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Am 27. Januar um 22.35 Uhr war Malcolm Ainslie schon auf halbem Weg zur äußeren Tür des Morddezernats, als hinter ihm ein Telefon klingelte. Er blieb automatisch stehen und sah sich um. Später wünschte er sich, er hätte es nicht getan.
Detective Jorge Rodriguez trat rasch an einen unbesetzten Schreibtisch, nahm den Hörer ab, meldete sich, hörte kurz zu und rief: »Für Sie, Sergeant!«
Ainslie ging an seinen Schreibtisch zurück, um diesen Anruf entgegenzunehmen. Seine Bewegungen waren ruhig und flüssig. Mit einundvierzig war Detective-Sergeant Ainslie muskulös, etwas über einsachtzig groß und sah nicht viel anders aus als in der High-School, wo er Fullback in der Footballmannschaft gewesen war. Nur ein leichter Bauchansatz zeugte von häufigen Mahlzeiten in Schnellrestaurants: die Standardverpflegung für viele Kriminalbeamte, die praktisch im Gehen essen mußten.
Heute abend war es in den Büros der Mordkommission im vierten Stock des Hauptgebäudes des Miami Police Departments ruhig. Insgesamt arbeiteten hier sieben Ermittlerteams mit jeweils einem Sergeant als Leiter und drei Detectives. Aber alle Mitglieder des Teams, das diese Nacht Dienst hatte, waren unterwegs, um wegen der drei Morde zu ermitteln, die in den letzten Stunden gemeldet worden waren.
Offiziell dauerte eine Schicht in der Mordkommission zehn Stunden; in der Praxis war sie wegen laufender Ermittlungen oft länger. Auch Malcolm Ainslie und Jorge Rodriguez, die eigentlich seit Stunden dienstfrei hatten, waren bis vor wenigen Augenblicken noch beschäftigt gewesen.
Ainslie vermutete, daß seine Frau Karen am Telefon war. Sie würde wissen wollen, wann er heimkam, damit ihr lange geplanter Urlaub endlich beginnen konnte. Nun, ausnahmsweise würde er antworten können, er sei mit der Arbeit fertig, habe alles erledigt und sei nach Hause unterwegs. Morgen früh würden Karen, Jason und er mit der ersten Maschine der Air Canada von Miami nach Toronto fliegen.
Ainslie fühlte sich urlaubsreif. Obwohl er körperlich fit war, fehlte ihm die unerschöpfliche Energie, die er besessen hatte, als er vor einem Jahrzehnt zur Polizei gegangen war. Gestern war ihm beim Rasieren aufgefallen, daß sein schütteres braunes Haar rasch grauer wurde. Auch ein paar neue Falten hatte er entdeckt; daran war bestimmt sein dienstlicher Streß schuld. Und sein Blick - wachsam und forschend - verriet Skepsis und Desillusionierung, nachdem er über Jahre hinweg die Abgründe der Condition humaine studiert hatte.
In diesem Augenblick war Karen hinter ihm aufgetaucht, hatte wie so oft seine Gedanken erraten, war ihm mit fünf Fingern durchs Haar gefahren und hatte ihm versichert: »Mir gefällt noch immer, was ich sehe.«
Er hatte Karen an sich gezogen und umarmt. Sie reichte ihm nur bis zu den Schultern, und er genoß den Duft ihres seidigweichen kastanienbraunen Haars, während dieser Körperkontakt sie beide noch immer erregte. Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht hoch, um sie zu küssen.
»Ich bin eine Kleinpackung«, hatte Karen ihm bald nach ihrer Verlobung erklärt. »Aber sie enthält viel Liebe - und alles andere, was du brauchen wirst.« Und so war es gewesen.
Ainslie lächelte, weil er Karens Stimme zu hören erwartete, und nickte Jorge zu, er könne das Gespräch durchstellen.
Eine tiefe, volltönende Stimme verkündete: »Hier ist Pater Ray Uxbridge. Ich bin der Anstaltsgeistliche im Florida State Prison.«
»Ja, ich weiß.« Ainslie war Uxbridge mehrmals begegnet und mochte ihn nicht. Trotzdem fragte er höflich: »Was kann ich für Sie tun, Pater?«
»Einer unserer Häftlinge soll morgen früh um sieben hingerichtet werden. Sein Name ist Elroy Doil. Er behauptet, Sie zu kennen.«
»Natürlich kennt er mich«, bestätigte Ainslie knapp. »Ich habe mitgeholfen, Animal nach Raiford zu bringen.«
Die Telefonstimme klang steifer. »Der Häftling, von dem wir sprechen, ist ein menschliches Wesen, Sergeant. Ich ziehe es vor, diesen Namen nicht zu verwenden.«
Diese Reaktion erinnerte Ainslie daran, warum er Uxbridge nicht mochte. Der Mann war ein wichtigtuerischer Esel.
»Jeder nennt ihn Animal«, antwortete Ainslie. »Er verwendet diesen Namen sogar selbst. Außerdem haben seine scheußlichen Morde bewiesen, daß er schlimmer als ein Tier ist.«
Tatsächlich hatte Dr. Sandra Sanchez, eine Gerichtsmedizinerin aus Dade County, beim Anblick der beiden ersten verstümmelten Mordopfer Elroy Doils ausgerufen: »Barmherziger Gott! Ich habe schon schreckliche Dinge gesehen, aber hier ist eine Bestie, ein menschliches Tier am Werk gewesen!«
Ihr Ausruf war oft wiederholt worden.
Am Telefon sprach Uxbridge weiter. »Mr. Doil hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, daß er Sie sprechen möchte, bevor er stirbt.« Eine Pause, in der Ainslie sich vorstellte, wie der Geistliche auf die Uhr sah. »Das ist in etwas über acht Stunden.«
»Hat Doil gesagt, warum er mich sprechen will?«
»Er ist sich bewußt, daß Sie mehr als jeder andere zu seiner Verhaftung und Verurteilung beigetragen haben.«
»Was heißt das?« fragte Ainslie ungeduldig. »Will er mich anspucken, bevor er stirbt?«
Ein kurzes Zögern. »Der Häftling und ich haben miteinander diskutiert. Aber ich erinnere Sie daran, daß alles, was zwischen einem Geistlichen und einem zum Tode Verurteilten gesprochen wird, dem Beichtgeheimnis unterliegt und...«
Ainslie unterbrach ihn. »Das weiß ich, Pater, aber ich erinnere Sie daran, daß ich in Miami bin - vierhundert Meilen entfernt -und nicht die ganze Nacht durchfahre, nur weil's diesem Spinner plötzlich einfällt, es wäre nett, noch mal mit mir zu reden.«
Ainslie wartete. Dann schien der Geistliche eine Entscheidung zu treffen. »Er will gestehen, sagt er.«
Das war ein Schock für Ainslie, der alles andere erwartet hätte. Er fühlte sein Herz rascher schlagen. »Was gestehen? Meinen Sie alle Morde?«
Das waren logische Fragen. Vor dem Schwurgericht, das Elroy Doil wegen eines bestialischen Doppelmords schuldig gesprochen und zum Tod verurteilt hatte, hatte er trotz erdrückender Schuldbeweise hartnäckig seine Unschuld beteuert. Ebenso nachdrücklich hatte er geleugnet, zehn weitere Morde - ganz eindeutig Serienmorde - verübt zu haben, derentwegen er nicht angeklagt worden war, die aber nach Überzeugung der Ermittler ebenfalls auf sein Konto gingen.
»Ich habe keine Ahnung, was er gestehen will. Das müssen Sie schon selbst herausfinden.«
»Scheiße!«
»Wie bitte?«
»Ich habe Scheiße gesagt, Pater. Ein Wort, das Sie bestimmt auch schon ein- bis zweimal benutzt haben.«
»Grobheiten sind überflüssig, Sergeant.«
Ainslie ächzte vernehmlich, weil er plötzlich in einem Dilemma steckte.
War Animal zu diesem späten Zeitpunkt bereit, nicht nur einen, sondern alle von ihm verübten Serienmorde zu gestehen, mußte seine Aussage zu Protokoll genommen werden. Das hatte vor allem einen Grund: Einige lautstarke Protestierer, darunter eine Initiative zur Abschaffung der Todesstrafe, glaubten noch jetzt an Doils Unschuldsbeteuerungen und behaupteten, das Verfahren gegen ihn sei durchgepeitscht worden, weil die aufgebrachte Öffentlichkeit die Aburteilung irgendeines Täters gefordert habe - und das so schnell wie möglich. Ein Geständnis Doils würde dieses Argument widerlegen.
Unklar blieb natürlich, was Doil meinte, wenn er von »gestehen« sprach. Dachte er an ein schlichtes juristisches Geständnis, oder würde es die Form einer verwickelten religiösen Beichte annehmen? Vor Gericht war Doil von einem Zeugen als religiöser Fanatiker beschrieben worden, der »verrücktes, unverständliches Zeug brabbelt«.
Unabhängig davon, was Doil zu sagen hatte, würde es Fragen geben, die Ainslie, der mit dem Fall vertraut war, besser als jeder andere stellen konnte. Deshalb mußte er unbedingt nach Raiford.
Er lehnte sich müde in den Schreibtischsessel zurück. Diese Sache hätte zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. Karen würde vor Wut schäumen, das wußte er. Erst letzte Woche hatte sie ihn um ein Uhr morgens hinter der Haustür abgefangen, als er nach Ermittlungen in einem gräßlichen Mordfall im Gangstermilieu, derentwegen er ihr Dinner am Hochzeitstag versäumt hatte, nach Hause kam. Karen, die ein rosa Nachthemd trug, hatte ihm den Zutritt verwehrt und in bestimmten Tonfall gesagt: »Malcolm, so kann unser Leben nicht weitergehen. Wir bekommen dich kaum noch zu sehen. Auf dich ist kein Verlaß mehr. Und wenn du heimkommst, bist du nach einem sechzehnstündigen Arbeitstag so verdammt müde, daß du nur noch schläfst. Ich sage dir, das muß sich ändern! Du mußt dich entscheiden, was dir wichtiger ist.« Karen sah weg. Dann fügte sie leise hinzu. »Das ist mein Ernst, Malcolm. Ich bluffe nicht.«
Er wußte genau, was Karen meinte. Und er verstand ihre Empörung. Aber nichts war so einfach, wie es aussah.
»Sergeant, sind Sie noch da?« fragte Uxbridge ungeduldig.
»Ja, leider.«
»Also, kommen Sie oder nicht?«
Ainslie zögerte. »Pater, dieses Geständnis, das Doil ablegen will - wäre das im weitesten Sinn eine Beichte?«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich bin auf der Suche nach einem Kompromiß, um nicht eigens nach Raiford fahren zu müssen. Könnte Doil nicht in Anwesenheit eines Gefängnisbeamten bei Ihnen beichten? Dann wäre sein Geständnis protokolliert und somit amtlich.«
Eine abwegige Idee, das wußte Ainslie, deshalb überraschte ihn Uxbridges Reaktion nicht. »Um Himmels willen, nein! Ihr Vorschlag ist empörend! Was in der Beichte gesagt wird, ist nicht für Dritte bestimmt. Das müßten Sie doch besser wissen als jeder andere.«
»Ja, natürlich. Entschuldigung.« Wenigstens soviel war er Uxbridge schuldig. Das war ein letzter Versuch gewesen, diese Fahrt irgendwie zu vermeiden. Jetzt schien es keine Alternative mehr zu geben.
Ins Staatsgefängnis kam man am schnellsten, indem man nach Jacksonville oder Gainesville flog und das letzte kurze Stück mit dem Auto fuhr. Aber Linienflüge dorthin gab es nur tagsüber. Nachts konnte er Raiford vor Doils Hinrichtung nur mit dem Auto erreichen. Ainslie sah auf seine Uhr. Acht Stunden. Knapp, aber gerade noch zu schaffen.
Er winkte Rodriguez heran, der aufmerksam zugehört hatte, bedeckte die Sprechmuschel mit einer Hand und erklärte ihm: »Sie müssen mich nach Raiford fahren - gleich jetzt. Lassen Sie sich einen Streifenwagen zuteilen. Sehen Sie nach, ob der Tank voll ist, und warten Sie dann vor der Fahrbereitschaft auf mich. Und besorgen Sie sich ein Mobiltelefon.«
»Wird gemacht, Sergeant.« Jorge trabte davon.
Der Geistliche, dessen Stimme jetzt schärfer klang, sprach weiter. »Lassen Sie mich eines klarstellen, Ainslie: Mir widerstrebt es, überhaupt mit Ihnen zu reden. Ich tue es gegen meine Überzeugung, weil dieser arme Mann, der nun bald sterben wird, mich darum gebeten hat. Tatsächlich weiß Doil, daß Sie ein ehemaliger Geistlicher sind. Er will nicht bei mir beichten; das hat er mir gesagt. In seinem Wahn hat er sich in den Kopf gesetzt, bei Ihnen zu beichten. Diese Vorstellung ist mir gänzlich widerwärtig, aber ich muß seinen Wunsch respektieren.«
Nun war es also heraus.
Damit hatte Ainslie gerechnet, seit er Ray Uxbridges Stimme am Telefon gehört hatte. Aus Erfahrung wußte er zweierlei. Erstens: Seine Vergangenheit tauchte oft ganz unerwartet auf, und Uxbridge kannte sie offenbar. Zweitens: Niemand begegnete einem ehemaligen katholischen Priester verbitterter oder mit mehr Vorurteilen als ein katholischer Priester. Andere waren toleranter - selbst katholische Laien oder Geistliche anderer Konfessionen. Aber niemals katholische Kleriker. Manchmal vermutete Ainslie dahinter Neid - die vierte Todsünde.
Ainslie hatte den Priesterberuf schon vor zehn Jahren aufgegeben. Jetzt sagte er ins Telefon: »Hören Sie, Pater, mich als Polizeibeamten interessiert nur, was Animal über das oder die von ihm verübten Verbrechen zu sagen hat. Will er mir die Wahrheit darüber mitteilen, bevor er stirbt, höre ich zu und habe natürlich auch einige Fragen zu stellen.«
»Ein Verhör?« fragte Uxbridge. »Wozu ist das noch notwendig? Mr. Doil ist kein Verdächtiger mehr.«
»Er wird verdächtigt, noch andere Verbrechen verübt zu haben; außerdem sind wir im öffentlichen Interesse verpflichtet, alles festzustellen, was möglich ist.«
»Im öffentlichen Interesse«, wollte Uxbridge skeptisch wissen, »oder um Ihren persönlichen Ehrgeiz zu befriedigen, Sergeant?«
»Was Animal Doil betrifft, ist mein Ehrgeiz seit dem Tag befriedigt, an dem er schuldig gesprochen und verurteilt worden ist. Aber ich bin dienstlich verpflichtet, alle Fakten herauszufinden, die sich in Erfahrung bringen lassen.«
»Und mir geht's mehr um die Seele dieses Menschen.«
Ainslie lächelte schwach. »In Ordnung, Pater. Ich bin für Fakten, Sie für Seelen zuständig. Was halten Sie davon, sich mit Doils Seele zu beschäftigen, solange ich unterwegs bin, und ihn mir zu überlassen, sobald ich da bin?«
Uxbridges Stimme wurde tiefer. »Ich muß nachdrücklich darauf bestehen, Ainslie, daß Sie sich dazu verpflichten, sich im Gespräch mit Doil keinerlei pastorale Befugnisse anzumaßen. Außerdem... «
»Pater, Sie können mir keine Anweisungen geben.«
»Ich handle im Auftrag Gottes!« dröhnte Uxbridge.
