DRITTER TEIL

1

In dem karg möblierten, fensterlosen Raum, in den Elroy Doil gebracht worden war, kehrten Malcolm Ainslies Gedanken jetzt aus der Vergangenheit zu der bleichen, ausgezehrten Gestalt zurück, die auf einem festgeschraubten Metallstuhl vor ihm saß, eine Fußkette und an einem Ledergurt befestigte Handschellen trug und von Gefängniswärtern bewacht wurde. Dieser Mann unterschied sich so auffällig von dem kräftigen und aggressiven Doil von früher, daß Ainslie kaum glauben konnte, daß dies wirklich der Todeskandidat war. Aber Doils Benehmen zerstreute rasch alle Zweifel.

In dem Büro herrschte Stille, seit Pater Ray Uxbridge den Raum nach Doils erregter Forderung »Schafft dieses Arschloch hier raus!« unter Protest verlassen hatte.

Und Lieutenant Hambricks vernünftiger Ratschlag - Wollen Sie alles hören, sollten Sie ihn reden lassen, wie er will - schien noch in der Luft zu hängen.

»Wann Sie zum letztenmal gebeichtet haben«, sagte Ainslie zu Doil, »spielt jetzt keine Rolle.«

Doil nickte, dann wartete er schweigend. Ainslie, der nur allzugut wußte, worauf er wartete, rezitierte widerstrebend und mit dem peinlichen Gefühl, ein Hochstapler zu sein: »Möge der Herr in deinem Herzen und auf deinen Lippen sein, damit du deine Sünden aufrichtig bekennen kannst.«

Doil begann sofort: »Ich hab' ein paar Leute umgebracht, Pater.«

Ainslie beugte sich nach vorn. »Welche Leute? Wie viele?«

»Vierzehn sind's gewesen.«

Ainslie fühlte instinktiv eine Woge der Erleichterung in sich aufsteigen. Die eben gemachte Aussage würde die kleine, aber lautstarke Gruppe, die weiter behauptete, Doil sei unschuldig verurteilt worden, zum Schweigen bringen. Ainslie sah zu Hambrick hinüber, der als Zeuge aussagen konnte, und dachte auch an sein verstecktes Tonbandgerät, das längst mitlief.

Die Mordkommission in Miami, die wegen vier Doppelmorden ermittelt und mit ihren Kollegen in Clearwater und Fort Lauderdale zusammengearbeitet hatte, um zwei weitere aufzuklären, konnte sich in ihrer Einschätzung bestätigt fühlen. Dann fiel Ainslie etwas ein. »Wen haben Sie zuerst umgebracht?«

»Die Ikeis - zwei Japse in Tampa.«

»Wen?« fragte Ainslie erstaunt. Diesen Namen hatte er noch nie gehört.

»Zwei alte Furzer, Ikei.« Unverständlicherweise kicherte Doil, als er diesen Namen buchstabierte.

»Sie haben sie umgebracht? Wann?«

»Weiß ich nicht mehr... Oh, ungefähr ein bis zwei Monate, bevor ich die Spics im Wohnwagen abgemurkst hab'.«

»Die Esperanzas?«

»Yeah, die.«

Als Doil vierzehn Morde gestanden hatte, war Ainslie davon ausgegangen, zu diesen Opfern gehörten auch Clarence und Florentina Esperanza, die vor siebzehn Jahren im Happy Haven Trailer Park in West Dade ermordet worden waren. Obwohl spätere Ermittlungen seine mittlerweile eingestandene Schuld bewiesen hatten, war Doil als Jugendlicher nicht wegen dieser Tat angeklagt worden.

Rechnete man die Ikeis jedoch dazu - ein Verbrechen, von dem die Mordkommission in Miami nach Ainslies Informationen nie gehört hatte -, stimmte etwas mit den Zahlen nicht.

Ainslies Verstand arbeitete auf Hochtouren. Würde Doil besonders jetzt, wo er den Tod vor Augen hatte, einen Mord gestehen, den er nicht verübt hatte? Unvorstellbar. Hatte er jedoch die Ikeis ermordet und behauptete, vierzehn Opfer auf dem Gewissen zu haben, blieben zwei Morde ungeklärt.

Aber alle - Polizei, Staatsanwaltschaft, Medien, Öffentlichkeit - waren der Überzeugung, Doil habe vierzehn Morde begangen: an den Ehepaaren Esperanza, Frost, Larsen, Hennenfeld, Urbina, Ernst und Tempone.

War ein Doppelmord von einem anderen Täter verübt worden, wenn Doil die Wahrheit sagte? Aber welcher?

Ainslie dachte unweigerlich an seinen Sergeant Brewmaster gegenüber geäußerten instinktiven Verdacht, der Mord an den Ernsts sei vielleicht nicht das Werk des Serienmörders, nach dem sie fahndeten. Vorläufig schob er diesen Gedanken jedoch beiseite; dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um persönliche Theorien aufzustellen. Zuvor waren alle seine Kollegen anderer Meinung gewesen, und er hatte sich der Mehrheit gebeugt. Aber jetzt mußte er's irgendwie schaffen - als Vertreter aller Standpunkte, auch seines eigenen -, Doil die Wahrheit zu entlocken.

Ainslie sah auf seine Uhr. So wenig Zeit! Weniger als eine halbe Stunde bis zu Doils Hinrichtung, und er würde schon vorher abgeholt werden... Er gab sich einen Ruck und stählte seine Stimme, um Doil unter Druck zu setzen, wobei er an Pater Kevin O'Briens Worte dachte: Elroy ist ein pathologischer Lügner gewesen. Er hat sogar ohne Zwang gelogen.

Ainslie hatte die Priesterrolle nie spielen wollen; jetzt wurde es Zeit, sie wieder aufzugeben: »Das mit den Ikeis und den Esperanzas ist doch lauter Scheiß!« sagte er verächtlich. »Warum sollte ich Ihnen das glauben? Wo sind die Beweise?«

Doil überlegte kurz. »Im Wohnwagen der Esperanzas muß ich 'ne goldene Geldscheinklammer verloren haben. Mit den eingravierten Buchstaben >HB<. Die hab' ich bei 'nem Raubüberfall erbeutet - ein paar Monate, bevor ich die Schlitzaugen umgelegt hab'. Daß ich sie verloren hatte, hab' ich erst später gemerkt.«

»Und die Leute in Tampa? Welchen Beweis gibt's da?«

Doil verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, die ein Grinsen sein sollte. »Gleich neben dem Haus der Ikeis liegt ein Friedhof.

Ich hab' das Messer loswerden wollen, hab's in einem Grab verbuddelt. Wissen Sie, was auf dem Grabstein gestanden hat? Derselbe Familienname wie meiner! Ich hab' ihn gesehen und gewußt, daß ich mich daran erinnern würde, wenn ich das Scheißmesser mal zurückhaben wollte. Aber ich hab's mir nie mehr geholt.«

»Sie haben das Messer in einem Grab versteckt? Tief vergraben?«

»Nein, nicht tief.«

»Warum haben Sie immer alte Leute umgebracht?«

»Die haben's lange gut gehabt, sind voller Sünde gewesen, Pater. Ich hab's für Gott getan. Aber ich hab' sie immer erst beobachtet. Lauter reiche Bonzen.«

Ainslie äußerte sich nicht dazu. Diese Antworten waren so verständlich - oder unverständlich - wie alle sonstigen wirren Gedankengänge Doils. Aber sagte er wenigstens teilweise die Wahrheit? Vermutlich, aber Ainslie nahm ihm die Geschichte mit dem vergrabenen Messer nicht ab, und die Sache mit der Geldscheinklammer erschien ihm ebenfalls zweifelhaft. Und das Zahlenproblem war auch noch nicht gelöst. Er sprach die einzelnen Fälle an.

»Haben Sie Mr. und Mrs. Frost im Hotel Royal Colonial ermordet?«

Doil nickte mehrmals.

»Sie haben genickt. Wenn das ja heißen soll, sagen Sie's bitte.«

Doil starrte Ainslie prüfend an. »Sie haben ein Tonbandgerät unter der Jacke, stimmt's?«

»Ja«, bestätigte Ainslie, der sich darüber ärgerte, daß er sich verraten hatte.

»Spielt keine Rolle. Yeah, die beiden hab' ich auch umgelegt.«

Als das Tonbandgerät erwähnt wurde, sah Ainslie zu Lieutenant Hambrick hinüber, der mit den Schultern zuckte. Jetzt fuhr Ainslie fort.

»Ich möchte Sie nach weiteren Namen fragen.«

»Okay.«

Ainslie ging weiter die Liste durch - Larsen, Hennenfeld, Urbina. In allen Fällen gestand Doil die Morde. »Commissioner und Mrs. Ernst.«

»Nein, die beiden hab' ich nicht umgebracht. Darum wollte ich... «

»Augenblick!« unterbrach Ainslie ihn scharf. Er dachte an den möglichen gegenteiligen Standpunkt, den er ebenfalls vertreten mußte, und fuhr fort: »Elroy, angesichts dessen, was bald passieren wird, müssen Sie mir die Wahrheit sagen. Die Ernsts sind wie die anderen umgebracht worden - genau wie alle anderen Ehepaare. Und Sie haben sich in Bay Point, wo sie gewohnt haben, ausgekannt. Sie haben dort Waren ausgeliefert; Sie haben das Sicherheitssystem gekannt und gewußt, wie man dort reinkommt. Und am Tag nach dem Doppelmord haben Sie Ihren Job bei Suarez Motors aufgegeben und sind nicht einmal mehr zurückgekommen, um sich Ihren Lohnscheck zu holen.«

Doil war sichtbar erregt. »Ich hab' von diesen Morden gehört, hab' sie im Scheißfernsehen gesehen und mir ausgerechnet, daß man sie mir wegen der anderen in die Schuhe schieben würde.

Aber ich bin's nicht gewesen. Ich schwör's Ihnen, Pater! Dafür will ich Vergebung. Ich bin's nicht gewesen!«

Ainslie ließ nicht locker. »Oder sagen Sie das, weil die Ernsts wichtige Leute gewesen sind, die... «

»Nein, nein, nein!« kreischte Doil mit hochrotem Kopf und sich überschlagender Stimme. »Scheiße, das stimmt nicht! Ich hab' die anderen umgelegt, aber ich will mir nichts anhängen lassen, was ich nicht getan hab'!«

Lüge oder Wahrheit? Dem äußeren Eindruck nach wirkte Doil überzeugend, fand Ainslie. Aber er hätte ebensogut mit einem Geldstück Kopf oder Zahl spielen können.

Er drängte weiter. »Gut, klären wir etwas anderes. Gestehen Sie, das Ehepaar Tempone ermordet zu haben?«

»Yeah, yeah, das hab' ich getan.«

Trotz erdrückender Beweislast hatte Doil diese Tat vor Gericht hartnäckig geleugnet.

»Alle diese Morde - diese vierzehn, die Sie zugeben -, bereuen Sie die?«

»Zum Teufel mit denen! Die sind mir scheißegal! Die haben mir Spaß gemacht, wenn Sie's genau wissen wollen. Sie sollen mir die anderen vergeben, an denen ich nicht schuldig bin!«

Diese Forderung war so unsinnig, daß Ainslie sich fragte, ob es nicht richtiger gewesen wäre, Doil vor dem Prozeß gegen ihn für unzurechnungsfähig zu erklären.

Ainslie versuchte weiter, ihm mit logischen Argumenten beizukommen, indem er sagte: »Haben Sie Mr. und Mrs. Ernst nicht ermordet - wie Sie behaupten -, brauchen Sie keine Vergebung. Außerdem könnte ein Geistlicher Ihnen keine Absolution erteilen, bevor Sie alles bereuen, was Sie getan haben, und Ihre Buße auf sich nehmen - und ich bin kein Priester.«

Noch bevor Ainslie ausgesprochen hatte, starrte Doil ihn flehend an. »Ich muß sterben!« sagte er mit vor Angst fast erstickter Stimme. »Tun Sie was für mich! Geben Sie mir irgendwas!«

Lieutenant Hambrick reagierte zuerst. Der junge schwarze Vollzugsbeamte funkelte Ainslie an. »In weniger als fünf Minuten wird er abgeführt. Was Sie gewesen sind oder nicht, was Sie jetzt sind, spielt keine Rolle. Sie wissen noch immer genug, um etwas für ihn zu tun. Stecken Sie Ihren gottverdammten Stolz weg und tun Sie's!«

Ein guter Mann, dieser Hambrick, fand Ainslie. Und er kam zu dem Schluß, daß Doil sich zu diesem Zeitpunkt durch nichts mehr von seiner Geschichte würde abbringen lassen.

Er konzentrierte sich, um die Erinnerung heraufzubeschwören, und sagte dann: »Sprich mir nach: >Vater, ich gebe mich in deine Hände; tue mit mir, was dir gefällt.««

Doil streckte seine Hände aus, soweit es die an dem Ledergurt befestigten Handschellen zuließen. Ainslie trat vor ihn hin, und Doil legte seine Hände auf Ainslies. Doil erwiderte Ainslies Blick, während er seine Worte mit klarer Stimme wiederholte.

Ainslie sprach weiter: »>Was du auch tun magst, ich danke dir dafür: Ich bin zu allem bereit, ich nehme alles an.<«

Das war Foucaulds Gebet der Hingabe - ein Geschenk an alle Sünder als Hinterlassenschaft des Vicomte Charles Eugene de Foucauld, eines französischen Adligen, der erst Offizier, dann ein bescheidener Geistlicher gewesen war, den sein mit Studium und Gebet in der Sahara verbrachtes Leben unvergeßlich gemacht hatte.

Ainslie konnte nur hoffen, daß sein Gedächtnis ihn nicht im Stich lassen würde. Er sprach langsam Zeile für Zeile:

»Nur dein Wille soll an mir geschehen und an allen deinen Geschöpfen - Nichts anderes begehre ich, o Herr, in deine Hände befehle ich meine Seele.«

Dann herrschte eine Sekunde lang Schweigen, bevor Hambrick verkündete: »Es ist soweit.« Zu Ainslie gewandt sagte er: »Mr. Bethel wartet draußen. Er bringt Sie zu Ihrem Zeugensitz. Wir müssen uns beeilen.«

Die beiden Gefängniswärter hatten Elroy Doil bereits hochgezogen. Im Gegensatz zu seiner anfänglichen Erregung wirkte er eigenartig gefaßt, als er sich, durch seine Fußkette in der Bewegung eingeschränkt, willenlos zur Tür führen ließ.

Ainslie ging vor ihm hinaus. Ein Gefängniswärter mit dem Namensschild BETHEL auf der linken Brustseite wandte sich an ihn: »Kommen Sie bitte mit, Sir.« Sie gingen rasch den Weg zurück, auf dem Ainslie gekommen war, hasteten durch kahle Betonkorridore, umgingen den Hinrichtungsraum und erreichten eine schmucklose Stahltür. Dort stand ein uniformierter Sergeant mit einem Schreibbrett in der Hand.

»Ihr Name, bitte?«

»Ainslie, Malcolm.«

Der Sergeant hakte den Namen auf einer Liste ab. »Sie sind der letzte Zeuge. Wir haben einen heißen Sitz für Sie reserviert.«

Hinter ihm sagte Bethel: »Sie machen den Mann nervös, Sarge. Das ist nicht der heiße Sitz, Mr. Ainslie.«

»Nein, der natürlich nicht«, bestätigte der Sergeant. »Der bleibt für Doil reserviert, aber er wollte, daß Sie alles genau sehen können.« Er musterte Ainslie neugierig. »Und er hat Sie als Gottes rächenden Engel bezeichnet. Sind Sie das wirklich?«

»Vielleicht glaubt er das, weil ich mitgeholfen habe, ihn vor Gericht zu bringen.« Ainslie mißfiel diese Unterhaltung, aber er vermutete, daß man eine so bedrückende Umgebung nur ertragen konnte, wenn man manches auf die leichte Schulter nahm.

Der Sergeant öffnete die Stahltür; Ainslie folgte ihm in den Raum. Die Szene vor ihm unterschied sich nur unwesentlich von der, an die Ainslie sich von seinem letzten Besuch vor drei Jahren erinnerte. Sie befanden sich im Hintergrund des Zeugenraums und sahen vor sich fünf Reihen Metallklappstühle, von denen die meisten besetzt waren. Wie Ainslie wußte, kamen zu den zwölf amtlichen Zeugen, die er heute kurz nach seiner Ankunft gesehen hatte, ungefähr ein Dutzend Journalisten und darüber hinaus, mit Genehmigung des Gouverneurs, einige wenige spezielle Gäste.

Drei der Wände des Zeugenraums bestanden aus schalldichtem Panzerglas, das ungehinderten Durchblick gewährte. Genau vor den Stuhlreihen lag die Hinrichtungskammer, deren Mittelpunkt der elektrische Stuhl bildete - ein nur dreibeiniger Stuhl aus massiver Eiche, der »sich aufbäumt wie ein bockendes Pferd«, wie ein Hinrichtungszeuge ihn einmal beschrieben hatte. Der Eichenstuhl, den Häftlinge gebaut hatten, nachdem Florida im Jahr 1924 den Galgen durch den elektrischen Stuhl ersetzt hatte, war am Fußboden festgeschraubt. Er hatte eine hohe Rückenlehne und eine dick mit schwarzem Gummi überzogene breite Sitzfläche. Zwei starke senkrechte Holzstreben bildeten eine Kopfstütze. Sechs breite Lederriemen sollten den zum Tode Verurteilten so fixieren, daß er sich nicht mehr bewegen konnte.

Eineinhalb Meter vom elektrischen Stuhl entfernt und ebenfalls durch das Panzerglas sichtbar, befand sich die Scharfrichterkabine mit einem rechteckigen Sehschlitz für den Exekutor.

Zu diesem Zeitpunkt hielt er sich bereits darin auf - in Robe und Kapuze, seine Identität ein strenggehütetes Geheimnis. Sobald der Scharfrichter von außen ein Zeichen bekam, betätigte er in seiner Kabine den roten Schalter, der Strom mit zweitausend Volt Spannung durch den elektrischen Stuhl und den Todeskandidaten schickte.

In der Hinrichtungskammer liefen einige Leute durcheinander. Ein Lieutenant warf einen Blick auf seine Armbanduhr und dann auf die Wanduhr mit dem großen Sekundenzeiger. Es war 6.53 Uhr.

Die halblauten Gespräche im Zeugenraum verstummten, weil die meisten Anwesenden neugierig beobachteten, wie der Sergeant vom Dienst Ainslie nach vorn in die erste Reihe führte und auf den freien Mittelsitz zeigte. »Das ist Ihrer.«

Ainslie hatte sofort bemerkt, daß Cynthia Ernst unmittelbar links neben ihm saß, obwohl sie seine Anwesenheit ignorierte und ihn nicht einmal ansah, sondern starr nach vorn blickte. Links neben Cynthia erkannte Ainslie zu seiner Verblüffung Patrick Jensen, der seinen Blick erwiderte und dabei sogar schwach lächelte.

2

Plötzlich hörte das Durcheinanderlaufen in der Hinrichtungskammer auf. Fünf der Männer, die sich darin aufhielten, bildeten eine Reihe. Angeführt wurde sie von dem diensthabenden Lieutenant; hinter ihm standen zwei Aufseher, ein praktischer Arzt mit einer kleinen ledernen Arzttasche und ein Staatsanwalt als Vertreter der Anklagebehörde. Der Gefängniselektriker stand mit den dicken, schweren Elektrokabeln, die er bald anschließen würde, hinter dem elektrischen Stuhl.

Im Zeugenraum rief ein Aufseher: »Ruhe, bitte! Redeverbot beachten.« Die wenigen halblaut geführten Gespräche verstummten schlagartig.

Sekunden später wurde der Seiteneingang der Hinrichtungskammer geöffnet, und ein großer Mann mit strengem Gesichtsausdruck und kurzgeschnittenem, graumeliertem Haar trat ein. Ainslie erkannte Stuart Fox, den Gefängnisdirektor.

Unmittelbar hinter Fox erschien Elroy Doil, der hartnäckig zu Boden starrte, als wolle er nicht wahrhaben, was sich vor ihm befand.

Ainslie fiel auf, daß Patrick Jensen die rechte Hand ausgestreckt hatte und Cynthias Hand in seiner hielt. Vermutlich wollte er sie mit dieser Geste über den Verlust ihrer Eltern hinwegtrösten.

Dann beobachtete Ainslie wieder Doil und staunte erneut über den Unterschied zwischen dem früher so robusten, kraftstrotzenden Mann und der erbärmlichen, zitternden Gestalt, in die er sich seither verwandelt hatte.

Doil trug noch die Fußkette, mit der er nur kleine, unbeholfene Schritte machen konnte. Zwei Gefängniswärter hatten ihn zwischen sich genommen, ein dritter ging hinter ihm. Die Hände Doils steckten in »Eisenkrallen« - einzelne Handschellen mit einer waagrechten Metallstange, die auf je einer Seite von einem Wärter gehalten wurde, so daß jeglicher Widerstand unmöglich war.

Doil trug ein sauberes weißes Hemd und eine schwarze Hose. Die dazugehörige Jacke würde ihm vor der Beerdigung angezogen werden. Sein glattrasierter Schädel glänzte von dem kurz zuvor aufgetragenen elektrisch leitenden Gel.

Die kleine Prozession war durch den mit zwei Panzerstahltüren gesicherten »Totenuhrkorridor« hereingekommen, und sowie Doil aufblickte, würde er erstmals den elektrischen Stuhl und das Publikum sehen, das sich hier versammelt hatte, um ihn sterben zu sehen.

Schließlich hob er den Kopf. Beim Anblick des elektrischen Stuhls weiteten sich seine Augen, sein Gesicht wurde schreckensstarr. Er blieb impulsiv stehen und wandte Kopf und Körper wie zur Flucht ab, aber es blieb bei dieser kurzen Geste.

Die Gefängniswärter rechts und links von ihm drehten sofort an den Eisenkrallen, so daß Doil vor Schmerz aufschrie. Dann schoben die drei Wärter ihn gemeinsam weiter und hoben Doil, der sich vergeblich sträubte, auf den elektrischen Stuhl.

In seiner Hilflosigkeit starrte Doil das rote Telefon an der Wand rechts neben dem elektrischen Stuhl an. Wie jeder zum Tode Verurteilte wußte er, daß es die einzige Chance auf einen Hinrichtungsaufschub in letzter Minute durch den Gouverneur bot. Doils Blick fixierte das Telefon, als flehe er es an, endlich zu klingeln.

Plötzlich wandte er sich der Glastrennwand zum Zeugenraum zu und begann hysterisch zu kreischen. Wegen der schalldichten Verglasung hörten Ainslie und die anderen jedoch nichts. Sie konnten nur Doils wutverzerrtes Gesicht sehen.

Bestimmt geifert er irgendwas aus der Offenbarung des Johannes, dachte Ainslie grimmig.

Früher hatten Mikrofone und Lautsprecher jeden Ton aus der Hinrichtungskammer in den Zeugenraum übertragen. Jetzt hörten die Zeugen nur noch, wie der Gefängnisdirektor den Vollstreckungsbefehl verlas, seine Aufforderung, der Todeskandidat möge ein letztes Wort sprechen, und die kurzen Abschiedsworte, falls es welche gab.

Dann verstummte Doil für einen Augenblick. Sein suchender Blick glitt über die Gesichter im Zeugenraum, was einige der Anwesenden dazu brachte, unbehaglich hin und her zu rutschen. Als er Ainslie sah, nahm Doils Gesicht einen bittenden Ausdruck an, und seine Lippen formten Wörter, die Ainslie ablesen konnte: »Helfen Sie mir! Helfen Sie mir!«

Malcolm Ainslie spürte, daß ihm plötzlich große Schweißperlen auf der Stirn standen. Was mache ich hier? fragte er sich. Mit dieser Sache will ich nichts zu tun haben. Was er auch verbrochen hat, es ist nicht recht, jemand so umzubringen. Aber er konnte nicht mehr weg. Auf bizarre Weise waren die übrigen Zeugen und er ebenfalls Gefangene, bis Doils Hinrichtung vorüber war. Als dann einer der Gefängniswärter im Hinrichtungsraum Doil den Blick auf ihn verstellte, fühlte Ainslie, wie ihn eine Woge der Erleichterung durchflutete, während er sich zugleich daran erinnerte, daß Doil erst vor ein paar Minuten vierzehn grausame Morde gestanden hatte.

Für einige Augenblicke, das erkannte er jetzt, war er in dieselbe irrationale Falle wie die sentimentalen Demonstranten draußen vor dem Gefängnis getappt: Er hatte Mitleid mit dem Mörder gehabt und dabei seine toten, verstümmelten Opfer vergessen. Aber wenn Grausamkeit eine Rolle spielte, überlegte Ainslie sich, waren diese letzten Minuten vermutlich die grausamsten. Sosehr das Gefängnispersonal sich auch beeilte, dauerten die abschließenden Vorbereitungen doch ihre Zeit.

Als erstes drückten zwei Gefängniswärter, die rechts und links neben dem Verurteilten standen, Doil gegen die Stuhllehne und hielten ihn so fest, während ein breiter Brustgurt straff angezogen und zugeschnallt wurde. Nun konnte der Verurteilte seinen Körper nicht mehr bewegen. Als nächstes wurden seine Füße ergriffen, in T-förmige Holzhalterungen heruntergezogen und so mit Knöchelriemen fixiert, daß sie unbeweglich waren. Nun wurde wieder leitfähiges Gel aufgetragen - diesmal auf sein zuvor rasiertes rechtes Bein - und danach eine mit Blei gefütterte, lederne Erdungsmanschette zehn Zentimeter über dem rechten Knöchel festgezogen. Inzwischen hatte man die übrigen Gurte angezogen, auch den Kinnriemen, der Doils Hinterkopf unbeweglich gegen die Kopfstütze drückte. Der an einen alten Wikingerhelm erinnernde braune Lederhelm, in den die kupferne Kontaktplatte eingelegt werden würde, hing wie ein dräuendes Damoklesschwert über dem Todeskandidaten...

Ainslie fragte sich, ob die Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl wirklich so grausam und barbarisch war, wie viele behaupteten. Was er jetzt hier sah, schien diese Auffassung zu bestätigen, und es gab andere Fälle, die sie ebenfalls untermauerten.

Manche Leute argumentierten, darüber war er sich im klaren, als Sühne für verübte Verbrechen solle die Hinrichtung barbarisch sein. In der Gaskammer, die es in manchen Bundesstaaten noch gab, starb der zum Tode Verurteilte durch Ersticken an Zyanidgas, und Augenzeugen berichteten, dies sei ein qualvoller, oft langsamer Tod. Nach allgemeiner Ansicht schien die Hinrichtung mit der Giftspritze humaner zu sein, jedoch nicht bei ehemaligen Fixern, bei denen die Suche nach einer Vene zur Aufnahme der tödlichen Dosis eine Stunde dauern konnte. Der in China übliche Genickschuß war vermutlich die schnellste Methode, aber die vorhergehende Folter und Erniedrigung machten daraus zweifellos die bestialischste der Welt.

Ob Florida sich irgendwann für eine andere Hinrichtungsmethode, vielleicht für die Giftspritze entscheidet? fragte Ainslie sich. Angesichts der allgemeinen Stimmung in bezug auf Verbrechen und des weitverbreiteten Zorns darüber, daß die hohe Kriminalität den Sunshine State International in Verruf brachte und so die für Floridas Wohlstand lebenswichtigen Touristen abschreckte, erschien ihm das eher unwahrscheinlich.

Was seine persönliche Einstellung zur Todesstrafe betraf, hatte er sie als Geistlicher abgelehnt und war auch jetzt gegen sie - allerdings aus unterschiedlichen Gründen.

Früher war er davon überzeugt, alles menschliche Leben sei von Gott inspiriert. Aber das glaubte er nicht mehr. Heute fand er, Tötungen von Staats wegen setzten alle daran Beteiligten moralisch herab, auch das Volk, in dessen Namen die Hinrichtungen stattfanden. Außerdem war der Tod, unabhängig von der Hinrichtungsmethode, eine Erlösung; lebenslängliche Haft ohne die Chance, auf Bewährung entlassen zu werden, war eine viel schlimmere Strafe...

Die Stimme des Gefängnisdirektors, die jetzt in den Zeugenraum übertragen wurde, als er den vom Gouverneur unterzeichneten, schwarzumrandeten Vollstreckungsbefehl laut verlas, ließ Ainslie aus seinen Gedanken aufschrecken.

»>In Anbetracht dessen, daß... Elroy Selby Doil wegen eines Verbrechens des Mordes schuldig gesprochen worden ist, den Tod zu erleiden, indem ein elektrischer Strom durch seinen Körper geschickt wird... bis der Tod eintritt...

Sie, der besagte Direktor unseres staatlichen Hochsicherheitsgefängnisses, oder ein von Ihnen zu benennender Vertreter wohnen dieser Hinrichtung bei... in Anwesenheit eines Kollegiums aus zwölf angesehenen Bürgern, die zur Teilnahme aufgefordert werden, um selbige zu bezeugen; und Sie sorgen für die Anwesenheit eines kompetenten praktischen Arztes...

Wobei unter Strafandrohung sicherzustellen ist, daß...<«

Das mit pompösen juristischen Floskeln überfrachtete Dokument war lang, und der Gefängnisdirektor leierte es monoton herunter.

Als er geendet hatte, hielt ein Gefängniswärter Doil ein Mikrofon hin, und der Direktor fragte: »Möchten Sie noch etwas sagen?«

Doil wollte sich bewegen, aber die Gurte lagen zu straff an. Als er sprach, klang seine heisere Stimme gepreßt. »Ich hab' nie...« Dann geriet er ins Stottern, bemühte sich vergeblich, den Kopf zu bewegen, und brachte nur ein schwaches »Fuck you!« heraus.

Das Mikrofon wurde entfernt, und die Vorbereitungen zur Hinrichtung gingen sofort weiter. Ainslie wünschte sich wieder, er müßte ihr nicht beiwohnen, aber dieser Vorgang war geradezu hypnotisch; keiner der Zeugen konnte sich davon abwenden.

Zwischen Doils Zähne wurde ein Knebel gezwängt, so daß er nicht mehr sprechen konnte. Neben dem Stuhl griff der Gefängniselektriker in einen großen Eimer mit einer starken Kochsalzlösung und holte die kupferne Kontaktplatte und einen Naturschwamm heraus. Platte und Schwamm legte er in den Lederhelm über Doils kahlrasiertem Schädel. Die Kupferplatte war ein ausgezeichneter elektrischer Leiter; der mit Salzwasser getränkte Schwamm, ebenfalls ein guter Leiter, sollte das Versengen von Doils Kopfhaut und den widerlichen Gestank nach verbranntem Fleisch verhindern, über den früher viele Zeugen geklagt hatten. In den meisten Fällen erfüllte der nasse Naturschwamm seinen Zweck; gelegentlich aber auch nicht.

Der braune Lederhelm wurde über Doils Kopf gestülpt und befestigt. Ein vorn angebrachter schwarzer Lederstreifen diente als Maske, so daß Doils Gesicht nun verborgen war.

Ainslie nahm ein kollektives erleichtertes Aufseufzen der Zeugen um ihn herum wahr. War das Zusehen jetzt leichter, fragte er sich, seit der Verurteilte in gewisser Weise anonym geworden war?

Nicht anonym war er jedoch für Cynthia Ernst auf dem Platz neben Ainslie. Sie hielt Patrick Jensens Hand so fest umklammert, daß ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Sie muß Doil erbittert hassen, sagte er sich; in gewisser Weise konnte er verstehen, daß sie hergekommen war, obwohl er bezweifelte, daß das Schauspiel von Doils Tod ihren Schmerz lindern würde. Und sollte er ihr sagen, fragte er sich, daß Doil zwar vierzehn Morde gestanden, aber geleugnet hatte, Gustav und Eleanor Ernst umgebracht zu haben - eine Aussage, die Ainslie selbst für möglicherweise wahr hielt? Vielleicht war er Cynthia als ehemaliger Kollegin und Polizeibeamtin diese Mitteilung schuldig. Er wußte es nicht.

In der Hinrichtungskammer mußten jetzt nur noch zwei dicke Stromkabel angeschlossen werden: das eine an den Lederhelm mit der Kontaktplatte, das andere an die bleigefütterte Erdungsmanschette an Doils rechtem Bein. Beide wurden rasch angebracht und mit schweren Flügelmuttern gesichert.

