich weiß, dass ich mein Gehalt noch immer von Astro bekomme, aber das heißt nicht, dass ich jedes Mal springe, wenn du pfeifst.«
Dan schaute ihm in die hellblauen Augen und erkannte dort Schmerz, Enttäuschung und nackte Angst. Zack gibt sich selbst die Schuld an dieser Katastrophe, sagte Dan sich. Er hat das Treibhaus-Kliff entdeckt und tut nun so, als sei das alles seine Schuld. Anstatt dass ein irrer König den Boten für das Überbringen der schlechten Nachricht ermordet, will der Bote sich selbst umbringen.
»Schau, Zack«, sagte er in aller Ruhe, die er aufzubringen vermochte, »du musst doch hin und wieder etwas essen, nicht wahr?«
Freiberg nickte ergeben. Mit solchen Schalmaientönen hatte Dan ihn in der Vergangenheit oft genug zu Dingen überredet, die er eigentlich gar nicht hatte tun wollen.
»Wenn du nicht zum Essen gehst, kommt das Essen eben zu dir«, sagte Dan und deutete auf das übergroße Wohnmobil, mit dem er gekommen war. Das Dach war mit glitzernden Solarzellen überzogen. »Wenn zur Mittagspause gepfiffen wird, komm rein und brich etwas Brot mit mir. Das ist alles, worum ich dich bitte.«
»Du willst, dass ich mir diesen Plan beim Essen anschaue? Du glaubst, ich wäre imstande, eine fachliche Entscheidung von solcher Tragweite innerhalb von einer Stunde oder noch weniger zu treffen?«
Dan zuckte entwaffnend die Achseln. »Wenn es nicht geht, dann geht es nicht. Ich bitte dich nur, einmal einen Blick darauf zu werfen.«
Freiberg schaute Dan mit dem Blick eines geprügelten Hunds an.
Trotzdem kletterte er fünf Minuten später ins Wohnmobil.
»Ich hätte es wissen müssen«, sagte er, als er an Big George vorbeiging, der den Türsteher mimte.
Das Fahrzeug war luxuriös ausgestattet. Eine attraktive junge Japanerin rührte stumm dampfendes Gemüse in einem Elektro-Wok um. Dan saß auf der kunstledernen Couchgarnitur, die sich um den ausklappbaren Esstisch zog. Er hatte sich eine Wildlederjacke um die Schulter gehängt, obwohl es nach Freibergs Dafürhalten fast zu warm im Fahrzeug war. Zack sah den Abdruck, den der Mundschutz auf Dans Gesicht hinterlassen hatte.
»Was zu trinken?«, fragte Dan, ohne jedoch aufzustehen. Ein halb leeres Glas mit einem moussierenden Getränk stand vor ihm auf dem Tisch.
»Was hast du denn anzubieten?«, fragte Freiberg und setzte sich auf den Eckplatz der Couch. Der Tisch war bereits für zwei Personen gedeckt.
»Ingwerbier«, sagte Dan. »George hat es mir schmackhaft gemacht. Es enthält keinen Alkohol und ist außerdem gut für die Verdauung.«
Freiberg hob die Schultern. »Gut, dann nehme ich das auch.«
George holte eine braune Flasche aus dem Kühlschrank, öffnete sie und schenkte Freiberg ein Glas ein.
»Passt gut zu Brandy, weißt du«, sagte er zu Freiberg, als er ihm das Glas reichte.
Der Wissenschaftler nahm ihm das Glas wortlos ab, und George bezog wieder Posten an der Tür, wobei er die Arme vor der massigen Brust verschränkte wie ein professioneller Rausschmeißer.
»Hättest was wissen müssen?«, fragte Dan, nachdem er von seinem Getränk genippt hatte.
Freiberg machte eine ausladende Geste. »Dass du selbst hier draußen in der Pampa ein Leben im Luxus führst.«
Dan lachte. »Wenn es einen schon in die Wildnis verschlägt, kann man es sich wenigstens etwas gemütlich machen.«
»Es ist aber ziemlich warm hier drin«, beanstandete Freiberg.
Dan lächelte ihn an. »Du bist das Leben in der Wildnis gewohnt, Zack. Ich nicht.«
»Ja, stimmt wohl.« Freiberg warf einen Blick auf das Gemälde über Dans Kopf: Ein kleines Mädchen stand unter einem Banyan-Baum. »Ist das echt?«
»Holoprint«, sagte Dan. »Ein Vickrey.«
»Schön.«
»Wo lebst du denn hier draußen?«
»In einem Zelt«, sagte Freiberg.
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Dan mit einem Nicken.