Ainslie ignorierte seinen Theaterdonner. »Hören Sie, damit vergeuden wir nur Zeit. Richten Sie Animal aus, daß ich komme, bevor er auscheckt. Und ich versichere Ihnen, daß ich in keiner anderen Rolle als meiner eigenen auftreten werde.«
»Geben Sie mir darauf Ihr Wort?«
»Du lieber Gott, natürlich gebe ich Ihnen mein Wort. Wollte ich als Geistlicher herumstolzieren, hätte ich mein Priestergewand nie ausgezogen, oder?«
Ainslie legte auf.
Er nahm rasch wieder den Hörer ab und drückte die Kurzwahltaste, um Lieutenant Leo Newbold anzurufen. Der Chef der Mordkommission hatte dienstfrei und war zu Hause.
Eine angenehme Frauenstimme, die mit jamaikanischem Akzent sprach, meldete sich.
»Hallo, Devina. Hier ist Malcolm. Kann ich den Boß sprechen?«
»Er schläft, Malcolm. Soll ich ihn wecken?«
»Muß leider sein, Devina. Sorry.«
Ainslie wartete ungeduldig, sah wieder auf die Uhr, überschlug die Fahrtstrecke und rechnete aus, wie lange sie brauchen würden. Wenn nichts dazwischenkam, konnten sie's schaffen. Aber nur ganz knapp.
Er hörte ein Klicken, dann eine verschlafene Stimme. »Hi, Malcolm. Was zum Teufel soll das? Ich dachte, Sie haben Urlaub?« Leo Newbold sprach mit dem gleichen jamaikanischen Akzent wie seine Frau.
»Eigentlich schon, Sir. Aber jetzt ist etwas dazwischengekommen.«
»Ist das nicht immer so? Schießen Sie los.«
Ainslie berichtete, was er von Pater Uxbridge gehört hatte, und betonte, er müsse sofort losfahren. »Ich rufe an, um Ihre Genehmigung einzuholen.«
»Die ist erteilt. Wer fährt Sie?«
»Ich nehme Rodriguez mit.«
»Gut. Aber Vorsicht, Malcolm. Der Kerl fährt wie ein verrückter Kubaner.«
Ainslie lächelte. »Genau so einen brauche ich jetzt.«
»Bringt das Ihren Familienurlaub durcheinander?«
»Wahrscheinlich. Ich habe Karen noch nicht angerufen. Das mache ich von unterwegs.«
»Scheiße! Das tut mir wirklich leid.«
Ainslie hatte Newbold erzählt, daß sie morgen den achten Geburtstag seines Sohns Jason und zugleich den fünfundsiebzigsten von Karens Vater, den pensionierten kanadischen Brigadegeneral George Grundy, feiern wollten. Die Grundys wohnten in einem Vorort von Toronto. Dieser Doppelgeburtstag war als großes Familientreffen geplant.
»Wann müßten Sie morgen fliegen?« fragte Newbold.
»Fünf nach neun.«
»Und wann kommt Animal auf den Stuhl?«
»Sieben.«
»Also können Sie um acht draußen sein. Zu spät, um hierher zurückzufliegen. Haben Sie sich schon nach Flügen nach Toronto von Jacksonville oder Gainesville aus erkundigt?«
»Noch nicht.«
»Überlassen Sie das mir, Malcolm. Rufen Sie mich in ungefähr einer Stunde vom Auto aus an.«
»Danke. Wird gemacht.«
Beim Hinausgehen nahm Ainslie ein Tonbandgerät mit, das er verdeckt unter seiner Jacke tragen konnte. Unabhängig davon, was Doil im Angesicht des Todes zu sagen hatte, würden seine Worte ihn überdauern.
Im Erdgeschoß des Police Buildings wartete Jorge Rodriguez in der Einsatzzentrale des Streifendienstes.
»Für den Wagen ist unterschrieben. Und ich habe das Mobiltelefon.« Jorge war der jüngste Detective des Morddezernats und in vielerlei Hinsicht ein Schützling Ainslies, der seinen Diensteifer jetzt zu schätzen wußte.
»Dann los.«
Sie trabten auf den Parkplatz hinaus und spürten sofort die drückende Schwüle, unter der Miami seit Tagen litt. Wenige Minuten später schoß der Streifenwagen mit Jorge am Steuer auf die Northwest Third Avenue hinaus. Zwei Häuserblocks weiter bogen sie auf die Interstate 95 ab, auf der sie zehn Meilen nach Norden fahren würden, bis sie den Florida's Turnpike erreichten, auf dem noch gute vierhundertfünfzig Kilometer vor ihnen lagen.
Es war 23.10 Uhr.
Der Streifenwagen, den Ainslie verlangt hatte, war ein blauweißer Chevrolet Impala der Miami Police mit voller Ausstattung - eindeutig ein Dienstfahrzeug.
»Mit Blinklicht und Sirene?« fragte Jorge.
»Noch nicht. Erst mal sehen, wie's läuft.«
Da nur wenig Verkehr war, fuhren sie bereits hundertzwanzig Stundenkilometer, weil sie wußten, daß ein Streifenwagen selbst außerhalb ihres Einsatzbereichs nicht wegen Geschwindigkeitsüberschreitung angehalten werden würde.
Malcolm lehnte sich zurück. Dann griff er nach dem Mobiltelefon und tippte seine Privatnummer ein.
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»Ich kann's nicht glauben, Malcolm! Ich kann's einfach nicht glauben!«
Kurz zuvor war Karens erste Frage gewesen: »Darling, wann kommst du heim?«
Als er antwortete, er werde gar nicht nach Hause kommen, ging ihr Temperament mit ihr durch.
Er bemühte sich vergebens, ihr alles zu erklären und sich zu rechtfertigen.
Jetzt sprach sie erregt weiter: »Du willst's also vermeiden, diesen Schweinehund zu kränken, der's zehnmal verdient hat, morgen früh auf den elektrischen Stuhl zu kommen! Aber es macht dir nichts aus, deinen Sohn an seinem Geburtstag zu enttäuschen. Deinen Sohn, Malcolm, der sich so auf morgen gefreut, der die Tage gezählt und mit dir gerechnet hat... «
Ainslies Stimme wurde schärfer. »Karen, ich muß dort hin«, unterbrach er sie. »Mir bleibt keine andere Wahl. Keine!«
Als sie daraufhin schwieg, fuhr er fort: »Hör zu, ich versuche, von Jacksonville oder Gainesville aus nach Toronto zu fliegen. Du kannst meinen Koffer mitnehmen.«
»Du solltest mit uns reisen - wir drei zusammen! Du, Jason und ich - deine Familie! Oder hast du die ganz vergessen?«
»Karen, das reicht!«
»Ebenso unwichtig ist natürlich der fünfundsiebzigste Geburtstag meines Vaters. Aber wir alle zählen nicht im Vergleich zu einem Massenmörder. Diese Bestie ist dir offenbar viel wichtiger als deine Familie.«
»Natürlich nicht«, protestierte er.
»Dann beweis es uns! Wo bist du jetzt?«
Ainslie sah nach vorn; sie waren auf der 195. »Karen, ich kann unmöglich umkehren. Tut mir leid, daß du das nicht verstehst, aber die Entscheidung ist unwiderruflich.«
Seine Frau schwieg einen Augenblick. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme gepreßt, und er wußte, daß sie den Tränen nahe war. »Ist dir klar, was du uns antust, Malcolm?«
Als er nicht antwortete, hörte er das Klicken, mit dem sie auflegte.
Ainslie schaltete bedrückt das Mobiltelefon aus. Er hatte ein schlechtes Gewissen, wenn er daran dachte, wie oft er Karen enttäuscht hatte, weil ihm der Dienst wichtiger als sein Familienleben gewesen war. Ihm fiel ein, was Karen erst vorige Woche gesagt hatte: Malcolm, so kann unser Leben nicht weitergehen. Er konnte nur hoffen, daß das nicht ihr Ernst gewesen war.
Jorge war vernünftig genug, um das nun folgende Schweigen nicht zu unterbrechen. Schließlich sagte Ainslie trübselig: »Meiner Frau macht's richtig Spaß, mit einem Cop verheiratet zu sein.«
»Ziemlich sauer, was?« fragte Jorge verständnisvoll.
»Kann mir gar nicht denken, weshalb«, sagte Ainslie mißmutig. »Dabei hab' ich bloß wegen eines Schwätzchens mit einem Killer, der morgen hingerichtet wird, unseren Urlaub platzen lassen. Hätte nicht jeder gute Ehemann das gleiche getan?«
Jorge zuckte mit den Schultern. »Sie gehören zur Mordkommission. Manche Sachen muß man einfach tun. Kann man Außenstehenden nicht immer erklären.« Er fügte hinzu: »Ich heirate bestimmt nie.«
Ainslie dachte an die schönen, eleganten Frauen, die Jorge überallhin begleiteten und ihn zu bewundern schienen, bis sie aus unerfindlichen Gründen in periodischen Abständen durch neue ersetzt wurden.
»Wozu sollten Sie heiraten, wenn Sie auch so keinen Mangel leiden?« fragte Ainslie. »Ich brauche bloß an gestern zu denken - sogar Ernestine ist Ihrem kubanischen Charme erlegen.«
»Sergeant, Ernestine ist 'ne Nutte. Ihr gefällt jeder Kerl mit Geld in der Tasche.«
»Ich habe fünfundvierzig Dollar in der Brieftasche gehabt, aber an mich hat sie sich nicht rangemacht.«
»Nun das liegt daran, daß... die Leute haben Respekt vor Ihnen. Diese Mädchen hätten das Gefühl, ihrem eigenen Onkel einen unsittlichen Antrag zu machen.«
Ainslie lächelte verständnisvoll. »Sie haben gestern gute Arbeit geleistet, Jorge. Ich bin stolz auf Sie gewesen.«
Und er lehnte sich in seinen Sitz zurück...
Werner Niehaus, ein ältlicher Tourist, war mit seinem gemieteten Cadillac unterwegs, als er sich in Miami in dem Labyrinth aus numerierten Straßen verfuhr. Zu seinem Pech geriet er in das berüchtigte Overtown-Viertel, in dem er angehalten, beraubt und erschossen wurde, worauf die Straßenräuber seine Leiche aus dem Wagen warfen, mit dem sie davonfuhren. Das war ein mutwilliger, unnötiger Mord gewesen, denn die Täter hätten sich damit begnügen können, Niehaus einfach nur zu berauben und seinen Cadillac zu stehlen.
Sofort ging eine Suchmeldung mit dem Kennzeichen des Wagens an alle Polizeidienststellen Floridas.
Da Morde an ausländischen Touristen bereits ein negatives Presseecho ausgelöst hatten, machten der Oberbürgermeister, die City Commissioners - die städtischen Referenten - und der Polizeipräsident Druck und verlangten die rasche Aufklärung dieses neuen Mordfalls. An der schlechten Publicity für Miami war nichts mehr zu ändern, aber rasche Festnahmen konnten die Negativschlagzeilen vielleicht etwas abmildern.
Am nächsten Morgen fuhr Jorge Rodriguez gemeinsam mit Malcolm Ainslie auf der Suche nach Tatzeugen in einem neutralen Dienstwagen durch Overtown. Auf der Northwest Third Avenue sah Jorge in der Nähe der Fourteenth Street zwei Drogenhändler, die er unter ihren Straßennamen Big Nick und Shorty Spudman kannte. Gegen Shorty lag ein Haftbefehl wegen schwerer Körperverletzung vor.
Die beiden Kriminalbeamten stiegen rasch aus. Als sie sich von zwei Seiten näherten, um den Dealern den Fluchtweg abzuschneiden, stopfte Nick etwas in seine Hose. Er hob lässig den Blick. Jorge gab die Richtung des Gesprächs vor. »Hey, Nick, wie geht's?«
Nicks Antwort klang mißtrauisch. »Okay, was gibt's, Mann?«
Dealer und Cops starrten einander an Alle vier wußten, daß eine Leibesvisitation Drogen, vielleicht auch Waffen zutage gefördert und den beiden erheblich vorbestraften Drogenhändlern lange Haftstrafen eingebracht hätte.
Jorge fragte den pockennarbigen Shorty Spudman, der nicht mal einssechzig groß war: »Hast du von dem deutschen Touristen gehört, der gestern ermordet worden ist?«
»Hab's im Fernsehen gesehen: Diese Punks, die Touristen abknallen, das sind echt üble Typen.«
»Auf der Straße wird also darüber geredet?«
»Nicht viel.«
Ainslie mischte sich ein. »Ihr tut euch selbst einen Gefallen, Jungs, wenn ihr uns ein paar Namen nennt.«
Seine Aufforderung war klar: Schließen wir einen Handel ab. Aus der Sicht der Kriminalbeamten war die Aufklärung eines Mordes wichtiger als vieles andere. Als Gegenleistung für Informationen konnten geringfügigere Straftaten übersehen werden - sogar ein Haftbefehl.
Aber Big Nick behauptete: »Wir kennen keine gottverdammten Namen.«
Jorge zeigte auf seinen Dienstwagen. »Dann nehmen wir euch am besten aufs Revier mit.« Wie Nick und Shorty wußten, war im Polizeipräsidium eine Leibesvisitation unvermeidlich, und der Haftbefehl würde dort nicht ausbleiben.
»Augenblick!« sagte Shorty hastig. »Hab' gestern abend von ein paar Nutten gehört, daß zwei Kerle 'nen Weißen erschossen haben und mit seinem Wagen abgehauen sind.«
Jorge: »Haben die Mädchen gesehen, wie's passiert ist?«
Shorty zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.«
»Her mit den Namen.«
»Ernestine Smart und 'ne andere, die sich Flame nennt.«
»Wo können wir sie finden?«
»Ernestine schläft in River und Three. Von Flame weiß ich nichts.«
»Du redest von der Obdachlosensiedlung zwischen Third und North River?« fragte Jorge.
»Yeah.«
»Habt ihr uns Scheiß erzählt«, erklärte Jorge den beiden, »kommen wir zurück und finden euch. Taugt die Auskunft was, habt ihr bei uns was gut.«
Jorge und Ainslie gingen zu ihrem Dienstwagen zurück. Bis sie eine der Prostituierten gefunden hatten, verstrich eine weitere Stunde.
Die Obdachlosensiedlung in der Third Street lag unter der I-95 am Miami River. Da sie ursprünglich ein Parkplatz gewesen war, standen absurderweise noch immer Dutzende von Parkuhren zwischen unzähligen Behelfsunterkünften aus Karton und Plastikfolie. In dieser an ein Elendsquartier in irgendeinem unterentwickelten Land erinnernden Umgebung führten Menschen ein verzweifeltes, elendes Dasein. Überall in und um die Siedlung türmten sich Abfallberge. Jorge und Ainslie stiegen vorsichtig aus, denn sie wußten, daß sie hier jederzeit in Exkremente treten konnten.