Danach traten die Gefängniswärter und der Elektriker sofort von dem Stuhl zurück, wobei sie darauf achteten, dem Gefängnisdirektor nicht die Sicht zu versperren.

Im Zeugenraum machten sich die Journalisten handschriftliche Notizen. Eine Zeugin war blaß geworden und bedeckte ihren Mund mit einer Hand, als müsse sie sich gleich übergeben. Ein Mann schüttelte sichtlich deprimiert und angewidert den Kopf. Ainslie, der genau wußte, wie begehrt die wenigen Plätze im Zeugenraum waren, fragte sich, aus welchen Motiven sich Menschen danach drängten, an einer Hinrichtung teilzunehmen. Vermutlich lag das an der universellen Faszination des Todes in allen seinen Formen.

Ainslie konzentrierte sich wieder auf den Gefängnisdirektor, der den Vollstreckungsbefehl zusammengerollt hatte und ihn jetzt wie einen Taktstock in der rechten Hand hielt. Er sah zur Exekutionskabine hinüber, hinter deren Sehschlitz ein Augenpaar sichtbar war. Nach einem Blick auf die Wanduhr senkte der Direktor die Papierrolle und nickte dabei.

Das Augenpaar verschwand. Sekunden später hallte ein dumpfer Schlag durch die Hinrichtungskammer, als der rote Todesschalter umgelegt wurde und schwere Relais ansprechen ließ. Obwohl die Mikrofone und Lautsprecher ausgeschaltet blieben, war dieser dumpfe Schlag in der Zeugenkammer deutlich zu hören. Gleichzeitig wurden alle Lichter dunkler.

Trotz der straff anliegenden Ledergurte zuckte Doil, als zweitausend Volt Spannung durch seinen Körper jagten. Dieser Vorgang, bei dem die Spannung auf fünfhundert Volt abfiel, um dann wieder auf zweitausend Volt anzusteigen, wiederholte sich insgesamt achtmal, solange der automatische Zweiminutenzyklus lief. Bei manchen Hinrichtungen gab der Direktor dem Exekutor ein Zeichen, den Tötungszyklus vorzeitig abzubrechen, wenn er glaubte, der erste Stromstoß habe bereits den Tod herbeigeführt. Diesmal ließ er ihn jedoch ganz ablaufen, und Ainslie roch plötzlich den widerlichen Gestank von verbranntem Fleisch, der trotz der Klimaanlage in den Zeugenraum drang. Um ihn herum verzogen einige Leute angewidert das Gesicht.

Als der Hingerichtete zur Untersuchung freigegeben wurde, trat der Arzt an den elektrischen Stuhl, knöpfte Doils Hemd auf, setzte ihm sein Stethoskop auf die Brust, um festzustellen, ob das Herz noch schlug. Nach etwa einer Minute nickte er dem Gefängnisdirektor zu. Elroy Doil war tot.

Der Rest war Routine. Elektrokabel, Gurte und andere Befestigungsmittel wurden rasch gelöst. Der losgebundene Leichnam sackte nach vorn in die Arme der bereitstehenden Gefängniswärter, die ihn sofort in einen Leichensack aus schwarzem Gummi legten. Der Reißverschluß des Sacks wurde so schnell zugezogen, daß vom Zeugenraum aus nicht zu erkennen war, ob die Leiche Brandspuren aufwies. Dann verschwanden die sterblichen Überreste Elroy Doils auf einer fahrbaren Krankentrage durch dieselbe Tür, durch die er vor wenigen Minuten noch lebend hereingekommen war.

Unterdessen hatten sich die meisten Zeugen erhoben, um zu gehen. Ainslie wandte sich rasch an Cynthia und sagte halblaut: »Commissioner, ich fühle mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, daß ich kurz vor seiner Hinrichtung mit Doil über Ihre Eltern gesprochen habe. Er hat behauptet...«

Sie drehte sich sofort mit ausdrucksloser Miene zu ihm um. »Bitte, davon möchte ich nichts hören. Ich bin hergekommen, um ihn leiden zu sehen. Ich hoffe, daß er einen schweren Tod gehabt hat.«

»Den hat er gehabt«, bestätigte Ainslie.

»Dann bin ich zufrieden, Sergeant.«

»Ich verstehe, Commissioner.«

Aber was hast du verstanden? Das fragte Ainslie sich, als er den anderen aus dem Zeugenraum folgte.

Im Korridor, auf dem die Zeugen beisammenstanden und darauf warteten, aus dem Gefängnis geleitet zu werden, verließ Jensen die Gruppe und trat auf Ainslie zu.

»Ich wollte mich Ihnen nur mal vorstellen. Ich bin... «

»Ich weiß, wer Sie sind«, wehrte Ainslie kühl ab. »Ich habe mich gefragt, was Sie hergeführt haben mag.«

Der Schriftsteller lächelte. »In meinem neuen Roman kommt eine Hinrichtung vor, deshalb wollte ich selbst eine erleben. Commissioner Ernst hat mir einen Platz besorgt.«

In diesem Augenblick tauchte Lieutenant Hambrick auf. »Sie brauchen nicht hier zu warten«, erklärte er Ainslie. »Kommen Sie, wir holen Ihre Dienstwaffe ab, und ich bringe Sie zu Ihrem Wagen zurück.« Ainslie nickte Jensen flüchtig zu und ging.

3

»Ich hab' gesehen, wie alle Lichter dunkler geworden sind«, sagte Jorge, »und mir gedacht, daß Animal jetzt wohl seine Ladung abkriegt.«

»Stimmt«, bestätigte Ainslie einsilbig.

Das waren die ersten Worte, die sie wechselten, seit sie vor zehn Minuten das Gefängnis verlassen hatten. Jorge fuhr den blauweißen Streifenwagen der Miami Police und lotste sie durch die Ausfahrtskontrollen beim Verlassen des Gefängnisses. Draußen kamen sie an den unvermeidlichen Demonstranten vorbei; einige wenige hielten noch immer brennende Kerzen in den Händen, aber die meisten verliefen sich bereits. Ainslie hatte bisher geschwiegen.

Das erbarmungslose Verfahren, durch das Doil zu Tode gekommen war, hatte ihn ziemlich mitgenommen. Andererseits war nicht zu leugnen, daß Doil eine gerechte Strafe erhalten hatte, da er, obwohl das nur Ainslie wußte, nicht nur die beiden Morde verübt hatte, für die er zum Tode verurteilt worden war, sondern mindestens zwölf weitere.

Ainslies Hand berührte seine Jackentasche, in die er die Kassette mit Doils Geständnis gesteckt hatte. Ob und wann die Tonbandinformationen freigegeben wurden, falls dies überhaupt der Fall war, mußten andere entscheiden. Ainslie würde seine Kassette Lieutenant Newbold übergeben; Police Department und Staatsanwaltschaft würden dann gemeinsam entscheiden, was mit ihr geschehen sollte.

»Ist Animal eigentlich...«, begann Jorge.

Ainslie unterbrach ihn. »Ich weiß nicht, ob wir ihn weiter Animal nennen sollten. Tiere töten nur aus Notwendigkeit. Doil hat aus...« Er machte eine Pause. Warum hatte Doil gemordet? Aus Vergnügen, in religiösem Wahn, aus innerem Zwang?

Schulterzuckend sagte er: »Aus Gründen, die wir nie erfahren werden.«

Jorge sah zu ihm herüber. »Haben Sie etwas rausgekriegt, Sergeant? Irgendwas, das Sie mir erzählen können?«

Ainslie schüttelte den Kopf. »Ich muß erst mit dem Lieutenant sprechen.«

Er sah auf die Uhr am Armaturenbrett: 7.50 Uhr. Leo Newbold war vermutlich noch zu Hause. Ainslie griff nach dem Mobiltelefon und tippte die Nummer ein. Newbold meldete sich nach dem zweiten Klingeln.

»Ich hab' mir gedacht, daß Sie's sind«, sagte er im nächsten Augenblick. »Jetzt ist wohl alles vorbei, was?«

»Nun, Doil ist tot. Aber ich bezweifle sehr, daß damit alles vorbei ist.«

»Hat er eine Aussage gemacht?«

»Sie hat bestätigt, daß seine Hinrichtung gerechtfertigt war.«

»Das haben wir schon immer gewußt, aber diese Bestätigung erleichtert einen doch. Er hat also ein Geständnis abgelegt?«

Ainslie zögerte. »Ich habe einiges zu berichten, Sir. Aber was ich zu sagen habe, soll nicht morgen in der Zeitung stehen.«

»Da haben Sie recht«, gab der Lieutenant zu. »So vorsichtig sollten wir alle sein. Okay, nicht übers Mobiltelefon.«

»Falls mir genügend Zeit bleibt«, sagte Ainslie, »rufe ich Sie aus Jacksonville an.«

»Kann's kaum erwarten. Bis später, Malcolm.«

Ainslie schaltete das Mobiltelefon aus.

»Sie haben reichlich Zeit, zum Flughafen sind's nur knapp hundert Kilometer«, stellte Jorge fest. »Vielleicht können wir sogar noch frühstücken.«

Ainslie verzog das Gesicht. »Mir ist der Appetit gründlich vergangen.«

»Ich weiß, daß Sie mir nicht alles erzählen dürfen. Aber Doil hat mindestens einen Mord gestanden, nicht wahr?«

»Ja.«

»Hat er Sie als Geistlichen behandelt?«

»Er wollt's tun. Und ich hab's bis zu einem gewissen Grad zugelassen.«

Jorge machte eine Pause, bevor er weitersprach. »Glauben Sie, daß Doil jetzt im Himmel ist? Oder gibt's wirklich eine Hölle mitsamt Fegefeuer, in der Satan regiert?«

»Dieser Gedanke macht Ihnen wohl Sorgen?« fragte Ainslie schmunzelnd.

»Nein. Mich interessiert nur Ihre Meinung - gibt es Himmel und Hölle?«

Man läßt seine Vergangenheit nie ganz hinter sich, dachte Ainslie. Er erinnerte sich an ähnliche Fragen von Gemeindemitgliedern, die ihn oft in ziemliche Verlegenheit gebracht hatten. Jetzt erklärte er Jorge: »Nein, ich glaube nicht mehr ans Paradies, und ich habe nie an die Hölle geglaubt.«

»Auch nicht an Satan?«

»Satan ist ebenso eine Fiktion wie Mickymaus - eine erfundene Gestalt aus dem Alten Testament. Bei Hiob ist er noch relativ harmlos, aber im zweiten Jahrhundert vor Christus haben die Essäer, eine jüdische Ordensgemeinschaft, ihn dämonisiert. Den können Sie vergessen.«

Nach seinem Ausscheiden aus dem Kirchendienst war Malcolm Ainslie jahrelang jeder Diskussion über Glaubensfragen ausgewichen, obwohl er wegen seines Buchs über vergleichende Religionswissenschaft manchmal als Experte um Rat gebeten wurde. Wie er wußte, galt Die Evolution des menschlichen Glaubens noch immer als Standardwerk. In letzter Zeit konnte er jedoch offener und ehrlicher über Religion sprechen, und hier saß Jorge neben ihm, der offenbar Rat suchte.

Raiford lag längst hinter ihnen; sie fuhren übers Land und hatten das bedrückende Gefängnis und seine Schlafstädte hinter sich gelassen. Heller Sonnenschein kündigte einen herrlichen Tag an. Unmittelbar vor ihnen begann eine vierspurige Fernstraße, die Interstate 10, die nach Jacksonville führte, wo Ainslie sein Flugzeug erreichen würde. Er freute sich bereits auf das Wiedersehen mit Karen und Jason und die bevorstehende Familienfeier.

»Darf ich Sie noch was fragen?« fragte Jorge.

»Schießen Sie los.«

»Ich habe mich immer gefragt, wie Sie ursprünglich Priester geworden sind.«

»Ich hatte nie damit gerechnet, einer zu werden«, antwortete Ainslie. »Mein Bruder wollte Priester werden. Dann ist er erschossen worden.«

»Oh...« Jorge war sichtlich betroffen. »Er ist ermordet worden?«

»So hat's die Justiz gesehen. Aber die tödliche Kugel ist für einen anderen bestimmt gewesen.«

»Wie ist das gekommen?«

»Das Ganze hat sich in einer Kleinstadt nicht weit nördlich von Philadelphia abgespielt. Dort sind Gregory und ich aufgewachsen... «

New Berlinville war Ende des vorigen Jahrhunderts zur Stadt erhoben worden. Außer mehreren Stahl- und Walzwerken gab es dort Erzbergwerke. Diese Kombination verschaffte den meisten Einheimischen Arbeit - auch Idris Ainslie, Gregorys und Malcolms Vater, der Bergmann war. Aber er verunglückte tödlich, als die Jungen noch sehr klein waren.

Gregory war nur ein Jahr älter als Malcolm, und die beiden waren unzertrennlich. Gregory, der für sein Alter recht kräftig war, hatte Spaß daran, seinen kleinen Bruder zu beschützen. Ihre Mutter Victoria heiratete nicht wieder, sondern zog ihre Söhne allein auf. Sie arbeitete als Hilfskraft, um ihre kleine Witwenrente aufzubessern, und verbrachte möglichst viel Zeit mit Gregory und Malcolm. Sie waren ihr ganzer Lebensinhalt, und ihre Söhne liebten sie.

Victoria Ainslie war eine tugendhafte Frau, eine gute Mutter und eine fromme Katholikin. Im Lauf der Jahre hatte sie keinen sehnlicheren Wunsch, als einen ihrer Söhne als Geistlichen zu sehen. Gregory, der als Erstgeborener den Vortritt hatte, wurde mit seinem Einverständnis für den Priesterberuf bestimmt.

Mit acht Jahren war Gregory wie Russell Sheldon, sein bester Freund, Ministrant in der St. Columbkill Church. In vieler Beziehung stellten Gregory und Russell eine unwahrscheinliche, widersprüchliche Kombination dar. Als Gregory heranwuchs, war er ein großer, blonder, sportlicher, gutaussehender Junge, der von Natur aus warmherzig und offen war und die Kirche liebte - vor allem ihre prunkvollen Rituale. Russell war ein kleiner, stämmiger Bulldozer von einem Jungen mit einer Vorliebe für allerlei Streiche. Einmal versetzte er Gregorys Shampoo mit einem Haarfärbemittel, so daß sein Freund vorübergehend brünett war. Bei anderer Gelegenheit gab er eine Verkaufsanzeige für Malcolms geliebtes neues Fahrrad auf. Und er brachte in Gregorys und Malcolms Zimmern Playboy-Pinups an, wo sie ihre Mutter entdecken mußte.

Russells Mutter war Lehrerin, sein Vater Kriminalbeamter im Sheriffs Department in Berks County.

Ein Jahr nach Gregory und Russell wurde auch Malcolm Ministrant, und in den folgenden Jahren waren die drei Jungen unzertrennlich. Und so verschieden Gregory und Russell waren, so auffällig unterschied Malcolm sich von den beiden anderen. Er war ein ungewöhnlich nachdenklicher Junge, der allen Dingen auf den Grund gehen wollte. »Du stellst dauernd Fragen«, sagte Gregory einmal irritiert, um dann zuzugeben: »Aber du kriegst auch Antworten darauf.« Malcolms intellektuelle Neugier und seine Entschlußkraft ließen ihm oft eine Führungsrolle zufallen, obwohl er jünger als die beiden anderen war.

Was die Kirche betraf, waren die drei gläubige Katholiken, die jede Woche ihre kleinen Sünden beichteten - vor allem unkeusche Gedanken.

Außerdem waren sie gute Sportler und spielten im Footballteam der South Webster High-School, das Kermit Sheldon, Russells Vater, in seiner Freizeit trainierte.

Gegen Ende ihres zweiten Jahrs im Footballteam zogen jedoch dunkle Wolken am Horizont auf. Von der Schulleitung unbemerkt, verschafften einige der älteren Spieler sich Cannabis sativa L. und rauchten es. Danach dauerte es nicht mehr lange, bis weitere Spieler die durch Marihuana hervorgerufenen angenehmen Highs schätzen lernten, so daß bald das ganze Footballteam Haschisch rauchte. In gewisser Weise war das ein Vorgeschmack auf die achtziger und neunziger Jahre, in denen sich der viel schlimmere Kokainmißbrauch ausbreiten sollte.

Die Brüder Ainslie und Russell Sheldon kamen spät zu Cannabis: Sie nahmen das »Gras«, wie die Spieler es nannten, erst unter Druck ihrer Schulfreunde. Malcolm rauchte es einmal und stellte dann unzählige Fragen - wo die Droge herkam, woraus sie bestand, welche Dauerwirkung sie hatte. Die Antworten zeigten ihm, daß Cannabis nichts für ihn war, und er ließ die Finger davon. Aber Russell rauchte es gelegentlich, und Gregory wurde ein regelmäßiger Haschischraucher, nachdem er sich eingeredet hatte, daß dies keine Sünde sei, die er beichten müsse.

Malcolm stand Gregorys wachsender Sucht anfangs kritisch gegenüber, tolerierte sie dann aber doch, weil er glaubte, sein Bruder folge lediglich einer Mode, die bald wieder verschwinden werde. Das war eine Fehleinschätzung, die Malcolm sein Leben lang bereuen würde.

Das Marihuana wurde meist in »Nickel Bags« vertrieben: in Plastikbeuteln mit einer kleinen Menge Haschisch, die auf der Straße, in diesem Fall in der Umgebung der South Webster High-School, für fünf Dollar zu haben waren. Aber die Gesamtmenge, die das Footballteam und dann auch andere Schüler konsumierten, nahm ständig zu und lockte weitere Dealer an, die sich gegenseitig Konkurrenz machten.

Schon damals begannen sich Drogenbanden auszubreiten, von denen ursprünglich eine, die Skin Heads aus Allentown, die Schüler in New Berlinville mit Stoff versorgte. Als mit der Nachfrage auch Umsätze und Gewinne stiegen, warfen die Krypto-Ricans, eine Bande aus dem benachbarten Reading, begehrliche Blicke auf dieses Gebiet. Eines Tages beschlossen sie, es selbst zu übernehmen

An diesem Nachmittag verließen Gregory und Russell frühzeitig die Schule und machten sich auf den Weg in ein heruntergekommenes Stadtviertel. Gregory, der schon mehrmals dort gewesen war, wußte genau, wohin sie zu gehen hatten.

Am Eingang eines leerstehenden Hauses vertrat ein stämmiger Weißer mit kahlrasiertem Schädel ihm den Weg. »Hey, wohin willst du, Mann?«

»Hast du vier Beutel Gras?«

»Wenn du's Grün dafür hast, Mann.«

Gregory hielt einen Zwanzigdollarschein hoch, den der andere ihm aus der Hand riß, um ihn auf den dicken Packen Geldscheine zu legen, den er kurz aus der Hosentasche holte. Ein zweiter Mann reichte über seine Schulter hinweg vier Nickel Bags nach vorn, die Gregory unter sein Hemd stopfte.

Im selben Augenblick fuhr draußen ein Wagen vor, und drei Mitglieder der Krypto-Ricans sprangen mit schußbereiten Revolvern heraus. Die Skin Heads sahen die anderen kommen und griffen ebenfalls nach ihren Waffen. Als Gregory und Russell auf die Straße flüchteten, begann eine wilde Schießerei.

Beide liefe n weiter, bis Russell merkte, daß Gregory nicht mehr neben ihm war. Er sah sich um. Gregory lag auf der Fahrbahn. Aber die Schießerei hatte aufgehört, und die Mitglieder beider Banden verdrückten sich. Wenig später wurden Polizei und Notarzt alarmiert. Der Notarzt traf zuerst ein und stellte fest, daß Gregory tot war - nach einem Treffer in die linke Rückenseite verblutet.

Durch Zufall traf Detective Kermit Sheldon, der in der Nähe unterwegs gewesen war und die Funkmeldung des Dispatchers gehört hatte, als erster Polizeibeamter am Tatort ein. Er nahm seinen Sohn beiseite und sagte streng: »Schnell, erzähl mir alles. Und ich meine alles, genau wie's passiert ist.«

Russell, der einen Schock erlitten hatte, gehorchte weinend und fügte hinzu: »Dad, das gibt Gregs Mutter den Rest - nicht nur sein Tod, sondern das Marihuana. Sie hat nichts davon gewußt.«

»Wo ist der Stoff, den ihr gekauft habt?« fragte sein Vater scharf.

»Den hat Greg unter sein Hemd gesteckt.«

»Hast du auch welchen?«

»Nein.«

Kermit Sheldon setzte Russell in seinen Dienstwagen, dann ging er zu Gregory. Die Sanitäter hatten den Toten mit einem Laken zugedeckt. Die uniformierte Polizei war noch nicht da. Detective Sheldon sah sich um, hob das Laken hoch, griff unter Gregorys Hemd und ertastete die Plastikbeutel. Er holte sie heraus und steckte sie ein. Später würde er sie auf der Toilette hinunterspülen.

Im Auto erteilte er Russell genaue Anweisungen. »Hör mir gut zu! Du erzählst folgende Geschichte: Ihr beide seid hier vorbeigegangen, als plötzlich Schüsse gefallen sind und ihr wegzulaufen versucht habt. Hast du jemanden gesehen, der geschossen hat, beschreibst du ihn. Aber kein Wort mehr! Bleib bei dieser Darstellung, ohne sie abzuändern. Später«, fügte Russells Vater hinzu, »setzen wir beide uns zu einem ernsten Gespräch zusammen, das dir keinen Spaß machen wird.«

Da Russell sich an diese Anweisungen hielt, wurde Gregory Ainslie von Polizei und Presse als unschuldiges Opfer einer Schießerei zwischen zwei auswärtigen Banden geschildert. Einige Monate nach Gregorys Tod konnte nachgewiesen werden, daß die tödliche Kugel aus der Waffe Manny »Mad Dog« Menendez', einem Mitglied der Krypto-Ricans, stammte. Aber zu diesem Zeitpunkt war Menendez nach einer weiteren Schießerei - diesmal mit der Polizei - ebenfalls tot.

Russell Sheldon rührte Marihuana nie wieder an, was verständlich war. Er vertraute sich jedoch Malcolm an, der die Wahrheit schon geahnt hatte. Dieses gemeinsame Geheimnis, aber auch ihre Trauer und die Vorwürfe, die beide sich machten, festigte ihre Freundschaft, die dann über Jahre hinweg dauerte.

Victoria Ainslie litt schrecklich unter Gregorys Tod. Aber die von Detective Sheldon erfundene Geschichte ließ ihr die tröstliche Gewißheit, Gregory sei unschuldig gewesen, und ihr starker Glaube tröstete sie. »Er ist ein so wundervoller Junge gewesen, daß Gott ihn bei sich haben wollte«, erklärte sie Freunden. »Wer bin ich, daß ich Gottes Entscheidung in Frage stellen könnte?«

Malcolm imponierte, was Russells Vater riskiert hatte, um das Andenken Gregorys bei seiner Mutter reinzuhalten. Zuvor war ihm nie bewußt gewesen, daß Polizeibeamte nicht nur Gesetzeshüter waren, sondern auch Menschenschicksale wohltuend beeinflussen konnten.

Kurz nach Gregorys Beerdigung fragte Victoria ihren Sohn: »Ob Gott wohl gewußt hat, daß Gregory Priester werden wollte? Vielleicht hätte er ihn dann nicht zu sich genommen.«

Malcolm nahm ihre Hände. »Mom, vielleicht hat Gott gewußt, daß ich Gregory nachfolgen würde.«

Als Victoria überrascht aufsah, nickte Malcolm. »Russell und ich haben beschlossen, ins St. Vladimir Seminary zu gehen. Wir haben lange darüber diskutiert. Ich werde Gregorys Platz einnehmen.«

Und so geschah es.

Das Priesterseminar in Philadelphia, in dem Malcolm Ainslie und Russell Sheldon die folgenden sieben Jahre verbrachten, war ein alter, aber renovierter Bau aus der Zeit um die Jahrhundertwende, der heitere Gelassenheit und Gelehrsamkeit ausstrahlte - eine Atmosphäre, in der die beiden jungen Männer sich sofort heimisch fühlten.

Malcolms Entschluß, die Priesterweihe anzustreben, bedeutete nie ein Opfer für ihn. Als er ihn faßte, war er zufrieden und ausgeglichen. Malcolm glaubte an Gott, die Göttlichkeit Jesu und die katholische Kirche, die Ordnung und Disziplin in diese anderen Überzeugungen brachte - in dieser Reihenfolge. Erst viele Jahre später sollte er feststellen, daß von einem geweihten Priester erwartet wurde, daß er diese Reihenfolge subtil veränderte, bis man mit Matthäus 19,30 sprechen konnte: »Aber viele, die da sind die Ersten, werden die Letzten, und die Letzten werden die Ersten sein.«

Die Seminarausbildung, deren Schwerpunkte Philosophie und Theologie waren, entsprach einem Collegestudium, an das sich ein dreijähriges Theologiestudium anschloß, das zur Promotion führte. Nachdem die Patres Malcolm Ainslie und Russell Sheldon ihre Ausbildung mit fünfundzwanzig beziehungsweise sechsundzwanzig Jahren abgeschlossen hatten, bekamen sie die ersten Vikarstellen zugewiesen - Malcolm in der St. Augustus Church in Pottstown, Pennsylvania, und Russell in der St. Peter's Catholic Church in Reading. Die beiden Pfarreien gehörten zur selben Erzdiözese und lagen nur dreißig Kilometer auseinander. »Wir besuchen uns sicher ständig«, sagte Malcolm unbekümmert, und Russell stimmte ihm zu. Aber wegen der Arbeitsüberlastung aller katholischen Geistlichen, die weltweit zunahm, trafen sie sich nur selten und hatten es immer eilig, wieder wegzukommen. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem eine Art Naturkatastrophe sie nach einigen Jahren erneut eng zusammenbrachte.

»Und das«, erklärte Ainslie Jorge, »ist so ziemlich die ganze Geschichte, wie ich Priester geworden bin.«

Vor einigen Minuten war der blauweiße Streifenwagen aus Miami durch Jacksonville gerollt. Jetzt lag der Flughafen direkt vor ihnen.

»Aber wie kommt's, daß Sie die Kirche verlassen haben und ein Cop geworden sind?« fragte Jorge.

»Das ist nicht kompliziert«, antwortete Ainslie. »Ich habe meinen Glauben verloren.«

»Aber wie haben Sie ihn verloren?« faßte Jorge nach.

Ainslie lachte. »Das ist kompliziert. Und ich muß zusehen, daß ich mein Flugzeug erreiche.«

4

»Ich glaube kein Wort davon«, sagte Leo Newbold. »Der Hundesohn hat sich vermutlich für besonders schlau gehalten, wenn er einen falschen Hinweis hinterläßt, an dem wir uns die Zähne ausbeißen.«

Das war die Reaktio n des Lieutenant, als Malcolm Ainslie ihm an einem Kartentelefon auf dem Jacksonville Airport stehend berichtete, Elroy Doil habe zwar sieben Doppelmorde gestanden, aber den Mord an Commissioner Gustav Ernst und seiner Frau Eleanor strikt geleugnet.

»Die Beweislast gegen Doil ist erdrückend«, fuhr Newbold fort. »Im Mordfall Ernst hat praktisch alles mit den früheren Morden übereingestimmt, und weil wir viele Informationen zurückgehalten haben, wäre außer Doil niemand imstande gewesen, eine in seine Serie passende Tat zu verüben. Okay, ich weiß, daß Sie gewisse Zweifel hegen, Malcolm, und respektiere sie, aber diesmal täuschen Sie sich, glaube ich.«

Ainslie gab sich nicht so rasch geschlagen. »Das verdammte Kaninchen, das der oder die Täter neben den Ernsts zurückgelassen haben, hat mich von Anfang an gestört. Es hat nicht zu den übrigen Hinweisen auf die Offenbarung gepaßt. Es paßt weiterhin nicht dazu.«

»Aber das ist alles, was Sie haben«, stellte Newbold fest. »Richtig?«

»Das ist alles«, bestätigte Ainslie seufzend.

»Nun, wenn Sie zurückkommen, sollten Sie sich mit den ersten Morden befassen, die Doil gestanden hat. Wie haben die Leute gleich wieder geheißen?«

»Ikei - aus Tampa.«

»Yeah, und die Esperanzas sind auch einen weiteren Blick wert. Aber das darf nicht lange dauern, denn wir haben schon wieder zwei neue Morde aufzuklären. Aus meiner Sicht ist der Mordfall Ernst abgeschlossen.«

»Was ist mit der Kassette mit Doils Aussage? Soll ich sie Ihnen aus Toronto schicken?«

»Nein, bringen Sie sie selbst mit. Wir lassen Kopien und eine Abschrift anfertigen und entscheiden dann, was damit geschehen soll. Und jetzt wünsche ich Ihnen eine schöne Reise mit ihrer Familie, Malcolm. Die haben Sie sich ehrlich verdient.«

Ainslie hatte reichlich Zeit, um bei Delta Airlines für seinen Flug nach Atlanta zum Weiterflug nach Toronto einzuchecken. Da die Maschine nicht voll besetzt war, hatte er in der Economy-Klasse drei Sitze für sich allein, lehnte sich entspannt zurück und genoß den Luxus, ungestört zu sein.

Während er versuchte, ein Nickerchen zu machen, beschäftigten seine Gedanken sich weiter mit Jorges Frage: Aber wie haben Sie Ihren Glauben verloren?

Es war unmöglich, darauf eine einfache Antwort zu geben, denn dieser Prozeß war fast unmerklich abgelaufen, weil verschiedene Einflüsse ihn über einen längeren Zeitraum hinweg subtil auf einen anderen Kurs gebracht hatten.

Angefangen hatte alles während seines siebenjährigen Studiums im St. Vladimir Seminary. Pater Irwin Pandolfo, ein Jesuit und einer seiner Professoren, hatte den zweiundzwanzigj ährigen Malcolm gebeten, ihm bei den Recherchen für sein Buch über die großen Weltreligionen zu helfen. Malcolm hatte bereitwillig zugesagt und zwei Jahre lang jede freie Minute für das Buchprojekt geopfert. Als Die Evolution des menschlichen Glaubens erscheinen sollte, ließ sich kaum mehr feststellen, was Pandolfo und was Ainslie dazu beigetragen hatten, so daß der Professor sich fairerweise zu einem ungewöhnlichen Schritt entschloß. »Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet, Malcolm, und werden als Mitverfasser genannt. Keine Diskussion. Beide Namen in gleicher Schriftgröße, aber meiner kommt als erster. Einverstanden?«

Malcolm war so überwältigt, daß ihm ausnahmsweise die Worte fehlten.

Das Buch brachte beiden Verfassern viel Lob ein. Aber es bewirkte auch, daß Malcolm, der jetzt eine Autorität in bezug auf die Ursprünge aller Religionen war, gewisse Aspekte der einen Religion, der er sein Leben widmen wollte, in Frage zu stellen begann.

Ainslie erinnerte sich an eine Gelegenheit - an ein Gespräch mit Russell Sheldon gegen Ende ihrer Seminarausbildung. Malcolm hatte von einem Skriptum aufgesehen und gefragt: »Wer hat einmal geschrieben: >Ein wenig Gelehrsamkeit ist eine gefährliche Sache

»Papst Alexander.«

»Er hätte auch schreiben können: Viel Gelehrsamkeit ist eine gefährliche Sache, vor allem für zukünftige Priester.<«

Russell brauchte nicht zu fragen, was Malcolm meinte. Im Rahmen ihres Theologiestudiums hatten sie sich auch mit der Geschichte des Alten und des Neuen Testaments beschäftigt. In neuerer Zeit - vor allem seit den dreißiger Jahren - hatten Historiker und Theologen neue Erkenntnisse über die Bibel gewonnen.

»Die Bibel ist keine >Heilige Schrift< oder das >Wort Gottes<, wie religiöse Eiferer behaupten. Wer das glaubt, versteht einfach nicht - oder will es einfach nicht wissen -, wie die Bibel entstanden ist.«

»Vermindert das etwa deinen Glauben?«

»Nein, weil wahrer Glaube nicht auf der Bibel basiert. Er beruht auf unserem Instinkt, daß alles um uns herum nicht zufällig, sondern durch einen Akt Gottes entstanden ist -allerdings nicht unbedingt des in unserer Bibel geschilderten Gottes.«

Die beiden diskutierten über eine weitere allen Theologen bekannte Tatsache - daß die ersten bekannten Aufzeichnungen über Jesus fünfzig Jahre nach seinem Tod entstanden waren: im ersten Brief des Paulus an die Thessalonicher, dem ältesten Buch des Neuen Testaments. Selbst die vier Evangelien - das des Markus war das älteste - waren erst in den Jahren siebzig bis hundertzehn nach Christus niedergeschrieben worden.

