»Wir müssen doch nicht etwa nach draußen gehen, oder?«, fragte Cardenas nervös.
Sie folgte George durch das Gewirr aus Pumpen und Generatoren auf der obersten Ebene von Selene. Farbcodierte Rohrleitungen und Kabelstränge verliefen unter der Decke. Das leise Summen elektrischer Ausrüstung und hydraulischer Maschinen durchdrang die Luft. Sie wusste, dass auf der anderen Seite der Decke sich die Parklandschaft der Grand Plaza erstreckte — beziehungsweise der staubige Regolith der luftlosen Mondoberfläche.
»Nach draußen?«, sagte George. »Nee, es gibt 'nen Schacht, der den Bunker mit dem Tunnel verbindet… falls ich den beschissenen Tunnel überhaupt finde — ach, da ist er ja.«
Er öffnete eine kleine Luke und trat über die Kante. Dann reichte er Cardenas die Hand, um ihr hindurch zu helfen. Der dunkle Tunnel wurde nur von Georges Taschenlampe erhellt. Fast rechnete Cardenas damit, die teuflisch roten Augen von Ratten in der Dunkelheit zu sehen oder das Krabbeln von Schaben zu hören. Aber nichts dergleichen. In Selene gibt es kein Ungeziefer, sagte sie sich. Die landwirtschaftlichen Anbauflächen müssen sogar künstlich bestäubt werden, weil es hier keine Insekten gibt.
Noch nicht, sagte sie sich. Aber früher oder später. Sobald wir Menschen in größerer Zahl hier einreisen lassen, werden sie Schmutz und Krankheitserreger einschleppen.
»Wir sind da«, sagte George.
Im Lichtkegel der Taschenlampe sah sie die Metallsprossen einer Leiter, die an der Tunnelwand nach oben führte.
»Wie weit geht der Tunnel noch?«, fragte sie flüsternd, obwohl sie wusste, dass niemand sonst hier war.
»Noch einen Kilometer oder so«, antwortete George. »Die Leute von Yamagata wollten ihn erst durch den Ringwall bis zum Mare Nubium vortreiben. Irgendwann wurde es ihnen aber zu teuer. Die Seilbahn über den Berg war billiger.«
Trotz seiner Größe kletterte er gewandt die Leiter empor. Cardenas schickte sich an, ihm zu folgen.
»Warten Sie noch«, rief George zu ihr hinunter. »Muss erst die Luke öffnen.«
Sie hörte Metall stöhnen. »In Ordnung, rauf mit Ihnen!«, sagte George dann.
Die Leiter führte in einen abgeschlossenen Bereich, der in etwa die Größe ihres Apartments unten in Selene hatte. Er hatte eine zylindrische Form wie ein Raumschiffsmodul.
»Sind wir auf der Oberfläche?«, fragte Cardenas mit bemüht ruhiger Stimme.
»Wir sind unter einem Meter Regolith begraben«, sagte George unbekümmert. »So sicher wie in Abrahams Schoß.«
»Aber wir sind draußen.«
»Am Hang des Ringwalls. Direkt unter dem Seilbahnkabel. Der Bunker hatte ursprünglich den Zweck, Passagieren bei einem Seilbahndefekt Unterschlupf zu bieten, bis Hilfe eintraf.«
Skeptisch ließ sie den Blick durch den Bunker schweifen. An der einen Seite standen zwei Etagenbetten, in die andere war eine Luftschleusenluke eingelassen. Dazwischen befand sich eine kleine Küche mit Kühlschrank, Mikrowelle und Spülbecken. Außerdem umfasste das Inventar ein paar weitere Ausrüstungsgegenstände, die sie nicht zu identifizieren vermochte, zwei gepolsterte Stühle, einen Tisch mit einem Computer darauf und einen Bürostuhl.
Und einen großen Metallzylinder, der mitten im Raum stand und den ohnehin schon beengten Platz noch weiter einschränkte. An der Oberseite des Zylinders waren zwei große Tanks und ein miniaturisierter Kryostat montiert.
»Ist das ein Dewar?«, fragte Cardenas.
George nickte. »Wir mussten die Frau darin vor Humphries verstecken.«
»Sie ist tot?«
»Sie wird tiefgekühlt«, sagte George. »Sie soll irgendwann wieder belebt werden.«
»Sie wird wohl eine eher stumme Gesellschafterin sein.«
»Leider ja. Aber ich werde alle paar Tage vorbeikommen und nach Ihnen sehen.«
Cardenas ging zum Tisch, um ihre Angst zu verbergen und fragte: »Wie lang werde ich hier bleiben müssen?«
»Weiß ich nicht. Ich werde mich mit Dan unterhalten. Mal schau'n, was sich machen lässt.«
»Informieren Sie Doug Stavenger«, sagte sie. »Er wird mich beschützen.«
»Ich dachte, Sie wollten ihn in diesen Schlamassel nicht mit hineinziehen.«
Sie schlang die Arme um die Brust und zitterte vor kalter Angst. »Das war, bevor ich wusste, dass Sie mich hierher bringen würden.«
»He, hier ist es doch gar nicht so schlimm«, versuchte George sie aufzumuntern. »Ich habe schon monatelang in solchen Bunkern gelebt.«
»Wirklich?«
»Ja. Ich und meine Kameraden. Ich fühle mich hier wie zuhause.«
Erneut ließ sie den Blick durch den Bunker schweifen. Er kam ihr nun kleiner vor als beim ersten Augenschein. Geradezu klaustrophobisch. Es gab nichts zwischen ihr und dem tödlichen Vakuum des Weltraums außer dem dünnen Metall des zylindrischen Bunkers und einer Dreckschicht darüber. Und eine Leiche mitten im Raum, die einen großen Teil des Platzes beanspruchte.