Sie erfuhren, daß Ernestine Smart und Flame gemeinsam eine Sperrholzkiste bewohnten, deren Beschriftung zeigte, daß sie früher Lastwagenreifen enthalten hatte. Jetzt stand sie auf dem ehemaligen Parkplatz am Fluß. In die Rückwand der Kiste war eine Tür gesägt worden, die von außen mit einem Vorhängeschloß gesichert werden konnte. Nun stand die Tür offen.
Jorge streckte seinen Kopf ins dunkle Innere der Sperrholzkiste. »Hey, Ernestine. Ich bin's, dein freundlicher Kontaktbeamter. Wie geht das Geschäft?«
Eine leicht heisere Frauenstimme antwortete: »Wenn's besser ginge, braucht' ich nicht in diesem Schweinestall zu leben. Willst du ficken, Copper? Du zahlst bloß die Hälfte.«
»Verdammt! Hab' gerade keine Zeit; muß 'nen Mord aufklären. Auf der Straße heißt's, daß Flame und du ihn gesehen haben.«
Jorge, dessen Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, musterte Ernestine. Die ungefähr zwanzigjährige Schwarze war früher schön gewesen, aber jetzt war ihr Gesicht aufgedunsen und von Falten durchzogen. Ihre Figur war allerdings gut. In ihrem weißen Overall steckte ein schlanker Körper mit festem Busen. Ernestine sah Jorges Blick und lächelte amüsiert.
»Wir sehen alle viel«, erklärte sie ihm. »Nur erinnern kann man sich nicht immer.«
»Aber du erinnerst dich, wenn ich dir helfe?«
Ernestine lächelte geheimnisvoll. Jorge wußte, daß das Zustimmung signalisierte.
»Hast du gestern abend zufällig auf der Northwest Third an der Twelfth Street gestanden?« fragte er weiter.
»Weiß ich nicht. Vielleicht.«
»Nun, ich frage mich, ob du gesehen hast, wie zwei Jitterbugs zu einem älteren Weißen ins Auto gesprungen sind und ihn erschossen und aus dem Wagen geworfen haben.«
»Nein, aber ich hab' gesehen, wie ein Bruder und seine billig aussehende Mieze den alten Knacker zum Anhalten gebracht und dann getan haben, was du sagst.«
Jorge sah zu Ainslie hinüber, der ihm zunickte. »Jetzt mal im Klartext«, sagte Jorge. »Du hast einen Schwarzen und eine Weiße gesehen?«
»Yeah.« Ernestine starrte ihn an. »Bevor ich mehr sage... was ist für mich drin, Mann?«
»Erzählst du uns keinen Scheiß, kriegst du 'nen Hunderter.«
»Cool, Mann.« Sie wirkte zufrieden.
»Weißt du die Namen?«
»Der schwarze Kerl ist Kermit der Frosch. Sieht mit seinen komischen Glupschaugen wie'n Frosch aus. Er ist gefährlich, zieht immer gleich seine Knarre.«
»Und die Frau?«
»Die heißt Maggie, ist immer mit Kermit zusammen. Die beiden sind oft im Diner in der Eighth Street, und ich hab' mitgekriegt, wie sie wegen Heroinbesitz verhaftet worden sind.«
»Würdest du sie identifizieren, wenn ich mit ein paar Fotos vorbeikomme?«
»Klar, Süßer, für dich tu' ich alles.« Ernestine berührte seine Wange. »Irgendwie gefällst du mir.«
Jorge lächelte, dann fragte er weiter. »Was ist mit Flame? Hilft die uns auch?«
»Das mußt du ihn selbst fragen.«
Jorge war verblüfft, »ihn?«
»Flame ist ein Kerl«, sagte Ernestine. »Heißt in Wirklichkeit Jimmy McRae.«
Ainslie ächzte. »Nicht als Zeuge. Ausgeschlossen!«
Jorge nickte. Transsexuelle, die vor einer Geschlechtsumwandlung als Frau lebten, waren in der sexorientierten Unterwelt häufig, aber Flame schien außerdem als Prostituierte zu arbeiten. Einen schrägen Vogel wie ihn konnte man unmöglich in den Zeugenstand rufen, weil er die Geschworenen nur verstört hätte; deshalb kam Flame nicht in Frage. Ernestine würde eine gute Zeugin sein, und vielleicht fanden sich noch weitere.
»Stellt sich alles als richtig heraus«, erklärte Jorge Ernestine, »bringen wir in ein paar Tagen das Geld vorbei.«
Für solche Zahlungen an Informanten stand Kriminalbeamten ein Spesenkonto zur Verfügung.
In diesem Augenblick hörte Ainslie in seinem Sprechgerät seine Dienstnummer: 1910.
»QSK«, sagte er nur. Das war die Q-Gruppe für »Fahren Sie mit der Sendung fort«.
»Rufen Sie Ihren Lieutenant an.«
Das Gerät war auch ein Mobiltelefon, so daß Ainslie nur Leo Newbolds Kurzwahlnummer einzutippen brauchte.
»Im Fall Niehaus tut sich was«, sagte Newbold. »Die State Police hat den geklauten Wagen sichergestellt und zwei Verdächtige festgenommen. Die beiden werden jetzt hergebracht.«
»Augenblick, Sir«, sagte Ainslie und sah rasch in seine Notizen. »Ein Schwarzer namens Kermit und eine Weiße, die Maggie heißt?«
»Richtig! Das sind sie. Woher wissen Sie das?«
»Jorge Rodriguez hat eine Zeugin - eine Prostituierte. Sie ist bereit, die beiden zu identifizieren.«
»Sagen Sie Jorge, daß er das gut gemacht hat. Und seht zu, daß ihr schnell zurückkommt. Wir müssen die Ermittlungen vorantreiben.«
Allmählich kam Licht in die Sache. Ein aufmerksamer State Trooper, der sich das in der Fahndungsmeldung der Miami Police vom Vortag genannte Autokennzeichen gemerkt hatte, hatte den Cadillac angehalten und die beiden Insassen festgenommen: einen Schwarzen, Kermit Kaprum, neunzehn, und eine Weiße, Maggie Thorne, dreiundzwanzig. Beide waren mit je einem Revolver Kaliber 38 bewaffnet, die zur Untersuchung ins Ballistiklabor geschickt wurden.
Sie erklärten den Uniformierten, sie hätten den Wagen erst vor einigen Minuten leer und mit dem Zündschlüssel im Schloß aufgefunden und zu einer Spritztour benutzt. Das war offensichtlich gelogen, aber die State Police vernahm sie nicht weiter, weil das eigentliche Verhör von Beamten der Mordkommission durchgeführt werden würde.
Als Ainslie und Rodriguez in die Dienststelle zurückkamen, warteten Kaprum und Thorne bereits in getrennten Vernehmungsräumen. Eine Überprüfung per Computer hatte ergeben, daß beide seit ihrem achtzehnten Lebensjahr aktenkundig waren. Die junge Frau hatte wegen Diebstahls gesessen und war mehrmals als Prostituierte aufgegriffen worden. Kaprum war wegen Einbruchs und Erregung öffentlichen Ärgernisses vorbestraft. Vermutlich waren beide schon als Jugendliche straffällig geworden.
Die Büros der Mordkommission in Miami hatten keine Ähnlichkeit mit vergleichbaren Dienststellen im Fernsehen, in denen stets laute, hektische Betriebsamkeit herrschte. Sie lagen im vierten Stock des festungsartigen Polizeipräsidiums und waren von der Eingangshalle aus mit dem Aufzug zu erreichen. Aber die Tür zum vierten Stock ließ sich nur mit einer speziellen Magnetkarte öffnen, die lediglich die dort Beschäftigten und einige ihrer Vorgesetzten besaßen. Jeder andere Polizeibeamte sowie gelegentliche Besucher mußten von einem Kartenbesitzer begleitet werden.
Festgenommene und Verdächtige wurden mit einem Aufzug direkt aus der Tiefgarage in den vierten Stock hinaufgebracht. Das Ergebnis war eine normalerweise ruhige, unaufgeregte Arbeitsatmosphäre.
Jorge Rodriguez und Malcolm Ainslie beobachteten durch von innen verspiegelte Scheiben die Verdächtigen, die in getrennten Vernehmungsräumen saßen.
»Wir brauchen wenigstens ein Geständnis«, sagte Ainslie.
»Überlassen Sie das mir«, schlug Jorge vor.
»Sie wollen beide vernehmen?«
»Yeah. Zuerst die junge Frau. Was dagegen, wenn ich allein zu ihr reingehe?« Normalerweise wurden Verdächtige von zwei Kriminalbeamten vernommen, aber Jorge hatte sich bei Einzelvernehmungen als Überredungskünstler erwiesen.
Ainslie nickte ihm zu. »Also los!«
Er verfolgte das Verhör der dreiundzwanzigjährigen Maggie Thorne durch das verspiegelte Beobachtungsfenster. Die Festgenommene, die zerrissene Jeans und ein schmuddeliges Sweatshirt trug, war blaß und wirkte viel jünger. Würde sie sich das Gesicht waschen, dachte Ainslie, wäre sie ganz hübsch. So erschien sie hart und nervös, während sie auf dem Metallstuhl herumrutschte, an den sie gefesselt war. Als Jorge hereinkam, riß sie an ihren Handschellen, daß sie klirrten, und kreischte: »Scheiße, warum muß ich die tragen?«
Jorge lächelte freundlich und nahm sie ihr ab. »Wie geht's Ihnen überhaupt? Ich bin Detective Rodriguez. Möchten Sie einen Kaffee oder eine Zigarette?«
Thorne rieb sich die Handgelenke und murmelte etwas von Milch und Zucker. Sie wirkte etwas entspannter, aber weiter mißtrauisch. Eine harte Nuß, dachte Ainslie.
Jorge hatte wie üblich eine Thermoskanne, zwei Plastikbecher und Zigaretten mitgebracht. Während er den Kaffee eingoß, redete er wie ein Wasserfall weiter.
Sie rauchen also nicht, was? Ich auch nicht. Tabak ist mir zu gefährlich... Sorry, leider müssen Sie ihn schwarz trinken... Hey, darf ich Sie Maggie nennen? Ich bin Jorge... Wissen Sie, ich möchte Ihnen gern helfen. Ich glaube sogar, daß wir uns gegenseitig helfen können... Nein, das ist kein großer Scheiß. Tatsache ist, daß Sie in der Klemme stecken, Maggie, während ich versuche, Ihnen die Sache so leicht wie möglich zu machen...
Am Beobachtungsfenster trat Ainslie von einem Fuß auf den anderen. Bring es hinter dich, dachte er, denn Jorge durfte erst weiterfragen, nachdem Thorne über ihre Rechte - auch auf einen Anwalt - belehrt war. Natürlich wollten Ermittler in diesem kritischen Stadium nicht von einem Anwalt behindert werden, deshalb versuchten sie, ihre Belehrung so vorzubringen, daß die Antwort »Nein!« lautete.
Jorges Begabung dafür war sagenhaft.
Er begann völlig legal mit einem Vorgespräch, um sich Angaben zur Person der Verdächtigen zu notieren: Name, Geburtsdatum, Anschrift, Beruf, Sozialversicherungsnummer... Aber Jorge ging bewußt langsam vor und nahm sich Zeit für Kommentare.
Sie sind also im August geboren, Maggie? Hey, ich auch. Dann sind wir Löwen, aber ich glaub eigentlich nicht an diesen Tierkreisscheiß. Und Sie?
Weil die junge Frau trotzdem mißtrauisch blieb, schwatzte Jorge weiter, ohne die ihr vorgeworfene Straftat bisher auch nur erwähnt zu haben.
Noch ein paar Angaben zur Person, Maggie. Sind Sie verheiratet?... Nein? Ich auch nicht. Vielleicht irgendwann später. Aber Sie haben einen Freund?... Kermit? Nun, der sitzt jetzt auch in der Klemme, fürchte ich, und kann Ihnen nicht viel helfen. Vielleicht ist er schuld daran, daß Sie in diese Sache reingeraten sind... Was ist mit Ihrer Mutter?... Wow! Die haben Sie nie gesehen?... Und Ihr Vater?... Okay, okay, keine Fragen mehr nach den beiden.
Jorge machte seine Sache gut, aber ein Vorgespräch durfte nicht ewig dauern.
Gibt's jemand, den ich in Ihrem Auftrag verständigen soll, Maggie?... Nun, falls Sie sich die Sache anders überlegen, brauchen Sie's mir nur zu sagen.
Draußen wartete Ainslie nervös auf die Belehrung der Verdächtigen. In der Zwischenzeit beobachtete er die junge Frau. Ihr Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor, aber er wußte nicht, wo er es einordnen sollte.
Okay, Maggie, wir haben noch viel zu bereden, aber vorher muß ich Sie etwas fragen: Sind Sie bereit, mit mir zu reden, wie wir's jetzt tun, ohne daß ein Anwalt dabei ist?
Die Verdächtige nickte kaum merklich.
Gut, denn ich möchte auch mit Ihnen reden. Aber zuerst müssen wir noch was erledigen - Sie wissen ja, wie Vorschriften sind. Der Form halber muß ich Ihnen folgendes erzählen, Maggie: Sie haben das Recht zu schweigen...
Ainslie hörte aufmerksam zu. Die verspiegelte Scheibe vor ihm war nicht schalldicht, so daß er, falls notwendig, hätte bezeugen können, daß Thorne über ihre Rechte belehrt worden war. Daß sie kaum auf den von Jorge heruntergeleierten Text achtete, war nicht entscheidend.
Nun wurde es Zeit für Jorges zweites kalkuliertes Risiko.
Wir können jetzt weiterreden, Maggie, oder ich gehe an meinen Schreibtisch zurück, und Sie bekommen mich nie wieder zu sehen...
Zweifel auf dem Gesicht der jungen Frau: Was ist, wenn der Kerl verschwindet?
Jorge kannte die Anzeichen. Der Erfolg war greifbar nahe.
Maggie, verstehen Sie, was ich eben gesagt habe?... Ganz bestimmt?... Okay, das wäre erledigt... Oh, noch was! Sie müßten diesen Vordruck hier unterschreiben. Als Bestätigung für alles, was ich gesagt habe.
Thorne setzte ihre gekritzelte Unterschrift unter den amtlichen Vordruck, der bestätigte, sie habe sich nach einer Belehrung über ihre Rechte dafür entschieden, ohne Anwesenheit eines Rechtsanwaltes mit Detective Rodriguez zu reden.
Ainslie steckte seine Notizen ein. Jorge konnte nichts mehr passieren, und Ainslie, der bereits von der Schuld des Paars überzeugt war, rechnete mit mindestens einem vollen Geständnis innerhalb der nächsten halben Stunde.
Wie sich zeigen sollte, gab es sogar zwei.
Als Jorge die Verhöre in getrennten Räumen fortsetzte, zeigte sich, daß Thorne und Kaprum planlos vorgegangen waren und so statt eines einfachen Raubs ein Kapitalverbrechen verübt hatten. Nach der Tat hatten sie ernstlich geglaubt, sich durch ein kompliziertes Lügengebilde retten zu können, das ihnen vermutlich raffiniert erschien, aber auf jeden erfahrenen Kriminalbeamten lächerlich wirken mußte.