»Wir wissen das«, stellte Malcolm fest, »aber Laien werden diese Tatsachen über die Bibel von den Kirchen noch immer vorenthalten. Natürlich steht außer Frage, daß Jesus gelebt hat und gekreuzigt worden ist; das gehört zur römischen Geschichte. Aber alle Geschichten über ihn - die jungfräuliche Geburt, der Stern von Bethlehem, die Hirten und der Engel des Herrn, die Weisen aus dem Morgenland, die Wunder, das letzte Abendmahl und sogar die Auferstehung - sind nur Legenden, die fünfzig Jahre lang mündlich überliefert worden sind. Was ihre Genauigkeit betrifft...«

Malcolm machte eine Pause. »Überleg mal: Wie lange ist's her, daß Präsident Kennedy in Dallas ermordet worden ist?«

»Fast zwanzig Jahre.«

»Und die ganze Welt ist Zeuge gewesen - Fernsehen, Radio, Presse, das Zapruder-Tonband, unzählige Wiederholungen, dann die Warren-Kommission.«

Russell nickte. »Aber trotzdem herrscht Uneinigkeit darüber, wie's passiert ist und wer's getan hat.«

»Genau! Stell dir neutestamentarische Zeiten ohne Kommunikationssysteme, offenbar auch ohne schriftliche Aufzeichnungen vor, dann kannst du dir ausmalen, welche Ausschmückungen und Verfälschungen es über fünfzig Jahre hinweg gegeben haben muß.«

»Du glaubst diese Geschichten über Jesus also nicht?«

»Ich habe meine Zweifel daran, aber das spielt keine Rolle. Jesus hat - ob durch Legenden oder Tatsachen - die Weltgeschichte mehr als jeder andere beeinflußt und die reinste, weiseste Lehre aller Zeiten hinterlassen.«

»Aber ist er Gottes Sohn gewesen?« fragte Russell weiter. »Ist er göttlich gewesen?«

»Ich bin bereit, daran zu glauben. Ja, daran glaube ich noch immer.«

»Ich auch.«

Aber glaubten sie das wirklich? Schon damals hegte zumindest Malcolm leichte Zweifel.

Kurze Zeit später stand Malcolm bei einer Diskussion über Grundsätze der katholischen Lehre anläßlich einer Visite des Erzbischofs auf und wollte wissen: »Wie kommt es, Euer Eminenz, daß unsere Kirche ihre Gemeindemitglieder niemals über neue Erkenntnisse der Bibelforschung und das neue Licht aufklärt, das sie auf Leben und Zeit Jesu werfen?«

»Weil das den Glauben vieler Katholiken untergraben könnte«, antwortete der Erzbischof rasch. »Theologische Debatten sollten wir Menschen mit den nötigen intellektuellen Voraussetzungen überlassen.«

»Sie halten also nichts von Johannes 8, 32?« fragte Malcolm ihn. »>Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.<«

Der Erzbischof antwortete leicht gereizt: »Mir wär's lieber, junge Priester würden sich auf Römer 5,19 konzentrieren: >So werden durch eines Gehorsam viele zu Gerechten.««

»Oder vielleicht auf Epheser 6, 5, Euer Eminenz«, antwortete Malcolm schlagfertig. »>Ihr Knechte, seid gehorsam euren leiblichen Herren.<«

Schallendes Gelächter erfüllte die Aula. Sogar der Erzbischof lächelte.

Nach ihrer Seminarausbildung gingen Malcolm und Russell als Vikare ihre eigenen Wege - auch in bezug auf ihre Ansichten über Religion und Alltagsprobleme, die sich im Lauf der Zeit wandelten.

In der St. Augustus Church in Pottstown war Malcolm der Vertreter von Pater Andre Quäle, der siebenundsechzig Jahre alt war, an einem Lungenemphysem litt, das Pfarrhaus nur selten verließ und seine Mahlzeiten oft allein einnahm.

»Also schmeißt eigentlich du den Laden«, stellte Russell einmal fest, als er bei seinem Freund zum Abendessen eingeladen war.

»Ich genieße weniger Freiheiten als du glaubst«, antwortete Malcolm. »Der alte Eisenarsch hat mir schon zwei Verweise erteilt.«

»Unser Herr und Meister, Bischof Sanford?«

Malcolm nickte. »Einige Leute aus der hiesigen alten Garde haben sich über zwei meiner Predigten beschwert. Sanford ist stinksauer gewesen.«

»Worüber hast du gepredigt?«

»Einmal über Übervölkerung und Geburtenkontrolle, ein andermal über Homosexualität, Kondome und AIDS.«

Russell lachte schallend. »Damit hast du allerdings einen empfindlichen Nerv getroffen.«

»Offenbar. Aber manche der bekannten Tatsachen, die unsere Kirche hartnäckig ignoriert, regen mich auf. Gut, persönlich kann ich mit Homosexualität nichts anfangen, aber nach Überzeugung bekannter Mediziner und Wissenschaftler ist Homosexualität hauptsächlich genbedingt, und diese Leute könnten sich nicht ändern, selbst wenn sie es wollten.«

Russell nickte verständnisvoll. »Also fragst du: >Wer hat sie so erschaffen?< Und wenn Gott uns alle erschaffen hat - hat er dann nicht auch die Homosexuellen gemacht? Vielleicht sogar für einen Zweck, den wir nicht verstehen?«

»Unser Standpunkt in bezug auf Kondome macht mich noch wütender«, sagte Malcolm. »Wie soll ich vor meine Gemeinde treten und ihr verbieten, etwas zu gebrauchen, das dazu beitragen kann, die Auswirkungen von AIDS zu verhindern? Aber die Kirche will nicht hören, was ich denke. Sie will nur, daß ich den Mund halte.«

»Hast du vor, ihn zu halten?«

Malcolm schüttelte langsam den Kopf. »Wart nur ab, worüber ich kommenden Sonntag predigen werde.«

Die Sonntagsmesse um 10.30 Uhr begann mit einer Überraschung. Wenige Minuten zuvor trat Bischof Sanford unangemeldet ein. Der weißhaarige Kirchenfürst, der sich auf einen Stock stützte, wurde von seinem Sekretär begleitet. Er stand in dem Ruf, strikt auf Disziplin zu achten und ein linientreuer Anhänger des Vatikans zu sein.

Vom Altar aus hieß Malcolm den Bischof öffentlich willkommen. Innerlich empfand er zunehmende Beklemmung. Dieser überfallartige Besuch erschreckte ihn, weil er wußte, daß seine Predigt Sanford mißfallen würde. Malcolm hatte damit gerechnet, daß der Bischof nachträglich davon erfahren würde, und war auf einen Rüffel gefaßt, aber Sanford als Zuhörer zu haben, war etwas völlig anderes. Trotzdem konnte und wollte er seine kritische Predigt über das Thema »Die Bibel als unerschütterliches Fundament unseres Glaubens: Wahn oder Wirklichkeit?« nicht mehr abändern.

Als die Geistlichen nach der Messe am Kirchenportal standen, um die Gemeindemitglieder mit einem Händedruck zu verabschieden, hörte Malcolm viel Lob über seine couragiert bibelkritische Predigt. »Höchst interessant, Pater«... »Das habe ich alles zum erstenmal gehört«... »Sie haben recht, das sollte öfter angesprochen werden.«

Bischof Sanford lächelte liebenswürdig, während Gemeindemitglieder ihm die Hand schüttelten. Aber sobald alle gegangen waren, machte er eine gebieterische Bewegung mit seinem Stock und nahm Malcolm beiseite.

Die Stimme des Bischofs klang eisig und schneidend scharf, als er anordnete: »Pater Ainslie, in dieser Kirche haben Sie ab sofort Predigtverbot. Ich erteile Ihnen einen neuerlichen Verweis, und Sie erhalten demnächst Anweisungen über Ihre Zukunft. Bis dahin rate ich Ihnen, um Demut, Klugheit und Gehorsam zu beten - Eigenschaften, die Ihnen offenbar fehlen und die Sie dringend benötigen.« Dann erteilte er Malcolm mit strenger Miene seinen Segen. »Möge der Herr deine Buße leiten und dich auf tugendhaftere Pfade führen.«

Als Malcolm abends mit Russell telefonierte, schilderte er ihm diesen Vorfall und fügte hinzu: »Wir werden von zu vielen säuerlichen alten Männern regiert.«

»Die sexuell völlig ausgehungert sind. Was ist von denen schon anderes zu erwarten?«

Malcolm seufzte. »Sexuell ausgehungert sind wir alle. Unser Leben ist pervers.«

»Du denkst wohl schon an die nächste Predigt?«

»Diesmal nicht. Sanford hat mir einen Maulkorb verpaßt. Er hält mich für einen Rebellen, Russell.«

»Hat er vergessen, daß auch Jesus ein Rebell gewesen ist? Er hat ähnliche Fragen wie du gestellt.«

»Erzähl das mal Eisenarsch.«

»Welche Buße wird er sich für dich einfallen lassen?«

»Keine Ahnung«, sagte Malcolm. »Das ist mir ehrlich gesagt ziemlich egal.«

Aber er brauchte nicht lange zu warten.

Bischof Sanfords Entscheidung wurde Malcolm zwei Tage später von Pater Andre Quäle mitgeteilt, der ein Schreiben der Erzdiözese erhalten hatte. Malcolm sollte sich sofort in ein Trappistenkloster in den Pocono Mountains im Norden Pennsylvanias begeben. Sein Aufenthalt in dieser Einsamkeit war vorläufig unbefristet.

»Ich bin zum Schweigen in der Äußeren Mongolei verurteilt worden«, berichtete Malcolm Russell. »Du weißt über die Trappisten Bescheid?«

»Sie leben enthaltsam und reden niemals.« Russell erinnerte sich an einen Artikel, den er gelesen hatte. Die Lebensweise des »Katholischen Ordens der Zisterzienser strikter Observanz«, so die offizielle Bezeichnung der Trappisten, war asketisch genügsam: wenig Essen, kein Fleisch, harte körperliche Arbeit und striktes Schweigen. Weltweit hatte dieser 1664 in Frankreich gegründete Orden siebzig Klöster.

»Der alte Sanford hat mir Buße versprochen«, fuhr Malcolm fort, »und er hält Wort. Ich soll dort ausharren und beten natürlich schweigend -, bis ich bereit bin, mich an die Linie des Vatikans zu halten.«

»Gehst du hin?«

»Ich muß. Tu' ich's nicht, werde ich meines Priesteramts enthoben.«

»Was für uns beide vielleicht nicht das Schlechteste wäre«, sagte Russell zu seiner eigenen Verblüffung impulsiv. »Vielleicht nicht«, stimmte Malcolm zu.

Malcolm begab sich ins Kloster und fand dort zu seiner Überraschung inneren Frieden. Die Entbehrungen ertrug er gelassen. Die Schweigepflicht war keineswegs so belastend, wie er geglaubt hatte, und als er später in die Welt zurückkehrte, fand er sie voll sinnlosem Geschwätz. Gegen eine Regel in seiner Verbannung verstieß er jedoch: Er betete nicht. Während die Mönche um ihn herum vermutlich schweigend beteten, nutzte Malcolm diese Zeit, um über seine Vergangenheit und Zukunft nachzudenken.

Nachdem er einen Monat in sich gegangen war, gelangte er zu drei Schlußfolgerungen: Er glaubte nicht mehr an irgendeinen Gott, die Göttlichkeit Jesu oder die Sendung der katholischen Kirche. Dafür gab es verschiedene Gründe, von denen der wichtigste die Tatsache war, daß selbst die ältesten Religione n höchstens fünftausend Jahre alt waren. Im Vergleich zu den unzähligen Äonen seit der Entstehung des Universums, in dem die Erde kaum ein Stecknadelkopf war, entsprach die Dauer der Existenz menschlicher Religionen vielleicht einem einzelnen Sandkorn der Sahara.

Deshalb waren die vielen Götter und Religionen lediglich Erfindungen der Neuzeit.

Sollten die Menschen deshalb von jeglicher Religionsausübung abgehalten werden? Keineswegs! Wer in ihr Trost fand, sollte in Ruhe gelassen und notfalls geschützt werden. Malcolm schwor sich, immer die Glaubensgrundsätze anderer zu achten.

Aber was kam für ihn als nächstes? Natürlich würde er das Priesteramt aufgeben. Nachträglich erkannte er seine Berufswahl als von Anfang an falsch - eine Realität, die er sich um so leichter eingestehen konnte, als seine Mutter im Jahr zuvor gestorben war. Auf dem Totenbett hatte Victoria Ainslie seine Hand gehalten und geflüstert: »Du bist Priester geworden, weil ich's wollte. Ich weiß nicht, ob das wirklich dein Wunsch war, aber ich bin voller Stolz gewesen und habe meinen Willen durchgesetzt. Ich frage mich, ob Gott mir das als Sünde ankreiden wird.« Malcolm hatte ihr versichert, das werde Gott nicht tun, und er bereue seine Berufswahl keineswegs. Seine Mutter war friedlich gestorben. Aber ohne sie fühlte er sich berechtigt, andere Entscheidungen zu treffen.

Die Stimme einer Stewardess aus der Bordsprechanlage unterbrach Malcolms Gedanken. Sie kündigte die baldige Landung in Atlanta an und bat die Fluggäste, sich wieder anzuschnallen, die Tischchen hochzuklappen und die Rückenlehnen gerade zu stellen.

Malcolm blendete diese bekannten Anweisungen aus und kehrte in Gedanken in die Vergangenheit zurück.

Er blieb noch einen weiteren Monat im Kloster, um Zeit zu haben, seinen Entschluß zu revidieren. Aber seine Überzeugung verfestigte sich, und am Ende dieses zweiten Monats schrieb er einen Brief, in dem er auf die Priesterwürde verzichtete, und ging einfach.

Nach mehreren Meilen Fußmarsch, auf dem er alles, was er aus seiner Vergangenheit mitnehmen wollte, in einem Handkoffer bei sich trug, nahm ihn ein Lastwagenfahrer nach Philadelphia mit. Dort fuhr er mit einem Bus zum Flughafen, und da er nicht wußte, wohin er sollte, kaufte er sich spontan ein Ticket für den nächsten Flug - einen Nonstopflug nach Miami. Dort begann sein neues Leben.

Kurz nach seiner Ankunft lernte er Karen Grundy kennen -eine Kanadierin, die in Miami Urlaub machte.

Sie stand in einer Reinigungsannahme hinter ihm. Malcolm, der ein paar Hemden waschen lassen wollte, war von der Angestellten gefragt worden, ob er sie zusammengelegt oder auf Bügeln haben wolle. Als er zögerte, sagte eine Stimme hinter ihm: »Wenn Sie viel reisen - zusammengelegt. Sonst sind Bügel praktischer.«

»Mit meiner Herumreiserei ist's vorbei«, sagte er, indem er sich nach der attraktiven jungen Frau umdrehte, die gesprochen hatte. Dann nickte er der Angestellten zu. »Also bitte auf Bügeln.«

Nachdem Karen ein Kleid in der Reinigung abgegeben hatte, sah sie Malcolm am Ausgang warten. »Ich wollte mich nur für Ihren freundlichen Rat bedanken.«

»Warum ist's mit Ihrer Herumreiserei vorbei?« fragte sie.

»Das kann ich hier schlecht erzählen. Aber vielleicht beim Mittagessen?«

Karen überlegte nur einen Augenblick, bevor sie lächelnd sagte: »Klar. Warum nicht?«

So begann ihre Romanze. Sie verliebten sich rasch ineinander, und Malcolm machte Karen schon nach zwei Wochen einen Heiratsantrag.

Etwa zu dieser Zeit las Ainslie im Miami Herald, die hiesige Polizei nehme neue Bewerber auf. Die Erinnerung an Russells Vater, Detective Kermit Sheldon, der ein Freund der Familie Ainslie gewesen war, bewog Malcolm dazu, sich für den Polizeidienst zu bewerben. Er wurde angenommen, absolvierte einen zehnwöchigen Lehrgang an der Police Department Academy und bestand ihn mit Auszeichnung.

Karen hatte nicht nur keine Einwände dagegen, statt in Toronto in Florida zu leben, sondern war von dieser Idee sogar begeistert. Und da sie inzwischen seine Vergangenheit kannte, urteilte sie ganz richtig über Malcolms neuen Beruf. »In gewisser Weise tust du nichts anderes als früher - du sorgst dafür, daß die Menschheit auf dem Pfad der Tugend bleibt.«

Er hatte gelacht. »Das wird viel mühsamer, aber verdammt viel praktischer.«

Letzten Endes war es dann beides.

Einige Monate später erfuhr Malcolm, daß Russell Sheldon der katholischen Amtskirche ebenfalls den Rücken gekehrt hatte. Russells Hauptmotiv war einfach, daß er heiraten und Kinder haben wollte. In einem Brief an Malcolm schrieb er:

Hast Du gewußt, daß es in den Vereinigten Staaten rund siebzigtausend von uns gibt: Geistliche, die aus eigenem Antrieb die Kirche verlassen haben, die meisten davon um die Dreißig? Das ist übrigens eine katholische Zahlenangabe.

Russell Sheldon hatte jedoch weder seinen Glauben verloren noch die Religion aufgegeben, sondern schloß sich einer freien katholischen Gemeinde in Chicago an, die ihn auch als aus dem Kirchendienst entlassenen Geistlichen akzeptierte. Malcolm hörte noch immer gelegentlich von ihm. Er amtierte weiter als unabhängiger Geistlicher und war glücklich mit einer ehemaligen katholischen Nonne verheiratet; nach letzten Berichten hatten die beiden zwei Kinder.

Die Maschine der Delta Airlines setzte weich in Atlanta auf und rollte zum Flugsteig. Nun hatte er nur noch den zweistündigen Flug nach Toronto vor sich.

Malcolm wandte sich von seinen Erinnerungen an die Vergangenheit ab und dachte mit Freude an die bevorstehenden angenehmen Urlaubstage.

5

Als Malcolm die Paß- und Zollkontrolle auf dem Flughafen Toronto passierte, sah er sich mit einem Schild mit dem Namen AINSLIE konfrontiert, das ein livrierter Chauffeur hochhielt.

»Mr. Ainslie aus Miami?« fragte der junge Mann freundlich, als Malcolm vor ihm stehenblieb.

»Ja, aber ich habe nicht damit gerechnet, daß... «

»Ich bin in General Grundys Auftrag hier. Der Wagen steht gleich draußen. Darf ich Ihren Koffer nehmen, Sir?«

George und Violet Grundy, Karens Eltern, wohnten in Scarborough Township am Ostrand von Groß-Toronto. Die Fahrt dorthin dauerte eineinviertel Stunden - etwas länger als sonst, weil letzte Nacht viel Schnee gefallen war, der den Verkehr auf dem Highway 401 noch immer behinderte. Der Himmel war bleigrau, die Temperatur lag um null Grad. Wie viele Einwohner Floridas, die im Winter nach Norden kamen, war Malcolm viel zu leicht angezogen. Falls Karen ihm nicht ein paar warme Sachen eingepackt hatte, würde er sich Winterkleidung kaufen oder leihen müssen.

Der Empfang im bescheidenen Vorstadthaus der Grundys war dagegen äußerst warm und herzlich. Sobald die Limousine vor dem Haus hielt, flog die Haustür auf, und die Familie strömte ins Freie, um ihn zu begrüßen - Karen voraus, Jason dicht hinter ihr. Karen küßte ihn, umarmte ihn und flüsterte ihm dabei zu: »Wie schön, daß du da bist«, was unerwartet und beruhigend war. Jason zupfte an seinem Ärmel und rief: »Daddy! Daddy!« Malcolm zog ihn mit einem Arm an sich und gratulierte ihm herzlich zum Geburtstag.

Aber die drei blieben nicht lange allein. Karens jüngere Schwester Sofia, groß, schlank und sexy, drängte sich zwischen sie, um Malcolm mit einem herzlichen Kuß zu begrüßen. Ihr Mann Gary Moxie, ein Börsenmakler aus Winnipeg, schüttelte Malcolm die Hand und versicherte ihm: »Die ganze Familie ist stolz auf dich und deine Arbeit. Du mußt uns viel davon erzählen, solange du hier bist.« Die beiden Töchter der Moxies, die zwölfjährige Myra und die zehnjährige Susan, beteiligten sich ebenfalls an dieser lautstark freundschaftlichen Begrüßung.

Violet Grundy, eine elegante, mütterliche Erscheinung, umarmte ihren Schwiegersohn als nächste. »Wir sind alle glücklich, daß du kommen konntest«, versicherte sie ihm lächelnd. »Das bißchen Verspätung spielt keine Rolle; wichtig ist nur, daß du da bist.«

Als die anderen sich abwandten, um ins Haus zurückzugehen, legte George Grundy, weißhaarig, aufrecht und mit fünfundsiebzig kein Gramm übergewichtig, Malcolm einen Arm um die Schultern. »Gary hat recht, wir sind stolz auf dich. Manchmal vergessen die Leute, wie wichtig es ist, als erstes seine Pflicht zu tun; daran denken heutzutage so wenige.« George senkte seine Stimme. »Ich habe allen - besonders Karen - einen kleinen Vortrag über dieses Thema gehalten.«

Ainslie lächelte, denn diese vertrauliche Mitteilung erklärte vieles. Karen bewunderte ihren Vater, und seine Worte hatten offenbar nachhaltig gewirkt. »Nett von dir«, sagte er dankbar. »Und alles Gute zum Geburtstag!«

Brigadegeneral George Grundy hatte im Zweiten Weltkrieg als Berufssoldat mit der kanadischen Armee in Europa gekämpft, war Tapferkeitsoffizier geworden, hatte schwere Kämpfe überlebt und war mit dem Military Cross ausgezeichnet worden. Später hatte er am Koreakrieg teilgenommen. Seit er mit fünfundfünfzig in den Ruhestand getreten war, hielt er in Colleges Vorträge über internationale Beziehungen.

»Komm, wir gehen rein, bevor du hier draußen zum Eiszapfen wirst«, sagte George Grundy. »Für uns beide ist ein volles Programm geplant.«

Georges und Jasons doppelter Geburtstag wurde den ganzen Tag lang gefeiert. Zum Abendessen erschienen weitere elf Gäste, so daß das bescheidene Heim der Grundys mit zwanzig Personen überfüllt war. Zu den Neuankömmlingen gehörte Karens älterer Bruder Lindsay aus Montreal, der sich nicht eher hatte freimachen können. Mit ihm kamen seine Frau Isabel, sein erwachsener Sohn Owen und Owens Frau Yvonne. Die übrigen sieben Gäste waren alte Freunde des Ehepaars Grundy.

Bei dieser Geburtstagsfeier stand Malcolm ganz unerwartet im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. »Als ob man einen richtigen Fernsehdetektiv ausfragen könnte«, sagte die zwölfjährige Myra, nachdem sie ihn mit Fragen bombardiert hatte.

Jason setzte sich plötzlich hellwach auf. »Mein Dad arbeitet viel besser als diese Kerle im Fernsehen.«

Andere fragten nach der Hinrichtung, der Malcolm an diesem Morgen beigewohnt hatte, nach den Morden, die der Täter verübt hatte, und wie sie aufgeklärt worden waren. Malcolm beantwortete alle Fragen so aufrichtig wie möglich, ließ aber sein letztes Gespräch mit Elroy Doil unerwähnt.

»Ein Grund für unser Interesse«, sagte George Grundy erklärend, »ist die erschreckende Zunahme von Gewalttaten bei uns in Kanada. Früher hat man aus dem Haus gehen und sich sicher fühlen können, aber das ist längst vorbei. Jetzt sind wir fast so schießwütig wie ihr in den Staaten.« Die anderen murmelten zustimmende Worte.

Als sich eine Diskussion über Mordfälle entwickelte, erläuterte Malcolm, daß die meisten Mörder gefaßt wurden, weil sie Fehler machten oder sich nicht bewußt waren, welche Fahndungsmöglichkeiten die Polizei hatte.

»Eigentlich«, sagte Sofia Moxie, »müßten sie durch die Flut an Informationen - in Zeitungen, in der Literatur und im Fernsehen - über Verbrechen und ihre Bestrafung wissen, wie schlecht ihre Chancen stehen.«

»Du würdest's wissen«, stimmte Malcolm zu. »Aber die Mörder, mit denen wir es zu tun haben, sind oft jung und nicht besonders gut informiert.«

»Vielleicht sind sie's nicht, weil sie nicht viel lesen«, meinte Owen Grundy. Er war schlank und drahtig, ein Architekt mit einer Vorliebe für Ölmalerei.

Malcolm nickte. »Viele von ihnen lesen nie. Manche können wahrscheinlich nicht mal lesen.«

»Aber sie sehen bestimmt fern«, warf Myra ein. »Und Fernsehverbrecher werden geschnappt.«

»Richtig«, bestätigte Malcolm. »Aber im Fernsehen werden Verbrecher als große Helden hingestellt. Sie fallen auf, und das möchten Jugendliche - vor allem aus unterprivilegierten Familien - auch gern. Die Konsequenzen zeigen sich dann später, meist zu spät.«

Zu Malcolms Überraschung befürworteten die meisten Anwesenden die Todesstrafe für Mord, selbst bei Verbrechen aus Leidenschaft. Der in den Vereinigten Staaten zu beobachtende Meinungsumschwung schien nun auch Kanada zu erfassen, wo die Todesstrafe 1976 abgeschafft worden war. Isabel Grundy, eine Physiklehrerin mit burschikos nüchterner Art, sprach sich besonders vehement dafür aus. »Ich bin für die Wiedereinführung der Todesstrafe. Manche Leute behaupten, sie wirke nicht abschreckend, aber der gesunde Menschenverstand sagt einem das Gegenteil. Außerdem sind die Hingerichteten meist der Abschaum der Menschheit. Ich weiß, daß es nicht politisch korrekt ist, das zu sagen, aber es ist trotzdem wahr!«

Aus Interesse fragte Malcolm: »Für welche Hinrichtungsart würdest du plädieren?«

»Galgen, elektrischer Stuhl, Giftspritze - mir ist's egal, wenn wir diese Leute nur loswerden.«

Danach herrschte für kurze Zeit verlegenes Schweigen, weil Isabel sich in Rage geredet hatte. Trotzdem fiel Malcolm auf, daß niemand ihr widersprach.

Am nächsten Morgen machten Karen, Malcolm und Jason in Scarborough einen Spaziergang am Seeufer. Von hohen Klippen aus konnten sie den Ontariosee überblicken, obwohl der Nachbarstaat New York, der etwa hundertfünfzig Kilometer entfernt war, außer Sichtweite blieb. Nachts hatte es wieder geschneit, und das Trio lieferte sich eine Schneeballschlacht. Nach vielen Versuchen fand einer von Jasons Schneebällen endlich sein Ziel: Malcolms Kopf. »Wenn wir in Miami doch auch Schnee hätten!« rief der Kleine jubelnd.

Sie klopften den Pulverschnee von ihrer Kleidung und gingen weiter. Solche Augenblicke sind viel zu selten, erkannte Malcolm, während er Karen und Jason seine Arme um die Schultern legte.

Als ihr Sohn dann vorauslief, sagte Karen plötzlich: »Was ich dir zu erzählen habe, kann ich ebensogut jetzt sagen. Ich bin schwanger.«

Malcolm blieb stehen und starrte sie an. »Ich dachte...«

»Ich natürlich auch. Das beweist nur, daß Ärzte sich irren können. Ich habe mich erst gestern zum zweitenmal untersuchen lassen; ich wollte's dir nicht früher erzählen, um keine falschen Hoffnungen zu wecken. Aber stell dir vor, Malcolm, wir bekommen ein Baby!«

Die beiden hatten sich seit vier Jahren ein weiteres Kind gewünscht, aber Karens Gynäkologe hatte ihr erklärt, sie könne keines mehr bekommen.

Karen fuhr fort: »Ich wollte's dir auf dem Flug hierher erzählen...«

Malcolm schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Jetzt verstehe ich, wie dir vorgestern zumute gewesen sein muß! Tut mir leid, Darling.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast deine Pflicht getan. Schön, jetzt wissen's wir also beide. Bist du glücklich?«

Statt zu antworten, schloß Malcolm Karen in die Arme und küßte sie.

»Hey!« rief Jason lachend. »Vorsicht!« Als sie sich dann umdrehten, traf sie ein perfekt gezielter Schneeball.

»Das sollten wir öfter machen«, sagte Gary Moxie, als das Familientreffen früh am vierten Tag mit herzlicher Verabschiedung zu Ende ging. Sie waren alle vor Tagesanbruch aufgestanden, hatten rasch gefrühstückt und fuhren dann mit mehreren Autos zum Flughafen Toronto, um die Frühmaschinen zu erreichen.

George Grundy brachte Karen, Malcolm und Jason zum Flughafen. Unterwegs plapperte Jason aufgeregt. »Opa«, sagte er zu seinem Großvater, »ich bin echt froh, daß wir am gleichen Tag Geburtstag haben.«

»Ich auch, mein Junge«, antwortete der General. »Wenn ich mal nicht mehr da bin, feierst du hoffentlich für uns beide. Traust du dir das zu?«

»O ja!«

»Das tut er«, sagte Karen. »Aber das hat noch lange Zeit, Dad. Wie wär's, wenn wir den nächsten gemeinsamen Geburtstag in Miami feiern würden? Wir laden die ganze Familie ein.«

»Abgemacht!« Ihr Vater wandte sich an Malcolm, der auf dem Rücksitz saß. »Wenn's dir auch recht ist?«

Malcolm schrak hoch. »Sorry! Worum geht's denn?«

Karen seufzte. »Hallo! Bist du wieder da?«

George Grundy lachte. »Laß nur, Karen, diese Anzeichen kenne ich. Du hast über die morgigen Probleme nachgedacht, stimmt's?«

»Ja, das habe ich«, gab Malcolm zu. Er hatte sich gerade überlegt: Wie lassen sich die noch offenen Fragen, die mein letztes Gespräch mit Elroy Doil aufgeworfen hat, am besten beantworten? Und wie schnell läßt sich das machen?

6

Wie sich dann zeigte, hatte Malcolm Ainslie in der ersten Woche nach seiner Rückkehr kaum Gelegenheit, über Doil nachzudenken. Auf seinem Schreibtisch türmten sich Aktenberge und Unterlagen, die sich während seiner viertägigen Abwesenheit angesammelt hatten und erledigt werden mußten.

Am wichtigsten war der Stapel mit den Überstundenabrechnungen seiner Leute. Ainslie zog ihn näher heran. »Schön, daß Sie wieder da sind, Sergeant«, begrüßte ihn Detective Jose Garcia, dessen Schreibtisch neben seinem stand. »Freut mich, daß Sie das Wichtigste zuerst erledigen«, fügte er hinzu, als er die Überstundenabrechnungen sah.

»Ich weiß, wie ihr Jungs arbeitet«, sagte Ainslie. »Immer darauf aus, ein paar Dollar mehr zu verdienen.«

Garcia spielte den Gekränkten. »Hey, wir müssen dafür sorgen, daß unsere Kinder nicht verhungern.«

Tatsächlich brauchten die Kriminalbeamten ihre Überstunden, um finanziell über die Runden zu kommen. Obwohl die Beförderung zum Detective begehrt war, weil nur die Besten und Intelligentesten genommen wurden, war damit bei der Miami Police paradoxerweise keine Gehaltserhöhung verbunden. Ein Kriminalbeamter mit regulärer Vierzigstundenwoche verdiente im Durchschnitt achthundertachtzig Dollar und mußte davon noch Steuern zahlen; zwanzig Überstunden brachten ihm zusätzlich sechshundertsechzig Dollar pro Woche ein. Aber der Preis dafür war hoch: Für irgendein Privatleben blieb praktisch keine Zeit mehr.

Jede Überstunde wurde jedoch pedantisch genau aufgeführt und vom Sergeant des jeweiligen Ermittlerteams abgezeichnet -eine zeitraubende Arbeit, die Ainslie jetzt ungeduldig erledigte.