»Sagen Sie Stavenger Bescheid«, bat sie ihn. »Ich will nicht länger als unbedingt nötig hier bleiben.«
»Sicher«, sagte George. »Aber lassen Sie mich zuerst mit Dan sprechen.«
»Beeilen Sie sich.«
»Die magnetische Abschirmung wird zusammenbrechen?«, fragte Dan nun schon zum dreißigsten Mal.
Pancho saß ihm am Tisch in der Messe der Starpower 1 gegenüber. Amanda war auf der Brücke, während das Schiff mit maximaler Beschleunigung nach Selene zurückraste. Fuchs war in der Instrumentenbucht und analysierte die Proben, die er von Bonanza genommen hatte.
»Du kennst doch die Wirkungsweise der Supraleiter«, sagte Pancho grimmig. »Sie müssen unter die kritische Temperatur heruntergekühlt werden. Wenn diese Temperatur überschritten wird, konzentriert die gesamte Energie der Spule sich im Hot Spot.«
»Sie wird explodieren«, murmelte Dan.
»Wie eine Bombe. Es ist viel Energie im Supraleiter gespeichert, Boss. Es ist eine gefährliche Situation.«
»Und es gibt mehr als einen Hot Spot?«
»Bisher sind es vier. Würde mich aber nicht wundern, wenn noch mehr auftreten. Wer auch immer das Schiff sabotiert hat, wollte nicht, dass wir zurückkehren.«
Dan trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Ich glaube einfach nicht, dass Kris Cardenas mir das antun wollte.«
»Es ist schlicht und einfach Humphries«, sagte Pancho. »Er wäre imstande, jemanden mit einem Lächeln umzubringen.«
»Aber er hätte Kris dafür gebraucht.«
»Schau«, sagte Pancho und beugte sich auf dem Stuhl nach vorn. »Es spielt nun keine Rolle mehr, wer wem ein Ei an die Schiene genagelt hat. Wir stecken in Schwierigkeiten und müssen zusehen, dass wir den Hals aus der Schlinge ziehen, bevor diese Magnetspule wie eine Bombe hochgeht.«
Dan hatte sie noch nie so ernst erlebt. »In Ordnung. Was schlägst du vor?«
»Wir schalten das Magnetfeld ab.«
»Abschalten? Aber dann haben wir keinen Strahlungsschild mehr.«
»Wir brauchen auch keinen, solang es keine Protuberanzen gibt, und wir sind wahrscheinlich in Selene, bevor die Sonne wieder ein Bäuerchen macht.«
»Wahrscheinlich?«, knurrte Dan.
»Das ist unsere einzige Chance. Das Risiko ist jedenfalls geringer, als wenn die Hot Spots in der Spule eine Explosion verursachen, bei der die Schiffswand aufgerissen wird.«
»Ja, du hast Recht«, sagte Dan widerstrebend.
»Also gut.« Pancho erhob sich vom Tisch. »Ich werde das Feld nun abschalten.«
»Warte noch eine Minute«, sagte Dan und hielt sie am Handgelenk fest. »Was ist mit dem MHD-Kanal?«
Pancho zuckte die Achseln. »Keine Probleme bisher. Ist wahrscheinlich nicht betroffen.«
»Und falls doch, sind wir erledigt, stimmt's?«
»Nun…« Sie hielt inne. »Wir könnten die Energie der Spule in einem kontrollierten Herunterfahren aufzehren. Das würde die Triebwerke nicht beeinträchtigen.«
»Aber wir würden dann den Generator verlieren.«
»Wir könnten auf die Brennstoffzellen und Akkus umschalten — für eine Weile.«
»Lang genug?«
Pancho lachte und ging zur Luke. »Bis sie schlappmachen, Boss«, sagte sie über die Schulter.
»Murphys Gesetz«, rief Dan ihr bissig nach.
Wenn etwas schief gehen kann, dann wird's schief gehen: Das besagte Murphys Gesetz. Nun wird es um Randolphs Schluss erweitert, sagte er sich: Wenn du den Strahlenschild abschaltest, gerätst du mit Sicherheit in einen Sonnensturm.