Jorge zu Thorne: Jetzt zu dem Wagen, in dem Sie mit Kermit gesessen haben, Maggie. Dem Trooper haben Sie erzählt, Sie hätten ihn vor einigen Minuten leer und mit Zündschlüssel gefunden und eine Spritztour damit gemacht... Nun, was sagen Sie, wenn ich Ihnen erzähle, daß wir eine Zeugin haben, die gestern abend den Überfall beobachtet und Sie beide in dem Cadillac gesehen hat?... Außerdem sind hinten im Wagen über ein Dutzend Getränkedosen gefunden worden. Die werden eben auf Fingerabdrücke untersucht. Was ist, wenn Kermits und Ihre Abdrücke sich darauf befinden?... Doch, das beweist schon etwas, Maggie, weil es zeigt, daß Sie viel länger als nur »ein paar Minuten« in dem Auto gesessen haben.
Jorge trank einen Schluck Kaffee und wartete. Thorne tat dasselbe.
Noch was, Maggie. Bei Ihrer Festnahme haben Sie eine Menge Geld bei sich gehabt - über siebenhundert Dollar. Können Sie mir das erklären?... Bei wem und als was haben Sie gearbeitet?... Wirklich? Für soviel Geld muß man lange jobben. Wer sind Ihre Arbeitgeber gewesen?... Nun, nennen Sie mir wenigstens ein paar, bei denen wir nachfragen können... Sie wissen keine mehr? Maggie, damit tun Sie sich keinen Gefallen.
Also gut, machen wir weiter. Man hat bei Ihnen auch einen größeren Markbetrag gefunden. Wo haben Sie den hergehabt?... Deutsches Geld, Maggie. Sie sind wohl in letzter Zeit mal in Deutschland gewesen?... Unsinn, Maggie! Wie hätten Sie das vergessen können? Stammt dieses Geld von Mr. Niehaus?... Er ist der Gentleman, der umgebracht wurde. Haben Sie ihn mit Ihrem Revolver erschossen, Maggie? Eure Waffen werden jetzt untersucht. Dann wissen wir, ob Sie's getan haben.
Maggie, ich rede als Freund mit Ihnen. Sie sitzen echt in der Scheiße, und das wissen Sie bestimmt auch. Ich möchte Ihnen helfen, aber das kann ich erst, wenn Sie die Wahrheit sagen... Hier trinken Sie noch einen Kaffee... Denken Sie darüber nach, Maggie. Die Wahrheit macht alles leicht - vor allem für Sie. Sobald ich die Wahrheit weiß, kann ich Ihnen raten, was Sie tun sollten...
Beim Verhör des jüngeren Schwarzen, der wirklich Glupschaugen wie ein Frosch hatte, war der Umgangston rauher. Okay, Kermit, ich hab' mir jetzt 'ne halbe Stunde lang Ihre Antworten angehört, und wir wissen beide, daß Sie völligen Scheiß erzählt haben. Jetzt müssen Tatsachen auf den Tisch. Sie und Ihre Freundin Maggie haben den Wagen entführt und den Alten beraubt und dann erschossen. Das hat Maggie Thorne schon gestanden. In Ihrem schriftlichen Geständnis steht, daß diese Sache Ihre Idee gewesen ist und daß Sie die tödlichen Schüsse auf Mr. Niehaus abgefeuert haben...
Der neunzehnjährige Kaprum sprang auf und brüllte empört: »Die Schlampe lügt! Sie hat's getan, das ist ihre Idee gewesen, nicht meine! Ich hab' nur... «
Geschafft! dachte Jorge befriedigt. Kaprum, der auf Maggie Thornes vermeintlichen Verrat reagierte, war geradezu darauf versessen, seine eigene Version der Ereignisse zu erzählen. Ainslie, der wieder zuhörte, hätte beinahe gelächelt, aber er mußte an den toten Deutschen denken.
Sie wollen mir also erzählen, was wirklich passiert ist, Kermit - und diesmal die Wahrheit sagen? Damit täten Sie sich selbst einen Gefallen... Okay, fangen wir damit an, wie Sie und Thorne den Wagen geraubt haben... Also gut, wir stellen Thornes Namen voraus, wenn Ihnen das lieber ist... Wo sind Sie beide gewesen, als...
Jorge schrieb mit, während Kaprum hastig Tatsachen heraussprudelte, ohne die Folgen zu bedenken, weil er nicht erkannte, daß es kaum einen Unterschied machte, wer was getan hatte, solange feststand, daß die beiden gemeinsam das Verbrechen begangen hatten. Als Jorge ihn fragte, warum überhaupt geschossen worden sei, antwortete Kaprum: »Der alte Furzer hat uns beschimpft. Hat dauernd was gebrüllt, das wir nicht verstanden haben. Er hätt' seine gottverdammte Klappe halten sollen, Mann.«
Kaprum zeichnete jede Seite des Protokolls mit dem Kugelschreiber ab, den Jorge ihm gab, und unterschrieb dann sein Geständnis.
Einige Stunden später lag das Ergebnis der ballistischen Untersuchung vor. Von den drei in der Leiche gefundenen Kugeln stammte eine aus Kaprums Revolver, zwei waren aus Maggie Thornes Waffe abgefeuert worden. Der Gerichtsmediziner berichtete, Kaprums Schuß habe den
Überfallenen nur verletzt, aber beide Schüsse Thornes seien sofort tödlich gewesen.
Ainslie wurde weggerufen, kam aber gegen Ende der zweiten Vernehmung Thornes durch Jorge zurück. Zum Schluß fragte die junge Frau mit ernster Miene: »Was passiert jetzt? Kriegen wir Bewährung?«
Jorge gab keine Antwort, und Ainslie wußte, warum.
Wie hätte er einer jungen Frau erklären können: Nein, Sie haben nicht die geringste Chance, auf Bewährung freizukommen, auch nur vorläufig gegen Kaution entlassen zu werden oder überhaupt jemals wieder einen Fuß vor die Gefängnistür zu setzen. Im Gegenteil, es ist jetzt schon fast sicher, daß Sie und Ihr Komplize von einem Schwurgericht schuldig gesprochen und zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt werden.
Als Ainslie sich an die Geständnisse Thornes und Kaprums erinnerte, mußte er wieder an Elroy Doil und den Grund für diese nächtliche Fahrt ins Ungewisse denken. Er fragte sich, wie schon während des Anrufs aus Raiford: Was für ein Geständnis werde ich zu hören bekommen?
Er sah nach vorn, wo beleuchtete Wegweiser auftauchten. Sie hatten die I-95 verlassen und befanden sich auf dem Florida's Turnpike, auf dem Orlando - ihr erstes Etappenziel - etwa dreihundert Kilometer entfernt war.
3
Malcolm Ainslie, der kurz hinter Fort Lauderdale eingenickt war, schreckte durch einen dumpfen Schlag hoch - vielleicht von einem überfahrenen Waschbären, deren Kadaver häufig auf der Fahrbahn lagen. Er reckte sich, setzte sich auf und sah auf die Uhr: zehn Minuten nach Mitternacht. Vor sich erblickte er die Ausfahrt West Palm Beach, was bedeutete, daß sie ungefähr ein Drittel der Strecke nach Orlando zurückgelegt hatten.
Ainslie griff nach dem Telefon und tippte Lieutenant Newbolds Nummer ein. Als er sich meldete, sagte Ainslie: »Guten Abend, Sir. Hier sind Miamis Beste.«
»Hey, Malcolm. Alles in Ordnung?«
Ainslie sah nach links. »Der verrückte Kubaner hat uns noch nicht umgebracht.«
Newbold lachte halblaut. »Ich habe mich nach Flügen erkundigt und einen Platz für Sie reservieren lassen. Ich glaube, Sie können morgen nachmittag in Toronto sein.«
»Wunderbar, Lieutenant. Danke!« Er notierte sich die Einzelheiten: Um 10.05 Uhr mit Delta Airlines von Jacksonville nach Atlanta, von dort mit Air Canada weiter nach Toronto.
Ainslie war erleichtert, denn auf diese Weise würde er nur knapp zwei Stunden später als geplant in Toronto eintreffen. Ideal war das nicht, weil Karens Eltern, die über eine Autostunde vom Pearson Airport entfernt wohnten, schon zum Mittagessen eingeladen hatten. Das würde er versäumen, aber wenigstens war er abends zum großen Familiendinner da.
Newbold fuhr fort: »Rodriguez soll Sie morgen nach Jacksonville fahren. Dorthin sind's nur sechzig Meilen; die schaffen Sie leicht. Und wenn Sie zurückkommen, sehen wir uns Ihre zusätzlichen Reisekosten an und finden eine Lösung.«
»Vielleicht beschwichtigt das Karen.«
»Sie ist wütend gewesen, was?« fragte Newbold.
»Das könnte man sagen.«
Der Lieutenant seufzte. »Devina ist auch sauer, wenn mein Dienst uns einen Strich durch pivate Pläne macht, und ich kann's ihr nicht mal verübeln.« Newbold wechselte das Thema. »Ich habe das Staatsgefängnis angerufen. Sie haben zugesagt, auf alle Besucherformalitäten zu verzichten, damit Sie möglichst schnell zu Animal kommen.«
»Danke.«
»Sie sollen sich nur vorher anmelden. Wenn Sie noch ungefähr zwanzig Minuten bis Raiford haben, rufen Sie Lieutenant Neil Hambrick an. Hier ist seine Durchwahlnummer.«
Ainslie schrieb sich die Telefonnummer auf. »Wird gemacht, Lieutenant. Noch mal vielen Dank.«
»Gute Reise und viel Spaß in Toronto.«
Als Ainslie das Mobiltelefon ausschaltete, dachte er über das ausgezeichnete Verhältnis zwischen Leo Newbold und seinen weißen Untergebenen nach. Wie die meisten Kollegen mochte und respektierte er Newbold, der seit vierundzwanzig Jahren bei der Polizei war, nachdem er als Fünfzehnjähriger mit seinen Eltern aus Jamaika eingewandert war. Leo Newbold hatte an der University of Miami Kriminologie studiert und war als Zweiundzwanzigjähriger zur Polizei gegangen. Als Schwarzer war er in den achtziger Jahren bevorzugt befördert worden, aber im Gegensatz zu ähnlichen Fällen erregte das wegen seiner offenkundigen Fähigkeiten nicht den Neid seiner weißen Kollegen. Jetzt war Newbold im achten Dienstjahr als Chef der Mordkommission tätig.
Zu Malcolms Überraschung schlief Karen, als er anrief, um ihr zu erzählen, wie er nach Toronto kommen würde. »Wir sehen uns also morgen nachmittag gegen vier Uhr«, fügte er hinzu.
»Das glaube ich erst, wenn du vor mir stehst«, murmelte sie verschlafen, aber offenbar wieder besänftigt.
Als Ainslie das Telefon ausschaltete und sich zurücklehnte, unterbrach Jorge seine Gedanken.
»Sergeant, sind Sie noch immer katholisch?«
Diese Frage kam unerwartet. »Wie bitte?«
Jorge überholte eben einen der vielen Sattelschlepper, die sich auf dem Turnpike befanden. Als sie daran vorbei waren, fuhr er fort: »Sie sind Geistlicher gewesen, aber jetzt sind Sie's nicht mehr. Deshalb bin ich neugierig - sind Sie noch immer Katholik?«
»Nein.«
»Nun, ich habe mich gefragt, wie einem als Katholiken oder ehemaligem Katholiken bei dieser Fahrt zumute sein muß -Todesstrafe, ein letzter Besuch bei Animal Doil, bevor er auf den Stuhl kommt, das Bewußtsein, daß vor allem Sie ihn dorthin gebracht haben?«
»Das ist so spät nachts eine schwierige Frage.«
Jorge zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie nicht darüber reden möchten... Okay, das verstehe ich.«
Ainslie zögerte. Er hatte den Priesterberuf nach Seminarausbildung, Philosophiestudium mit Promotion und fünf Jahren als Gemeindepfarrer mit dreißig an den Nagel gehängt, und damit auch seinen Glauben. Um niemanden zu beeinflussen, hatte er anfangs nur mit engen Freunden über seine Motive gesprochen. Aber ein Jahrzehnt später war er eher bereit, Fragen zu beantworten.
»Cops und Priester sind sich in vieler Beziehung ähnlich«, erklärte er Jorge. »Ein Geistlicher versucht Menschen zu helfen, strebt nach Ausgleich und Gerechtigkeit - oder sollte es zumindest tun. In unserem Beruf will man, daß Mörder gefaßt werden und ihre gerechte Strafe erhalten.«
»Yeah, natürlich. Aber ganz so einfach ist die Sache nicht. Ich bin ein Cop. Wie viele Cops in Amerika sind wirklich gegen die Todesstrafe? Zwei? Vielleicht drei? Aber ich bin auch katholisch. Und die Kirche ist gegen die Todesstrafe.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher, Jorge. Die meisten Religionen sind unter der Oberfläche heuchlerisch, weil sie die Tötung von Menschen billigen, wenn sie einem bestimmten Zweck dient - beispielsweise im Krieg. Und jedes Land, das in den Krieg zieht, glaubt Gott auf seiner Seite zu haben.«
Jorge lachte. »Na, hoffentlich steht er auf meiner Seite.«
»Bei Ihrem Lebenswandel ist das höchst unwahrscheinlich.«
»Wieso?« fragte Jorge. »Sie haben Ihren Priesterkragen abgelegt, nicht ich. Kann mir nicht vorstellen, daß Sie auf der Topten-Liste des Papstes stehen.«
Ainslie lächelte. »Nun, dafür stehen auf meiner nicht allzu viele Päpste.« Er wurde wieder ernst. »Was Ihre ursprüngliche Frage betrifft: Mir ist die Tötung von Menschen schon als Priester zuwider gewesen, und daran hat sich nichts geändert. Aber ich bin gesetzestreu, und solange das Gesetz die Todesstrafe vorsieht, finde ich mich mit ihr ab.«
Während er das sagte, erinnerte er sich an die wenigen - nach Ansicht der Staatsanwaltschaft lauter Spinner -, die darauf beharrten, daß Elroy Doil aufgrund seiner hartnäckigen Unschuldsbeteuerungen als nicht überführt zu gelten habe. Ainslie war anderer Meinung. Seiner Überzeugung nach war Doils Schuld bewiesen, aber er fragte sich wieder, was der Todeskandidat noch gestehen wollte.
»Bleiben Sie dort, um bei Animals Hinrichtung dabeizusein?« fragte Jorge.
»Hoffentlich nicht. Warten wir ab, was passiert.«
Nach kurzer Pause sagte Jorge: »Die Kollegen erzählen, Sie hätten ein Buch geschrieben, ein theologisches Standardwerk, ist millionenfach verkauft worden, hab' ich gehört. Hoffentlich hat's Ihnen auch Millionen eingebracht.«
Ainslie lachte. »Als Mitverfasser eines Buches über vergleichende Religionswissenschaft wird man nicht reich. Ich habe keine Ahnung, wie viele Exemplare der Verlag davon verkauft hat, obwohl es in mehrere Sprachen übersetzt worden ist und noch heute in den meisten Bibliotheken steht.«
Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 2.15 Uhr an. »Wo sind wir?« fragte Ainslie, der erneut eingenickt war.