Dann kamen die halbjährlichen Beurteilungen aller Kriminalbeamten seines Teams, die er mit der Hand schrieb, damit eine Sekretärin sie abtippen konnte. Und zuletzt weitere Berge von Papier: Berichte über laufende Ermittlungen, auch in neuen Fällen, die er wenigstens lesen und abzeichnen mußte, falls nicht auch etwas zu veranlassen war.

»Manchmal«, beschwerte er sich bei Sergeant Pablo Greene, »komme ich mir wie ein kleiner Bürogehilfe in einem Roman von Charles Dickens vor.«

»Das liegt daran, daß wir uns alle für Scrooge totarbeiten«, antwortete Greene.

Deshalb fand Ainslie erst am späten Nachmittag des ersten Tages nach seiner Rückkehr Zeit, sich mit dem Fall Doil zu befassen. Er ging mit der Tonbandkassette zu Newbold.

»Was hat Sie so lange aufgehalten?« fragte der Lieutenant. »Nein, erzählen Sie's mir lieber nicht.«

Während Ainslie das Tonbandgerät einschaltete, wies Newbold seine Sekretärin an, nur dringende Anrufe durchzustellen, und schloß die Bürotür. »Ich bin gespannt, was Sie mitgebracht haben.«

Ainslie spielte die gesamte Aufnahme ab - von der Sekunde an, in der er sein Gerät in dem kahlen kleinen Büro nahe der Hinrichtungskammer eingeschaltet hatte. Nach kurzer Pause war zu hören, wie die Tür geöffnet wurde, als Lieutenant Hambrick zurückkam und zwei Gefängniswärter den kahlgeschorenen Elroy Doil in Hand- und Fußfesseln hereinführten, mit Pater Ray Uxbridge am Ende dieser kleinen Prozession. Ainslie murmelte Erklärungen zu den einzelnen Geräuschen.

Newbold hörte sich den nun folgenden Wortwechsel gespannt an: die ölige Stimme des Gefängnisgeistlichen... Doils heisere Aufforderung an Ainslie: »Vergeben Sie mir, Pater, denn ich habe gesündigt...« Dann Uxbridges erregter Einspruch: »Das ist Gotteslästerung!...« Zuletzt Doils wütende Aufforderung:

»Schafft dieses Arschloch hier raus!«

Newbold schüttelte fassungslos den Kopf. »Einfach unglaublich!«

»Augenblick, es kommt noch mehr.«

Die Lautstärke nahm ab, sobald Ainslie dann vorgab, Doil die »Beichte« abzunehmen.

»Ich hab' ein paar Leute umgebracht, Pater.,.«

»Wen zuerst?«

»Zwei Japse in Tampa.«

Newbold, der wie gebannt zuhörte, fing an, sich Notizen zu machen.

Wenig später folgte Doils Geständnis seiner übrigen Doppelmorde... an den Ehepaaren Esperanza, Frost, Larsen, Hennenfeld, Urbina, Tempone...

»Die Gesamtzahl stimmt nicht«, stellte Newbold fest. »Das haben Sie mir erzählt, aber ich habe gehofft...«

»Daß ich mich verrechnet habe?« Ainslie lächelte schwach.

Als nächstes kam Doils verzweifelter Appell in bezug auf die Ermordung des Ehepaars Ernst: »Ich bin's nicht gewesen! Ich schwör's Ihnen, Pater! Dafür will ich Vergebung... Ich hab' die anderen umgebracht, aber ich will mir nichts anhängen lassen, was ich nie getan habe!«

Sein Ausbruch ging weiter, bis Newbold plötzlich ausrief: »Halt!« Ainslie drückte die Pausentaste. Zwischen den Glaswänden, die das Büro des Lieutenants umschlossen, herrschte wieder Stille.

»Jesus! Das klingt so gottverdammt wahr.« Newbold sprang auf und ging kurz vor seinem Schreibtisch auf und ab, bevor er sich erkundigte: »Wie lange hat Doil noch zu leben gehabt, als er das alles gesagt hat?«

»Ungefähr zehn Minuten. Nicht wesentlich mehr.«

»Ich weiß nicht, ich weiß einfach nicht... Ich habe ihm anfangs kein Wort glauben wollen... Aber wer mit dem Tod vor Augen...« Der Lieutenant starrte Ainslie an. »Glauben Sie, was er erzählt hat?«

Ainslie antwortete zurückhaltend. »Ich habe wegen des einen Falls schon immer Zweifel gehabt, deshalb...« Den Rest ließ er ungesagt.

»Deshalb fällt's Ihnen leichter, Doil zu glauben«, ergänzte Newbold seine Antwort.

Malcolm Ainslie schwieg. Mehr gab es dazu eigentlich nicht zu sagen.

»Okay, hören wir uns den Rest an«, entschied Newbold.

Ainslie ließ das Tonband weiterlaufen.

Er hörte, wie er Doil fragte: Alle diese Morde - die vierzehn, die Sie zugeben -, bereuen Sie die?

»Zum Teufel mit denen!... Sie sollen mir die anderen vergeben, an denen ich nicht schuld bin!«

»Er ist geistesgestört«, sagte Newbold. »Beziehungsweise gewesen.«

»Das habe ich auch gedacht; ich denke es noch jetzt. Aber auch Geistesgestörte lügen nicht ständig.«

»Er ist ein pathologischer Lügner gewesen«, gab Newbold zu bedenken.

Sie schwiegen wieder, als Ainslie Doil erklärte: »... ein Geistlicher könnte Ihnen keine Absolution erteilen, bevor Sie alles bereuen - und ich bin kein Priester.«

Danach war plötzlich Lieutenant Hambricks Stimme zu hören, die Ainslie aufforderte: »Sie wissen noch immer genug, um etwas für ihn zu tun... Also tun Sie's!«

Newbold ließ Ainslie nicht aus den Augen, als seine Tonbandstimme Foucaulds Gebet der Hingabe rezitierte, das Doil Satz für Satz wiederholte. Der Lieutenant fuhr sich sichtlich bewegt mit einer Hand übers Gesicht und sagte danach leise: »Sie sind ein guter Kerl, Malcolm.«

Ainslie stellte das Gerät ab und spulte das Band zurück.

Dann saß Newbold stumm an seinem Schreibtisch und wog offensichtlich seine bisherige Meinung gegen das eben Gehörte ab. Nach einiger Zeit sagte er: »Sie haben die Sonderkommission geleitet, Malcolm, daher ist das eigentlich noch immer Ihr Fall. Was schlagen Sie vor?«

»Wir überprüfen alles, was Doil behauptet hat - die Geldklammer mit dem Monogramm, den Mord an dem Ehepaar Ikei und das Messer, das er in einem Grab zurückgelassen haben will. Ich setze Ruby Bowe darauf an - sie versteht sich auf solche Nachforschungen. Danach wissen wir, wieviel Doil gelogen hat - wenn er überhaupt gelogen hat.«

»Und was passiert«, fragte Newbold, »wenn Doil ausnahmsweise nicht gelogen hat?«

»Dann haben wir keine andere Wahl. Wir sehen uns den Fall Ernst noch mal an.«

Der Lieutenant machte ein mürrisches Gesicht. In der Polizeiarbeit gab es kaum etwas Frustrierenderes als die Wiederaufnahme eines bereits abgeschlossenen Mordfalls, den jedermann für gelöst hielt - vor allem eines von den Medien so aufgebauschten sensationellen Falls.

»Einverstanden«, sagte Newbold zuletzt. »Ruby soll loslegen. Wir müssen's wissen.«

7

»Meinetwegen überprüfen Sie diese Angaben in beliebiger Reihenfolge, Detective«, sagte Ainslie zu Ruby Bowe. »Aber irgendwann müssen Sie auch nach Tampa.«

Es war kurz nach sieben Uhr am Morgen nach Ainslies Besprechung mit Lieutenant Newbold, und Bowe saß auf einem Stuhl neben Ainslies Schreibtisch. Am Vorabend hatte er ihr ein Tonbandgerät mit Kopfhörer mitgegeben und sie aufgefordert, sich die Aufnahme aus dem Florida-State-Gefängnis zu Hause anzuhören. Morgens hatte sie ihm das Gerät mit deprimiertem Kopfschütteln zurückgegeben. »Schlimm, wirklich schlimm. Ich habe die halbe Nacht wach gelegen. Aber ich hab's gespürt. Ich habe die Augen zugemacht und bin dabeigewesen.«

»Sie haben also gehört, was Doil gesagt hat und was überprüft werden muß?«

»Ich habe mir alles notiert.« Bowe zeigte Ainslie ihr Notizbuch, in dem sämtliche Punkte standen.

»Schön, Sie können anfangen«, erklärte er ihr. »Ich weiß, daß ich mich auf Sie verlassen kann.«

Ruby Bowe ging, und Ainslie wandte sich dem Papierkram auf seinem Schreibtisch zu, ohne zu ahnen, wie wenig Zeit er haben würde, um ihn aufzuarbeiten.

Der Anruf unter der Notrufnummer 911 wurde in der Nachrichtenzentrale der Miami Police um 7.32 Uhr registriert.

Eine Polizeibeamtin meldete sich: »Notruf neuneinseins, was kann ich für Sie tun?« Gleichzeitig erschienen auf einem Anzeigefeld über ihrem Computer die Nummer des Anschlusses, von dem aus angerufen wurde, und der Name T. DAVANAL.

Eine atemlose Frauenstimme: »Schicken Sie die Polizei zur

2801 Brickell Avenue gleich östlich der Viscaya Street. Mein Mann ist angeschossen worden.«

Während die Anruferin sprach, tippte die Beamtin ihre Angaben ein und schickte sie mit einer F-Taste zu einer Dispatcherin in einer anderen Abteilung der Zentrale hinüber.

Die Dispatcherin reagierte prompt, weil sie wußte, daß die angegebene Adresse in Zone 74 lag. Auf ihrem Bildschirm hatte sie bereits eine Liste der verfügbaren Streifenwagen mit ihren Nummern und Standorten. Sie wählte einen aus und rief ihn über Funk: »Einssiebenvier.«

Als Streifenwagen 174 sich meldete, sendete die Dispatcherin erst einen lauten Piepston, der eine dringende Nachricht ankündigte. Dann sagte sie ins Mikrofon: »Dreidreißig in der 2801 Brickell Avenue, östlich der Viscaya Street.« Die »3« bedeutete einen Notfall mit Blinklicht und Sirene, die »30« bezeichnete einen gemeldeten Schußwaffengebrauch.

»QSL. Ich bin ganz in der Nähe im Alice Wainwright Park.«

Während die Dispatcherin sprach, winkte sie Harry Clemente, den Sergeant vom Dienst, zu sich heran. Sie zeigte auf die Adresse auf ihrem Bildschirm. »Klingt irgendwie bekannt. Sind das wirklich die Leute, die ich meine?«

Clemente beugte sich nach vorn, dann sagte er: »Falls Sie die Davanals meinen, haben Sie gottverdammt recht!«

»Das ist ein Dreidreißiger.«

»Scheiße!« Der Wachleiter las die übrigen Informationen. »Okay, ich bleibe in der Nähe.«

Die Beamtin, die den Notruf entgegengenommen hatte, sprach weiter mit der Anruferin. »Ein Streifenwagen ist zu Ihnen unterwegs. Lassen Sie mich bitte Ihren Familiennamen verifizieren. Ist die korrekte Schreibung Davanal?«

»Ja, ja«, sagte die Anruferin ungeduldig. »Das ist der Name meines Vaters. Ich heiße Maddox-Davanal.«

Aus der berühmten Familie Davanal? hätte die Polizeibeamtin am liebsten gefragt. Statt dessen verlangte Sie: »Ma'am, bleiben Sie bitte am Apparat, bis der Streifenwagen da ist.«

»Das kann ich nicht. Ich bin sehr beschäftigt.« Ein Klicken zeigte, daß die Anruferin aufgelegt hatte.

Um 7.39 Uhr wurde die Dispatcherin von Streifenwagen 174 über Funk gerufen. »Hier ist jemand erschossen worden. Bitte ein Ermittlerteam der Mordkommission auf Tac One.«

»QRX« - das Kürzel für »Bitte warten«.

Malcolm Ainslie saß an seinem Schreibtisch und hatte sein Handfunkgerät eingeschaltet, als Streifenwagen 174 die Mordkommission verlangte. Er sah von seinen Akten auf und nickte Jorge zu, er solle sich melden.

»Okay, Sarge.« Rodriguez schaltete sein eigenes Funkgerät ein und meldete der Dispatcherin: »Dreizehnelf ruft Wagen einssiebenvier auf Tac One.« Dann schaltete er auf den für die Mordkommission reservierten Kanal Tac One um. »Einssiebenvier, hier dreizehnelf. QSK?«

»Dreizehnelf, wir haben einen Toten in der 2801 Brickell Avenue. Ein möglicher Einunddreißiger.«

Ainslie hob ruckartig den Kopf, als er diese Adresse und den Zahlencode für »Mord« hörte. Er ließ allen Papierkram liegen, schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Dann nickte er Jorge zu, der ins Funkgerät sagte: »Einssiebenvier, wir sind zu Ihnen unterwegs. Sichern Sie den Tatort. Fordern Sie bei Bedarf weitere Unterstützung an.« Er schob sein Funkgerät in die Gürtelhalterung und fragte: »Ist das die Adresse dieser stinkreichen Familie?«

»Genau! Dort wohnen die Davanals. Ich kenne ihre Adresse; die kennt jeder.« In Miami war es praktisch unmöglich, nicht über diesen Namen zu stolpern. Davanal's war eine über ganz Florida verbreitete Warenhauskette. Außerdem gehörte der Familie ein Fernsehsender, den Felicia Maddox-Davanal selbst leitete. Darüber hinaus war die ursprünglich aus Mitteleuropa stammende Familie, die jedoch seit dem Ersten Weltkrieg in Florida ansässig war, politisch und finanziell sehr angesehen und mächtig. Die Medien bezeichneten die Davanals manchmal als »das Königshaus Miamis«, und ein weniger wohlwollender Kommentator hatte einmal hinzugefügt: »Und sie benehmen sich auch so.«

Ein Telefon klingelte. Rodriguez meldete sich, dann gab er den Hörer an Ainslie weiter. »Sergeant Clemente aus der Zentrale.«

»Wir sind dran, Harry«, sagte Ainslie. »Der Streifenwagen hat uns angefordert. Wir fahren gleich hin.«

»Der Erschossene ist Byron Maddox-Davanal, der Schwiegersohn. Seine Frau hat neuneinseins angerufen. Du kennst die Geschichte mit dem Namen?«

»Welche?«

»Er hat schlicht Maddox geheißen, als er Felicia geheiratet hat. Ihre Familie hat auf der Namensänderung bestanden. Hat den Gedanken nicht ertragen können, daß der Name Davanal eines Tages verschwinden würde.«

»Danke. Jedes bißchen Information kann nützen.«

Ainslie legte den Hörer auf und erklärte Rodriguez: »Diesmal beobachten uns viele einflußreiche Leute, Jorge, deshalb dürfen wir keinen Fehler machen. Sie gehen voraus, holen einen Wagen und warten unten auf mich. Ich informiere den Lieutenant.«

Newbold, der gerade zum Dienst gekommen war, sah auf, als Ainslie hereinkam. »Was gibt's, Malcolm?«

»Byron Maddox-Davanal scheint in der Villa der Familie ermordet worden zu sein. Ich bin dorthin unterwegs.«

Lieutenant Newbold starrte ihn an. »O Gott! Ist das nicht Felicia Davanals Ehemann?«

»Das ist er. Oder gewesen.«

»Und sie ist die Enkelin des alten Davanal, nicht wahr?«

»Richtig. Sie hat neuneinseins angerufen. Ich wollte Sie nur rechtzeitig informieren.« Newbold griff nach dem Telefonhörer.

»Sieht wie das Schloß eines Feudalherren aus«, stellte Jorge fest, als sie in ihrem neutralen Dienstwagen auf den imposanten Familiensitz der Davanals zufuhren.

Das Haus mit seinen Türmen, Erkern und Spitzgiebeln stand auf einem fast eineinhalb Hektar großen Grundstück. Das von einer hohen Mauer aus Steinquadern mit festungsähnlichen Eckbastionen umgebene Ensemble wirkte fast mittelalterlich.

»Mich wundert nur, daß Burggraben und Zugbrücke fehlen«, sagte Ainslie.

Hinter der Villa lag die Biscayne Bay, die weiter draußen in den Atlantik überging.

Die Zufahrt zu dem von der Straße aus nur teilweise sichtbaren weitläufigen Gebäudekomplex wurde durch ein geschmackvolles schmiedeeisernes Tor mit dem Familienwappen auf beiden Flügeln gesichert. Im Augenblick war das Tor geschlossen, aber dahinter war eine lange Einfahrt zu erkennen, die sich in Kurven zum Haus wand.

»Verdammt, nicht schon jetzt!« rief Ainslie aus, weil er den Übertragungswagen einer Fernsehstation vor ihnen herfahren sah. Leute aus der Medienbranche, die laufend den Polizeifunk abhörten, mußten die Adresse der Davanals erkannt haben. Aber dann sah er, daß es ein Übertragungswagen der Station WBEQ war, die der Familie Davanal gehörte. Vielleicht hat jemand aus dem Haus den Reportern einen Tip gegeben, damit sie als erste da waren, sagte er sich.

In Tornähe standen drei Streifenwagen mit eingeschalteten Blinkleuchten. Wagen 174 mußte Verstärkung angefordert haben, oder weitere Fahrzeuge waren von sich aus hergekommen - vermutlich letzteres. Cops konnten verdammt neugierig sein, das wußte Ainslie. Am Tor gab es anscheinend eine Auseinandersetzung zwischen zwei uniformierten Polizisten und dem Fernsehteam mit der attraktiven schwarzen Reporterin Ursula Felix, einer alten Bekannten Ainslies. Die Einfahrt war bereits mit gelbem Plastikband abgesperrt, aber ein uniformierter Beamter, der Ainslie und Rodriguez erkannte, machte Platz, damit sie durchfahren konnten.

Jorge wollte wieder Gas geben, aber die Reporterin blockierte die Durchfahrt. Ainslie ließ sein Fenster herunter. »Hey, Malcolm«, sagte sie bittend, »bringen Sie diese Kerle zur Vernunft! Mrs. Davanal möchte uns drinnen haben; sie hat deswegen selbst angerufen. WBEQ ist die Station der Davanals, und wir brauchen unbedingt einen Bericht für die Morgennac hrichten.«

Während sie das sagte, beugte Ursula Felix sich zu Ainslie hinunter. Ihr voller Busen, der durch eine hautenge Seidenbluse noch betont wurde, war so nah, daß Ainslie ihn hätte berühren können. Ihr rabenschwarzes Haar war zu vielen kleinen Zöpfen geflochten, und ihr schweres Parfüm drang in das Wageninnere.

Es hat also einen Tip aus dem Haus gegeben, sagte Ainslie sich - und nicht nur von irgend jemandem. Felicia Maddox-Davanal hatte selbst angerufen, obwohl sie offenbar erst wenige Minuten zuvor Witwe geworden war.

»Hören Sie, Ursula«, sagte er, »das hier ist ein Tatort, und Sie kennen unsere Vorschriften. Wir haben einen PIO angefordert, der Ihnen dann mitteilt, was wir zur Veröffentlichung freigeben können.«

Ein Kameramann hinter der Reporterin warf ein: »Wenn's um ihr Eigentum geht, läßt Mrs. Davanal sich keine Vorschriften machen, und auf beiden Seiten des Tors gehört alles der Familie.« Seine Handbewegung umfaßte die Villa und den Übertragungswagen.

»Und die Lady verlangt, daß ihre Leute spuren«, fügte Ursula hinzu. »Kommen wir nicht durch, schmeißt sie uns vielleicht raus.«

»Okay, ich denke daran.« Ainslie nickte Jorge zu, er solle weiterfahren.

»Sie leiten die Ermittlungen«, teilte er Jorge mit, »aber ich arbeite eng mit Ihnen zusammen.«

»Ja, Sergeant.«

Kies knirschte unter ihren Reifen, als sie der von hohen Palmen gesäumten Einfahrt folgten und neben dem vor der Villa geparkten weißen Bentley hielten. Ein Flügel des imposanten Portals stand offen. Als die beiden Kriminalbeamten ausstiegen, wurde die Haustür ganz geöffnet, und ein großgewachsener Mann Anfang Fünfzig erschien. Seine würdevolle Haltung und die untadelige Kleidung verrieten den Butler. Nach einem kurzen Blick auf ihre Polizeiplaketten sprach er sie mit britischem Akzent an.

»Guten Morgen, Officers. Bitte folgen Sie mir.« In der geräumigen, mit kostbaren Antiquitäten ausgestatteten Eingangshalle drehte er sich nach ihnen um. »Mrs. Maddox-Davanal telefoniert gerade. Sie läßt Sie bitten, hier auf sie zu warten.«

»Nein«, widersprach Ainslie energisch. »Wir haben die Meldung bekommen, hier sei jemand erschossen worden. Wir gehen sofort zum Tatort.« Rechts führte ein mit Teppichboden ausgelegter Korridor in einen Seitenflügel des Hauses; fast am Ende stand ein uniformierter Polizeibeamter, der jetzt rief: »Der Tote liegt hier!«

Als Ainslie hingehen wollte, wandte der Butler ein: »Mrs. Maddox-Davanal hat ausdrücklich darum gebeten, daß Sie...«

Ainslie blieb stehen. »Wie heißen Sie?«

»Ich bin Mr. Holdsworth.«

»Vorname?« fragte Jorge, der sich bereits Notizen machte.

»Humphrey. Aber Sie müssen bitte einsehen, daß dieses Haus... «

»Nein, Holdsworth«, unterbrach Ainslie ihn, »Sie müssen etwas einsehen. Dieses Haus ist jetzt ein Tatort, an dem die Polizei das Sagen hat. Viele unserer Leute werden kommen und gehen. Behindern Sie sie nicht, aber bleiben Sie hier, damit wir Sie später vernehmen können. Und verändern Sie vor allem nichts. Ist das klar?«

»Gewiß«, sagte Holdsworth widerstrebend.

»Und bestellen Sie Mrs. Maddox-Davanal, daß wir sie bald sprechen möchten.«

Ainslie ging mit Jorge den Korridor entlang. Der wartende Uniformierte mit dem Namensschild NAVARRO sagte: »Hier drinnen, Sergeant.« Er führte die beiden in einen Raum, der eine Kombination aus Fitnessraum und Arbeitszimmer zu sein schien. Ainslie und Jorge blieben mit ihren Notizbüchern in der Hand in Türnähe stehen, um die Szene vor ihnen in Augenschein zu nehmen.

Der große Raum lag in der Morgensonne, die durch geöffnete Terrassentüren hereinfiel. Die Türen führten auf eine verschnörkelte Veranda mit prachtvollem Blick auf die Bucht und den fernen Ozean hinaus. Im vorderen Teil des Raums, in dem die Kriminalbeamten standen, befanden sich ein halbes Dutzend Fitnessgeräte - teils chromblitzend, teils mattschwarz -, wie Wachposten der Spartaner aufgereiht. Eine komplizierte Gewichthebemaschine dominierte; außerdem gab es einen Rudersimulator, ein programmierbares Laufband, eine Sprossenwand und zwei Geräte, deren Zweck nicht ohne weiteres ersichtlich war. Mindestens dreißigtausend Dollar wert, schätzte Ainslie.

Der Rest des Raums war ein elegantes, luxuriöses Arbeitszimmer mit Sesseln, mehreren Tischen und Schränken, wandhohen Bücherregalen aus Eiche, in denen Lederbände standen, und einem klassisch schlichten Schreibtisch, dessen Ledersessel etwas zurückgeschoben war.

Zwischen Sessel und Schreibtisch lag ein toter weißer Mann auf dem Fußboden. Er lag auf der rechten Seite, die obere linke Schädelhälfte fehlte, und Kopf und Schultern waren mit einer Mischung aus Blut, Knochensplittern und Gehirnmasse bedeckt. Eine Blutlache, die zu gerinnen begann, hatte sich über den Fußboden ausgebreitet. Der Tote trug ein weißes Hemd und eine beige Hose, die jetzt beide mit Blut getränkt waren. Obwohl keine Waffe zu sehen war, wies alles auf Tod durch Erschießen hin. »Ist irgend etwas angefaßt oder verändert worden, seit Sie hier sind?«, fragte Rodriguez den jungen Polizeibeamten. Navarro schüttelte den Kopf. »Nein. Ich weiß, worauf ich achten muß.« Dann fiel ihm etwas ein. »Als ich gekommen bin, ist die Frau des Toten hier im Zimmer gewesen. Sie könnte etwas verändert haben. Das müssen Sie sie selbst fragen.«

»Machen wir«, versicherte Jorge ihm. »Noch eine Frage fürs Protokoll. Hier ist keine Schußwaffe zu sehen. Haben Sie hier oder anderswo eine gesehen?«

»Ich hab' mich gleich nach einer umgesehen, aber noch keine entdeckt.«

Ainslie fragte ihn: »Wie hat Mrs. Maddox-Davanal gewirkt, als Sie sie in diesem Raum angetroffen haben?«

Navarro zögerte, dann deutete er auf den Toten. »Wenn man überlegt, wie's hier aussieht und daß das ihr Mann ist, hat sie eher ruhig gewirkt - ziemlich gelassen, könnte man sagen. Das hat mich gewundert. Und sie... «

»Ja?« fragte Ainslie.

»Sie hat mir gesagt, daß sie ein Fernsehteam von WBEQ erwartet. Das ist... «

»Ja, die Station der Davanals. Was hat sie noch gesagt?«

»Sie wollte - sie hat's mir praktisch befohlen -, daß ich dafür sorge, daß die Fernsehleute eingelassen werden. Ich habe ihr erklärt, daß sie auf die Ermittler der Mordkommission warten muß. Das hat ihr nicht gefallen.«

Der junge Polizeibeamte zögerte erneut.

»Fällt Ihnen sonst noch was dazu ein?« fragte Jorge ihn. »Dann raus mit der Sprache!«

»Nun, das ist bloß ein Eindruck, aber ich glaube, die Lady ist es gewöhnt, alles und jeden unter Kontrolle zu haben, und kann andere Verhältnisse nicht leiden.«

»Und alles das ist passiert«, fragte Ainslie, »während ihr Mann...« er zeigte auf den Toten, »... so dagelegen hat?«

»Genau.« Navarro zuckte mit den Schultern. »Den Rest müßt ihr rauskriegen, schätze ich.«

»Wir tun unser Bestes«, sagte Jorge, der sich weiter Notizen machte. »Aber es ist immer nützlich, einen Cop mit guter Beobachtungsgabe zu erwischen.«

Als nächstes erledigte Jorge mit seinem Kombigerät einige Routineanrufe, um die Spurensicherung, einen Gerichtsmediziner und einen Staatsanwalt anzufordern. Bald würde in diesem Raum und anderen Teilen des Hauses ziemliches Gedränge herrschen.

»Ich sehe mich inzwischen mal um«, sagte Ainslie. Er trat vorsichtig auf die offenen Terrassentüren zu. Ihm war schon aufgefallen, daß ein Flügel etwas schief in seinen Angeln zu hängen schien; als er ihn jetzt genauer betrachtete, entdeckte er um Schloß und Klinke herum frische Aufbruchsspuren. Draußen auf der Veranda sah er mehrere braune Schuhabdrücke, als habe jemand schlammige Erde an den Schuhen gehabt. Diese Abdrücke führten zu einer niedrigen Mauer, vor der ein Blumenbeet mit weiteren Fußspuren lag, als sei jemand auf dem Weg zum Haus über die Mauer gestiegen. Die Abdrücke schienen von irgendwelchen Sportschuhen zu stammen.

Innerhalb weniger Minuten hatte der bisher nur leicht bewölkte Himmel sich verdunkelt, und jetzt schien es gleich Regen zu geben. Ainslie hastete in den Raum zurück und wies Officer Navarro an, die Rückseite des Hauses abzusperren und von einem weiteren Polizeibeamten bewachen zu lassen.

»Wenn die Spurensicherung eintrifft«, sagte Ainslie zu Jorge, »soll sie diese Fußspuren fotografieren, bevor der Regen sie wegwäscht, und Gipsabdrücke von denen im Blumenbeet nehmen. Hier scheint jemand eingebrochen zu haben«, fuhr er fort. »Das müßte gewesen sein, bevor der Ermordete hier hereingekommen ist.«

Jorge runzelte die Stirn. »Trotzdem hätte Maddox-Davanal den Eindringling sehen müssen - schließlich ist er durch einen aufgesetzten Schuß getötet worden. Hat er die Trainingsgeräte benutzt, muß er ziemlich fit gewesen sein und hätte sich vermutlich gewehrt. Aber von Kampfspuren ist hier nichts zu sehen.«

»Er könnte überrascht worden sein. Wer den Schuß abgegeben hat, kann sich erst versteckt und dann an ihn herangeschlichen haben.«

»Wo versteckt?«

Sie sahen sich beide in dem großen Raum um. Jorge deutete als erster auf die grünen Samtportieren rechts und links neben den Terrassentüren. Der rechte Vorhang wurde durch eine verknotete Kordel zusammengehalten, aber links fehlte dieser Knoten, und der Stoff hing glatt herab. Ainslie zog ihn vorsichtig beiseite und entdeckte auf dem Teppich darunter weitere Schmutzspuren.

»Ich setze die Spurensicherer auch darauf an«, sagte Jorge. »Wir brauchen jetzt vor allem ein paar Zeitangaben. Wann der Tod eingetreten ist, wann die Leiche aufgefunden worden ist, wann... «

Der Butler Holdsworth betrat den Raum und sprach Ainslie an. »Mrs. Maddox-Davanal ist jetzt bereit, Sie zu empfangen. Darf ich bitten?«

Ainslie zögerte. Als Kriminalbeamter zitierte man bei Mordermittlungen die zu Befragenden herbei - nicht etwa umgekehrt. Andererseits war es verständlich, daß eine Ehefrau den Raum mied, in dem ihr Mann noch tot am Boden lag. Ainslie war berechtigt, jeden Zeugen, auch Mitglieder der Familie Davanal und ihre Hausangestellten, zur Vernehmung ins Polizeipräsidium bringen zu lassen, aber was wäre damit zum gegenwärtigen Zeitpunkt gewonnen gewesen?

»Also gut, gehen Sie voraus«, forderte er Holdsworth auf. Zu Jorge sagte er noch: »Ich werde versuchen, ein paar Zeitangaben zu bekommen.«

Der Salon, in den Malcolm Ainslie geleitet wurde, war wie anscheinend alle Räume dieses Hauses groß, elegant und mit viel Geschmack teuer eingerichtet. Felicia Maddox-Davanal saß in einem luxuriös mit Seidenbrokat bezogenen Louisquinze-Sessel. Sie war eine klassische Schönheit von etwa vierzig Jahren mit aristokratischen Zügen, schmaler Nase, hohen Wangenknochen, glatter Stirn und faltenlosem Hals, wobei letzterer auf eine frühere Schönheitsoperation schließen ließ. Ihr fülliges, glänzendes hellbraunes Haar war blond gesträhnt und fiel locker bis auf ihre Schultern. Sie trug einen cremefarbenen Rock, der ihre schönen Beine zur Geltung brachte, eine gleichfarbene Seidenbluse und einen breiten Gürtel mit Goldapplikationen. Alles an ihr war perfekt - Gesicht, Frisur, Fingernägel, Kleidung -, und das wußte sie auch, wie Ainslie deutlich spürte.

Sie bot ihm mit einer Handbewegung wortlos einen vor ihr stehenden Louisquinze-Stuhl an - ein nicht sehr stabil wirkendes und entschieden unbequemes Sitzmöbel, wie er amüsiert feststellte. Falls sie ihn damit in seine Schranken weisen wollte, stand ihr eine Überraschung bevor.

Wie bei jedem Gespräch mit Hinterbliebenen begann Ainslie: »Ich möchte Ihnen mein Beileid zum Tod Ihres... «

»Danke, das ist nicht nötig.« Davanals Stimme klang ruhig und beherrscht. »Mit den persönlichen Dingen werde ich allein fertig. Beschränken wir uns also aufs Dienstliche. Sie sind Sergeant, glaube ich.«

»Detective-Sergeant Ainslie.« Er hätte beinahe »Ma'am« hinzugefügt, beherrschte sich aber noch rechtzeitig. Auch er beherrschte dieses Dominanzspiel.