»Es ist ein ziemlich gutes Zelt, was man von einem Zelt halt erwarten kann, aber es ist kein Vergleich damit.« Er ließ anerkennend den Blick über den Essbereich schweifen. »Wie viele Räume gibt es hier noch?«
»Nur noch zwei: ein Büro und ein Schlafzimmer. Natürlich mit einem Doppelbett.«
»Natürlich.«
»Du wirst gut darin schlafen — es ist deins.«
»Der Holoprint?«
»Das Wohnmobil. Das ganze Geraffel. Ich werde am späten Nachmittag abreisen. Wenn du jemanden auftreibst, der George und mich zum Flugplatz fährt, kannst du das Ding behalten.«
»Kannst du dir es überhaupt leisten, es herzugeben?«, platzte Freiberg heraus. Er war bass erstaunt. »Nach dem, was ich gehört habe…«
»Für dich, Zack«, fiel Dan ihm ins Wort, »gebe ich den letzten Penny. Wenn es sein muss.«
Freiberg schaute verschmitzt. »Du willst mich bestechen.«
»Ja. Wieso nicht?«
»In Ordnung«, sagte der Wissenschaftler mit einem entsagungsvollen Seufzer. »Zeig mir diesen Plan, den du erwähnt hast.«
»He, George«, rief Dan, »bring mir doch bitte mal das Notebook.«
Nach einer guten Stunde schaute Freiberg vom Notebook-Monitor auf und sagte: »Ich bin zwar kein Raketeningenieur und habe nur rudimentäre Kenntnisse über Fusionsreaktoren, aber ich vermag in diesem Konzept keinen offensichtlichen Fehler zu finden.«
»Glaubst du, dass es funktionieren würde?«, fragte Dan gespannt.
»Woher, zum Teufel, soll ich das wissen?«, blaffte Freiberg ihn an. »Wieso bist du den ganzen Weg hierher gekommen, um meine Meinung über etwas einzuholen, von dem du weißt, dass es außerhalb meines Fachgebiets liegt?«
Dan zögerte für einen Moment und sagte dann: »Weil ich dir vertraue, Zack. Dieser Humphries ist ein aalglatter Typ. Alle Experten, mit denen ich mich in Verbindung gesetzt habe, sagen zwar, dass diese Fusionsrakete fliegen würde, aber woher weiß ich denn, dass er sie nicht gekauft hat? Er hat irgendetwas in der Hinterhand, eine versteckte Agenda, und diese Idee mit der Fusionsrakete ist nur die Spitze des Eisbergs. Ich glaube, er will sich Astro schnappen.«
»Das ist ein toller Metaphern-Mix«, sagte Freiberg mit einem widerstrebenden Grinsen.
»Stör dich nicht an der Semantik. Ich traue Humphries nicht. Aber ich traue dir.«
»Dan, meine Meinung zählt hier überhaupt nicht. Ebenso gut könntest du George oder die Köchin fragen.«
Dan beugte sich vor und sagte: »Du kennst die richtigen Leute, Zack. Du könntest die Experten kontaktieren, mit denen Humphries zu tun hatte, und ihnen auf den Zahn fühlen. Du könntest mit anderen Leuten sprechen, den wirklichen Spezialisten auf diesem Gebiet und ihre Meinung einholen. Sie würden mit dir sprechen, Zack, und sie würden sich auch verständlich ausdrücken. Du könntest…«
»Dan«, sagte Freiberg kühl, »ich versuche bereits, sechsunddreißig Stunden am Tag zu arbeiten.«
»Ich weiß«, sagte Dan. »Ich weiß.«
Freiberg hatte sich ganz der Anstrengung verschrieben, die Treibhausgas-Emissionen zu reduzieren, die weltweit von den mit fossilen Brennstoffen betriebenen Kraftwerken, Fabriken und Kraftfahrzeugen ausgestoßen wurden.
Angesichts der katastrophalen Klimaänderungen aufgrund des Treibhauseffekts versuchten die Nationen der Welt verspätet und widerstrebend das Ruder herumzureißen. Unter der Führung des Globalen Wirtschaftsrats versuchten die Hersteller auf der ganzen Welt verzweifelt, Automobile und andere Fahrzeuge auf Elektromotoren umzustellen. Dazu musste jedoch die globale Energieerzeugungs-Kapazität verdreifacht werden, und Kraftwerke auf der Basis fossiler Brennstoffe waren eben schneller und kostengünstiger zu bauen als Kernkraftwerke. Es gab immer noch beträchtliche Ölvorräte, und die Kohlevorräte waren noch einmal um ein Vielfaches größer. Kraftwerke auf der Basis der Kernspaltung kamen nicht infrage, weil die Öffentlichkeit Angst vor Kernenergie hatte. Und die Fusionsgeneratoren steckten noch in den Kinderschuhen und stießen ebenfalls auf den erbitterten Widerstand der Öffentlichkeit, für die alles ›Atomare‹ ein rotes Tuch war.