»Eben an Orlando vorbei, Sergeant.«
Ainslie erinnerte sich an andere, geruhsamere Fahrten auf diesem Streckenabschnitt. Auf den achtzig Kilometern von Orlando bis Wildwood war der Turnpike offiziell die Panoramastraße. Dort draußen im Dunkel lagen sanfte Hügel mit Wildblumen, hohen Tannenhainen und stillen Seen, riesige Weideflächen mit grasenden Kühen, Orangenplantagen, deren Bäume um diese Jahreszeit voller Früchte hingen.
»Sind Sie müde?« fragte er Jorge. »Soll ich Sie ablösen?«
»Nein, ich bin noch ganz frisch.«
Sie waren seit gut drei Stunden unterwegs, rechnete Ainslie sich aus, und hatten schon etwas über die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Berücksichtigte man, daß die Straßen ab der Interstate 75, auf die sie bald abbiegen würden, schlechter waren, konnten sie Raiford gegen 5.30 Uhr erreichen.
Da die Hinrichtung für 7.00 Uhr angesetzt war, blieb kaum noch Zeit für ein Gespräch. Nur eine Begnadigung in letzter Minute - in Doils Fall wenig wahrscheinlich - konnte eine Hinrichtung hinauszögern.
Ainslie lehnte sich zurück, um zu versuchen, seine Gedanken zu ordnen. Seine Erinnerungen an Elroy Doil und alle mit ihm zusammenhängenden Ereignisse glichen einem Aktenordner voller ungeordnet abgehefteter Notizen und Protokolle.
Er erinnerte sich daran, den Namen Doil erstmals gelesen zu haben, als er auf einer Computerliste potentieller Verdächtiger aufgetaucht war. Als Doil später zu den Hauptverdächtigen zählte, hatte die Mordkommission umfangreiche Ermittlungen bis in seine Kindheit zurück angestellt.
Elroy Doil war zweiunddreißig, als die Morde begannen. Er war in dem Wynwood genannten und von »armen Weißen« bewohnten Stadtviertel Miamis aufgewachsen. Obwohl dieser Name in keinem Stadtplan erscheint, besteht Wynwood aus sechzig Häuserblocks auf hundertdreißig Hektar Fläche mitten in Miami, mit überwiegend unterprivilegierter weißer Bevölkerung, die in schlimmen, von hoher Straffälligkeit, Unruhen, Plünderungen und Polizeibrutalität geprägten Verhältnissen lebt.
Unmittelbar südwestlich von Wynwood liegt Overtown ebenfalls auf keinem Stadtplan verzeichnet - mit überwiegend unterprivilegierter schwarzer Bevölkerung, die in vergleichbar schlechten Verhältnissen lebt.
Elroy Doils Mutter, die Prostituierte Beulah, war drogensüchtig und alkoholkrank. Freunden erklärte sie, der Vater ihres Sohnes »hätt' jeder von hundert Fickern sein können«, aber Elroy erzählte sie später, sein wahrscheinlichster Vater sitze lebenslänglich im Staatsgefängnis Belle Glade. Der Junge wuchs in Gesellschaft vieler verschiedener Männer auf, die unterschiedlich lange mit seiner Mutter zusammenlebten, und erinnerte sich an manche vor allem deshalb, weil sie ihn im Suff verprügelt oder sexuell mißbraucht hatten.
Weshalb Beulah Doil, die schon mehrere Abtreibungen hinter sich hatte, überhaupt ein Kind bekam, blieb unklar. Ihre Erklärung lautete, sie sei »bloß nie dazugekommen, sich den Balg wegmachen zu lassen«.
Später unterwies Beulah, eine gerissene, praktisch veranlagte Frau, ihren Sohn in Kleinkriminalität und wie man es vermied, dabei geschnappt zu werden. Elroy lernte schnell. Als Zehnjähriger stahl er Lebensmittel für seine Mutter und sich und klaute alles, was ihm in die Finger kam. Er beraubte auch seine Mitschüler. Dabei war es von Vorteil, daß er für sein Alter groß und ein brutaler Schläger war.
Unter Beulahs Anleitung lernte der Heranwachsende, das Jugendstrafrecht zu seinem Vorteil zu nutzen. Trotz mehrerer Festnahmen wegen Körperverletzung, Einbruch und Ladendiebstahl wurde er nach strengen Ermahnungen jedesmal wieder in die Obhut seiner Mutter entlassen.
Mit siebzehn Jahren - aber das erfuhr Malcolm Ainslie erst viel später - wurde Elroy Doil erstmals wegen Mordes verdächtigt. Er war bei der Flucht aus der Umgebung des Tatorts gestellt worden und sollte vernommen werden. Da er noch unter das Jugendstrafrecht fiel, wurde seine Mutter aufs Polizeirevier bestellt, wo Elroy in ihrer Anwesenheit von Kriminalbeamten verhört wurde.
Bei eindeutiger Beweislage wäre er nach Erwachsenenstrafrecht wegen Mordes in Untersuchungshaft gekommen. Beulah war im Umgang mit der Polizei erfahren und verweigerte jegliche Zusammenarbeit. Sie erlaubte nicht, daß ihrem Sohn die Fingerabdrücke zum Vergleich mit einem in der Nähe des Tatorts gefundenen Messer abgenommen wurden. Aus Mangel an Beweisen mußte die Polizei Doil schließlich entlassen, und der Mordfall blieb ungelöst.
Als er dann Jahre später als Serienmörder verdächtigt wurde, blieb seine Jugendstrafakte geschlossen, und seine Fingerabdrücke waren nicht registriert.
Nachdem Doil mit achtzehn Jahren volljährig geworden war, setzte er die Gerissenheit, die er sich als Jugendlicher auf der Straße erworben hatte, ein, um weitere Straftaten zu verüben. Da er nie geschnappt wurde, schien er keine Vorstrafen zu haben. Erst als das Police Department sich später gründlich mit seinem Vorleben beschäftigte, tauchten wichtige Informationen auf, die unterschlagen oder vergessen worden waren.
Jorge sagte plötzlich: »Wir müssen tanken, Sergeant. Am besten dort vorn in Wildwood.« Es war fast drei Uhr.
»Okay, aber beeilen Sie sich wie bei einem Boxenstopp. Ich hole uns inzwischen Kaffee.«
»Und Kartoffelchips. Nein, lieber Kekse. Wir brauchen Kekse.« Auf der Abbiegespur zur Ausfahrt waren bereits die Leuchtreklamen mehrerer Tankstellen zu sehen. Wildwood war ein traditioneller Rastplatz - tagsüber eine unordentliche Ansammlung von Touristenläden, die von Schund überquollen, nachts ein Tankhalt für Fernfahrer.
Jorge steuerte die erste Tankstelle an. Dahinter stand ein auch nachts geöffnetes Waffle House, in dessen Nähe mehrere Autos parkten. Um zwei dieser Fahrzeuge herum standen fünf oder sechs schemenhafte Gestalten. Als der Streifenwagen heranrollte, schossen Köpfe hoch, und Gesichter wandten sich den näher kommenden Scheinwerfern zu.
Dann geschah alles blitzschnell. Die Männer, die vor Sekunden noch eine dichtgedrängte Gruppe gebildet hatten, stoben auseinander. Die Türen geparkter Wagen wurden aufgerissen, Gestalten warfen sich hinein, und während die Türen noch offenstanden, sprangen bereits die Motoren an. Die Autos rasten davon, mieden die Interstate und kamen auf Nebenstraßen rasch außer Sicht.
Jorge und Ainslie lachten.
»Auch wenn wir heute nacht sonst nichts erreichen«, stellte Ainslie fest, »haben wir zumindest einen Drogendeal platzen lassen.«
Beide wußten, daß die I-75 so spät nachts eine gefährliche Route war. Außer Drogenhändlern waren hier auch Diebe, Prostituierte und Straßenräuber unterwegs.
Aber der Anblick eines Streifenwagens hatte sie alle verschreckt.
Ainslie gab Jorge Geld für Benzin und kam aus dem Waffle House mit Kaffee und Keksen zurück. Als Jorge wieder auf die I-75 hinauffuhr, schlürften sie ihren Kaffee durch die Aussparungen in den Plastikdeckeln der Pappbecher.
4
Ainslie und Jorge befanden sich jetzt vierhundertdreißig Kilometer nördlich von Miami und hatten noch gut hundertsechzig vor sich. Zwischen den Lastwagen, die um diese Zeit die Interstate für sich allein hatten, kamen sie gut voran. Es war 3.30 Uhr. »Wir schaffen's, Sergeant«, stellte Jorge fest. »Kein Problem.«
Ainslie fühlte sich erstmals seit ihrer Abfahrt aus Miami etwas weniger verkrampft. Er starrte durchs Seitenfenster in die Dunkelheit hinaus und murmelte: »Ich will nur hören, wie er's sagt.«
Er sprach wieder von Doil und mußte sich eingestehen, daß Karen in gewisser Weise recht hatte. Sein Interesse an Doil ging tatsächlich über das Berufliche hinaus. Nachdem er das an jedem Tatort angerichtete Blutbad gesehen, monatelang nach dem Killer gefahndet und Doils schrecklichen Mangel an Reue beobachtet hatte, war Ainslie der ehrlichen Überzeugung, die Welt müsse von diesem Mann befreit werden. Er wollte hören, wie Doil die Morde gestand, und dann - auch wenn er Jorge zuvor etwas anderes erzählt hatte - wollte er ihn sterben sehen. Das würde er voraussichtlich schaffen.
»Verdammt!« rief Jorge im nächsten Augenblick. »Dort vorn muß etwas passiert sein!«
Der auf der Interstate nach Norden fließende Verkehr wurde plötzlich dichter und geriet ins Stocken. Auf allen Fahrbahnen vor ihnen leuchteten Bremslichter auf. Jenseits des Mittelstreifens der I-75 war kein einziges Fahrzeug in Richtung Süden unterwegs.
»Scheiße! Scheiße!« Ainslie schlug mit der Faust aufs Handschuhfach. Der Streifenwagen schob sich im Kriechtempo an die lange Schlange roter Bremslichter heran. In der Ferne waren die Blinklichter von Rettungsfahrzeugen auszumachen.
»Auf der Standspur weiter«, wies er Jorge an. »Mit Blinklicht.«
Jorge schaltete die blauen, roten und weißen Blinklichter ein und schlängelte sich durch Lücken auf die rechte Standspur hinüber. Sie fuhren gleichmäßig, aber vorsichtig an den jetzt stehenden Fahrzeugen vorbei. Überall wurden Türen geöffnet, als Beifahrer ausstiegen und herauszufinden versuchten, warum die Interstate blockiert war.
»Schneller!« drängte Ainslie. »Wir haben's eilig!«
Wenig später hatten sie mehrere Wagen der Florida Highway Patrol vor sich, die mit eingeschalteten Blinklichtern alle Fahrbahnen blockierten - auch die Standspur, die der Streifenwagen aus Miami benutzte.
Ein Lieutenant der Highway Patrol hob die rechte Hand, um sie zum Anhalten zu veranlassen, und kam auf den Wagen zu. Ainslie stieg aus.
»Hier ist wirklich nicht Miami, Jungs«, sagte der Lieutenant. »Habt ihr euch verfahren?«
»Nein, Sir.« Ainslie wies seine Plakette vor, die der andere inspizierte. »Wir müssen nach Raiford und haben's sehr eilig.«
»Dann haben Sie leider Pech, Sergeant. Die Interstate ist total gesperrt. Dort vorn ist ein schwerer Unfall passiert. Ein Tankzug ist ins Schleudern geraten und umgestürzt.«
»Lieutenant, wir müssen trotzdem durch!«
Die Stimme des Uniformierten wurde schärfer. »Ausgeschlossen! Der Fahrer und vermutlich auch die beiden Insassen des Wagens, den der Sattelzug überrollt hat, sind tot. Die Tanks sind aufgerissen, und Tausende Liter Superbenzin laufen über den Asphalt. Wir versuchen den Verkehr umzuleiten, bevor irgendein Idiot ein brennendes Zündholz aus dem Fenster wirft. Wir haben die Feuerwehr mit Löschschaum angefordert, aber die ist noch unterwegs. Also nein! Sie können unmöglich vorbei. Das ist mein letztes Wort.«
Der Lieutenant wandte sich ab, als einer seiner Leute seinen Namen rief.
Ainslie beherrschte sich mühsam. »Wir brauchen eine andere Route!«
Jorge, der schon eine Straßenkarte auf der Motorhaube ausgebreitet hatte, schüttelte zweifelnd den Kopf. »Dafür reicht die Zeit nicht, Sergeant. Wir müßten die Interstate zurückfahren und uns auf Nebenstraßen durchschlagen. Dabei kann man sich leicht verfahren. Können wir nicht doch... «
»Nein«, unterbrach Ainslie ihn, »wir müssen umkehren. Los, los, wir haben's eilig!«
Als sie wieder einstiegen, kam der Lieutenant zurückgelaufen.
»Wir tun unser Bestes, um Ihnen zu helfen«, sagte er hastig. »Ich habe eben mit der Leitstelle gesprochen. Sie weiß von Ihnen und warum Sie nach Raiford müssen. Ich erkläre Ihnen jetzt die kürzeste Strecke.«
Jorge machte sich Notizen, während der Lieutenant die Ausweichroute beschrieb.
»Von hier aus fahren Sie nach Micanopy zurück - zur Ausfahrt dreiundsiebzig. Dort nehmen Sie den Weg nach Westen zum Highway 441, den Sie fast sofort erreichen. Sie biegen links ab und fahren nach Norden in Richtung Gainesville; die Straße ist nicht schlecht, und Sie müßten gut vorankommen. Kurz vor Gainesville biegen Sie an einer Ampel rechts auf den Highway 331 ab. Dort wartet einer unserer Streifenwagen auf Sie. Der Fahrer ist Trooper Sequiera. Folgen Sie ihm. Er begleitet Sie auf dem kürzesten Weg nach Raiford.«
Ainslie nickte. »Danke, Lieutenant. In Ordnung, wenn wir mit Blinklicht und Sirene fahren?«
»Benutzen Sie alles, was Sie haben. Und noch was: Wir wissen natürlich alle von Doil. Sorgen Sie dafür, daß der Hundesohn auf den Stuhl kommt.«
Jorge fuhr bereits an. Er ließ den Streifenwagen zwischen Büschen hindurch über den grasbewachsenen Mittelstreifen rollen und raste nach Süden davon - mit eingeschaltetem Blinklicht, heulender Sirene und durchgetretenem Gaspedal.
Jetzt wurde die Zeit verdammt knapp, das wußte Ainslie. Auch Jorge war sich darüber im klaren.
Der erzwungene Umweg würde sie mindestens eine halbe Stunde Zeit kosten, vielleicht sogar mehr.
Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 5.34 Uhr an. Animal würde in weniger als eineinhalb Stunden hingerichtet werden. Klappte wirklich alles, konnten sie in ungefähr vierzig Minuten in Raiford sein - gegen 6.15 Uhr. Zog man die Zeit ab, die Ainslie benötigte, um ins Gefängnis eingelassen und zu Doil gebracht zu werden, und berücksichtigte man, daß der Todeskandidat früher weggebracht werden würde, um auf dem elektrischen Stuhl festgeschnallt zu werden, konnte Ainslie auf bestenfalls eine halbe Stunde für das Gespräch mit Doil hoffen.
Nicht genug! Nicht annähernd genug.
Aber die Zeit würde reichen müssen.
»Scheiße!« murmelte Ainslie. Er mußte sich beherrschen, um Jorge nicht zu drängen, schneller zu fahren. Aber das hätte niemand gekonnt. Jorge, der sehr gut fuhr, hatte die Wegbeschreibung Ainslie überlassen, der sie mit der Taschenlampe las, wenn sie gebraucht wurde. Der Highway 441, auf dem sie jetzt fuhren, war nicht kreuzungsfrei wie die I-75; außerdem waren hier langsamere Lastwagen unterwegs, die Jorge nacheinander überholte, um kostbare Sekunden zu gewinnen. Mit Blinklicht und Sirene war das kein Problem, aber inzwischen hatte Nieselregen eingesetzt, und in Bodensenken lagen Nebelbänke, in denen sie die Geschwindigkeit drosseln mußten.
»Verdammt!« knurrte Ainslie. »Wir schaffen's nicht.«
»Wir haben noch eine Chance.« Jorge saß nach vorn gebeugt am Steuer und konzentrierte sich ganz auf die Straße; jetzt trat er das Gaspedal weiter durch. »Verlassen Sie sich auf mich!«
Was bleibt mir anderes übrig? dachte Ainslie. Jetzt ist Jorge am Zug; ich bin später dran - vielleicht! Bloß nicht verkrampfen, sagte er sich. Am besten denkst du an etwas anderes. Zum Beispiel an Doil. Hat er irgendwelche Überraschungen parat? Sagt er endlich die Wahrheit, wie er's vor Gericht nicht getan hat?
Der sensationelle Mordprozeß gegen Elroy Doil machte Schlagzeilen in fast allen amerikanischen Zeitungen und wurde von den großen Fernsehsendern täglich kommentiert. Vor dem Gerichtsgebäude hatte sich eine Handvoll Demonstranten mit Schriftbändern versammelt, auf denen die Todesstrafe gefordert wurde. Journalisten drängelten sich - viele vergebens -, um einen der wenigen Plätze im Medienbereich des Verhandlungssaals zu ergattern.
Die Empörung der Öffentlichkeit wurde durch die Entscheidung der Staatsanwältin geschürt, Doil nur wegen der letzten Straftat anzuklagen - wegen des Mordes an Kingsley und Nellie Tempone, einem älteren, reichen und geachteten schwarzen Ehepaar aus Miami, das in seinem Haus im exklusiven Vorort Bay Heights grausam gefoltert und erstochen worden war.
Wurde Doil wegen der Ermordung des Ehepaars Tempone schuldig gesprochen und hingerichtet, würden die anderen zehn Morde, die er vermutlich ebenfalls begangen hatte, für immer ungeklärt bleiben.
Die kontroverse Entscheidung, die die Staatsanwältin Adele Montesino auf Anraten ihrer erfahrensten Strafverfolger getroffen hatte, bewirkte einen Aufschrei der Familien der übrigen Mordopfer, die im Namen ihrer Angehörigen, die sie verloren hatten, lautstark Gerechtigkeit forderten. Die Medien berichteten über ihre Empörung und nutzten diese Gelegenheit, Doil öffentlich mit den früheren Morden in Verbindung zu bringen, ohne Schadensersatzklagen befürchten zu müssen.
Dadurch wurde die Öffentlichkeit sensibilisiert und zunehmend kritischer.
Auch der Polizeipräsident von Miami hatte die Staatsanwältin gedrängt, Doil zumindest wegen eines weiteren Doppelmords anzuklagen.
Aber Adele Montesino, eine kleine, mollige Vierundfünfzigjährige mit dem Spitznahmen »Pitbull«, ließ sich nicht beeinflussen. Sie befand sich in ihrer dritten vierjährigen Amtsperiode, hatte bereits erklärt, nicht wieder kandidieren zu wollen, und konnte es sich deshalb leisten, ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren.
Auch Sergeant Malcolm Ainslie hatte an einer Strategiebesprechung vor der Verhandlung teilgenommen, bei der Adele Montesino gesagt hatte: »Im Fall Tempone steht die Anklage felsenfest.«
Sie zählte die wichtigsten Punkte an ihren Fingern auf. »Doil ist am Tatort festgenommen worden - mit dem Blut beider Opfer an seiner Kleidung. Wir haben das in seinem Besitz befindliche Messer, das die Gerichtsmedizinerin als Tatwaffe identifiziert hat und an dem ebenfalls Blutspuren der Opfer festgestellt worden sind. Und wir haben einen glaubwürdigen Augenzeugen, mit dem alle Geschworenen Mitleid haben werden. Kaum jemand auf dieser Welt würde Elroy Doil unter diesen Umständen freisprechen.«
Der von ihr erwähnte Augenzeuge war der Enkel des Ehepaars Tempone, der zwölfjährige Ivan. Der Junge hatte seine Großeltern besucht und war außer ihnen als einziger im Haus gewesen, als Doil dort eingedrungen und das ältere Paar überfallen hatte.
Ivan befand sich im Nebenzimmer, wo er zunächst wie gelähmt und stumm vor Entsetzen durch einen Türspalt beobachtete, wie seine Großeltern durch unzählige Schnitte und Stiche tödlich verletzt wurden. Trotz seiner Angst, daß der Täter auch ihn ermorden könnte, war der Junge mutig und vernünftig genug gewesen, um ans Telefon zu schleichen und 911 anzurufen.
Obwohl die Polizei Kingsley und Nellie Tempone nicht mehr retten konnte, war sie rechtzeitig da, um Elroy Doil festzunehmen, der sich noch auf dem Grundstück aufhielt und auf dessen Latexhandschuhen und Kleidung sich das Blut der beiden befand. Nachdem Ivan wegen eines Schocks behandelt worden war, schilderte er den Überfall so nüchtern und gefaßt, daß Adele Montesino davon überzeugt war, daß der Junge auch im Zeugenstand glaubwürdig wirken würde.
»Klagen wir ihn auch wegen dieser anderen Fälle an«, fuhr die Staatsanwältin fort, »haben wir in keinem einzigen ähnlich eindeutige, unwiderlegbare Beweise. Gut, es gibt Indizienbeweise. Wir können nachweisen, daß Doil als Täter in Frage kommt, weil er sich zu den Tatzeitpunkten in der Nähe der Tatorte befunden hat. Am ersten Tatort ist ein Handflächenabdruck gefunden worden, der ziemlich sicher von Doil stammt, aber unsere Fingerabdruckexperten weisen darauf hin, daß nur sieben übereinstimmende Merkmale festzustellen sind, während wir für eine eindeutige Identifizierung neun oder zehn brauchen. Außerdem wissen wir von Dr. Sanchez, daß das im Fall Tempone sichergestellte Bowiemesser nicht die bei den früheren Morden benutzte Waffe ist. Doil kann natürlich mehrere Messer besessen haben, was sogar wahrscheinlich ist, aber die Polizei hat kein weiteres gefunden.
Wir müßten also damit rechnen, daß jeder Strafverteidiger sich auf diese Schwachstellen konzentrieren würde. Und sobald es der Verteidigung gelingt, Zweifel an Doils Täterschaft in den früheren Fällen zu wecken, fangen die Geschworenen logischerweise an, sich zu fragen, ob unser angeblich unwiderlegbarer Fall Tempone nicht vielleicht auch zweifelhaft ist.
Also konzentrieren wir uns auf einen Schuldspruch im Fall Tempone, der Doil auf den elektrischen Stuhl bringt. Schließlich können wir den Mann nur einmal hinrichten, oder?«
Trotz aller Proteste war die Staatsanwältin nicht bereit, ihre Taktik zu ändern. Was Montesino dabei nicht voraussah, war die Tatsache, daß dieser Verzicht auf eine Anklageerhebung in mindestens einem weiteren Fall vor allem bei Gegnern der Todesstrafe den Eindruck erwecken mußte, die sechs Doil angelasteten Doppelmorde seien alle zweifelhaft - selbst der eine, für den er zum Tod verurteilt worden war.
Der Prozeß gegen Doil wegen Mordes an dem Ehepaar Tempone hatte zu Auseinandersetzungen, heftiger Polemik und sogar Gewalttätigkeiten geführt.
Da der Angeklagte mittellos war, bestellte Richter Rudy Olivadotti den erfahrenen Strafverteidiger Willard Steltzer zu seinem Pflichtverteidiger.
Steltzer war einer der bekanntesten Anwälte Miamis, teils wegen seiner Brillanz vor Gericht, teils wegen seines exzentrischen Auftretens. Auch mit vierzig dachte er nicht daran, sich konservativ wie seine Kollegen zu kleiden, sondern bevorzugte Anzüge und Krawatten aus den fünfziger Jahren, die er in darauf spezialisierten Läden kaufte. Außerdem trug er sein langes pechschwarzes Haar zu einem Zopf geflochten.
In typischer Manier verärgerte Steltzer schon mit dem ersten Antrag als Doils Verteidiger die Staatsanwaltschaft und Richter Olivadotti. Er unterstellte, wegen der umfangreichen Medienberichterstattung sei es im Dade County nicht möglich, die Geschworenenbank unparteiisch zu besetzen, und beantragte daher, den Verhandlungsort zu verlegen.
Trotz seiner Irritation entschied sich der Richter für diesen Antrag, und der Mordprozeß fand in Jacksonville statt - fast vierhundert Meilen nördlich von Miami.
Als nächstes versuchte Steltzer seinen Mandanten für unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Dafür nannte er mehrere Gründe: Doils Wutanfälle, die Tatsache, daß er als Kind mißbraucht worden war, seine rohe Gewalttätigkeit Mithäftlingen gegenüber und seinen krankhaften Drang zum Lügen, der sich darin äußerte, daß Doil abstritt, jemals in der Nähe des Hauses der Tempones gewesen zu sein, obwohl selbst sein Verteidiger zugeben mußte, daß das außer Zweifel stand.
Steltzer fand, dieses Verhalten lasse auf Unzurechnungsfähigkeit schließen, und Richter Olivadotti mußte ihm widerstrebend zustimmen. Er ordnete an, Doil von drei Psychiatern untersuchen zu lassen. Die Untersuchung dauerte vier Monate.
In ihrem Gutachten stellten die Psychiater fest, der Verteidiger habe Elroy Doils Charakter und Gewohnheiten richtig dargestellt, aber trotzdem sei Doil nicht unzurechnungsfähig. Entscheidend sei, daß er den Unterschied zwischen Recht und Unrecht erkenne. Daraufhin erklärte der Richter Do il für zurechnungsfähig und eröffnete das Verfahren gegen ihn.
Doils Auftritte im Gerichtssaal mußten jedem im Gedächtnis bleiben, der sie miterlebt hatte. Er war eine Riesengestalt: über einsneunzig groß und hundertdreißig Kilo schwer. Sein Gesicht war großflächig, seine Brust breit und muskulös, seine Hände riesig. Alles an Elroy Doil war überdimensioniert - auch sein Ego. Er betrat den Gerichtssaal jedesmal in überlegener, bedrohlicher Haltung und einem Grinsen. Seine Auftritte waren so provozierend, daß ein Reporter zusammenfassend schrieb:
»Elroy Doil hätte ebensogut seine eigene Verurteilung beantragen können.«
Was ihm wie schon früher hätte nutzen können, wäre die Anwesenheit seiner Mutter gewesen, die alle juristischen Tricks gekannt hätte. Aber Beulah Doil war schon vor einigen Jahren an AIDS gestorben.
Ohne sie war Doil feindselig und verletzend. Sogar bei der Auswahl der Geschworenen gab er seine bissigen Kommentare ab. »Nicht diesen dreckigen Schrauber!« verlangte er und meinte damit einen Automechaniker, den Steltzer gerade als Geschworenen hatte akzeptieren wollen. Da der Wunsch seines Mandanten vorging, mußte Steltzer seine Entscheidung rückgängig und von seinem kostbaren Einspruchsrecht Gebrauch machen, um den Mann als Geschworenen auszuschließen.
Als dann eine würdevolle schwarze Matrone gewisses Mitgefühl für Doil erkennen ließ, brüllte er: »Dieses blöde Niggerweib würd' die Wahrheit nicht erkennen, wenn sie von ihr überfahren würde!« Auch die Frau schied als Geschworene aus.
Daraufhin warnte der Richter, der sich bisher nicht eingemischt hatte, den Angeklagten: »Mr. Doil, ich möchte Ihnen raten, sich zu beherrschen und zu schweigen.«
In der folgenden Pause sprach Willard Steltzer, der sichtlich erregt den Arm seines Mandanten umklammerte, flüsternd auf Doil ein. Danach hörten die Störungen während der Auswahl der Geschworenen auf, um während des eigentlichen Verfahrens rasch wieder aufzuleben.
Dr. Sandra Sanchez, eine Gerichtsmedizinerin aus dem Dade County, befand sich im Zeugenstand. Sie hatte ausgesagt, das bei Elroy Doil gefundene Bowiemesser mit Blutspuren der beiden Mordopfer sei die Waffe, mit der Kingsley und Nellie Tempone erstochen worden seien.
Daraufhin sprang Doil mit wutverzerrtem Gesicht vom Verteidigertisch auf und brüllte: »Warum erzählst du hier Lügen, du gottverdammte Schlampe? Lauter Lügen! Das ist nicht mein Messer. Ich bin nicht mal dort gewesen!«
Richter Olivadotti, der Anwälten nichts durchgehen ließ, aber Angeklagten gegenüber sehr tolerant war, verwarnte ihn jetzt streng: »Mr. Doil, wenn Sie nicht still sind, muß ich zu extremen Maßnahmen greifen, um Sie zum Schweigen zu bringen. Ich warne Sie nachdrücklich!«
»Reden Sie keinen Scheiß, Richter«, wehrte Doil ab. »Ich hab' die Schnauze voll von diesem ganzen Bockmist. Vor diesem Gericht gibt's keine Gerechtigkeit für mich. Ihre Entscheidung steht doch längst fest, also richten Sie mich hin, verdammt noch mal! Bringen Sie's hinter sich!«
Der Richter wandte sich mit zornrotem Gesicht an Willard Steltzer: »Counsel, ich weise Sie an, mit Ihrem Mandanten zu reden und ihn zur Vernunft zu bringen. Dies ist meine letzte Warnung. Die Verhandlung ist für eine Viertelstunde unterbrochen.«
Nach der Pause verfolgte Doil unruhig, aber schweigend die Aussagen zweier Beamter von der Spurensicherung. Aber als dann Ainslie in den Zeugenstand trat und die Festnahme des Verdächtigen vor dem Haus des Ehepaars Tempone schilderte, explodierte Doil förmlich. Er sprang von seinem Platz auf, stürmte durch den Saal, griff Ainslie tätlich an und beschimpfte ihn mit wüsten Ausdrücken. »Verfluchter, lügnerischer Cop... Ich bin nicht mal dort gewesen... Scheißpriester, niederträchtiger. Gott haßt dich!... Hurensohn, Lügner...«
Während Doil auf ihn einprügelte, hob Ainslie nur schützend die Arme, ohne zurückzuschlagen. Im nächsten Augenblick stürzten sich zwei Gerichtsdiener und ein Gefängniswärter auf den Tobenden. Sie zerrten Doil von Ainslie weg, drehten ihm gewaltsam die Arme auf den Rücken, legten ihm Handschellen an und warfen ihn auf den Bauch.