»Nun, als erstes möchte ich wissen, warum ein Team meiner eigenen Fernsehstation daran gehindert worden ist, dieses Haus zu betreten, das ebenfalls uns Davanals gehört.«

»Mrs. Maddox-Davanal«, sagte Ainslie ruhig, aber bestimmt, »ich will Ihre Frage aus Höflichkeit beantworten, obwohl Sie die Antwort bestimmt längst kennen. Aber danach übernehme ich die Führung dieses Gesprächs.« Während er sprach, war er sich bewußt, daß ihre kühlen grauen Augen ihn unverwandt aussahen. Ainslie erwiderte ihren Blick gelassen.

»Nun zu der Sache mit dem Fernsehteam«, fuhr er fort. »In diesem Haus hat sich ein bisher ungeklärter Todesfall ereignet, und unabhängig davon, wem es gehört, sind die Anordnungen der Polizei zu befolgen. Und die Medien - sämtliche Reporter von Mordermittlungen fernzuhalten, ist das übliche und rechtmäßige Verfahren. Nachdem dieser Punkt geklärt ist, möchte ich jetzt bitte alles hören, was Sie über den Tod Ihres Mannes wissen.«

»Augenblick!« Ein eleganter Zeigefinger schien ihn durchbohren zu wollen. »Wer ist Ihr Vorgesetzter?«

»Detective-Lieutenant Leo Newbold.«

»Bloß ein Lieutenant? Angesichts Ihrer Einstellung, Sergeant, und bevor Sie weiterfragen, werde ich den Polizeipräsidenten anrufen.«

Aus heiterem Himmel war eine unerwartete Konfrontation entstanden. Aber das kam gelegentlich vor, denn plötzlicher Streß, vor allem durch gewaltsamen Tod, wirkte sich bei manchen Leuten so aus. Dann erinnerte er sich an Officer Navarros Kommentar: Die Lady ist es gewöhnt, alles und jeden unter Kontrolle zu haben, und kann andere Verhältnisse nicht leiden.

»Madam«, sagte Ainslie, »ich begleite Sie sofort zu einem Telefon, damit Sie Chief Ketledge anrufen können, was Ihr gutes Recht ist.« Er legte einen stählernen Unterton in seine Stimme. »Aber wenn Sie mit ihm sprechen, können Sie ihm mitteilen, daß ich Sie sofort nach diesem Telefongespräch in meine Dienststelle abführe - und das heißt mit Handschellen gefesselt -, weil Sie sich weigern, sich an den Ermittlungen zur Aufklärung des gewaltsamen Todes Ihres Ehemanns zu beteiligen.«

Sie starrten sich an. Davanal atmete schwer, ihr Mund war ein schmaler Strich, ihre Augen funkelten haßerfüllt. Schließlich sah sie weg, hob dann erneut den Kopf und sagte leiser: »Stellen Sie Ihre Fragen.«

Ainslie, dem sein dialektischer Sieg keinen rechten Spaß machte, fragte mit normaler Stimme: »Wann und wie haben Sie vom Tod Ihres Mannes erfahren?«

»Heute morgen kurz vor halb acht. Ich bin ins Schlafzimmer meines Mannes gegangen, das im gleichen Stockwerk wie meines liegt, weil ich ihn etwas fragen wollte. Als ich ihn nicht angetroffen habe, bin ich in sein Arbeitszimmer im Erdgeschoß gegangen - er steht oft früh auf und geht dort hinunter. Ich habe seine Leiche so aufgefunden, wie Sie sie gesehen haben, und sofort die Polizei gerufen.«

»Was wollten Sie Ihren Mann fragen?«

»Wie bitte?« Seine überraschende Frage schien Davanal so zu verwirren, daß Ainslie sie wiederholte.

»Ich... ich wollte...« Sie schien nach Worten zu suchen. »Das weiß ich wirklich nicht mehr.«

»Gibt's eine Verbindungstür zwischen den beiden Schlafzimmern?«

»Äh... nein.« Eine verlegene Pause. »Das sind eigenartige Fragen.«

Nicht so eigenartig, dachte Ainslie. Erstens gab es keine plausible Erklärung dafür, warum Davanal zu ihrem Ehemann gegangen war. Zweitens sagte das Fehlen einer Verbindungstür einiges über das Verhältnis der beiden aus. »Ihr Mann scheint an einer Schußverletzung gestorben zu sein. Haben Sie einen Schuß oder ein Geräusch gehört, das ein Schuß hätte sein können?«

»Nein, ich habe nichts gehört.«

»Ihr Mann könnte also schon längere Zeit tot gewesen sein, als Sie ihn aufgefunden haben?«

»Das nehme ich an.«

»Hatte Ihr Mann größere Probleme oder Feinde? Fällt Ihnen irgend jemand ein, der ihn vielleicht hätte töten wollen?«

»Nein.« Mrs. Maddox-Davanal, die ihre Beherrschung zurückgewonnen hatte, fuhr fort: »Was ich Ihnen jetzt erzähle, würden Sie früher oder später ohnehin erfahren. In mancher Beziehung haben mein Mann und ich uns nicht sonderlich nahegestanden; er hat seine Interessen gehabt, ich habe meine, sie sind nicht deckungsgleich gewesen.«

»Hat dieses Arrangement schon lange bestanden?«

»Seit ungefähr sechs Jahren; wir haben vor neun Jahren geheiratet.«

»Hat's zwischen Ihnen oft Streit gegeben?«

»Nein.« Sie verbesserte sich. »Nun, wir haben uns manchmal wegen irgendwelcher Bagatellen gestritten - aber eigentlich nie über wichtige Dinge.«

»Hat einer von Ihnen eine Scheidung erwogen?«

»Nein. Unser Arrangement hat beide zufriedengestellt. Für mich hat die Ehe bestimmte Vorteile gehabt; in gewisser Beziehung hat sie mir eine Art Freiheit gegeben. Und was Byron betrifft, hat er genau gewußt, daß er's ziemlich gut getroffen hatte.«

»Würden Sie mir das bitte erklären?«

»Bevor wir geheiratet haben, ist Byron ein sehr attraktiver und beliebter Mann gewesen, aber er hatte weder viel Geld noch gute Berufsaussichten. Nach unserer Hochzeit ist in beiden Punkten Abhilfe geschaffen worden.«

»Könnten Sie das erläutern?«

»Er hat wichtige Managerposten erhalten - erst bei unserer Warenhauskette Davanal's, dann bei unserer Fernsehstation WBEQ.«

»Hat er zuletzt noch einen dieser Posten innegehabt?« erkundigte Ainslie sich.

»Nein.« Davanal zögerte, bevor sie weitersprach. »Ehrlich gesagt, hat Byron unsere Erwartungen nicht erfüllt - er ist faul und unfähig gewesen. Wir haben ihn schließlich völlig aus der Geschäftsführung herausnehmen müssen.«

»Und danach?«

»Die Familie hat Byron einfach ein Taschengeld zugestanden. Darum habe ich vorhin gesagt, er habe gewußt, daß er's ziemlich gut getroffen hatte.«

»Würden Sie mir sagen, wie hoch dieses Taschengeld gewesen ist?«

»Ist das erheblich?«

»Wahrscheinlich nicht. Ich denke allerdings, daß die Zahl im Lauf unserer Ermittlungen ohnehin auf den Tisch kommt.«

Daraufhin herrschte sekundenlang Schweigen, bevor Davanal sagte: »Byron hat zweihundertfünfzigtausend Dollar pro Jahr bekommen. Außerdem hat er hier umsonst gelebt, und seine Fitnessgeräte, in die er so vernarrt gewesen ist, sind auch bezahlt worden.«

Eine Viertelmillion Dollar, dachte Ainslie, und das fürs Nichtstun. Da die Familie Davanal nun nichts mehr zahlen mußte, würde sie von Byron Maddox-Davanals Tod profitieren.

»Wenn Sie denken, was ich annehme«, sagte Mrs. Maddox-Davanal, »vergessen Sie's!« Als er keine Antwort gab, fuhr sie fort: »Hören Sie, ich will weder Zeit noch Worte vergeuden - für unsere Familie sind solche Beträge Peanuts.« Sie machte eine Pause. »Der entscheidende Punkt ist, daß ich Byron gern um mich gehabt habe, obwohl ich ihn nicht mehr liebte - schon lange nicht mehr. Man könnte sogar sagen, daß er mir fehlen wird.«

Die letzte Feststellung klang nachdenklich, fast vertraulich. Irgendwie hatte sich ihre anfängliche Feindseligkeit im Lauf des Gesprächs verflüchtigt; man könnte fast glauben, dachte Ainslie, sie habe sich nach dem verlorenen Showdown ergeben und sei eine freundliche Verbündete geworden. Trotzdem nahm er nicht alles für bare Münze, was Felicia Maddox-Davanal ihm erzählt hatte vor allem nicht das, was sich auf die Entdeckung ihres toten Ehemanns bezog. Zugleich sagte sein Instinkt ihm, daß sie ihren Mann nicht ermordet hatte, aber vielleicht wußte oder ahnte, wer der Täter gewesen war. Jedenfalls verbarg sie irgend etwas.

»Eines verstehe ich nicht ganz«, sagte Ainslie. »Sie haben Ihren Mann angeblich noch immer gemocht, obwohl Sie und er getrennte Wege gegangen sind. Aber gleich nachdem Sie ihn tot aufgefunden hatten, ist Ihre Hauptsorge die gewesen, Ihr Fernsehteam ins Haus zu holen. Das erscheint mir... «

»Schon gut! Schon gut!« unterbrach Davanal ihn. »Ich weiß, was Sie andeuten wollen - daß ich eiskalt bin. Nun, das bin ich vielleicht auch, aber vor allem bin ich praktisch veranlagt.« Sie sprach nicht weiter.

»Bitte weiter«, sagte Ainslie.

»Nun, ich habe sofort gesehen, daß Byron tot war, und keine Ahnung gehabt, wer ihn erschossen hatte. An diesen Tatsachen konnte ich nichts ändern. Aber ich konnte dafür sorgen, daß WBEQ - meine Fernsehstation, die ich persönlich leite - diese Meldung vor der gesamten Konkurrenz bringt, und genau das habe ich getan. Ich habe eines meiner Teams angefordert; als es nicht hereindurfte, habe ich mich ans Telefon gesetzt und unserer Nachrichtenredaktion alles erzählt, was ich wußte. Inzwischen ist diese Meldung in ganz Florida, vermutlich schon viel weiter verbreitet, aber wir sind die ersten gewesen, und das zählt auf einem so heißumkämpften Markt.«

»Bei Ihrer Erfahrung«, sagte Ainslie, »haben Sie doch gewußt, daß das Fernsehteam nicht durchgelassen werden würde, nicht wahr?«

Davanal verzog das Gesicht. »Oh, klar. Aber ich habe... Ich wollte einfach testen, was möglich ist. Das habe ich mein Leben lang getan. Es ist mir zur zweiten Natur geworden.«

»Unter normalen Umständen ist dagegen nichts einzuwenden. Aber bei Mordermittlungen ist das keine gute Idee.«

Felicia betrachtete ihn nachdenklich. »Sie sind ein ungewöhnlicher Polizeibeamter«, sagte sie dann. »Sie haben etwas an sich - ich weiß nur nicht, was -, das ganz anders ist... und mich neugierig macht.« Bei diesen Worten lächelte sie zum erstenmal ein geheimnisvolles kleines Lächeln, in dem eine Andeutung von Sinnlichkeit lag.

»Wenn Sie nichts dagegen haben«, antwortete er nüchtern, »möchte ich Ihnen noch ein paar Fragen stellen.«

Sie seufzte. »Also gut, wenn Sie müssen.«

»Wer ist heute morgen um halb acht, als Sie die Leiche Ihres Mannes aufgefunden haben, und letzte Nacht außer Ihnen im Haus gewesen?«

»Lassen Sie mich nachdenken.« Als sie diese und die nachfolgenden Fragen beantwortete, stellten sich weitere Tatsachen heraus.

Felicias Eltern, Theodore und Eugenia Davanal, die ebenfalls in diesem Haus lebten, waren im Augenblick in Italien. Theodore war das Oberhaupt des Familienclans, aber er hatte längst einen großen Teil seiner Verantwortung an Felicia abgegeben. Sein Kammerdiener und die Zofe seiner Frau, die ebenfalls im Haus wohnten, waren nach Italien mitgereist.

Der Patriarch der Familie war Wilhelm Davanal. Der Siebenundneunzigj ährige hatte hier im Haus eine Dachgeschoßwohnung, in der ein Diener und seine Frau, die von Beruf Krankenschwester war, ihn umsorgten. »Großvater und das Ehepaar Vazquez sind ständig im Haus«, erläuterte Felicia, »aber wir bekommen die drei fast nie zu sehen.«

Nach Felicias Darstellung war Wilhelm Davanal senil, obwohl er lichte Augenblicke hatte, die jedoch zunehmend seltener wurden.

Humphrey Holdsworth, der Butler, wohnte mit seiner Frau, die Köchin war, ebenfalls im Haus. Die beiden Gärtner und der Chauffeur lebten mit ihren Familien außerhalb des Hauses in Apartments über der Garage.

Alle diese Leute, darüber war Ainslie sich im klaren, mußten befragt werden, ob sie letzte Nacht irgend etwas Verdächtiges gesehen oder gehört hatten.

»Sprechen wir noch einmal über die Entdeckung der Leiche Ihres Mannes«, sagte er zu Felicia. »Als die Polizei - Officer Navarro - gekommen ist, sind Sie in seinem Arbeitszimmer gewesen, nicht wahr?«

»Ja.« Sie zögerte. »Nun, nachdem ich Byron so aufgefunden hatte, bin ich hinausgelaufen und habe am Telefon in der Eingangshalle die Notrufnummer gewählt. Dann... ich weiß selbst keine rechte Erklärung dafür... hat mich irgend etwas dorthin zurückgezogen. Ich muß wohl eine Art Schock erlitten haben. Alles ist so plötzlich gekommen... und so schrecklich gewesen.«

»Das ist verständlich«, sagte Ainslie mitfühlend. »Beantworten Sie mir bitte folgende Frage: Haben Sie irgend etwas angefaßt, verändert oder bewegt, während Sie zweimal mit der Leiche Ihres Mannes allein gewesen sind?«

»Nein, nicht das geringste.« Felicia schüttelte den Kopf. »Mein Instinkt muß mir gesagt haben, daß ich das nicht darf. Außerdem habe ich mich einfach nicht dazu überwinden können, dicht an Byron oder den Schreibtisch heranzutreten... « Ihre Stimme wurde leiser und verstummte.

»Danke«, sagte Ainslie. »Im Augenblick habe ich keine weiteren Fragen.«

Felicia Maddox-Davanal stand auf, als ihre Befragung beendet war; sie hatte ihre Selbstbeherrschung offenbar wiedergewonnen.

»Ich bedaure, daß wir einen so schlechten Start gehabt haben«, sagte sie. »Aber vielleicht können wir im Lauf der Zeit lernen, einander mehr zu mögen.« Sie streckte unerwartet eine Hand aus, berührte leicht Ainslies Rechte und ließ ihre Finger sekundenlang auf ihr ruhen. Dann wandte sie sich ab und war im nächsten Augenblick verschwunden.

Malcolm Ainslie, der allein im Salon zurückgeblieben war, benutzte sein Kombigerät, um zwei Telefongespräche zu führen. Danach ging er in Byron Maddox-Davanals Arbeitszimmer zurück, in dem jetzt reger Betrieb herrschte. Die Spurensicherung war eingetroffen und bei der Arbeit, während die Gerichtsmedizinerin Sandra Sanchez den Toten untersuchte.

Staatsanwalt Curzon Knowles, mit dem Ainslie im Fall Elroy Doil zusammengearbeitet hatte, beobachtete alles, stellte Fragen und machte sich Notizen.

Ainslie sah, daß es draußen zu regnen begonnen hatte, aber Rodriguez versicherte ihm: »Wir haben die Spuren rechtzeitig fotografiert und auch gute Gipsabdrücke gemacht.« Jetzt wurden die Schuhspuren hinter dem Samtvorhang fotografiert; danach würde der Schmutz abgekratzt und zu Vergleichszwecken sichergestellt werden. Gleichzeitig ging die Suche nach Fingerabdrücken weiter.

Ainslie nahm Jorge beiseite, schilderte ihm sein Gespräch mit Felicia Maddox-Davanal und diktierte ihm die Namen aller Haushaltsangehörigen, die befragt werden mußten. »Ich habe Pop Garcia herbestellt«, erklärte er Jorge. »Er arbeitet mit Ihnen zusammen, führt Befragungen durch und ist Ihnen ganz allgemein behilflich. Ich muß jetzt weg.«

»Schon?« fragte Jorge erstaunt.

»Ich möchte mit jemandem sprechen«, sagte Ainslie. »Mit jemandem, der viel über alte Familien weiß - auch über diese. Vielleicht ergibt sich dabei ein Hinweis.«

8

Ihr Name war legendär. Zu ihrer Zeit hatte sie als beste Kriminalreporterin Amerikas gegolten, deren Ruf weit über ihre Leserschaft in Florida hinausreichte, für die sie aus Miami berichtete. Was Menschen und Ereignisse betraf, war sie ein wandelndes Lexikon - nicht nur in bezug auf Verbrecher, sondern auch auf Politiker, Geschäftsleute und sonstige Angehörige der Oberschicht Miamis, weil Verbrechen und diese Bereiche miteinander zu tun hatten. Jetzt lebte sie halb im Ruhestand, was bedeutete, daß sie gelegentlich ein Buch schrieb, das bereitwillig verlegt und gekauft wurde, obwohl sie in letzter Zeit weniger schrieb und lieber dasaß und ihren Erinnerungen nachhing oder mit ihren Hunden spielte - sie hatte drei Pekinesen, die Able, Baker und Charlie hießen. Aber ihr Verstand und ihr Gedächtnis waren scharf wie eh und je.

Sie hieß Beth Embry, und obwohl sie ihr Geburtsdatum sogar im Who's Who in America geheimhielt, mußte sie weit über Siebzig sein. Sie lebte in den Oakmont Tower Apartments in Miami Beach, mit Meerblick, und Malcolm Ainslie gehörte zu ihren zahlreichen Freunden.

Bei seinem zweiten Telefongespräch aus der Villa der Familie Davanal hatte er Beth gefragt, ob er sie besuchen dürfe. Jetzt empfing sie ihn an der Wohnungstür. »Ich weiß, warum du kommst; ich habe in den Morgennachrichten gesehen, wie du bei den Davanals aufgekreuzt bist. Du hast wieder mal eine Reporterin niedergemacht.«

»Dich habe ich nie niedergemacht«, protestierte er.

»Weil du Angst vor mir hattest.«

»Stimmt genau«, gab er zu. »Sogar noch heute.« Sie lachten, und er küßte sie auf die Wange, während Able, Baker und Charlie kläffend um sie herumtollten.

Obwohl Beth Embry nach herkömmlichen Maßstäben nie schön gewesen war, strahlte sie eine Vitalität aus, die sich in ihrem Mienenspiel und in jeder Bewegung zeigte. Sie war groß und schlank, trotz ihres Alters noch immer sportlich, und trug nie etwas anderes als Jeans und bunte Baumwollhemden - heute ein weißgelb kariertes.

Die beiden hatten sich vor zehn Jahren kennengelernt, als Beth als Reporterin an Tatorten aufkreuzte, an denen Ainslie ermittelte, und nach ihm zu fragen begann. Nach anfänglichem Mißtrauen entdeckte er, daß ihre Ideen und ihr Hintergrundwissen oft ebenso wertvoll waren wie die Informationen, die sie von ihm erhielt. Als sich zwischen ihnen ein Vertrauensverhältnis entwickelte, sorgte Ainslie dafür, daß Beth einige sensationelle Erstmeldungen landen konnte, weil er wußte, daß sie ihren Informanten geheimhalten würde. Gelegentlich kam er auf der Suche nach Informationen zu Beth, um ihren Rat einzuholen, so auch diesmal.

»Augenblick«, sagte sie jetzt. Sie sammelte die drei kläffenden Pekinesen ein, trug sie in ihr Schlafzimmer und machte die Tür hinter ihm zu.

»Ich habe gelesen, daß du bei Elroy Doils Hinrichtung gewesen bist«, sagte Beth, als sie zurückkam. »Wolltest du dich davon überzeugen, daß er seine gerechte Strafe bekommt?«

Ainslie schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht freiwillig dabeigewesen. Doil wollte mit mir reden.«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ein Geständnis im Angesicht des Todes? Rieche ich eine Story?«

»Vielleicht später. Jetzt noch nicht.«

»Ich schreibe noch immer gelegentlich. Versprichst du mir diese Story?«

Ainslie überlegte, dann sagte er: »Okay, falls ich damit befaßt bin, erfährst du irgendwelche Neuigkeiten als erste. Aber streng vertraulich.«

»Natürlich. Habe ich jemals nicht Wort gehalten?«

»Nein.« Aber bei Beth Embry ging es nie ohne ein gewisses Feilschen um Gegenleistungen ab.

Die Erwähnung Doils erinnerte Ainslie daran, daß Ruby Bowe inzwischen ihre Nachforschungen begonnen haben mußte. Er konnte nur hoffen, daß es ihnen gelingen würde, diesen neuen Mordfall rasch aufzuklären. Zunächst fragte er Beth: »Reden wir jetzt inoffiziell über die Davanals?«

»Ohne Quellenangabe, okay?« schlug sie statt dessen vor. »Ich schreibe wie gesagt nicht mehr viel - die jungen Kriminalreporter sind ziemlich gut -, aber manchmal juckt's mich doch wieder, und besonders die Davanals sind ein Thema, das mich reizen könnte.«

»Weißt du viel über sie? Okay, ohne Quellenangabe.«

»Die Davanals sind ein Teil unserer Geschichte. Und Byron Maddox-Davanal, wie er sich hat nennen müssen, ist eine traurige Gestalt gewesen. Mich wundert's nicht, daß er ermordet worden ist; mich hitte's nicht gewundert, wenn er Selbstmord begangen hätte. Habt ihr schon einen Verdächtigen?«

»Noch nicht. Bisher sieht's nach einem fremden Täter aus. Warum ist Byron eine traurige Gestalt gewesen?«

»Weil er die schmerzliche Wahrheit >Der Mensch lebt nicht vom Brot alleinc, selbst wenn dick Butter drauf ist, am eigenen Leib erfahren hat.« Beth lachte. »Kommt dir das irgendwie bekannt vor?«

»Klar. Allerdings gibt's dafür mehrere Quellen - vom fünften Buch Mose bis hin zu Matthäus und Lukas.«

»Hey, ich bin beeindruckt! Anscheinend hat das Priesterseminar dich fürs Leben geprägt. Glaubst du, daß du irgendwann als Geistlicher wiedergeboren wirst?« Beth, die regelmäßig zur Kirche ging, ließ keine Gelegenheit aus, Ainslie wegen seiner Vergangenheit zu necken.

»Dir halte ich auch die andere Wange hin«, sagte Ainslie lächelnd. »Das steht ebenfalls bei Matthäus und Lukas. Aber jetzt will ich alles über Byron hören.«

»Okay. Anfangs ist er die große Hoffnung der Familie gewesen und sollte eine neue Generation Davanals zeugen; darum hat er seinen Namen ändern müssen, als er Felicia geheiratet hat. Sie ist ein Einzelkind, und wenn sie kinderlos bleibt, was in ihrem Alter wahrscheinlich ist, stirbt die Dynastie Davanal mit ihr aus. Nun, Byron hat sein Sperma großzügig in ganz Miami verteilt und wohl auch Felicia etwas davon abgegeben, aber es scheint nicht angeschlagen zu haben.«

»Wie ich gehört habe, hat er auch in den Familienunternehmen erfolglos mitgewirkt.«

»Byron ist eine Niete gewesen. Aber ich nehme an, daß Felicia dir davon erzählt hat - und von seiner Apanage, die er fürs Nichtstun bezogen hat.«

»Ja.«

»Das erzählt sie jedem. Durch ihre Verachtung ist sein Leben noch leerer und sinnloser geworden.«

»Traust du Felicia zu, ihren Mann ermordet zu haben?«

»Traust du ihr das zu?«

»Im Augenblick nicht.«

Beth schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Sie hätte ihn nie umgebracht. Erstens ist Felicia zu klug, um etwas so Dummes zu tun. Zweitens ist Byron für sie nützlich gewesen.«

Ainslie erinnerte sich an Felicias Aussage: Unser Arrangement hat beide zufriedengestellt... unsere Ehe hat mir eine Art Freiheit gegeben.

Welche »Freiheit« sie gemeint hatte, war nicht schwer zu erraten.

Beth musterte ihn prüfend. »Na, hast du's begriffen? Solange sie mit Byron verheiratet gewesen ist, hat sie niemals befürchten müssen, einer ihrer vielen Männer könnte den Kopf verlieren und sie unbedingt heiraten wollen.«

»Einer ihrer vielen Männer?«

Beth warf ihren Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Unzählige! Felicia verschlingt Männer. Aber sie wird ihrer rasch überdrüssig, stößt sie wieder ab. Hat einer sie allzusehr bedrängt, war ihre Antwort: >Danke, ich bin schon verheiratet.««

Sie betrachtete Ainslie nochmals forschend. »Hat Felicia dir Avancen gemacht?... Sie hat's getan! Mein Gott, Malcolm, du wirst ja rot!«

Er schüttelte den Kopf. »Es hat nur einen Augenblick gedauert, und ich hab's mir wahrscheinlich bloß eingebildet.«

»Das glaube ich nicht, mein Freund, und wenn du ihr gefallen hast, versucht sie's bestimmt wieder. Aber laß dich warnen -Felicias Honig mag süß sein, aber sie ist eine Bienenkönigin, die stechen kann.«

»Du hast von der Dynastie Davanal gesprochen. Wie alt ist sie?«

Beth überlegte. »Ihre Geschichte in Amerika beginnt kurz vor der Jahrhundertwende - 1898, wenn ich mich recht erinnere. Ich habe mal ein Buch über die Familie gelesen. Simon Davanal und seine Frau Maria sind aus dem damals noch deutschen Oberschlesien eingewandert. Er hat ein bißchen Geld gehabt, nicht viel, und damit ein Geschäft für Haushaltswaren aufgemacht. Bis zu seinem Tod war daraus Davanal's Department Store geworden: der Grundstock des Familienvermögens. Simon und Maria haben einen Sohn gehabt - Wilhelm Davanal.«

»Der nur noch dahinvegetiert, nicht wahr?«

»Das klingt wieder nach Felicia. Wilhelm ist seit vielen Jahren Witwer, aber trotz seiner siebenundneunzig Jahre noch immer hellwach. Wie man hört, entgeht ihm nicht viel von dem, was in dem großen alten Haus passiert. Du solltest unbedingt mit ihm reden.«

Senil, hatte Felicia behauptet. »Ja, das tue ich.«

»Jedenfalls«, fuhr Beth fort, »ist die Familie mit jeder Generation reicher geworden. Das gilt auch für Theodore und Eugenia Davanal, die beide Tyrannen sind.«

»Die Davanals scheinen überhaupt alle Tyrannen zu sein.«

»Nicht unbedingt. Schuld daran ist nur der Stolz, von dem sie alle beherrscht werden.«

»Stolz worauf?«

»Alles. Ihr öffentliches Erscheinungsbild ist ihnen schon immer sehr wichtig gewesen. Ihr Auftreten muß untadelig sein, damit sie als hochwertige, sogar perfekte Menschen dastehen. Und etwa vorhandene schmutzige kleine Geheimnisse werden so tief vergraben, daß sogar du als Detective-Sergeant Mühe hättest, sie zu finden.«

»Was du mir erzählt hast«, sagte Ainslie, »beweist aber, daß Felicia sich nicht immer untadelig benimmt.«

»Das kommt daher, daß sie eine moderne Frau ist. Trotzdem hat sie ihren Stolz und muß außerdem spuren, weil das Familienvermögen noch in Theodores und Eugenias Händen ist. Wegen der Sache mit Byron hat sie Krach mit ihren Eltern gehabt. Kein Außenstehender sollte erfahren, daß ihre Ehe gescheitert war; deshalb hat Byron seine Apanage bekommen -als eine Art Schweigegeld. Und ihren Eltern ist's egal, was für ein Leben Felicia führt, solange sie es gut verbirgt.«

»Ist es wirklich gut verborgen?«

»Nach Theodores und Eugenias Meinung nicht gut genug. Wie ich gehört habe, hat's einen Familienkrach und ein Ultimatum gegeben: Sollte Felicia durch eine ihrer Eskapaden den Familiennamen diskreditieren, will man ihr die Fernsehstation wegnehmen, die sie so liebt.«

Im weiteren Verlauf ihres Gesprächs erzählte auch Ainslie nähere Einzelheiten über den Mordfall Maddox-Davanal. Als sie dann beide aufstanden, sagte er: »Vielen Dank, Beth. Ich nehme wie immer vieles mit, über das sich nachzudenken lohnt.«

Able, Baker und Charlie, die wieder aus ihrem Gefängnis befreit wurden, tollten aufgeregt kläffend um ihn herum, als er ging.

Als Malcolm Ainslie in die Villa der Davanals zurückkam, wurden eben die sterblichen Überreste Byron Maddox-Davanals in einem Leichensack abtransportiert - zur Autopsie in der Dade County Morgue. Dr. Sandra Sanchez, die schon weggefahren war, hatte die Vermutung geäußert, sein Tod sei zwischen fünf und sechs Uhr morgens eingetreten - etwa zwei Stunden vor dem Anruf, mit dem Felicia Maddox-Davanal den Leichenfund gemeldet hatte.

Im Arbeitszimmer war die bisherige Aktivität etwas abgeklungen, aber Julio Verona, der Chef der Spurensicherung, war noch auf der Suche nach Beweismaterial. Zu Ainslie sagte er: »Ich möchte Ihnen etwas zeigen, sobald Sie einen Augenblick Zeit haben.«

»Okay, Julio.« Als erstes ging Ainslie jedoch zu Jorge Rodriguez und Jose »Pop« Garcia und fragte seine Kriminalbeamten: »Was gibt's Neues?«

Jorge nickte grinsend zu Garcia hinüber. »Er hält den Butler für den Täter.«

»Sehr witzig!« sagte Pop Garcia mürrisch. Ainslie erklärte: »Ich traue diesem Holdsworth nicht, das ist alles. Ich habe ihn vernommen, und mein Instinkt sagt mir, daß er lügt.«

»In welcher Beziehung?«

»In jeder Beziehung - daß er keinen Schuß oder irgendwelche Geräusche gehört hat, obwohl er hier unten im Erdgeschoß wohnt, und nicht am Tatort gewesen ist, bevor die Ehefrau des Toten ihn verständigt hat, nachdem sie neuneinseins angerufen hatte. Er weiß mehr, als er zugibt; darauf würde ich meinen Kopf verwetten.«

»Haben Sie ihn überprüft?« fragte Ainslie.

»Natürlich. Er ist nach wie vor britischer Staatsbürger; er lebt seit fünfzehn Jahren mit einer Green Card in Amerika und ist nie irgendwie aufgefallen. Ich habe die Einwanderungsbehörde in Miami angerufen; sie hat eine Akte über Holdsworth.«

»Irgendwas Brauchbares?«

»Nun, das ist nicht wirklich wichtig, aber Holdsworth ist in England vorbestraft und hat das clevererweise angegeben, als er seine Green Card beantragt hat. Das wäre rausgekommen, wenn er's nicht zugegeben hätte, aber die Sache ist eine Bagatelle gewesen.«

»Nämlich?«

»Als Achtzehnjähriger - vor dreiunddreißig Jahren - hat er vom Rücksitz eines Autos ein Fernglas geklaut. Ein Polizeibeamter hat ihn dabei erwischt und verhaftet; Holdsworth hat sich schuldig bekannt und ist als Ersttäter mit einer Bewährungsstrafe davongekommen. Der Mann von der Einwanderungsbehörde hat mir erklärt, daß solche lange zurückliegenden Verfehlungen kein Hindernis für die Ausstellung einer Green Card sind, wenn sie ehrlich angegeben werden. Ich hab' damit meine Zeit vergeudet, nehme ich an.«

Ainslie schüttelte den Kopf. »Die ist nie vergeudet. Heben Sie sich Ihre Notizen auf, Pop. Was ist bei den übrigen Befragungen rausgekommen?«

»Nicht viel«, antwortete Jorge. »Zwei Personen - die Frau des Chauffeurs und einer der Gärtner - glauben jetzt, einen Schuß gehört zu haben, haben ihn aber für eine Fehlzündung gehalten. Einen Zeitpunkt können sie nicht angeben; sie wissen nur, daß es draußen noch dunkel gewesen ist.«

»Hat schon jemand mit dem Alten gesprochen - mit Wilhelm Davanal?«

»Nein.«

»Gut, das übernehme ich selbst«, entschied Ainslie.