Also wurden immer mehr mit fossilen Brennstoffen betriebene Kraftwerke gebaut, vor allem in den aufstrebenden Industrienationen wie China und Südafrika. Der GEC bestand darauf, dass neue Kraftwerke die Kohlendioxid-Emissionen abschieden, das gefährliche Treibhausgas sammelten und es in den Untergrund pumpten.
Zachary Freiberg hatte sein Leben der Aufgabe gewidmet, das Treibhaus-Desaster abzumildern. Er hatte sich als Chef-Wissenschaftler bei Astro Manufacturing auf unbestimmte Zeit beurlauben lassen und reiste als Leiter großer Bauprojekte um die Welt. Seine Frau hatte ihn verlassen, die Kinder hatte er seit über einem Jahr nicht mehr gesehen und sein Privatleben war ein Scherbenhaufen. Aber er verspürte eben den Drang, nach besten Kräften bei der Verlangsamung des Treibhauseffekts mitzuhelfen.
»Wie sieht's aus?«, fragte Dan.
Freiberg schüttelte den Kopf.
»Es ist wie ein Tropfen auf den heißen Stein. Es gelingt uns einfach nicht, die Treibhaus-Emissionen signifikant zu reduzieren.«
»Aber ich dachte…«
»Wir reißen uns den Arsch auf… wie lange geht das schon so? Zehn Jahre. Alles für die Katz. Als wir anfingen, wurden durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe jährlich sechs Milliarden Tonnen Kohlendioxid in die Luft geblasen. Weißt du, wie viel es heute ist?«
Dan schüttelte den Kopf.
»Fünf komma drei Milliarden Tonnen«, sagte Freiberg fast zornig.
Dan grunzte.
Freiberg zeigte durchs Fenster auf die vorbeirumpelnden riesigen Laster und knurrte: »Yamagata versucht, die ganze Flotte auf Elektrizität umzustellen, aber die Chinesen fahren noch immer mit Diesel. Manche Leute scheren sich einen Dreck darum! Die Russen sprechen schon davon, das so genannte ›jungfräuliche Land‹ in Sibirien zu kultivieren, wo der Permafrost schmilzt. Sie wollen die Region in eine neue Kornkammer wie die Ukraine verwandeln.«
»Dann hätte das Ganze vielleicht doch noch ein Gutes«, murmelte Dan.
»Das ist für den Arsch«, echauffierte Freiberg sich. »Die Weltmeere erwärmen sich immer noch, Dan. Wenn es uns nicht gelingt, den Temperaturanstieg zu stoppen und das im Permafrost eingelagerte Methan freigesetzt wird…«
Dan wollte zu einer Antwort ansetzen, doch Freiberg ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Weißt du eigentlich, wie viel Methan im Permafrost gebunden ist? Zweimal zehn hoch sechzehn Tonnen. Zwanzig Trilliarden Tonnen! Der dadurch bewirkte Temperaturanstieg würde das ganze Eis in Grönland und der Antarktis zum Schmelzen bringen. Überhaupt jeden Gletscher auf der Welt. Wir würden alle ersaufen.«
»Ein Grund mehr«, sagte Dan, »die Mission zum Asteroiden-Gürtel voranzutreiben. Wir könnten dort alle Metalle und Mineralien schürfen, die die Erde braucht, Zack! Wir könnten die industriellen Aktivitäten der Erde ins All auslagern, wo sie die Umwelt nicht schädigen.«
Freiberg schaute Dan ungläubig an.
»Wir können es schaffen!«, bekräftigte Dan. »Wenn diese Fusionsrakete funktioniert. Das ist der Schlüssel zu der ganzen verdammten Sache: Ein effizienter Antrieb vermag die Kosten des Asteroiden-Bergbaus auf ein Niveau zu drücken, wo er wirtschaftlich lebensfähig ist.«
Für eine Weile sagte Freiberg nichts. Er schaute Dan nur ärgerlich und verdrießlich zugleich an.
»Ich werde ein paar Anrufe für dich tätigen, Dan«, nuschelte er schließlich. »Mehr kann ich nicht tun.«
»Mehr kann ich auch nicht verlangen«, erwiderte Dan und rang sich ein Lächeln ab. »Und eine Fahrt zum Flugplatz für George und mich.«
»Was ist mit der Köchin?«
»Sie gehört zum Inventar des Wohnmobils, alter Kumpel«, sagte Dan lachend. »Sie spricht nur japanisch, aber sie ist einsame Spitze in der Küche. Und im Bett.«
Freiberg lief puterrot an. Aber er wies Dans Geschenk nicht zurück.