Richter Olivadotti vertagte die Verhandlung erneut.
Als sie wieder aufgenommen wurde, saß Elroy Doil gefesselt und geknebelt in einem massiven Lehnstuhl. Der Richter sprach ihn streng an.
»Mr. Doil, Sie sind der erste Angeklagte, den ich so habe ruhigstellen lassen, und ich bedaure diese Maßnahme sehr. Aber ihr ungebührliches Verhalten und Ihre verbalen Ausfälle lassen mir keine andere Wahl. Kommt Ihr Anwalt jedoch morgen früh vor der Verhandlung zu mir und bringt mir Ihr feierliches Versprechen, daß Sie sich bis zum Ende des Verfahrens anständig benehmen werden, überlege ich mir, auf solche Zwangsmaßnahmen zu verzichten. Aber lassen Sie sich warnen! Sie werden keine zweite Chance bekommen, falls Sie Ihr Versprechen nicht halten; dann bleiben diese Zwangsmaßnahmen bis zum Abschluß des Verfahrens bestehen.«
Am nachten Tag überbrachte Steltzer das Versprechen seines Mandanten, und der Knebel wurde aus Doils Mund entfernt, während seine Hände gefesselt blieben. Aber nach kaum einer Stunde sprang der Angeklagte erneut auf und brüllte den Richter an: »Fick dich ins Knie, Arschloch!« Daraufhin wurde der Knebel wieder in Doils Mund gesteckt und blieb bis zum Ende des Verfahrens dort.
In beiden Fällen belehrte Richter Olivadotti die Geschworenen, nachdem er diese Maßnahmen angeordnet hatte: »Die von mir veranlaßten Zwangsmaßnahmen gegen den Angeklagten dürfen sich nicht auf Ihren Urteilsspruch auswirken. Sie haben hier nur die vorgelegten Beweise zu würdigen.«
Ainslie erinnerte sich daran, der Meinung gewesen zu sein, es sei fast unmöglich, daß die Geschworenen Doils Auftreten vor Gericht ignorierten. Jedenfalls gelangten sie nach sechs Verhandlungstagen und knapp fünfstündiger Beratung zu dem einstimmigen Urteil: »Schuldig wegen Mordes.«
Darauf folgte das unvermeidliche Todesurteil. Nach dem Prozeß gegen ihn beharrte Doil weiter darauf, unschuldig zu sein, verweigerte aber die Mitwirkung an einem Revisionsverfahren und erteilte auch anderen keine Vollmacht, in seinem Namen in Revision zu gehen. Trotzdem waren noch unzählige bürokratische Formalitäten zu erledigen, bevor schließlich ein Hinrichtungsdatum festgelegt wurde. Dieses langwierige Verfahren zwischen Urteilsspruch und Hinrichtung dauerte ein Jahr und sieben Monate.
Aber nun war unaufhaltsam der Exekutionstermin gekommen - und mit ihm eine quälende Frage: Was wollte Doil Ainslie im Angesicht des Todes mitteilen?
Falls Sie's rechtzeitig schafften...
Jorge raste weiter durch Regen und Nebel auf dem Highway 441 nach Norden.
Ainslie sah auf die Uhr am Armaturenbrett: 5.48 Uhr.
Er griff nach Notizblock und Mobiltelefon, dann tippte er eine Nummer ein. Gleich nach dem ersten Klingeln meldete sich eine Männerstimme.
»Staatsgefängnis.«
»Lieutenant Hambrick, bitte.«
»Am Apparat, sind Sie Sergeant Ainslie?«
»Ja, Sir. Ungefähr zwanzig Minuten entfernt.«
»Nun, Sie sind spät dran, aber wir tun unser Bestes, sobald Sie eintreffen. Aber Sie verstehen, daß nichts verschoben werden kann?«
»Das weiß ich, Sir.«
»Sind Sie schon bei Ihrem Begleitfahrzeug?«
»Nein... Augenblick! Vor uns sehe ich eine Ampel.«
Jorge nickte heftig, als zwei grüne Leuchten in Sicht kamen.
»An der Ampel biegen Sie rechts ab«, sagte Hambrick. »Der Streifenwagen steht um die Ecke. Trooper Sequiera wird eben verständigt. Er fährt los, sobald Sie abbiegen.«
»Danke, Lieutenant.«
»Okay, passen Sie auf. Bleiben Sie dicht hinter Sequiera. Sie können unser äußeres Tor, das Haupttor und die beiden Kontrollstellen dahinter ohne Halt passieren. Ein Wachturm richtet seinen Scheinwerfer auf Sie, aber Sie fahren trotzdem weiter und halten erst vor dem Eingang des Verwaltungsgebäudes an. Dort warte ich auf Sie. Haben Sie das alles?«
»Ich hab's.«
»Sie sind vermutlich bewaffnet, Sergeant?«
»Ja, das bin ich.«
»Dann gehen wir sofort in die Sicherheitszentrale, wo Sie Ihre Dienstwaffe mit Munition und Ihre Polizeiplakette abgeben. Wer ist Ihr Fahrer?«
»Detective Jorge Rodriguez.«
»Er bekommt seine Anweisungen, sobald Sie hier sind. Noch etwas, Sergeant: Sie müssen sich verdammt beeilen, okay?«
»Das weiß ich, Lieutenant. Danke.«
Ainslie sah zu Jorge hinüber. »Haben Sie das alles mitgekriegt?«
»Jedes Wort, Sergeant.«
Die Ampel vor Ihnen sprang auf Rot um, aber Jorge achtete nicht darauf. Er bremste kaum, als er mit quietschenden Reifen rechts abbog. Vor ihnen fuhr bereits ein schwarzgelber Mercury Marquis der Highway Patrol mit eingeschaltetem Blinklicht an. Der blauweiße Streifenwagen aus Miami setzte sich dahinter, und beide Fahrzeuge verschmolzen in Sekundenschnelle zu einer einzigen grell aufblitzenden Lichterscheinung, die in die Nacht davonraste.
Als Ainslie später versuchte, dieses letzte Teilstück ihrer Sechshundertfünfzig-Kilometer-Fahrt zu rekonstruieren, stellte er fest, daß er sich nur an vage Momentaufnahmen erinnern konnte. Seiner Einschätzung nach legten sie die letzten fünfunddreißig Kilometer auf engen, kurvenreichen Straßen in weniger als vierzehn Minuten zurück. Einmal, das sah er zufällig, zeigte der Tachometer über hundertvierzig Stundenkilometer an.
Einige markante Punkte kannte Ainslie von früheren Besuchen. Erst die Kleinstadt Waldo, danach der Gainesville Airport rechts auf der Straße; beide schienen sie so rasch passiert zu haben, daß er sie übersehen hatte. Dann kam Starke, die graue Schlafstadt von Raiford. Er wußte, daß es hier bescheidene Häuser, einfache Läden, billige Motels und heruntergekommene Tankstellen gab, aber er sah nichts davon. Hinter Starke ein dunkles Straßenstück... vorbeiflitzende Bäume... alles in rasendem Tempo verschwimmend.
»Wir sind da«, sagte Jorge. »Dort vorn ist Raiford.«
5
Das Florida State Prison erinnerte an eine gewaltige Festung und das war es auch. Ebenso wie die beiden anderen Gefängnisse unmittelbar dahinter.
Eigentümlicherweise lag das Staatsgefängnis offiziell in Starke, nicht in Raiford. Die beiden anderen, die tatsächlich in Raiford lagen, waren das Raiford Prison und das Union Correctional Institute. Aber im Florida State Prison befand sich die Death Row, und dort fanden alle Hinrichtungen statt.
Vor Ainslie und Jorge türmte sich eine gigantische Aneinanderreihung hoher, abweisend nüchterner Stahlbetonbauten auf: ein anderthalb Kilometer langer Komplex mit endlosen Reihen schmaler, massiv vergitterter Zellenfenster. In dem funktionalen eingeschossigen Gebäude, das aus der Baumasse herausragte, war die Gefängnisverwaltung untergebracht. Ein weiterer alleinstehender Stahlbetonbau - zwei Stockwerke hoch und fensterlos - enthielt die Gefängniswerkstätten.
Der Komplex war von drei massiven Maschendrahtzäunen umgeben: jeder zehn Meter hoch und oben mit Stacheldrahtrollen versehen und von unter Strom stehenden Drähten gesichert. Entlang der Zäune standen in regelmäßigen Abständen insgesamt neun Wachtürme aus Stahlbeton, auf denen Posten, mit Gewehren, Maschinengewehren, Tränengas und Scheinwerfern ausgerüstet, Wache hielten. Von den Türmen aus konnten sie das ganze Gefängnis überblicken. Durch die beiden Korridore zwischen den Zäunen streiften freilaufende Wachhunde, darunter Schäferhunde und Pitbulls.
Als das Staatsgefängnis vor ihnen auftauchte, fuhren beide Streifenwagen langsamer, und Jorge, der den Komplex zum erstenmal sah, stieß einen halblauten Pfiff aus.
»Kaum zu glauben«, sagte Ainslie, »aber ein paar Kerle haben's tatsächlich geschafft, hier auszubrechen. Die meisten sind allerdings nicht sehr weit gekommen.« Ein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett - 6.02 Uhr - erinnerte ihn daran, daß Elroy Doil das Staatsgefängnis in weniger als einer Stunde auf dem schlimmsten Weg verlassen würde.
Jorge schüttelte den Kopf. »Wäre ich hier zu Hause, würde ich todsicher auszubrechen versuchen.«
Das äußere Tor und der angrenzende Parkplatz waren in grelles Scheinwerferlicht getaucht. Auf dem Parkplatz herrschte reger Betrieb - für diese Tageszeit sehr ungewöhnlich, aber das Interesse der Öffentlichkeit an Doils Hinrichtung hatte zahlreiche Reporter angelockt. Mindestens hundert weitere Zaungäste hatten sich dort versammelt und hofften auf irgendeine sensationelle Entwicklung. In der Nähe befanden sich mehrere Übertragungswagen von Fernsehstationen.
Wie gewohnt standen Demonstranten in kleinen Gruppen beisammen und skandierten Parolen. Manche trugen an Stangen befestigte Schilder, auf denen die heutige Hinrichtung und die Todesstrafe ganz allgemein angeprangert wurden; andere hielten brennende Kerzen in den Händen. Ainslie fragte sich, wie häufig die Demonstranten - falls überhaupt - an diejenigen dachten, die selbst keine Stimme mehr hatten: die Mordopfer.
Ainslie und Jorge fuhren am Parkplatz vorbei zum Haupttor, einer zweispurigen Ein- und Ausfahrt, an der uniformierte Wachen standen. Normalerweise mußten sich hier alle Besucher ausweisen und ihren Besuchszweck angeben. Aber diesmal winkten die Posten, die weiße Hemden und auffällige giftgrüne Hosen trugen, die beiden Streifenwagen durch. Gleichzeitig erfaßte ein Turmscheinwerfer die Fahrzeuge und geleitete sie in Richtung Verwaltungsgebäude. Ainslie und Jorge schirmten die Augen ab, um nicht geblendet zu werden.
Die Fahrzeuge wurden auch an den beiden inneren Kontrollstellen durchgewinkt und rollten bereits auf das Verwaltungsgebäude zu. Ainslie war schon mehrmals im Staatsgefängnis gewesen, um Häftlinge zu vernehmen, die als Zeugen benannt worden waren, aber bei keinem dieser Besuche war er so schnell in die innere Zone gelangt.
Der Streifenwagen der Highway Patrol hielt vor dem Eingang des Verwaltungsgebäudes an, und Jorge parkte mit dem blauweißen Fahrzeug dicht daneben.
Als Ainslie ausstieg, sah er einen großen, schlanken Mann in der Uniform eines Gefängniswärters mit den Rangabzeichen eines Lieutenant auf sich zukommen. Er war schätzungsweise Mitte Vierzig, trug eine Lesebrille und hatte auf der rechten Wange eine lange Narbe. Seine Stimme klang energisch und selbstbewußt, als er die Rechte ausstreckte und sagte: »Sergeant Ainslie, ich bin Hambrick.«
»Guten Morgen, Lieutenant. Danke für die Vorarbeit.«
»Kein Problem, aber kommen Sie gleich mit.« Der Lieutenant ging voraus und trabte einen hell beleuchteten Korridor entlang -die streng bewachte Verbindung zwischen den äußeren Sicherheitseinrichtungen und den gewaltigen Zellenblocks vor ihnen. Die beiden Männer blieben kurz stehen, um zwei elektrisch betätigte Stahlgitter und dann eine massive Stahltür zu passieren. Diese führte in den Hauptkorridor, der so breit wie eine vierspurige Schnellstraße war und durch alle sieben Zellenblocks des Staatsgefängnisses verlief.
Hambrick und Ainslie blieben vor der mit Stahlplatten und Panzerglas armierten Sicherheitszentrale stehen, in der zwei Wachen und ein weiblicher Lieutenant Dienst taten. Die Uniformierte schob ein Metallfach durch die Wand nach draußen; Ainslie legte seine Glock, eine 9mm-Pistole, das Magazin mit fünfzehn Schuß und seine Polizeiplakette hinein. Die Schublade wurde zurückgezogen, um ihren Inhalt in einem Safe zu deponieren, bis er Ainslie wieder ausgehändigt werden konnte. Niemand fragte nach dem Tonbandgerät unter seiner Jacke, das er während der Fahrt umgeschnallt hatte. Er beschloß, es nicht ungefragt zu erwähnen.
»Los, wir müssen weiter«, drängte Hambrick, aber in diesem Augenblick tauchte eine Gruppe von etwa zwanzig Menschen im Korridor auf und blockierte sie. Diese Neuankömmlinge waren gutgekleidete Besucher; alle wirkten ernst und konzentriert, während sie von Aufsehern eilig durch die Gänge geführt wurden. Hambrick sah zu Ainslie hinüber und formte mit den Lippen das Wort »Zeugen«.
Ainslie erkannte, daß die Gruppe zum Hinrichtungsraum unterwegs war: »zwölf angesehene Bürger«, wie es das Gesetz befahl, und weitere Personen, deren Anwesenheit der Gefängnisdirektor genehmigt hatte, wobei es immer mehr Bewerber als Sitzplätze gab. Die Höchstgrenze lag bei vierundzwanzig Personen. Die Zeugen würden sich irgendwo in der Nähe versammelt haben, um mit einem Bus ins Gefängnis gebracht zu werden. Ihre Anwesenheit war ein Zeichen dafür, daß die Vorbereitungen für 7.00 Uhr planmäßig liefen.