Er ging gemeinsam mit Garcia und Rodriguez zu Julio Verona hinüber.

»Sehen Sie sich diese Uhr hier an«, sagte Verona. Er zog Latexhandschuhe an, öffnete einen Plastikbeutel und zog eine kleine goldene Uhr heraus, die er auf Byron Maddox-Davanals Schreibtisch stellte. »Sie hat genau hier gestanden«, erläuterte er. »Das sieht man auf diesem Foto.« Er zeigte Ainslie eine Polaroidaufnahme.

»Auf der Rückseite der Uhr«, fuhr Verona fort, »ist Blut zu erkennen - für eine so kleine Fläche ziemlich viel Blut. Aber...«, er machte eine Pause, um seiner Feststellung Nachdruck zu verleihen, »...wenn wir annehmen, daß dieses Blut von dem Toten stammt, kann es unmöglich auf die Rückseite einer weit von ihm entfernt auf dem Schreibtisch stehenden Uhr gelangt sein.«

»Welche Theorie haben Sie also?« fragte Ainslie.

»Bei der Tat oder gleich danach ist die Uhr vom Schreibtisch ins Blut auf dem Fußboden gefallen. Später hat jemand -vielleicht der Mörder - sie aufgehoben und an ihren Platz zurückgestellt. Dort hat sie sich befunden, bis meine Leute dieses Foto gemacht haben.«

»Fingerabdrücke?«

»Klar - sogar recht gute. Alle stammen offenbar von einer Person, zwei davon sind blutig.«

»Finden Sie also eine Übereinstimmung«, meinte Jose Garcia aufgeregt, »haben wir unseren Killer!«

Verona zuckte mit den Schultern. »Das müßt ihr entscheiden, Leute - aber wer diese Abdrücke hinterlassen hat, sollte in die Mangel genommen werden, finde ich. Wir sind dabei, sie mit den gespeicherten Abdrücken zu vergleichen, und das Ergebnis müßte bis morgen früh vorliegen. Ob das Blut an der Uhr von dem Ermordeten stammt, wissen wir dann übermorgen.« Er machte eine Pause. »Ich wollte Ihnen übrigens noch etwas zeigen... Dort drüben.«

Der Chef der Spurensicherung ging zu einem Wandschrank aus polierter Eiche. »Der ist abgesperrt gewesen, aber wir haben in einer Schublade des Schreibtischs einen Schlüsselbund gefunden.« Er öffnete die Tür und zeigte Ainslie das mit rotem Filz ausgekleidete Schrankinnere, das Schußwaffen enthielt. Eine Schrotflinte der Marke Browning, eine halbautomatische Bockbüchse der Marke Winchester und ein Schnellfeuergewehr Kaliber 22 der Marke Grossmann standen durch Metallklammern gehalten senkrecht darin. Daneben ruhte auf mehreren Metallhalterungen eine Glock, eine 9mm-Pistole. Leere Halterungen über ihr ließen erkennen, daß dort eine Handfeuerwaffe fehlte.

Unten im Schrankinnern waren mehrere Schubfächer eingebaut. Verona zog zwei davon auf. »Maddox-Davanal ist offenbar ein begeisterter Schütze gewesen, und hier liegt reichlich Munition für die Schrotflinte, die beiden Gewehre und die Glock, in der übrigens ein volles Magazin steckt. Außerdem steht hier eine Schachtel mit Hohlspitzenpatronen Kaliber 357 Magnum.«

»Munition, für die's keine Handfeuerwaffe gibt«, stellte Ainslie fest.

»Richtig. Die Waffe, die hier fehlt, könnte eine Pistole Kaliber 357 Magnum sein.«

Ainslie überlegte. »Wahrscheinlich sind diese Waffen auf Maddox-Davanals Namen angemeldet. Hat das schon jemand überprüft?«

»Noch nicht«, sagte Verona.

»Okay, dann wollen wir mal.« Ainslie rief mit dem Kombigerät die Mordkommission an. Sergeant Pablo Greene meldete sich.

»Tust du mir einen Gefallen, Pablo, und setzt dich an einen Computer?« fragte Ainslie. »Es geht um eine Anfrage beim Dade County Firearms Register.« Einige Minuten später fuhr er fort: »Name: Maddox-Davanal, Vorname: Byron... Ja, wir sind noch dort... Mich interessiert, ob irgendwelche Waffen auf ihn eingetragen sind.«

Während Ainslie warten mußte, fragte er Verona: »Sind hier am Tatort Geschosse gefunden worden?«

Der Chef der Spurensicherung nickte. »Yeah, eines - an der Fußbodenleiste hinter dem Schreibtisch. Anscheinend hat es den Schädel durchschlagen und ist von der Wand abgeprallt und dort liegengeblieben. Es ist ziemlich verformt, aber es könnte ein Kaliber 357 Magnum sein.«

Ainslie sprach wieder in sein Gerät. »Okay, Pablo, ich höre.« Er machte sich dabei Notizen. »Die haben wir!... Yeah, das paßt... Das haben wir auch... Und die ebenfalls... Ah! Bitte noch mal... Ja, ich schreibe mit... Und das war alles, stimmt's... Danke, Pablo.«

Er schaltete das Gerät aus und erklärte den anderen: »Alle diese Waffen sind auf Maddox-Davanal eingetragen. Außerdem hat er einen Revolver Smith & Wesson Kaliber 357 Magnum angemeldet, der hier fehlt.«

Die vier Männer standen schweigend da und dachten über die möglichen Konsequenzen nach.

»Habt ihr auch das Gefühl, Jungs«, fragte Garcia, »daß alles auf einen Insider hinweist, falls der verschwundene Revolver die Tatwaffe gewesen ist?«

»Schon möglich«, gab Jorge zu. »Aber wer die Fußabdrücke dort draußen hinterlassen und dann die Terrassentür aufgebrochen hat, könnte sich die Waffe besorgt haben, bevor er sich versteckt hat.«

»Aber woher hat er gewußt, daß hier die Waffen zu finden sind und wo der Schlüssel zum Waffenschrank liegt?« fragte Garcia.

»Maddox-Davanal kann Freunde gehabt haben, die darüber Bescheid wissen«, sagte Ainslie. »Sportschützen reden viel und geben gern mit ihren Waffen an. Noch etwas: Julio sagt, daß in der Glock ein volles Magazin steckt - also ist der Smith & Wesson vermutlich ebenfalls geladen gewesen.«

»Und schußbereit«, fügte Garcia hinzu.

»Ich denke auch an einen Insider, Jose«, sagte Ainslie, »aber wir wollen uns nicht vorzeitig festlegen.«

»Übrigens noch etwas«, fügte Verona hinzu. »Wir haben in diesem Raum ziemlich viele Fingerabdrücke sichergestellt und bräuchten zu Vergleichszwecken die Abdrücke aller Hausbewohner, die normalerweise hier zu tun haben.«

»Das übernehme ich«, sagte Jorge Rodriguez.

»Denken Sie vor allem an Holdsworth«, wies Ainslie ihn an. »Und natürlich an Mrs. Davanal.«

An diesem Abend und am folgenden Morgen war »Der blutige Mord bei den superreichen Davanals«, wie eine Schlagzeile lautete, der Aufmacher in Presse, Rundfunk und Fernsehen - teilweise auch überregional. Die meisten Berichte zitierten aus dem Interview, das Felicia Maddox-Davanal der familieneigenen Fernsehstation WBEQ gegeben und in dem sie von »der brutalen Ermordung meines Ehemanns« gesprochen hatte. Auf die Frage, ob die Ermittler schon eine bestimmte Spur verfolgten, hatte sie geantwortet: »Ich weiß nicht, ob sie überhaupt dazu in der Lage sind. Sie wirken völlig konfus.« Sie kündigte an, die Familie werde eine Belohnung für die Ergreifung des Täters aussetzen, sobald - wie sie es ausdrückte -»mein Vater aus Italien zurück ist, wo er, unter schwerem Schock stehend, sein Hotel nicht verlassen kann«.

Der Mailänder Associated-Press-Korrespondent, der erfolglos versucht hatte, Theodore Davanal einen Tag nach dem Tod seines Schwiegersohns zu interviewen, berichtete jedoch, das Ehepaar Davanal habe sich mit Freunden in dem Luxusrestaurant L'Albereta di Gualtiero Marchesi zum Lunch getroffen und sei offenbar glänzend gelaunt gewesen.

Unterdessen gingen die Ermittlungen der Mordkommission in der Villa an der Brickell Avenue weiter. Am zweiten Tag kamen Malcolm Ainslie, Jorge Rodriguez und Jose Garcia um zehn Uhr in Maddox-Davanals Arbeitszimmer zusammen.

Jorge berichtete, das in Frage kommende Hauspersonal habe sich freiwillig die Fingerabdrücke abnehmen lassen. »Aber bei Mrs. Davanal bin ich abgeblitzt; sie hat einfach gesagt, sie denke nicht daran, sich im eigenen Haus ihre Fingerabdrücke abnehmen zu lassen.« Auch der Butler Holdsworth hatte seine Fingerabdrücke verweigert.

»Das ist ihr gutes Recht«, murmelte Ainslie. »Aber die Abdrücke des Butlers hätten mich schon interessiert.«

»Ich kann versuchen, sie ohne sein Wissen zu beschaffen«, erbot Jorge sich. Kriminalbeamte griffen oft zu diesem Trick, obwohl er offiziell mißbilligt wurde.

»Das wäre in diesem Haus zu riskant.« Ainslie fragte Garcia: »Haben Sie nicht gesagt, Holdsworth sei in England verurteilt worden?«

»Ja, aber er ist auf Bewährung freigekommen.«

»Dann sind seine Fingerabdrücke noch registriert.«

»Nach dreiunddreißig Jahren?« fragte Garcia zweifelnd.

»Die Briten sind gründlich; sie haben seine Abdrücke bestimmt noch. Rufen Sie Ihren Mann bei der Einwanderungsbehörde an, damit er sich diese alten Fingerabdrücke schnellstens per Computer übermitteln läßt.«

»Wird sofort erledigt.« Garcia nickte eifrig, ging in eine Ecke des Arbeitszimmers und sprach in sein Kombigerät.

»Na, hoffentlich wird er fündig«, sagte Julio Verona, der eben hereingekommen war. »Die Fingerabdrücke an der Uhr sind eine Sackgasse gewesen. Keine Entsprechung bei uns oder beim FBI.« Er machte eine Pause. »Übrigens noch etwas: Dr. Sanchez möchte einen von Ihnen im Leichenschauhaus sprechen.«

Jorge sah zu Ainslie hinüber, der entschied: »Wir fahren gemeinsam hin.«

»Dieser Todesfall Maddox-Davanal hat irgendwas Merkwürdiges an sich, das nicht zusammenpaßt.« Sandra Sanchez saß in ihrem Büro im ersten Stock der Dade County Morgue in der Northwest Tenth Avenue an ihrem mit Papieren überhäuften Schreibtisch. Vor der Gerichtsmedizinerin lag ein Zettel mit handschriftlichen Notizen.

»Was paßt nicht zusammen, Doktor?« fragte Jorge. Sanchez zögerte, dann antwortete sie: »Die Spuren und die Mordtheorie, die ich bisher von euch gehört habe. Eigentlich geht mich das nichts an. Ich soll Ihnen nur die Todesursache mitteilen...«

»Aber Sie tun meist mehr, und dafür sind wir Ihnen alle dankbar«, versicherte Ainslie ihr.

»Nun, es geht um die Schußbahn, Malcolm - schwer zu verfolgen, weil ein großer Teil des Schädels fehlt. Aber unsere Röntgenaufnahmen zeigen, daß die Kugel offenbar in die rechte Wange, dann durchs rechte Auge nach oben ins Gehirn gedrungen ist und bei ihrem Austritt das Schädeldach zertrümmert hat.«

»Klingt ziemlich tödlich«, meinte Jorge. »Was soll daran falsch sein?«

»Falsch ist daran, daß jemand, der ihn so hätte erschießen wollen, ihm den Revolver praktisch unter die Nase hätte halten müssen, um aus nächster Nähe abzudrücken.«

»Kann das Ganze nicht so schnell und unerwartet abgelaufen sein«, fragte Jorge, »daß er gar nicht mitgekriegt hat, was passiert ist?«

»Ja, das wäre denkbar, aber nicht gerade wahrscheinlich. Und es würde zwei Fragen aufwerfen. Erstens: Wozu sollte der Schütze unnötig viel riskieren, indem er nahe an einen sportlichen Kerl wie Davanal herangeht? Zweitens: Auch bei einem überraschenden Angriff hätte das Opfer instinktiv reagiert, sich sogar gewehrt, aber davon ist nichts festzustellen.«

»Als wir uns den Toten zum erstenmal angesehen haben, haben Sie darauf hingewiesen, daß es anscheinend keinen Kampf gegeben hat«, erinnerte Ainslie Jorge. Dr. Sanchez fragte er: »Woran denken Sie noch? Ich weiß, daß Sie eine Idee haben.«

»Ja, eine einfache Frage. Haben Sie daran gedacht, daß es sich um Selbstmord handeln könnte?«

Ainslie antwortete nicht gleich. »Nein, das haben wir nicht.«

»Aus sehr guten Gründen«, warf Jorge ein. »Die Terrassentür ist aufgebrochen worden, und wir haben Fußabdrücke, aber keinen Revolver gefunden, der bei einem Selbstmord noch dagelegen hätte... «

»Detective«, unterbrach Sanchez ihn, »mein Gehör ist noch ziemlich gut, und wie ich eingangs erwähnt habe, bin ich eine Stunde lang am Tatort gewesen und habe zugehört.«

Jorge wirkte verlegen. »Entschuldigung, Doktor; ich werde über Ihre Fragen nachdenken. Aber noch etwas anderes - an der Schußhand von Selbstmördern sind immer Pulverschmauchspuren festzustellen. Auch in diesem Fall?«

»Nein«, antwortete Sandra Sanchez, »obwohl ich mir beide Hände vor der Autopsie genau angesehen habe. Aber wer etwas von Schußwaffen versteht, kann Schmauchspuren abwaschen. Das wirft eine weitere Frage auf, über die Sie nachdenken sollten, Malcolm: Ist es denkbar, daß alle sonstigen Spuren gefälscht worden sind?«

»Ja, das ist denkbar«, gab Ainslie zu, »und nach allem, was ich von Ihnen erfahren habe, werden wir sie uns noch einmal ansehen.«

»Gut.« Dr. Sanchez nickte zustimmend. »Ich stufe den Tod inzwischen als >ungeklärt< ein.«

9

Zu den Anrufen, die für Malcolm Ainslie während seiner Abwesenheit vom Schreibtisch eingegangen waren, gehörte einer davon Beth Embry. Sie hatte keinen Namen angegeben, aber er erkannte ihre Telefonnummer und rief sofort zurück.

»Ich habe einige meiner alten Quellen angezapft«, erklärte sie ihm ohne Vorrede, »und zwei Tatsachen über Byron Maddox-Davanal erfahren, die dich interessieren dürften.«

»Beth, du bist ein Schatz! Was hast du für mich?«

»Der Kerl hat in großen finanziellen Schwierigkeiten gesteckt - sogar in sehr großen. Außerdem hat er einer jungen Frau ein Kind gemacht, und ihr Anwalt ist wegen Unterhaltszahlungen hinter Byron hergewesen - ersatzweise hinter der Familie Davanal.«

Ainslie holte tief Luft. »Das klingt allerdings verdammt nach Schwierigkeiten«, antwortete er. »Und ich denke gerade an etwas, das du bei meinem Besuch gesagt hast - daß es dich nicht wundern würde, wenn Byron Selbstmord verübt hätte.«

»Sieht's danach aus?« fragte Beth überrascht.

»Das ist eine Möglichkeit, allerdings vorerst noch nicht mehr. Erzähl mir von seinen finanziellen Schwierigkeiten.«

»Spielschulden. Byron hat hohe Schulden bei der hiesigen Unterwelt gehabt. Über zwei Millionen Dollar. Die Mafia hat ihm gedroht, sich an Theodore Davanal zu wenden.«

»Der ihr keinen Cent gezahlt hätte.«

»Oder vielleicht doch. Wer einen steilen Aufstieg wie die Davanals hinter sich hat, hat auch einiges zu verbergen, von dem die Mafia bestimmt weiß. Aber mit Byrons luxuriösem Drohnendasein wär's vorbei gewesen, wenn Theodore sie hätte auszahlen müssen.«

Ainslie bedankte sich erneut bei Beth und versprach ihr, sie auf dem laufenden zu halten.

Jorge war an seinen Schreibtisch neben Ainslies zurückgekehrt. »Was ist mit dieser Selbstmordtheorie? Nehmen Sie die ernst?«

»Ich nehme Sandra Sanchez ernst. Und die Theorie ist eben plausibler geworden.« Ainslie berichtete von seinem Gespräch mit Beth Embry.

Jorge stieß einen leisen Pfiff aus. »Stimmt das alles, hat die Davanal gelogen. Ich hab' sie im Fernsehen gesehen - sie hat von dem >brutalen Mord an meinem Ehemann< gesprochen. Was will sie also verbergen?«

Eine mögliche Antwort kannte Ainslie bereits. Sie hing mit etwas zusammen, das Beth Embry bei seinem Besuch erwähnt hatte, und bestand aus einem einzigen Wort: Stolz. Und über die Familie Davanal hatte Beth gesagt: Ihr Auftreten muß untadelig sein, damit sie als hochwertige, sogar perfekte Menschen dastehen, »Vernehmen wir Mrs. Davanal noch mal?« fragte Jorge.

»Ja, aber nicht gleich. Wir forschen erst mal weiter.«

An diesem Mittwoch übergab das Dade County Coroner's Department die Leiche Byron Maddox-Davanals seiner Ehefrau Felicia, die bekanntgeben ließ, der Trauergottesdienst für ihren verstorbenen Ehemann mit anschließender Beerdigung werde am Freitag stattfinden.

Am Donnerstag war der Haushalt der Davanals überwiegend mit den Vorbereitungen für die Beisetzung beschäftigt, und die Beamten der Mordkommission machten sich rücksichtsvollerweise rar. Malcolm Ainslie fuhr jedoch mit dem Lift in den zweiten Stock der Villa hinauf, um das Ehepaar Vazquez kennenzulernen, das den Patriarchen Wilhelm Davanal versorgte. Er traf die beiden in ihrer Dachgeschoßwohnung an. Sie waren freundlich und hilfsbereit und hatten ihren Schutzbefohlenen offensichtlich gern. Natürlich hatten sie von der Ermordung Byrons gehört und waren schockiert. Auch »Mr. Wilhelm« wußte davon, würde aber nicht zur Beerdigung kommen, weil das zu anstrengend für ihn gewesen wäre. Ainslie konnte ihn bei diesem Besuch leider nicht kennenlernen, weil Mr. Wilhelm schlief.

Karina Vazquez, von Beruf Krankenschwester und eine zuverlässige, mütterliche Frau Mitte Fünfzig, erklärte ihm: »Der alte Gentleman hat nicht mehr viel Kraft und schläft vor allem tagsüber viel. Aber wenn er wach ist, hat er - im Gegensatz zu dem, was seine Angehörigen wahrscheinlich behaupten - seine fünf Sinne so gut beieinander wie Sie oder ich.«

Ihr Mann Francesco fügte hinzu: »Manchmal kommt Mr. Wilhelm mir wie eine hochwertige alte Uhr vor. Sie bleibt irgendwann stehen, aber bis dahin funktioniert ihr Werk tadellos.«

»Hoffentlich kann man das später auch von mir behaupten«, sagte Ainslie. Er fuhr fort: »Glauben Sie, daß der alte Gentleman mir irgend etwas über den Todesfall sagen kann?«

»Das würde mich nicht wundern«, antwortete Mrs. Vazquez. »Was Angelegenheiten der Familie betrifft, ist er immer auf dem laufenden, aber er behält sein Wissen für sich, und Francesco und ich fragen ihn nicht aus. Ich weiß, daß Mr. Wilhelm nachts oft wach liegt, deshalb könnte er etwas gehört haben. Aber wir haben nicht mit ihm darüber gesprochen, also müßten Sie ihn selbst fragen.«

Ainslie bedankte sich und vereinbarte mit dem Ehepaar, daß er ein andermal zurückkommen würde.

Obwohl Felicia nicht viel Zeit für die Vorbereitungen hatte, tat sie ihr Bestes, um ihrem verstorbenen Mann eine großartige Beerdigung auszurichten. Der Trauergottesdienst fand in der geräumigen St. Paul's Episcopal Church in Coral Gables statt.

Angekündigt wurde er durch eilige Pressemitteilungen und in den Abendnachrichten der Fernsehstation WBEQ. Die Häuser der Warenhauskette Davanal's im Großraum Miami blieben für drei Stunden geschlossen, damit die Angestellten am Gottesdienst teilnehmen konnten; intern wurde bekanntgemacht, die Namen aller Mitarbeiter, die diese Zeit anders nutzten, würden notiert. Die Kirche war überfüllt, aber Theodore und Eugenia Davanal, die ihre Italienreise nicht abgebrochen hatten, glänzten durch Abwesenheit.

Auch Malcolm Ainslie, Jorge Rodriguez und Jose Garcia kamen zur Beerdigung - nicht als Trauergäste, sondern als Beobachter, um die Trauergemeinde unter die Lupe zu nehmen. Obwohl die Theorie, Byron Maddox-Davanal könnte Selbstmord verübt haben, neue Nahrung bekommen hatte, war bisher nicht auszuschließen, daß er ermordet worden war, und wie die Erfahrung zeigte, kam es vor, daß Mörder den morbiden Drang verspürten, bei der Beerdigung ihres Opfers dabeizusein.

Außer den Kriminalbeamten waren auch drei Personen von der Spurensicherung anwesend, die mit getarnten Kameras Fotos von Anwesenden und ihren Autokennzeichen machten.

Als die Kriminalbeamten am späten Nachmittag wieder an ihren Schreibtischen saßen, tauchte ein uniformierter Beamter der Einwanderungsbehörde auf, der zu Garcia wollte.

Sie schüttelten sich die Hand. »Ich wollte Ihnen das hier gleich vorbeibringen«, sagte der Mann von der Einwanderungsbehörde. Er übergab dem Kriminalbeamten einen Umschlag. »Das sind die gewünschten Fingerabdrücke. Sie sind vorhin als E-Mail aus London gekommen.«

»Wunderbar, vielen Dank!« sagte Garcia überschwenglich wie immer. Nachdem sie sich kurz unterhalten hatten, begleitete er den Besucher hinaus.

Detective Garcia wartete darauf, daß Ainslie ein Telefongespräch beendete, gab dann auf und ging zur Spurensicherung hinüber, um mit Julio Verona zu sprechen.

Zehn Minuten später kam Garcia sichtlich aufgeregt zurück. »Hey, Sergeant!« rief er schon von der Tür aus. »Ich hab' was für Sie - eine heiße Spur.«

Ainslie drehte sich auf seinem Drehstuhl um.

»Es geht um Holdsworth, diesen Hundesohn von einem Butler. Ich hab' gleich gewußt, daß er lügt! Die blutigen Fingerabdrücke auf der kleinen Schreibtischuhr sind seine -hundertprozentig. Und das Laborergebnis liegt inzwischen auch vor. Das auf der Rückseite der Uhr gefundene Blut ist mit dem des Ermordeten identisch.«

»Gut gemacht, Pop...« Ainslie wurde unterbrochen, als jemand von einem anderen Schreibtisch aus rief: »Anruf auf Leitung sieben für Sergeant Ainslie!«

Er machte Garcia ein Zeichen, einen Augenblick zu warten, nahm den Telefonhörer ab und meldete sich. »Hier ist Karina Vazquez, Sergeant«, sagte eine Frauenstimme. »Mr. Wilhelm ist wach und gern bereit, Sie zu empfangen. Er weiß etwas, glaube ich. Aber kommen Sie bitte schnell! Er kann jeden Augenblick wieder einschlafen.«

Ainslie seufzte, als er den Hörer auflegte. »Eine interessante Neuigkeit, Jose; damit müssen wir uns näher befassen. Aber ich muß mich erst um etwas anderes kümmern.«

Im zweiten Stock der Villa der Davanals führte Mrs. Vazquez Ainslie in ein geräumiges Schlafzimmer mit heller Eichenholztäfelung und großen Fenstern mit herrlicher Aussicht auf die Biscayne Bay. In einem großen Himmelbett mit Blick aufs Wasser ruhte eine von Kissen gestützte schmächtige, ausgezehrte Gestalt - Wilhelm Davanal.

»Das ist Mr. Ainslie«, meldete Mrs. Vazquez den Besucher an. »Er ist der Polizeibeamte, den Sie empfangen wollten, Mr. Wilhelm.« Dabei rückte sie einen Sessel neben sein Bett.

Der Greis nickte, deutete auf den Sessel und sagte leise: »Bitte nehmen Sie Platz.«

»Danke, Sir.« Als Ainslie sich setzte, fragte Vazquez hinter ihm: »Stört es Sie, wenn ich bleibe?«

»Nein, das ist mir nur recht.« Falls sich etwas Wichtiges ergab, konnte eine Zeugin nützlich sein.

Ainslie betrachtete den Siebenundneunzigjährigen.

Trotz seines hohen Alters und seiner Gebrechlichkeit war Wilhelm Davanal eine Patriziergestalt mit markanten, schmalen Gesichtszügen. Sein schlohweißes Haar war schütter, aber ordentlich gescheitelt. Nur die losen Hautfalten an Wangen und Hals, seine wäßrigen Augen und die zitternden Hände verrieten, wie abgenutzt sein Körper nach fast einem Jahrhundert war.

»Schade um Byron.« Der Alte sprach so leise, daß Ainslie sich anstrengen mußte, um ihn zu verstehen. »Hat nicht viel Rückgrat und überhaupt kein Geschäftstalent besessen, aber ich habe ihn immer gern gemocht. Hat mich oft besucht; die anderen tun das selten, sind zu beschäftigt. Byron hat mir manchmal vorgelesen. Wissen Sie schon, wer ihn ermordet hat?«

Ainslie entschied sich dafür, offen zu antworten. »Möglicherweise niemand, Sir. Wir halten einen Selbstmord für denkbar.«

Der Gesichtsausdruck des Alten veränderte sich nicht. Er schien zu überlegen, dann sagte er: »Wundert mich nicht. Hat mir mal erzählt, sein Leben sei leer.«

Während Ainslie sich rasch Notizen machte, flüsterte Vazquez ihm zu: »Vergeuden Sie keine Zeit, Sergeant. Beeilen Sie sich, falls Sie Fragen stellen wollen.«

Ainslie nickte. »Mr. Davanal, haben Sie in der Nacht zum letzten Dienstag oder früh am Dienstagmorgen ein Geräusch gehört, das ein Schuß hätte sein können?«

Diesmal klang die Greisenstimme kräftiger. »Habe den Schuß gehört. Laut. Habe genau gewußt, was das war. Habe mir auch die Zeit gemerkt.«

»Wann ist das gewesen, Sir?«

»Kurz nach halb sechs. Habe hier einen Radio wecker.« Der Alte deutete mit zitternder Hand auf seinen Nachttisch.

»Haben Sie nach dem Schuß noch irgend etwas gehört, Mr. Davanal?«

»Ja. Meine Fenster waren offen. Nach ein paar Minuten sind unten weitere Geräusche zu hören gewesen. Auch auf der Veranda. Stimmen.«

»Haben Sie erkannt, wer gesprochen hat?«

»Holdsworth. Er ist unser...«

Die Stimme des Alten wurde noch leiser. Ainslie warf hastig ein: »Ja, ich weiß, daß er der Butler ist. Haben Sie noch jemanden erkannt?«

»Ich glaube... ich glaube, das ist...« Als seine Stimme versagte, flüsterte er: »Wasser, bitte.« Vazquez brachte ihm ein Glas und stützte ihn, als er einige kleine Schlucke nahm. Dann fielen ihm die Augen zu, während sein Kopf nach hinten sank. Seine Pflegerin bettete ihn in die Kissen, bevor sie sich an Ainslie wandte.

»Das war's für heute, Sergeant. Mr. Wilhelm schläft jetzt wahrscheinlich sieben bis acht Stunden lang. Ich habe Sie gewarnt!« Sie beugte sich über den Alten, um dafür zu sorgen, daß er bequem ruhte, und richtete sich dann wieder auf. »Ich begleite Sie hinaus.«

Aber Ainslie blieb vor der Schlafzimmertür stehen. »Danke, Mrs. Vazquez, ich finde selbst hinaus. Jetzt möchte ich Sie bitten, mir einen wichtigeren Gefallen zu tun.«

Sie warf ihm einen neugierigen Blick zu. »Welchen denn?«

»Unter Umständen muß ich Sie später um eine eidesstattliche Erklärung bitten, welche Fragen und Antworten Sie eben gehört haben. Deshalb wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich hinsetzen und alles aufschreiben würden, was Mr. Davanal und ich Ihrer Erinnerung nach gesagt haben.«

»Wird gemacht«, versprach Karina Vazquez ihm. »Sagen Sie mir nur, wann Sie mich brauchen.«

Als Ainslie ins Präsidium zurückfuhr, fragte er sich, ob der Name, den Wilhelm Davanal beinahe genannt hatte, Felicia gewesen war.

»Ich möchte einen Haftbefehl gegen Humphrey Holdsworth wegen Mordes an Byron Maddox-Davanal«, erklärte Ainslie Lieutenant Newbold.

Malcolm Ainslie, Jorge Rodriguez und Jose Garcia saßen im Büro ihres Chefs. Ainslie, der die Punkte aus seinen Notizen vorlas, hatte eben die Verdachtsmomente gegen Holdsworth aufgezählt.

»Seine Fingerabdrücke sind als einzige auf der Uhr gefunden worden, an der Blut des Ermordeten klebt. Folglich muß Holdsworth sie aufgehoben und auf den Schreibtisch zurückgestellt haben.

Holdsworth hat bei seiner Befragung durch Detective Garcia gelogen, als er behauptete, er habe von Byron Maddox-Davanals Tod erst erfahren, als Felicia Maddox-Davanal ihn davon unterrichtet habe, nachdem sie neuneinseins angerufen hatte, was sie um 7.32 Uhr getan hat.

Im Gegensatz zu seiner Aussage hat Wilhelm Davanal ausgesagt, er habe am Mordtag gegen halb sechs Uhr morgens einen lauten Schuß und wenig später die Stimme des Butlers gehört. Er kennt Holdsworth gut und ist sich sicher, ihn gehört zu haben. Mr. Davanal hat bei offenem Fenster geschlafen, und die Stimme ist von der Veranda gekommen, die unmittelbar vor dem Tatort liegt.«

»Haltet ihr alle Holdsworth für den Mörder?« fragte Newbold seine Kriminalbeamten.

»Im Vertrauen gesagt, Sir, nein«, gab Ainslie zu. »Aber wir haben genug in der Hand, um ihn zu verhaften, ihm Angst einzujagen und ihn zum Reden zu bringen. Er weiß genau, was am Tatort passiert ist; darüber sind wir uns einig.« Er sah zu den beiden anderen hinüber.

»Der Sergeant hat recht, Sir«, bestätigte Garcia. »Nur so wird der Kerl reden. Lady Macbeth dort drüben öffnet ihren Kirschenmund bestimmt nicht freiwillig.«

Rodriguez nickte zustimmend.

»Was haben Sie vor, Malcolm, wenn ich Ihren Plan genehmige?« fragte Newbold.

»Ich lasse den Haftbefehl noch heute abend ausstellen und finde einen Richter, der ihn unterschreibt. Morgen in aller Frühe nehmen wir einen Streifenwagen mit, wenn wir Holdsworth abholen. Die Fahrt in Handschellen in einem vergitterten Wagen macht ihn bestimmt nachdenklich; außerdem ist's besser, ihn möglichst schnell aus der Villa rauszuholen.«

»Scheint im Augenblick unsere beste Chance zu sein«, bestätigte Newbold. »Okay, einverstanden.«

Am frühen Abend betrat Ainslie das Gebäude der Staatsanwaltschaft in der Northwest Twelfth Avenue. Er hatte mit Curzon Knowles telefoniert, der ihm zugesagt hatte, auf ihn zu warten.

Im Büro des Staatsanwalts zählte Ainslie die Punkte auf, die Holdsworth belasteten. Knowles kannte diesen Fall natürlich.

»Scheint für einen Haftbefehl zu reichen«, bestätigte er. »Für eine Verurteilung brauchten wir mehr, aber ich nehme an, daß Sie auf ein Geständnis setzen.« Er musterte Ainslie prüfend. »Oder vielleicht eher auf einen Hinweis auf andere Personen?«

Staatsanwalt Knowles, der vor dem Jurastudium Kriminalbeamter in New York City gewesen war, kannte die manchmal verschlungenen Wege zur Lösung schwieriger Fälle aus eigener Erfahrung. Ainslie wußte jedoch, daß es unmoralisch gewesen wäre, über den möglichen Mißbrauch eines Haftbefehls zu sprechen, deshalb antwortete er zurückhaltend: »Andere Möglichkeiten gibt's immer, Counselor, aber im Augenblick ist Holdsworth unser Hauptverdächtiger.«

Der Staatsanwalt lächelte. »Ich habe Byron Maddox-Davanal flüchtig gekannt, wissen Sie. Als ich den Tatort gesehen habe, habe ich zunächst sofort auf Selbstmord getippt. Aber ein Davanal begeht keinen Selbstmord, nicht wahr?«

Ainslie, der sich scharf beobachtet fühlte, schwieg wohlweislich.

Der Staatsanwalt stand auf. »Meine Sekretärin ist bereits weg. Mal sehen, wie gut ich mit dem Computer zurechtkomme.«

Sie gingen ins Vorzimmer hinaus, wo Knowles zwar nur mit zwei Fingern, aber sonst sehr geschickt eine eidesstattliche Versicherung schrieb. Sobald sie ausgedruckt war, legte Ainslie den vorgeschriebenen Eid ab und unterschrieb die Versicherung. Danach erhielt er den Haftbefehl ausgestellt.

»So«, sagte Knowles anschließend, »jetzt müssen wir noch nachsehen, welche Richter verfügbar sind.« Er ging an seinen Schreibtisch zurück und holte die Liste mit den Namen, Telefonnummern und Adressen der jeweils drei Richter heraus, die an den einzelnen Wochentagen Notdienst hatten. »Welcher ist Ihnen am liebsten?« Er gab Ainslie die Liste.

»Ich versuch's mit Detmann.« Ainslie hatte schon mehrmals in Verhandlungen, die Ishmael Detmann leitete, als Zeuge ausgesagt, und es war immer nützlich, wenn der Richter den Kriminalbeamten kannte, der einen Haftbefehl beantragte.

»Okay, ich rufe ihn für Sie an.«

Eine Minute später berichtete Knowles: »Die Frau des Richters sagt, daß sie beim Abendessen sitzen, aber bis Sie dort sind, hat ihr Mann Zeit für Sie.«

Richter Detmann, der in einem Bungalow in Miami Shores wohnte, kam selbst an die Haustür. Er war ein stattlicher, würdevoller, grauhaariger Mann, der Ainslie in sein Arbeitszimmer führte, wo Mrs. Detmann ihnen Kaffee servierte. Als sie Platz genommen hatten, las der Richter die von Ainslie mitgebrachten Unterlagen. »Sie haben ziemlich schnell einen möglichen Täter gefunden. Ist die Beweislage gut?«

»Wir halten sie für gut, Euer Ehren, und der Staatsanwalt findet das auch.« Ainslie drückte sich wieder vorsichtig aus, weil er wußte, daß alles, was morgen passierte, sehr bald in die Öffentlichkeit dringen würde.

Richter Detmann las weiter. »Knowles... ja, den habe ich schon oft als Anklagevertreter erlebt. Nun, was er befürwortet, kann ich auch unterschreiben.« Er schraubte seinen Füllfederhalter auf und setzte seine Unterschrift unter den Haftbefehl.

Zu Hause stellte Ainslie seinen Wecker auf fünf Uhr.

Um 5.50 Uhr, noch vor Tagesanbruch, fuhr Ainslie mit Jorge Rodriguez in einem neutralen Dienstwagen vor der Villa der Davanals vor. Hinter ihnen hielt ein mit zwei uniformierten Beamten, einer davon ein Sergeant, besetzter Streifenwagen der Miami Police.

Nachdem die vier Polizeibeamten ausgestiegen waren, übernahm Rodriguez wie vereinbart die Führung. Er marschierte zu dem massiven Portal, fand den Klingelknopf und drückte ihn mehrere Sekunden lang. Nach kurzer Pause klingelte er nochmals. Dieser Vorgang wiederholte sich in immer kürzeren Abständen, bis eine Männerstimme rief: »Schon gut, schon gut, wer immer Sie sind! Ich komme!«

Drinnen wurden Riegel zurückgezogen. Dann öffnete sich einer der Türflügel, so weit es die eingehängte Sperrkette zuließ. Im Türspalt war das Gesicht des Butlers Holdsworth zu erkennen.

»Polizei!« erklärte Rodriguez ihm laut. »Hängen Sie bitte die Kette aus.«

Die Tür wurde geschlossen, damit Holdsworth die Sperrkette aushängen konnte. Als sie wieder aufging, war zu erkennen, daß der Butler sich in großer Eile angezogen hatte: Sein Hemd war nicht ganz zugeknöpft, und er schlüpfte erst jetzt in seine Jacke. Als er die Vierergruppe vor dem Hausportal sah, protestierte er: »Um Himmels willen! Was ist denn so dringend?«

Jorge trat einen Schritt näher an ihn heran und sagte mit lauter, deutlicher Stimme: »Humphrey Holdsworth, ich habe einen Haftbefehl gegen Sie wegen Mordes an Byron Maddox-Davanal. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie das Recht haben, die Aussage zu verweigern... Sie brauchen sich mir gegenüber nicht zu äußern oder Fragen zu beantworten...«

Holdsworth stand der Mund offen; aus seiner Miene sprach ungläubiges Entsetzen. »Einen Augenblick! Bitte!« flehte er atemlos. »Das muß ein Irrtum sein! Sie können mich nicht meinen... «

Jorge sprach unbeirrbar weiter: »Sie haben das Recht auf einen Anwalt... Können Sie sich keinen Anwalt leisten, wird Ihnen einer gestellt... «

»Nein! Nein! Nein!« rief Holdsworth erregt. Er wollte nach dem Schriftstück greifen, das Jorge in der Hand hielt, aber Ainslie war schneller. Er trat auf den Butler zu, packte ihn am Arm und wies ihn an: »Mund halten und zuhören! Hier liegt kein Irrtum vor.«

Als Rodriguez mit seiner Belehrung fertig war, forderte er Holdsworth auf: »Hände auf den Rücken!«

Bevor Holdsworth wußte, wie ihm geschah, war er mit Handschellen gefesselt. Ainslie nickte den uniformierten Beamten zu. »Sie können ihn wegbringen.«

»Oh, bitte hören Sie doch zu!« sagte der Butler flehend. »Das ist nicht fair, das ist ungerecht. Außerdem muß ich Mrs. Davanal verständigen! Sie weiß bestimmt, was... «

Aber die Uniformierten schoben ihn bereits zu ihrem Streifenwagen. Sie öffneten die hintere Tür und stießen Holdsworth hinein, wobei sie seinen Kopf nach unten drückten, damit er ihn sich nicht am Türrahmen anschlug. Dann fuhr der Streifenwagen mit dem heftig protestierenden Verhafteten auf dem Rücksitz davon.

Die Streifenwagenbesatzung lieferte Holdsworth bei der Mordkommission ab, wo er in einem Vernehmungsraum mit Handschellen an einen Metallstuhl gefesselt wurde. Ainslie und Rodriguez, die wenig später eintrafen, ließen ihn eine halbe Stunde lang schmoren. Dann kamen sie gemeinsam herein und setzten sich Holdsworth an dem großen Metalltisch gegenüber.

Der Butler funkelte sie an, aber als er sprach, klang seine Stimme beherrschter als zuvor in der Villa. »Ich will sofort einen Anwalt und verlange, daß Sie mir... «

»Halt!« Ainslie hob eine Hand. »Sie wollen einen Anwalt, und Sie bekommen einen. Aber bevor Ihr Anwalt hier eingetroffen ist, können wir Sie weder vernehmen noch Ihre Fragen beantworten. Zuerst sind jedoch noch einige Formalitäten zu erledigen.«

Ainslie nickte Rodriguez zu, der seine Mappe mit einem Notizblock und mehreren Vordrucken aufschlug.

»Ihr vollständiger Name?« fragte er den Butler.

»Sie wissen genau, wie ich heiße!« fauchte Holdsworth.

Ainslie beugte sich nach vorn und sagte ruhig: »Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, geht alles viel schneller.«

Eine Pause. Dann: »Humphrey Howard Holdsworth.«

»Geburtsdatum?«

Sobald die Angaben zur Person des Verhafteten vollständig waren, schob Rodriguez ihm den Vordruck hin. »Unterschreiben Sie bitte rechts unten. Hier steht, daß Sie über Ihre Rechte belehrt worden sind und sich dafür entschieden haben, Fragen erst in Anwesenheit Ihres Rechtsanwalts zu beantworten.«

»Wie kann ich unterschreiben?« Holdsworth zeigte mit seiner Linken auf seine noch immer an den Stuhl gefesselte rechte Hand.

Rodriguez nahm ihm die Handschellen ab.

Während Holdsworth sich sein Handgelenk rieb und den ausgefüllten Vordruck mißtrauisch studierte, stand Ainslie auf. »Bin gleich wieder da«, erklärte er Jorge. Er ging zur Tür, streckte den Kopf hinaus und tat so, als rufe er jemandem zu: »Hey, laß die alten Fingerabdrücke aus England vorläufig liegen! Wir warten auf seinen Anwalt, deshalb brauchen wir sie erst später.«

Holdsworth hob ruckartig den Kopf. »Was für Fingerabdrücke aus England sind das?«

»Sorry.« Ainslie schüttelte den Kopf, als er an den Tisch zurückkam. »Wir dürfen nicht miteinander reden, bevor Ihr Anwalt hier ist.«

»Augenblick!« sagte Holdsworth scharf. »Wie lange dauert das?«

Rodriguez zuckte mit den Schultern. »Hängt ganz von Ihrem Anwalt ab.«

Holdsworth war sichtlich erregt. »Ich will sofort wissen, was mit diesen Fingerabdrücken ist!«

»Soll das heißen, daß Sie reden wollen, ohne auf einen Anwalt zu warten?« erkundigte Rodriguez sich.

»Ja, ja!«

»Dann dürfen Sie den Vordruck nicht unterschreiben. Hier ist ein anderer, der besagt, daß Sie über Ihre Rechte belehrt worden sind und sich dafür entschieden haben...«

»Her damit!« Holdsworth griff nach dem bereitgelegten Kugelschreiber und kritzelte seine Unterschrift hin. Danach wandte er sich an Ainslie. »Was ist mit den Fingerabdrücken?«

»Das sind Ihre, die man vor sechsunddreißig Jahren abgenommen hat«, erklärte Ainslie ihm ruhig. »Wir haben Sie uns aus England beschafft, und sie sind mit Fingerabdrücken identisch, die wir auf einer Schreibtischuhr am Tatort entdeckt haben. An dieser Uhr haben wir auch Blut des Ermordeten gefunden.«

Nun herrschte sekundenlang Schweigen, bis Holdsworth bedrückt sagte: »Ja, ich erinnere mich, daß ic h die verdammte Uhr aufgehoben und auf den Schreibtisch zurückgestellt habe. Das war unüberlegt.«

»Warum haben Sie Byron Maddox-Davanal ermordet, Mr. Holdsworth?« fragte Ainslie.

Das Gesicht des Butlers spiegelte einen inneren Kampf wider. »Ich habe ihn nicht ermordet!« stieß er hervor. »Das ist kein Mord gewesen! Es war Selbstmord - der Dummkopf hat sich selbst erschossen!«

Damit war der Damm gebrochen. Holdsworth verbarg sein Gesicht in den Händen, wiegte den Kopf hin und her und sprach stockend weiter. »Ich habe Mrs. Davanal gesagt, daß das nicht funktionieren würde - weil die Polizei clever ist und alles herausbekommt. Aber sie hat nicht auf mich gehört, sie hat's besser gewußt, sie hat wieder mal alles gewußt! Aber sie hat sich getäuscht. Und jetzt das!« Als Holdsworth die Hände vom Gesicht nahm, hatte er Tränen in den Augen.

»Diese alte Sache in England«, murmelte er. »Der Grund für die Fingerabdrücke. Ich habe sie abgegeben, als... «

»Das wissen wir«, unterbrach Rodriguez ihn. »Eine Bagatelle, die längst verjährt ist.«

»Ich bin seit fünfzehn Jahren hier.« Holdsworth schluchzte jetzt. »Ich habe nie Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt, aber plötzlich stehe ich unter Mordverdacht... «

»Stimmt alles, was Sie bisher ausgesagt haben, wird dieser Mordverdacht fallengelassen«, sagte Ainslie. »Aber Sie haben sich trotzdem strafbar gemacht, und wir verlangen von Ihnen rückhaltlose Offenheit - Antworten auf alle unsere Fragen, keine Ausflüchte mehr.«

»Fragen Sie, was Sie wollen.« Holdsworth setzte sich auf und hob den Kopf. »Ich erzähle Ihnen alles.«

Der tatsächliche Ablauf war verblüffend einfach.

Vor vier Tagen waren Holdsworth und Felicia Maddox-Davanal kurz nach halb sechs Uhr morgens durch einen Knall geweckt worden. Sie trafen sich mit hastig übergeworfenem Bademantel und Morgenrock im Erdgeschoß und betraten Byrons Arbeitszimmer, in dem sie ihn erschossen auffanden. In seiner rechten Hand hielt der Tote einen Revolver.

»Mir ist nur übel gewesen; ich habe nicht gewußt, was ich tun sollte«, erklärte Holdsworth den Kriminalbeamten. »Aber Mrs. Davanal war die Ruhe selbst. Sie ist schon immer stark gewesen. Sie hat angefangen, mir Anweisungen zu geben, weil wir beide geglaubt haben, als einzige Hausbewohner wach zu sein.«

Nach Aussage des Butlers hatte Mrs. Davanal ihm erklärt: »Niemand darf erfahren, daß mein Mann Selbstmord begangen hat.« Sie hatte hinzugefügt, für die Familie wäre das eine schreckliche Schande, und Mr. Theodore würde ihr nie verzeihen, wenn diese Tatsache öffentlich bekannt würde -deshalb müßten sie einen Mord vortäuschen.

»Ich habe versucht, ihr das auszureden«, berichtete Holdsworth. »Ich habe sie gewarnt, daß die Polizei clever ist und alles herausbekommt, aber sie hat nicht hören wollen. Sie hat gesagt, sie sei oft mit Fernsehreportern an Tatorten gewesen und wisse genau, was zu tun sei, damit alles nach einem Mord aussehe. Außerdem hat sie an meine Loyalität appelliert und mir erklärt, ich sei den Davanals einiges schuldig. Das stimmt natürlich, aber mir wär's lieber, ich hätte...«

»Bleiben wir bei den Tatsachen«, unterbrach Ainslie ihn. »Was ist mit der Waffe passiert?«

»Mrs. Davanal hat sie Mr. Byron aus der Hand genommen. Der Revolver ist eine der Waffen aus seinem Schrank gewesen.«

Ainslie erinnerte sich an Felicias Antwort auf seine Frage, ob sie im Arbeitszimmer ihres Mannes irgend etwas angefaßt, verändert oder bewegt habe: Ich habe mich einfach nicht dazu überwinden können, dicht an Byron oder den Schreibtisch heranzutreten.

»Wo ist der Revolver jetzt?«

Holdsworth zögerte. »Das weiß ich nicht.«

Rodriguez sah von seinen Notizen auf. »Doch, das wissen Sie! Oder Sie haben eine ziemlich gute Vorstellung davon.«

»Mrs. Davanal hat mich gefragt, wie sie die Waffe spurlos beseitigen könne. Ich habe ihr geraten, sie in einen Gully zu werfen. Der nächste ist praktisch vor unserem Haus.«

»Und hat sie das getan?«

»Das weiß ich nicht. Ich hab's lieber nicht wissen wollen. Ehrenwort!«

Rodriguez fragte weiter: »Und die falschen Spuren außerhalb des Hauses - die Fußabdrücke, die aufgebrochene Terrassentür? Wer ist das gewesen?«

»Das bin leider ich gewesen«, gab Holdsworth zu. »Ich habe die Tür mit einem großen Schraubenzieher aufgebrochen und die Spuren mit meinen Sportschuhen hinterlassen.«

»Ist das Mrs. Davanals Idee gewesen?«

Holdsworth nickte verlegen. »Nein, meine.«

»Wo sind der Schraubenzieher und die Schuhe jetzt?«

»Bevor die Polizei gekommen ist, bin ich an diesem Morgen die Straße entlang zu einer Baustelle gegangen und habe beides in einen Container geworfen. Er ist am Tag darauf abtransportiert worden; das habe ich gesehen.«

»Ist das alles?« fragte Ainslie.

»Ich glaube ja... Oh, da fällt mir noch etwas ein. Mrs. Davanal hat ein Handtuch, Seife und warmes Wasser geholt und Mr. Byrons Hand abgewaschen - die rechte Hand, in der er die Waffe gehalten hat. Damit keine Pulverspuren zurückbleiben, hat sie mir erklärt. Auch das hat sie von den Fernsehleuten gelernt.«

»Haben Sie aus dieser Geschichte etwas gelernt?« fragte Rodriguez.

Holdsworth lächelte zum erstenmal. »Daß die Polizei tatsächlich clever ist.«

Ainslie unterdrückte ein Lächeln. »Nehmen Sie diese Sache nicht auf die leichte Schulter; Sie müssen sich trotzdem für einiges verantworten. Sie haben unsere Ermittlungen durch Lügen behindert, Sie haben mitgeholfen, Beweismaterial zu beseitigen, und falsche Spuren gelegt. Deshalb behalten wir Sie vorläufig hier.«

Kurze Zeit später wurde Holdsworth von einem uniformierten Beamten in Untersuchungshaft abgeführt.

Als sie wieder allein waren, fragte Jorge Ainslie: »Okay, wie geht's weiter?« »Wir statten Felicia Davanal einen kleinen Besuch ab.«

10

Felicia Davanal war nicht zu Hause. Es war 7.50 Uhr. Niemand wußte, wohin sie verschwunden war.

Karina Vazquez, die mit den beiden Kriminalbeamten in der Eingangshalle stand, erklärte ihnen: »Ich weiß nur, daß Ms. Davanal das Haus sichtlich erregt und in größter Eile verlassen hat. Dann habe ich ihr Auto mit quietschenden Reifen wegfahren gehört.« In Abwesenheit des Butlers schien Wilhelm Davanals Pflegerin die Verantwortung für das gesamte Haus übernommen zu haben. Sie fügte hinzu: »Vielleicht hängt das irgendwie mit Mr. Holdsworth zusammen.« Mrs. Vazquez sah von einem Kriminalbeamten zum anderen. »Sie haben ihn abgeführt, nicht wahr? Ihn verhaftet? Seine Frau ist außer sich. Sie telefoniert die ganze Zeit, um einen Anwalt zu bekommen.«

»In den letzten Tagen ist alles mögliche passiert«, sagte Ainslie zurückhaltend. »Wie Sie wahrscheinlich wissen, hat's hier Täuschungsversuche und Falschaussagen gegeben.«

»Das ist mir inzwischen auch klar«, gab Vazquez zu. Plötzlich fiel ihr etwas ein. »Vielleicht ist Mrs. Davanal weggefahren, um Sie aufzusuchen.«

»Das wäre möglich«, bestätigte Rodriguez. Er rief die Mordkommission über Funk, dann meldete er Ainslie: »Nein, sie ist nicht dagewesen.«

Hinter ihnen kamen hastige Schritte näher. Francesco Vazquez erschien und rief atemlos: »Mrs. Davanal ist im Fernsehstudio - bei WBEQ! Gerade ist angekündigt worden, daß sie um acht Uhr über den Tod ihres Ehemanns sprechen wird.«

»Das ist in zwei Minuten«, sagte Ainslie. »Wo können wir uns die Sendung ansehen?«

»Kommen Sie bitte mit«, forderte Mrs. Vazquez sie auf, und die Männer folgten ihr den Korridor entlang in einen luxuriös ausgestatteten Fernsehraum. Der riesige Bildschirm nahm fast eine ganze Wand ein. Francesco Vazquez schaltete die Anlage ein; auf dem Bildschirm erschien der Schluß eines Werbespots in faszinierender Surround-Tontechnik. Nach der Einblendung WBEQ - The Morning News sagte eine Nachrichtensprecherin von ihrem Schreibtisch aus: »Sie sehen einen Exklusivbericht von WBEQ mit wichtigen Enthüllungen über den vermuteten Mord an Byron Maddox-Davanal. Es spricht Mrs. Felicia Maddox-Davanal, die Geschäftsführerin dieses Senders.«

Dann ein rascher Schnitt zu einer Nahaufnahme von Felicias Gesicht. Sie war atemberaubend schön, aber Ainslie vermutete, daß eine Maskenbildnerin nachgeholfen hatte. Ihr Gesichtsausdruck war ernst.

Im Fernsehraum deutete Mrs. Vazquez auf zwei Sesselreihen. »Nehmen Sie doch bitte Platz.«

»Nein, danke«, sagte Ainslie. Als die Kriminalbeamten stehen blieben, folgte das Ehepaar Vazquez ihrem Beispiel.

Felicia sah in die Kamera und begann mit klarer, gleichmäßiger Stimme: »Ich bin in aller Bescheidenheit und voller Bedauern im Begriff, ein öffentliches Geständnis abzulegen und mich zu entschuldigen. Das Geständnis betrifft die Tatsache, daß mein Mann Byron Maddox-Davanal nicht ermordet worden ist, wie ich und auf mein Drängen hin auch andere behauptet haben. Byron ist durch seine eigene Hand umgekommen; er hat Selbstmord verübt. Er ist tot, und weder Schuld noch Tadel können ihn noch länger treffen.

Diese beiden Dinge - Schuld und Tadel - können und müssen jedoch mir zur Last gelegt werden. Bis zu diesem Augenblick der Wahrheit habe ich in bezug auf den Tod meines Ehemanns gelogen, Freunde und Angehörige getäuscht, der Polizei und den Medien gegenüber falsche Aussagen gemacht, Beweise unterschlagen und falsche Spuren gelegt. Ich weiß nicht, welche Strafe mich dafür erwartet. Aber ich bin bereit, sie auf mich zu nehmen.

Meine Freunde, Mitbürger von Miami, Polizei und Fernsehzuschauer - ich entschuldige mich bei Ihnen allen. Und nachdem ich nun dieses Geständnis abgelegt, diese Entschuldigung ausgesprochen habe, will ich Ihnen erzählen, warum ich - irregeleitet - so gehandelt habe, wie ich's getan habe.«

»Die Hexe hat uns wieder ausgetrickst«, flüsterte Ainslie Rodriguez zu.

»Sie hat gewußt, daß Holdsworth auspacken würde«, murmelte Rodriguez, »deshalb ist sie uns mit diesem Auftritt zuvorgekommen.«

Ainslie verzog das Gesicht. »Wie ich sie kenne, steht sie am Schluß als Märtyrerin da.«

»Wer Mrs. Davanal überlisten will, muß verdammt früh aufstehen«, sagte Karina Vazquez.

Felicia sprach mit klarer Stimme, aber etwas zurückhaltender weiter: »Wie andere Mitglieder unserer Familie habe ich Selbstmord von frühester Jugend an für abscheulich gehalten -für eine feige Tat, mit der man vor seiner Verantwortung flüchtet und es anderen überläßt, das hinterlassene Chaos in Ordnung zu bringen. Die einzige Ausnahme ist natürlich jemand, der die unerträglichen Schmerzen eines tödlichen Leidens beenden will. Aber das ist bei meinem Ehemann Byron Maddox-Davanal nicht der Fall gewesen.

Unsere Ehe - und ich will weiter bei der Wahrheit bleiben hat nicht alle unsere Erwartungen erfüllt. Zu meinem großen Bedauern habe ich keine Kinder...«

Während Ainslie Felicia beobachtete und ihr zuhörte, fragte er sich, wie lange sie diesen Auftritt vorbereitet haben mochte. Obwohl ihre Worte spontan klangen, waren sie das bestimmt nicht. Vielleicht benutzte sie sogar einen TelePromTer; die Zeit hätte für die Eingabe eines Textes ausgereicht, und diese Fernsehstation gehörte schließlich der Familie Davanal.

»Was ich klarstellen muß«, sagte Felicia gerade, »ist die Tatsache, daß außer mir niemanden irgendeine Schuld trifft. Einer unserer Hausangestellten hat mich sogar gedrängt, auf mein Vorhaben zu verzichten. Ich habe seinen Rat unklugerweise ignoriert, aber ich möchte nicht, daß ihm jetzt irgendwelche Schuldvorwürfe gemacht werden...«

»Sie entlastet Holdsworth«, murmelte Rodriguez.

»Ich weiß nicht«, fuhr Felicia fort, »welche tatsächlichen oder vermeintlichen Probleme meinen Mann dazu veranlaßt haben, sein Leben zu beenden...«

»Das weiß sie verdammt gut«, fügte Rodriguez hinzu.

Ainslie wandte sich ab. »Hier vergeuden wir unsere Zeit«, sagte er. »Los, wir fahren zurück!«

Als sie hinausgingen, hörten sie hinter sich weiter Felicias Stimme.

Von seinem Schreibtisch aus telefonierte Ainslie mit Curzon Knowles.

»Ja, ich habe die Lady gesehen«, antwortete der Staatsanwalt auf seine Frage. »Gäbe es eine Emmy-Kategorie für >Heuchelei im Alltage, wäre sie die sichere Gewinnerin.«

»Werden das auch andere finden?«

»Nein. Außer zynischen Staatsanwälten und Kriminalbeamten werden alle sie für edel und gut halten - eine unserer Royals am Werk.«

»Was ist mit irgendwelchen Strafverfahren?«

»Das soll natürlich ein Witz sein.«

»Tatsächlich?«

»Malcolm, Sie können dieser Frau lediglich vorwerfen, daß sie einem Polizeibeamten falsche Auskünfte gegeben und Ihre Ermittlungen behindert hat - beides nur Vergehen. Aber angesichts der Tatsache, daß sie eine Davanal ist und sich die besten Rechtsanwälte leisten kann, wäre hier kein Staatsanwalt bereit, Anklage gegen sie zu erheben. Und falls Sie noch Zweifel haben: Ich bin oben gewesen und habe mit Adele Montesino darüber gesprochen. Sie ist meiner Meinung.«

»Wir lassen Holdsworth also laufen?«

»Natürlich. Niemand soll behaupten dürfen, die amerikanische Justiz behandle Reiche und weniger Reiche unterschiedlich. Ich setze den Haftbefehl außer Kraft.«

»Sie scheinen unser System skeptisch zu beurteilen, Counselor.«

»Das ist ein Leiden, das ich mir im Lauf der Jahre zugezogen habe, Malcolm. Sollten Sie von einem Mittel dagegen hören, lassen Sie's mich wissen.«

Damit schien der Fall Maddox-Davanal erledigt zu sein. Aber es gab noch zwei Postskripte. Eines davon war eine Nachricht für Ainslie, er solle Beth Embry anrufen.

Unter der Voraussetzung, nicht als Quelle genannt zu werden, hatte er Beth wie versprochen über alle Ereignisse auf dem laufenden gehalten. Allerdings war bisher noch keine Zeile unter ihrem Namen erschienen. Als er sie jetzt anrief, erkundigte er sich nach dem Grund dafür.

»Weil ich keine hartgesottene Reporterin mehr bin, sondern mein weiches Herz entdeckt habe«, erklärte Beth ihm. »Wollte ich über Byrons Selbstmord schreiben, müßte ich seine Spielschulden erwähnen, was nicht weiter schaden würde, aber auch die junge Frau benennen, der er ein Kind gemacht hat, und sie ist ein nettes Mädchen, dem ich nicht schaden will. Übrigens möchte ich, daß du sie selbst kennenlernst.«

»Du weißt, daß Felicia mit ihrer Behauptung gelogen hat, sie wisse nicht, warum Byron sich umgebracht hat.«

»Für Felicia gilt nur der Teil der Wahrheit, der ihr gerade paßt«, stimmte Beth zu. »Aber jetzt zu der jungen Frau. Sie hat eine Anwältin, die du bestimmt kennst - Lisa Kane.«

»Ja, die kenne ich.« Ainslie mochte Kane. Sie war jung und intelligent und arbeitete oft als Pflichtverteidigerin. Aber der Unterschied bei ihr war, daß sie sich trotz des niedrigen Honorars, das Pflichtverteidiger erhielten, mit unermüdlichem Eifer für ihre Mandanten einsetzte.

»Hättest du morgen Zeit für ein Treffen?«

Ainslie vereinbarte eine Uhrzeit.

Lisa Kane war achtundzwanzig, sah fünf Jahre jünger aus und hätte an manchen Tagen noch als Schülerin durchgehen können. Sie trug ihr rotes Haar sehr kurz, war auch ohne Makeup sehr hübsch und trug Jeans und ein T-Shirt aus Baumwolle, als sie sich mit Ainslie traf.

Ihr Treffpunkt war ein kleiner, heruntergekommener zweistöckiger Wohnblock in Liberty City, einem der berüchtigsten Viertel Miamis. Ainslie war mit einem neutralen Dienstwagen da; Lisa fuhr wie immer ihren uralten Käfer.

»Ich weiß nicht recht, warum ich hier bin«, behauptete er. Tatsächlich war er aus Neugier gekommen.

»Meine Mandantin und ich brauchen einen guten Rat, Sergeant«, erklärte Lisa ihm. »Beth hat gesagt, Sie könnten uns einen geben.« Sie stiegen die Treppe zum zweiten Stock hinauf, achteten darauf, nicht in Abfälle und Hundekot zu treten, und erreichten einen Balkon mit abbröckelndem Beton und rostigem Geländer. Lisa blieb vor einer der mittleren Türen stehen und klopfte an. Eine junge Frau Anfang Zwanzig öffnete ihnen. Sie lächelte, als sie Lisa sah, und sagte: »Bitte kommen Sie rein.«

Drinnen machte Lisa die beiden miteinander bekannt: »Das ist Serafine... Sergeant Ainslie.«

»Danke, daß Sie gekommen sind.« Die junge Frau streckte ihre rechte Hand aus, die Ainslie ergriff, während er sich in der Wohnung umsah.

Im Gegensatz zu dem heruntergekommenen Gebäude war dieses kleine Apartment makellos sauber. Die Einrichtung war seltsam zusammengewürfelt. Mehrere Möbelstücke - ein Bücherschrank, zwei Beistelltische und ein Fernsehsessel -sahen teuer aus; der Rest war billiger, aber sehr gepflegt. Ein Blick nach nebenan zeigte Ainslie ein ähnlich ordentliches Schlafzimmer.

Danach betrachtete er Serafine: eine attraktive, selbstbewußte junge Schwarze, die ein geblümtes T-Shirt und blaue Leggins trug. Ihre braunen Augen erwiderten Ainslies Blick ernst. Die junge Frau war im dritten oder vierten Monat schwanger.

»Tut mir leid, daß es draußen so aussieht«, sagte sie mit dunkler, weicher Stimme. »Byron wollte, daß ich...« Sie verstummte abrupt und schüttelte den Kopf.