In dieser Gruppe erkannte Ainslie eine Senatorin und zwei Abgeordnete aus dem hiesigen Kongreß. Politiker konkurrierten darum, Hinrichtungen beiwohnen zu dürfen, weil sie hofften, ihre Anwesenheit bei solch bedeutsamen Demonstrationen des rechtsstaatlichen Systems werde ihnen Wählerstimmen einbringen. Dann verblüffte ihn der Anblick einer weiteren Zeugin: Commissioner Cynthia Ernst aus Miami, die einst eine wichtige Rolle in seinem Leben gespielt hatte. Aber eigentlich war klar, weshalb sie bei Animal Doils Hinrichtung dabei sein wollte.
Ihre Blicke trafen sich sekundenlang, und Ainslie fühlte, daß er unwillkürlich Luft holte. Diese Wirkung hatte sie jedesmal auf ihn. Und er spürte, daß sie sich seiner Gegenwart ebenfalls bewußt war, obwohl sie sich äußerlich nichts anmerken ließ. Als sie an ihm vorbeiging, blieb ihr Gesichtsausdruck kühl und gelassen.
In der nächsten Sekunde waren die Zeugen an ihnen vorbei, und Lieutenant Hambrick und Ainslie hasteten weiter.
»Der Superintendent stellt uns für das Gespräch mit Doil sein Büro im Todestrakt zur Verfügung«, sagte Hambrick. »Wir bringen ihn dorthin zu Ihnen. Er hat die Vorbereitungen schon hinter sich.« Der Lieutenant sah auf seine Armbanduhr. »Sie haben ungefähr eine halbe Stunde Zeit, nicht viel mehr. Waren Sie übrigens schon mal bei einer Hinrichtung dabei?«
»Ja, einmal.« Das war drei Jahre her. Auf Bitten der Hinterbliebenen hatte Ainslie ein junges Ehepaar begleitet, das sich dafür entschieden hatte, bei der Hinrichtung eines Gewohnheitsverbrechers dabeizusein, der die achtjährige Tochter der beiden vergewaltigt und dann ermordet hatte. Ainslie, der den Täter gefaßt hatte, war damit einer dienstlichen Verpflichtung nachgekommen, die ihm jedoch noch lange danach zu schaffen machte.
»Heute sehen Sie eine weitere«, sagte Hambrick. »Doil hat Sie als Zeugen benannt, und das Gesuch ist genehmigt worden.«
»Mich hat keiner gefragt«, wandte Ainslie ein. »Aber darauf kommt's vermutlich nicht an.«
Hambrick zuckte mit den Schultern. »Ich habe mit Doil gesprochen. Er scheint ein besonderes Verhältnis zu Ihnen zu haben. Ich weiß nicht, ob Bewunderung das richtige Wort ist; Respekt wäre wohl besser. Sind Sie ihm irgendwie nähergekommen?«
»Niemals!« stellte Ainslie nachdrücklich fest. »Ich habe den Hundesohn wegen Mordes verhaftet - das war alles. Außerdem haßt er mich. Während der Verhandlung hat er mich tätlich angegriffen und wüst beschimpft.«
»Spinner wie Doil wechseln ihre Einstellung wie Sie und ich die Gänge im Auto. Er denkt jetzt ganz anders von Ihnen.«
»Macht keinen Unterschied. Ich bin nur hier, um ein paar Antworten zu hören, bevor er stirbt. Ansonsten empfinde ich null für den Kerl.«
Sie gingen weiter, während Hambrick das Gehörte verarbeitete. Dann fragte er: »Stimmt es, daß Sie früher Geistlicher gewesen sind?«
»Ja. Hat Doil Ihnen das erzählt?«
Der Lieutenant nickte. »Aus seiner Sicht sind Sie das noch immer. Ich bin dabeigewesen, als er gestern abend nach Ihnen verlangt hat. Er hat dabei aus der Bibel zitiert - irgendwas mit Rache und Vergeltung.«
»Ja«, bestätigte Ainslie, »das ist aus dem Brief des Paulus an die Römer: >Gebet Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.<«
»Genau! Danach hat Doil Sie als >Gottes rächenden Engel< bezeichnet, und da wurde mir bewußt, daß Sie ihm mehr bedeuten als ein Geistlicher. Hat Pater Uxbridge Ihnen das alles am Telefon erzählt?«
Ainslie schüttelte den Kopf; er fand diese Umgebung deprimierend und wünschte sich, er säße mit Karen und Jason daheim beim Frühstück. Nun, immerhin hatte er jetzt eine Erklärung für Ray Uxbridges Feindseligkeit am Telefon und seine Ermahnung, ja nicht aus der Rolle zu fallen.
Unterdessen hatten sie den allgemein als Death House bezeichneten Todestrakt erreicht. Er umfaßte drei Geschosse eines Zellenblocks und enthielt die Death Row, in der zum Tode Verurteilte lebten, solange ihr Fall durch die Instanzen ging, und später auf ihre Hinrichtung warteten. Ainslie kannte auch die übrigen Einrichtungen: die spartanische »Bereitschaftszelle«, in der jeder Todeskandidat die letzten fünfundsechzig Stunden seines Lebens unter ständiger Beobachtung verbrachte; den Vorbereitungsraum, in dem sein Kopf und das rechte Bein rasiert wurden, damit sie elektrisch besser leiteten; und schließlich den Hinrichtungsraum mit dem elektrischen Stuhl, mehreren Sitzreihen für die Zeugen und der von außen nicht einsehbaren Scharfrichterkabine.
Im Hinrichtungsraum, das wußte Ainslie, liefen seit einigen Stunden die letzten Vorbereitungen. Als erster würde der Chefelektriker eingetroffen sein, um den elektrischen Stuhl an die Stromversorgung anzuschließen und die Spannung, die Sicherungen und den Schalter zu überprüfen, mit dem der Scharfrichter, der eine schwarze Robe mit Kopfhaube trug, zweitausend Volt in automatischen Achtsekundenstößen in den Kopf des Verurteilten schickte. Die starken Stromstöße führten innerhalb von zwei Minuten den Tod herbei - nach angeblich sofort und schmerzlos eintretender Bewußtlosigkeit. Ob der Vorgang wirklich schmerzlos war, stand nicht fest, aber diese Zweifel ließen sich nicht ausräumen, weil noch niemand auf dem elektrischen Stuhl überlebt hatte, um darüber Auskunft zu geben.
Ebenfalls im Hinrichtungsraum, in Sichtweite des elektrischen Stuhls, befand sich ein rotes Telefon. Unmittelbar vor der Hinrichtung sprach der Gefängnisdirektor an diesem Telefon mit dem Gouverneur des Bundesstaates Florida, um seine Genehmigung für die bevorstehende Hinrichtung einzuholen. Der Gouverneur konnte seinerseits den Direktor noch Stunden vor der Betätigung des Todesschalters anrufen und einen Aufschub der Exekution anordnen - vielleicht wegen in letzter Minute aufgetauchter neuer Beweise, einer Entscheidung des Obersten Gerichts oder sonstiger juristischer Gründe. Das hatte es schon früher gegeben, und es konnte auch heute passieren.
Eine ungeschriebene und inoffizielle Regel besagte, daß jede Hinrichtung um eine Minute hinausgezögert wurde - eine Vorsichtsmaßnahme für den Fall, daß das rote Telefon einige Sekunden zu spät klingelte. Daher würde die für 7.00 Uhr angesetzte Hinrichtung Doils in Wirklichkeit erst um 7.01 Uhr stattfinden.
»Wir sind da«, kündigte Hambrick an. Sie standen vor einer massiven Holztür, die er aufsperrte, bevor er den Lichtschalter betätigte. Aufflammende Leuchtstoffröhren erhellten einen fensterlosen quadratischen Raum mit etwa sieben Meter Seitenlänge. Die Einrichtung bestand aus einem schmucklosen Holzschreibtisch, hinter dem ein Drehstuhl mit hoher Rückenlehne stand, einem schweren Metallstuhl, der vor dem Schreibtisch auf dem Fußboden festgeschraubt war, und einem kleinen Beistelltisch. Das war alles.
»Der Super benutzt dieses Büro nicht oft«, sagte Hambrick. »Nur vor Hinrichtungen.« Er deutete auf den Drehstuhl hinter dem Schreibtisch. »Dort sitzen Sie, Sergeant. Ich bin gleich wieder da.«
Sobald der Lieutenant hinausgegangen war, stellte Ainslie das unter seiner Jacke verborgene Tonbandgerät an.
Hambrick war in weniger als fünf Minuten zurück. Begleitet wurde er von zwei Gefängniswärtern, die eine Gestalt, die Ainslie erkannte, halb führten und halb stützten. Doil trug eine Fußkette und Handschellen, die an einem straff angezogenen Ledergurt befestigt waren. Hinter diesem Trio tauchte Pater Uxbridge auf.
Ainslie hatte Elroy Doil seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen - seit der Urteilsverkündung durch Richter Olivadotti. In der Zwischenzeit war in Doil eine dramatische Veränderung vor sich gegangen. Vor Gericht war er körperlich robust, groß und kräftig erschienen und entsprechend aggressiv aufgetreten, aber jetzt schien sein Zustand sich ins Gegenteil verkehrt zu haben. Sein Rücken war krumm, die Schultern hingen herab, sein Körper war abgemagert, sein Gesicht hager und eingefallen. Aus seinem unstet flackernden Blick sprach nicht mehr Aggressivität, sondern nervöse Unsicherheit. Sein Kopf war für die Hinrichtung kahlrasiert worden, und diese unnatürliche rosa Vollglatze verstärkte sein elendes Aussehen.
Der Anstaltsgeistliche trat vor; er trug eine Soutane und hielt ein Brevier in der Hand. Pater Uxbridge war ein großer, breitschultriger Mann mit edlen Gesichtszügen und einer Ausstrahlung, an die Ainslie sich von früheren Begegnungen her erinnerte. Er wandte sich an Doil, ohne Ainslie eines Blickes zu würdigen.
»Mr. Doil, ich bin bereit, mit Ihnen auszuharren, um Ihnen Gottes Trost zu spenden, solange es die Umstände gestatten. Ich möchte Sie nochmals daran erinnern, daß Sie nicht verpflichtet sind, irgendeine Aussage zu machen oder Fragen zu beantworten.«
»Augenblick!« sagte Ainslie, sprang aus dem Drehstuhl auf und kam um den Schreibtisch herum. »Doil, ich bin acht Stunden lang aus Miami hergefahren, weil Sie mich sprechen wollten. Pater Uxbridge hat gesagt, Sie hätten mir etwas mitzuteilen.«
Ainslie fiel auf, daß Doils Hände ineinanderverkrampft und seine Handgelenke von den engen Handschellen aufgeschürft waren. Er sah zu Hambrick hinüber und zeigte auf die Handschellen. »Können Sie ihm die nicht abnehmen lassen, während wir miteinander reden?«
Der Lieutenant schüttelte den Kopf. »Sorry, Sergeant, das geht nicht. Seit Doil hier ist, hat er drei unserer Leute zusammengeschlagen. Einer war sogar krankenhausreif.«
Ainslie nickte. »Okay, dann lieber nicht.«
Doil hob den Kopf, als Ainslie sprach. Vielleicht lag es an seinem humanen Vorschlag, ihm die Handschellen abzunehmen, oder am Tonfall von Ainslies Stimme... jedenfalls sank Doil plötzlich auf die Knie und wäre nach vorn gefallen, wenn die Wärter ihn nicht gestützt hätten. Im nächsten Augenblick schob er sein Gesicht an eine Hand Ainslies heran und bemühte sich vergeblich, sie zu küssen. Zugleich murmelte er undeutlich: »Vergeben Sie mir, Pater, denn ich habe gesündigt...«
Pater Uxbridge wollte sich mit zornrotem Gesicht zwischen die beiden drängen. »Nein, nein, nein!« schrie er Ainslie an. »Das ist Gotteslästerung!« An Doil gewandt fügte er eindringlich hinzu: »Dieser Mann ist kein... «
»Klappe halten!« knurrte Ainslie ihn an. Zu Doil sagte er ruhiger: »Ich bin kein Geistlicher mehr. Das wissen Sie. Aber wenn Sie mir etwas gestehen wollen, bin ich bereit, Ihnen als Mensch zuzuhören.«
»Sie dürfen ihm keine Beichte abnehmen!« protestierte Uxbridge erneut. »Dazu haben Sie kein Recht!«
Doil wandte sich wieder an Ainslie. »Pater, ich habe...«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, daß er kein Pater ist!« rief Uxbridge erregt.
Doil murmelte etwas, und Ainslie verstand die Worte: »Er ist Gottes rächender Engel...«
»Das ist Gotteslästerung!« wiederholte Uxbridge. »Das lasse ich nicht zu!«
Doil sah sich plötzlich nach ihm um. »Verpiß dich!« fauchte er Uxbridge an. Dann rief er Hambrick und den beiden Wärtern zu: »Schafft dieses Arschloch hier raus!«
Der Lieutenant wandte sich an Uxbridge. »Sie müssen leider gehen, Pater. Wenn er Sie nicht dabeihaben will, ist das sein gutes Recht.«
»Ich gehe nicht!«
Hambricks Stimme klang schärfer. »Bitte, Pater. Ich möchte Sie nicht gewaltsam entfernen lassen müssen.«
Auf sein Zeichen hin ließ einer der beiden Wärter Doil los und ergriff Uxbridges Arm.
Der Pater riß sich los. »Fassen Sie mich nicht an! Ich bin ein Priester, ein Mann Gottes!« Während der Gefängniswärter unsicher zögerte, baute Uxbridge sich vor Hambrick auf. »Das werden Sie noch bereuen! Ich werde den Gouverneur persönlich von Ihrem unmöglichen Verhalten in Kenntnis setzen.« Ainslie fauchte er an: »Die Kirche kann froh sein, Sie losgeworden zu sein.« Nach einem aufgebrachten letzten Blick in die Runde verließ er endlich den Raum.
Elroy Doil, der weiter vor Ainslie auf den Knien lag, begann erneut: »Vergeben Sie mir, Pater, denn ich habe gesündigt. Zuletzt gebeichtet hab' ich vor... Scheiße, das weiß ich nicht mehr.«
Unter anderen Umständen hätte Ainslie wahrscheinlich gelächelt, aber jetzt war er hin- und hergerissen. Er hatte ein schlechtes Gewissen. Er wollte hören, was Doil zu sagen hatte aber nicht als Hochstapler.
Dann machte Hambrick nach einem Blick auf seine Uhr einen Vorschlag, aus dem gesunder Menschenverstand sprach. »Wollen Sie alles hören, sollten Sie ihn reden lassen, wie er will.«
Ainslie zögerte noch immer und wünschte sich, dieser Augenblick wäre unter anderen Umständen eingetreten.
Aber er wollte es wissen; er wollte Erkenntnisse und Einsichten in bezug auf so viele Ereignisse, die vor so langer Zeit begonnen hatten.
Angefangen hatte alles vor zwei Jahren in Coconut Grove, einem Stadtteil von Miami - an einem kühlen Januarmorgen kurz nach sieben Uhr.