Lisa Kane übernahm die Gesprächsführung. »Byron wollte für Serafine eine bessere Wohnung suchen, aber leider sind andere Dinge dazwischengekommen.« Sie machte eine Handbewegung. »Kommt, wir setzen uns.«

Als sie Platz genommen hatten, wandte Serafine sich nochmals an Ainslie. »Ich erwarte Byrons Kinder. Aber das wissen Sie vermutlich.«

»Kinder?«

»Mein Arzt hat's mir gestern gesagt. Ich bekomme Zwillinge.« Sie lächelte.

»Erst die Vorgeschichte«, sagte Lisa. »Byron Maddox-Davanal hat Serafine kennengelernt, weil sie ihn mit Drogen versorgt hat. Sie und ich kennen uns, seit ich sie als Dealerin auf Bewährung freibekommen habe. Sie ist nicht mehr im Geschäft, die Bewährungsfrist ist abgelaufen, und Byron hat vor seinem Tod monatelang keine Drogen mehr genommen; seine Drogenabhängigkeit ist ohnehin nie sehr stark gewesen.«

»Ich schäme mich trotzdem«, warf Serafine ein. Sie sah zu Ainslie hinüber, dann wich sie seinem Blick aus. »Aber meine Lage ist damals verzweifelt gewesen...«

»Serafine hat einen vierjährigen Sohn, für den sein Vater nie Alimente gezahlt hat«, fuhr Lisa fort. »Als alleinerziehende Mutter hat sie keinen Job finden können, und hier gibt es nicht viele Möglichkeiten, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.«

»Ja, ich weiß«, sagte Ainslie verständnisvoll. »Aber wie ist das mit Maddox-Davanal gekommen?«

»Nun, man könnte sagen, Serafine und er hätten aufeinander reagiert; irgendwie haben sie ihre jeweiligen Bedürfnisse befriedigt. Jedenfalls ist Byron immer öfter hergekommen, um seinem anderen Leben zu entfliehen, und Serafine hat ihn entwöhnt; sie selbst hat nie Drogen genommen. Auch wenn sie sich vielleicht nicht geliebt haben, hat ihre Beziehung beide zufriedengestellt. Byron hatte etwas Geld, um Serafine zu unterstützen. Er hat ein paar Möbel gekauft und Serafine Geld für Essen und Miete gegeben, so daß sie als Dealerin aufhören konnte.«

Klar hat Byron Geld gehabt, dachte Ainslie. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wieviel.

»Und natürlich ist sie mit ihm ins Bett gegangen«, fügte Lisa hinzu.

Serafine warf ein: »Ich wollte nie schwanger werden, aber irgendwas ist schiefgelaufen. Als ich Byron davon erzählt habe, hat ihm das überhaupt nichts ausgemacht; er hat mir versprochen, sich weiter um uns zu kümmern. Aber irgendwas anderes hat ihn bedrückt, ihm wirklich Sorgen gemacht, und er hat einmal davon gesprochen, er säße in einer Falle. Kurz danach hat er aufgehört, zu mir zu kommen.«

»Das ist vor ziemlich genau einem Monat gewesen, und das Geld ist auch ausgeblieben«, berichtete Lisa. »Daraufhin ist Serafine hilfesuchend zu mir gekommen. Ich wollte Byron Maddox-Davanal anrufen, aber er ist nie erreichbar gewesen und hat nie zurückgerufen. Also habe ich mit meinem Anliegen bei der Anwaltsfirma Haversham vorgesprochen... «

Ainslie kannte diese Anwälte, die seit vielen Jahren die Interessen der Davanals vertraten. »Haben Sie was erreicht?« fragte er.

»Ja«, antwortete Lisa Kane, »und deshalb brauchen wir Ihren Rat.«

Die Anwaltsfirma Haversham, das berichtete Lisa, war clever genug, um auch eine unbekannte junge Kollegin ernst zu nehmen und respektvoll zu behandeln. Sie sprach mit Mr. Jaffrus, einem der Partner, der sich ihre Geschichte anhörte und ihr zusicherte, er werde Nachforschungen wegen der Ansprüche ihrer Mandantin anstellen. Einige Tage später rief er Lisa an und vereinbarte ein weiteres Treffen, das in der Woche vor Byron Maddox-Davanals Selbstmord stattfand.

»Sie haben gleich Nägel mit Köpfen gemacht«, erzählte Lisa jetzt Ainslie. »Nachdem offenbar festgestellt worden war, daß Byron der Vater sein mußte, hat Haversham Serafine Unterhaltszahlungen angeboten - allerdings unter der Bedingung: Der Name Davanal durfte niemals mit ihrem Kind in Verbindung gebracht werden, und es würde Mittel geben, um das zu garantieren.«

»Welche Mittel? Wie garantiert?« fragte Ainslie.

Lisa erläuterte ihm den Vorschlag: Serafine würde eine eidesstattliche Versicherung abgeben müssen, ihre Schwangerschaft sei die Folge einer künstlichen Befruchtung in einer Samenbank mit dem Sperma eines anonymen Spenders. Dann würde eine echte Samenbank dazu veranlaßt werden, diesen Vorgang durch entsprechende Unterlagen zu bestätigen.

»Sicher gegen eine großzügige Spende«, vermutete Ainslie. »Und wieviel soll Serafine bekommen?«

»Zwanzigtausend pro Jahr. Aber da hat sie noch nichts von den Zwillingen gewußt.«

»Das reicht nicht mal für ein Kind.«

»Das finde ich auch. Deshalb wollte ich Sie um Ihren Rit bitten. Beth hat gesagt, daß Sie die Familie kennen und wissen würden, wieviel wir verlangen sollen.«

Ainslie wandte sich an Serafine, die aufmerksam zugehört hatte, und fragte sie: »Was halten Sie von dieser Sache mit der Samenbank?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Meine Kinder sollen in einer schöneren Umgebung aufwachsen und die bestmögliche Erziehung bekommen. Dafür unterschreibe ich jeden Fetzen Papier, auch wenn darauf nur Lügen stehen. Und der Name Davanal ist mir gleichgültig. Meiner ist genausogut - vielleicht sogar besser.«

»Was ist Ihr Nachname?«

»Evers. Kennen Sie den?«

»Ja, natürlich.« Ainslie erinnerte sich an Medgar Evers, einen schwarzen Bürgerrechtler aus den sechziger Jahren, der von einem weißen Rassisten erschossen worden war, der jetzt sein Verbrechen mit lebenslänglicher Haft büßte.

»Sind Sie mit ihm verwandt?«

»Entfernt, glaube ich. Ist eines meiner Kinder ein Junge, möchte ich ihn Medgar nennen.«

»Und ein Mädchen könnte Myrlie heißen.« Ainslie hatte die NAACP-Vorsitzende Myrlie Evers-Williams, die Witwe des ermordeten Bürgerrechtlers, einmal flüchtig kennengelernt.

»Daran hatte ich gar nicht gedacht.« Serafine lächelte erneut. »Eine gute Idee!«

Ainslie erinnerte sich an sein Gespräch mit Felicia Davanal, bei dem sich herausgestellt hatte, daß Byron ein Luxusleben führte und zusätzlich pro Jahr eine Viertelmillion Dollar erhielt -praktisch fürs Nichtstun. Er hatte ihre hingeworfene Bemerkung noch im Ohr: Für unsere Familie sind solche Beträge Peanuts.

Er wandte sich an Lisa Kane. »Gut, ich rate Ihnen folgendes: Verlangen Sie zweihunderttausend Dollar im Jahr, bis die Zwillinge zwanzig sind. Eine Hälfte davon soll Serafine zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts ausbezahlt werden; die andere Hälfte kommt auf ein Treuhandkonto für Studium oder Berufsausbildung der Kinder und ihres jetzigen Sohns...«

»Dana.«

»Der angesammelte Betrag müßte auch für Dana reichen. Sie bestehen auf dieser Summe, und wenn Haversham - in Wirklichkeit die Familie Davanal - nicht einwilligen oder Sie herunterhandeln will, erklären Sie den Plan mit der Samenbank für gescheitert und drohen mit einer Feststellungsklage gegen die Davanals.«

»Ja, so könnte's gehen«, sagte Lisa. Aber dann meinte sie zweifelnd: »Diese Forderung liegt natürlich weit über dem ursprünglichen Angebot.«

»Versuchen Sie's«, riet Ainslie ihr. »Übrigens können Sie Mrs. Davanal mitteilen lassen, daß dieser Vergleichsvorschlag von mir stammt. Das könnte nützen.«

Lisa starrte ihn forschend an; dann nickte sie jedoch nur und sagte: »Danke, Malcolm.«

Achtundvierzig Stunden später war Ainslie zu Hause, als Lisa Kane anrief. Ihre Stimme klang atemlos. »Ich kann's kaum fassen! Ich bin bei Serafine, und wir haben eben von Haversham gehört. Die Anwälte akzeptieren alles - ohne Änderungswünsche, ohne Diskussion, einfach so, wie ich... nein, wie Sie es vorgeschlagen haben.«

»Das liegt bestimmt an Ihrer Verhandlungstaktik und...«

Lisa hörte gar nicht zu. »Serafine läßt Ihnen ausrichten, daß Sie wunderbar sind. Das finde ich auch!«

»Wissen Sie zufällig, ob Mrs. Davanal...«

»Mike Jaffrus von Haversham hat wegen Ihres Vorschlags mit ihr telefoniert, und sie hat ihn angewiesen, Ihnen etwas auszurichten. Sie will Sie sehen, Malcolm. Sie möchten sie anrufen, um einen Termin zu vereinbaren.« Lisas Tonfall veränderte sich. »Geht zwischen euch beiden irgend etwas vor?« fragte sie unverhohlen neugierig.

Ainslie lachte. »Außer einem kleinen Katz-und-Maus-Spiel nichts.«

»Eines habe ich aus dieser Geschichte gelernt«, sagte Felicia Davanal. »Es ist ungeschickt, allzu offen mit einem gerissenen Kriminalbeamten zu reden - vor allem mit einem, der ein ehemaliger Priester ist. Das kann echt teuer werden.«

Sie saß mit Malcolm Ainslie in dem Salon, in dem sie ihr erstes Gespräch geführt hatten. Aber diesmal gab es für ihn einen bequemen Sessel wie den, in dem Felicia ihm mit geringem Abstand gegenübersaß. Sie wirkte unverändert attraktiv, aber weniger angespannt, weil Byrons Tod kein Geheimnis mehr war, das unbeantwortete Fragen zwischen ihnen aufwarf.

»Sie scheinen einige Nachforschungen angestellt zu haben«, sagte Ainslie.

»Bei meinem Sender gibt's Leute, die sich auf Recherchen verstehen.«

»Nun, hoffentlich haben sie auch recherchiert, daß Sie genügend Peanuts für den angestrebten Vergleich haben.«

»Touche!« Sie warf den Kopf zurück und lachte. »Malcolm, wenn ich Sie so nennen darf -, Sie gefallen mir immer mehr.«

Sie machte eine kurze Pause. »Der Bericht über Sie ist sehr lobend ausgefallen. Ich frage mich allerdings...«

»Was denn, Mrs. Davanal?«

»Felicia - bitte!«

Er nickte zustimmend. Sein Instinkt sagte ihm, worauf dieses Gespräch hinauslaufen würde, aber er wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte.

»Ich frage mich, warum Sie weiter Polizeibeamter sind, obwohl Sie Ihrer Qualifikation nach viel mehr sein könnten.«

»Mir gefällt's, ein Cop zu sein.« Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Felicia.«

»Das ist absurd! Sie sind ein gebildeter Mann, Sie haben sogar promoviert. Sie haben ein Buch über die Religionen der Welt geschrieben, das noch heute als Standardwerk...«

»Ich bin nur Mitverfasser, und das liegt schon lange zurück.«

Felicia machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das alles weist Sie als Intellektuellen aus. Deshalb möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen: Wollen Sie nicht in die Unternehmensgruppe Davanal eintreten?«

Ainslie war verblüfft. »In welcher Funktion?«

»Oh, das weiß ich nicht genau; ich habe noch mit niemandem darüber gesprochen. Aber wir haben immer Bedarf an guten Leuten, und wenn Sie sich dafür entscheiden würden, zu uns zu kommen, ließe sich schnell etwas finden, das Ihren Fähigkeiten entspräche.« Felicia lächelte dabei, beugte sich nach vorn und legte ihre Fingerspitzen auf Ainslies Hände. Ihre leichte Berührung enthielt ein subtiles Versprechen. »Ich bin sicher, daß wir uns dann auch näher kennenlernen würden« Sie befeuchtete ihre Lippen mit der Zungenspitze. »Falls Sie daran interessiert wären.«

Ja, das würde mich interessieren; das wäre nur menschlich, dachte Ainslie. Angesichts dieser Verlockung spürte er eine geistige und körperliche Erregung. Aber dann dachte er wieder praktisch. Er erinnerte sich an Beth Embrys Warnung: Felicia verschlingt Männer... Wenn du ihr gefallen hast, versucht sie's bestimmt wieder... eine Bienenkönigin, die stechen kann.

Trotzdem wäre es aufregend gewesen, von Felicia verschlungen zu werden, in ihrem Honig zu ertrinken - vielleicht sogar alle möglichen Konsequenzen wert. Die einzige Affäre seines Lebens bereute Ainslie bis heute nicht, obwohl er unter Cynthias Rachsucht schwer gelitten hatte. Wo Leidenschaft im Spiel war, mußten herkömmliche Moralbegriffe oft zurücktreten; das wußte er aus den vielen Beichten, die er Gemeindemitgliedern abgenommen hatte. Aber in seinem Fall, überlegte er sich, genügte eine Romanze mit Cynthia. In einer Zeit, in der Karen ihr zweites Kind erwartete, durfte er nicht anfangen, nach Felicias Pfeife zu tanzen.

Er ließ seine Hand einen Augenblick auf der ihren ruhen. »Besten Dank, und ich werde meinen Entschluß vielleicht bereuen. Aber ich möchte alles so lassen, wie's jetzt ist.«

Felicia hatte Stil. Sie stand auf, lächelte weiter und gab ihm zum Abschied die Hand. »Wer weiß?« sagte sie. »Vielleicht kreuzen unsere Wege sich noch einmal.«

Auf der Rückfahrt ins Polizeipräsidium überlegte Ainslie sich, daß der Fall Davanal - abgesehen von den Postskripten - nur sieben Tage gedauert hatte. Er war ihm viel länger vorgekommen. Jetzt wartete er gespannt darauf, was Detective Bowe zu berichten hatte.

11

Ruby Bowe begann ihre Nachforschungen beim Metro-Dade Police Department, das sein imposantes Dienstgebäude in der Northwest 25th Street hatte. Sie fragte, ob der Ermittler, der vor siebzehn Jahren den Doppelmord an dem Ehepaar Esperanza bearbeitet hatte, noch im Dienst sei.

»Damals bin ich noch nicht hiergewesen«, sagte der Chef der Mordkommission. Der Lieutenant drehte sich nach einem Regal mit Registerbänden um. »Mal sehen, ob wir fündig werden.« Er blätterte in einem der Bände. »Ja, hier steht er. Esperanza, Clarence und Florentina, Fall weiter ungelöst, Ermittlungen offiziell nicht eingestellt. Wollen Ihre Leute ihn für uns lösen, Detective?«

»Sieht so aus, als könnten wir's, Sir. Aber ich würde lieber erst mit dem Ermittler sprechen.«

Der Lieutenant las weiter. »Das ist Archie Lewis gewesen... seit sechs Jahren pensioniert, lebt irgendwo in Georgia. Den Fall bearbeitet jetzt unsere Gruppe für Altfälle. So eine haben Sie auch, nicht wahr?«

»Ja, Sir.«

Die Gruppe für Altfälle bearbeitete ungelöste Schwerverbrechen, vor allem Morde, die mit Hilfe modernster Untersuchungstechniken wiederaufgerollt wurden.

Polizeibehörden mit solchen Ermittlergruppen waren bei der Aufklärung alter Verbrechen, die die Täter längst vergessen hofften, oft überraschend erfolgreich.

»Wir lassen die Altfälle immer wieder von anderen Beamten der Gruppe bearbeiten«, sagte der Lieutenant. »Im Augenblick gehören die Esperanzas Vic Crowley.«

Detective Crowley, der gleich herüberkam, war ein freundlicher Mann mit Stirnglatze. »Ich habe mir die alte Akte angesehen«, erklärte er Ruby, »ohne einen Ansatzpunkt für weitere Ermittlungen zu finden. Tot wie die Esperanzas.«

»Das ist sie vielleicht noch immer.« Bowe berichtete, obwohl Elroy Doil diesen Mord vor seiner Hinrichtung gestanden habe, sei der Wahrheitsgehalt seines Geständnisses zweifelhaft. »Ich würde mir gern Ihre Ermittlungsakte daraufhin ansehen, ob sie einen Beweis für seine Aussage enthält.«

»Und dann? Wollen Sie den Kerl ausgraben und noch mal vor Gericht stellen? Okay, Sie haben bestimmt Ihre Gründe dafür. Kommen Sie, wir graben wenigstens die Akte aus.«

Crowley nahm Bowe in die Registratur mit, wo er nach längerer Suche die verblaßte, überquellende Akte Esperanza fand. Er blätterte an seinem Schreibtisch sitzend darin herum und sagte einige Minuten später: »Das hier können Sie brauchen, glaube ich.« Er überreichte seiner Kollegin den mehrseitigen Ermittlungsbericht.

Auf Seite drei fand Bowe, was sie suchte: die Aufstellung der am Tatort des Doppelmords sichergestellten Beweisstücke, darunter eine »Geldscheinklammer, goldfarben, Monogramm >HB<.« Auf einer folgenden Seite hatte ein Ermittler vermerkt, diese Geldscheinklammer müsse der Täter verloren haben, weil das Monogramm zu keinem der Ermordeten passe und ihr Neffe ausgesagt habe, er habe sie nie bei ihnen gesehen.

»Das muß sie sein«, erklärte sie Crowley. »Doil hat Sergeant Ainslie gegenüber ausgesagt, er habe sie bei einem anderen Raubüberfall erbeutet und anscheinend an diesem Tatort verloren.«

»Wollen Sie sich das Ding ansehen? Es liegt sicher noch in der Asservatenkammer.«

»Das sollte ich wohl. Tue ich's nicht, fragt bestimmt jemand, warum ich's nicht getan habe.«

»Ist das nicht immer so?«

Nachdem Crowley die Liste für seine Kollegin kopiert hatte, führte er Bowe ins benachbarte große Gebäude des Asservatenlagers hinüber, dessen überfüllte Stahlkammern und Tresore das Strandgut unzähliger Verbrechen enthielten.

Überraschend schnell standen zwei verstaubte Kartons mit Beweismaterial aus dem siebzehn Jahre zurückliegenden Mordfall vor ihnen. Als das Siegel des ersten erbrochen und der Deckel geöffnet wurde, lag die glänzende Geldscheinklammer mit dem eingravierten Monogram »HB« in einem Plastikbeutel obenauf.

»Ist nicht angelaufen, muß also echtes Gold sein«, stellte Crowley fest. »Wer mag dieser >HB< gewesen sein?«

»Genau das«, sagte Ruby Bowe, »muß ich als nächstes rauskriegen.«

Das Archiv für Ermittlungsakten lag in einem anderen Stockwerk des Dienstgebäudes. Hier wurden zwanzig Jahre weit zurückreichende Ermittlungsakten aus den siebenundzwanzig Gemeinden im Dade County aufbewahrt. Während neuere Akten auf Magnetband gespeichert waren, existierten alte nur auf Mikrofilm. Auch das Archiv der Metro-Dade Police war in sauberen, hellen, modern eingerichteten Räumen untergebracht.

Ruby Bowe hatte sich die Stelle aus Elroy Doils Tonbandgeständnis notiert, an der er in bezug auf eine Geldklammer gesagt hatte: »Die hab' ich bei 'nem Raubüberfall erbeutet - ein paar Monate, bevor ich die Schlitzaugen umgelegt hab'.«

Sie entschied sich dafür, alle Raubüberfälle zu überprüfen, die in den drei Monaten vor der Ermordung des Ehepaars Esperanza am 12. Juli 1981 angezeigt worden waren.

»Wissen Sie überhaupt, was Sie sich da vornehmen?« fragte die Archivarin, mit der Ruby über ihr Vorhaben sprach. »Wenn Sie Pech haben, sitzen Sie wochenlang hier.« Sie hielt eine Mikrofilmkassette hoch. »Diese hier stammt aus dem Jahr 1981 und enthält die Anzeigen eines einzigen Tages - etwa fünfhundert verfilmte Seiten mit Raubüberfällen, Einbrüchen, Autodiebstählen, Vergewaltigungen, Körperverletzungen, Schußwaffengebrauch... einfach alles! Bei drei Monaten sind das ungefähr fünfzigtausend Seiten.«

»Lassen die Raubüberfälle sich nicht aussondern?«

»Bei Computerakten schon. Aber bei diesem alten Zeug auf Mikrofilm - ausgeschlossen!«

Ruby Bowe seufzte. »Trotzdem muß ich einen ganz bestimmten Raubüberfall finden.«

»Viel Glück!« wünschte die Frau ihr. »Im Dade County passieren im Jahresdurchschnitt siebzehntausend Raubüberfälle.«

Im Lauf der Zeit ermüdeten Rubys Augen. Sie saß im Archiv an einem modernen Canon Microprinter, der nicht nur als Lesegerät diente, sondern die jeweilige Seite auch ausdrucken konnte. Bei den verfilmten Unterlagen handelte es sich um Standardvordrucke, was ihr die Arbeit erleichterte, weil oben die »Art des Vorfalls« angegeben war. Nur wenn dort »bewaffneter Raubüberfall« stand, nahm sie sich die Zeit, die Meldung zu überfliegen. Weiter unten war »geraubtes Eigentum« verzeichnet, und wenn dort keine Geldscheinklammer aufgeführt war - wie bisher in allen Fällen -, las Ruby weiter.

Als sie am ersten Tag nicht fündig wurde, hörte sie spätnachmittags auf und vereinbarte, daß sie am nächsten Tag zurückkommen und ihre Suche fortsetzen würde.

Auch der zweite Tag blieb ergebnislos, obwohl Ruby jetzt so in Übung war, daß sie alle Meldungen, die keine Raubüberfälle betrafen, achtlos vorbeiflitzen ließ. Am Abend dieses Tages hatte sie fünf Mikrofilmkassetten durchgesehen und beiseite gelegt.

Als sie am nächsten Morgen den nächsten Mikrofilm einlegte, fragte sie sich zweifelnd: Hat dieser Raubüberfall wirklich stattgefunden, wie Elroy Doil behauptet hat? Und ist er überhaupt angezeigt worden? Diese Fragen beschäftigten sie in den zwei folgenden Stunden noch oft, denn sie erkannte jetzt, wieviel Arbeit noch vor ihr lag.

Plötzlich fesselte ein als 27422-F registrierter bewaffneter Raubüberfall vom 18. April 1980 Rubys Aufmerksamkeit. An diesem Tag um 0.15 Uhr hatte sich vor dem Carousel Nite Club am Gratigny Drive in Miami Lakes ein Raubüberfall ereignet. Der mit einem Messer bewaffnete Täter hatte einen Mann namens Harald Baird um Geld und Schmuck erleichtert. Als Beute waren aufgezählt vierhundert Dollar in bar, zwei Ringe zu jeweils hundert Dollar und eine goldene Geldscheinklammer mit dem Monogramm »HB« im Wert von zweihundert Dollar. Der Täter wurde als »ungewöhnlich großer und kräftiger Weißer, Identität unbekannt«, beschrieben.

Mit einem Seufzer der Erleichterung tippte Ruby die Drucktaste des Geräts an und nahm den Bericht 27422-F in Empfang. Dann lehnte sie sich zurück und gönnte sich eine Pause, weil sie wußte, daß sie den Beweis dafür erbracht hatte, daß Doil bei seinem Tonbandgeständnis zumindest teilweise bei der Wahrheit geblieben war.

Nun weiter nach Tampa.

Von ihrem Schreibtisch bei der Mordkommission aus rief Ruby Bowe das Tampa Police Department an und wurde mit der Mordkommission der Kriminalpolizei verbunden, wo Detective Shirley Jasmund ihren Anruf entgegennahm.

»Wir haben Informationen über einen alten Fall, der sich bei Ihnen ereignet haben müßte«, erklärte Ruby ihr. »Es handelt sich um ein Ehepaar Ikei, das 1980 ermordet worden sein soll.«

»Sorry, damals bin ich noch zur Schule gegangen - in die dritte Klasse«, sagte Detective Jasmund kichernd. Dann wurde sie wieder ernst. »Irgendwo habe ich den Namen schon mal gehört, glaube ich. Wie wird er geschrieben?«

Jasmund notierte sich den Namen. »Das kann eine Zeitlang dauern«, meinte sie. »Am besten geben Sie mir Ihre Telefonnummer, damit ich Sie zurückrufen kann.«

Drei Stunden später klingelte Rubys Telefon, und sie hörte Jasmunds Stimme: »Wir haben die Akte gefunden, sieht interessant aus. Ein japanisches Ehepaar - beide über Siebzig -ist in seinem hiesigen Ferienhaus erstochen worden. Die Leichen hat man zur Bestattung nach Japan überführt. Einen Tatverdächtigen hat's nie gegeben, steht hier.«

»Irgendwelche Einzelheiten über den Tatort?« fragte Ruby.

»Jede Menge!« Ruby hörte ihre Kollegin umblättern. »Hier steht, daß der Täter ungewöhnlich brutal vorgegangen ist... Die Ermordeten sind mißhandelt worden; sie haben sich gefesselt und geknebelt gegenübergesessen... Ein größerer Geldbetrag ist gestohlen worden, und... Augenblick, hier steht etwas Merkwürdiges... «

»Was?«

»Moment, ich lese noch... Neben den Toten ist ein Briefumschlag gefunden worden. Er ist mit Siegelwachs verschlossen gewesen, mit einem Kreis aus sieben Punkten, und hat ein bedrucktes Blatt enthalten - eine Seite aus der Bibel.«

»Steht da auch, aus welchem Teil der Bibel?«

»Nein... Doch! Aus der Offenbarung.«

»Das ist der Fall, den ich meine!« sagte Ruby aufgeregt. »Hören Sie, wir haben so viele Informationen auszutauschen, daß ich am besten zu Ihnen rauffliege. Wäre Ihnen morgen vormittag recht?«

»Augenblick, ich frage meinen Sergeant.«

Im Hintergrund waren gedämpfte Stimmen zu hören, dann meldete Jasmund sich wieder: »Morgen paßt's gut. Hier sind alle neugierig - auch unser Captain, der mitgehört hat. Ich soll Ihnen ausrichten, daß die Familie Ikei noch immer jedes Jahr aus Japan anruft, um zu fragen: >Gibt's was Neues?< Daher war mir der Name bekannt.«

»Sagen Sie dem Captain, daß er beim nächsten Anruf aus Japan vielleicht den Mörder benennen kann. «

»Wird gemacht. Rufen Sie mich an, sobald Sie die Ankunftszeit wissen, dann lassen wir Sie von einem Streifenwagen am Flughafen abholen.«

Der Flug mit einer Morgenmaschine der Gulfstream Airlines von Miami nach Tampa dauerte fünfundsechzig Minuten, so daß Ruby Bowe um 8.30 Uhr im City of Tampa Police Department eintraf. Detective Shirley Jasmund holte sie am Empfang ab und ging mit ihr ins Detective Bureau, und die beiden Frauen schwarz und weiß - fanden sich sofort sympathisch. »Inzwischen wissen alle von Ihnen«, sagte Jasmund. »Sogar der Chef hat von diesem alten Fall mit den Japanern gehört. Wenn wir fertig sind, will er einen Abschlußbericht.«

Jasmund, eine lebhafte Mittzwanzigerin, hatte braune Augen, schwarzes Haar, hohe Wangenknochen und eine schlanke Figur, um die Ruby, die in letzter Zeit ein paar Pfund zugelegt hatte, sie beneidete. Du mußt dringend eine Diät machen, Schätzchen, sagte sie sich zum x-ten Mal.

»Wir haben eine Besprechung angesetzt«, erklärte Jasmund ihr. »Mit Sergeant Clemson, Detective Yanis und mir.«

»Die Angehörigen rufen uns Jahr für Jahr an«, sagte Detective Sandy Yanis von der Mordkommission zu Ruby, »weil Japaner ihre Vorfahren ehren. Deshalb haben sie die Toten zur Beisetzung in die Heimat überführen lassen und finden keine Ruhe, bis der oder die Täter gefaßt und bestraft sind.«

»Vielleicht finden sie bald Ruhe«, antwortete Ruby. »Mit achtundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit ist der Mörder Elroy Doil gewesen, der vor drei Wochen in Raiford wegen eines anderen Verbrechens hingerichtet worden ist.«

»Tatsächlich? Ja, das habe ich gelesen.«

Detective Yanis, offensichtlich ein Veteran, war groß und hager und Ende Fünfzig. Eine lange Narbe auf der linken Backe, die von einem Messerstich zu stammen schien, gab seinem faltigen Gesicht einen verwegenen Ausdruck. Sein schütteres graues Haar war unordentlich zurückgekämmt. Fast auf der Nasenspitze saß eine Lesebrille; meist ging sein durchdringender Blick jedoch über die halbmondförmigen Gläser hinweg.

»Was Doil betrifft, sprechen Sie von achtundneunzigprozentiger Sicherheit«, sagte er zu Ruby. »Was ist mit den restlichen zwei Prozent?«

»Auf einem Friedhof hier in Tampa soll ein Messer vergraben sein. Finden wir's, werden aus diesen achtundneunzig Prozent hundert.«

»Wir wollen hier kein Quiz veranstalten«, wandte Sergeant Clemson ein, der ungefähr zwanzig Jahre jünger als Sandy Yanis war. »Mich interessieren Tatsachen.«

»Also gut.« Ruby berichtete wieder einmal, wie Elroy Doil vor seiner Hinrichtung vierzehn Morde gestanden hatte -darunter auch den an dem Ehepaar Ikei in Tampa, von dem niemand in Miami wußte -, während er den ihm zugeschriebenen Mord an dem Ehepaar Ernst strikt geleugnet hatte.

»Er ist ein pathologischer Lügner gewesen, deshalb hat ihm anfangs niemand geglaubt«, fuhr Ruby fort. »Aber jetzt sind Zweifel entstanden, und ich habe den Auftrag, alle seine Aussagen zu überprüfen.«

»Haben Sie schon eine widerlegen können?« fragte Jasmund.

»Bisher nicht.«

»Stimmt jetzt noch, was er über Tampa gesagt hat«, stellte Yanis fest, »haben Sie einen weiteren ungelösten Mord am Hals.«

Ruby Bowe nickte. »Einen Nachahmungstäter.«

»Was ist mit dem Messer auf einem Friedhof?« wollte Clemson wissen.

Ruby las aus ihrem Notizbuch vor, was Doil ausgesagt hatte: »>Gleich neben dem Haus der Ikeis liegt ein Friedhof. Ich hab' das Messer loswerden wollen, hab's in einem Grab verbuddelt. Wissen Sie, was auf dem Grabstein gestanden hat? Derselbe Familienname wie meiner! Ich hab' ihn gesehen und gewußt, daß ich mich daran erinnern würde, wenn ich das Scheißmesser mal zurückhaben wollte. Aber ich hab's mir nie mehr geholt.<

Frage: >Sie haben das Messer in einem Grab versteckt? Tief vergraben?<

Antwort: >Nein, nicht tief.<«

Clemson schlug die alte Ermittlungsakte auf. »Hier steht die Adresse des Ehepaars Ikei: 2710 North Mantanzas Street. Liegt dort in der Nähe ein Friedhof?«

»Klar«, sagte Yanis. »Die Mantanzas Street stößt auf die St. John Street, und gleich dahinter liegt ein kleiner, alter Friedhof, der Marti Cemetery heißt. Er gehört der Stadt.«

»Falls Sie's noch nicht gemerkt haben sollten - Sandy ist unser wandelndes Lexikon«, sagte Clemson zu Ruby Bowe. »Er ist schon immer hier, vergißt nichts und kennt die hintersten Winkel der Stadt. Deshalb macht er so ziemlich, was er will, und wir finden uns mit seinen Eigenarten ab.«

»Die meisten Leute sind nur fünf bis sechs Jahre bei der Mordkommission«, erklärte Yanis ihr ernsthaft, »bevor sie befördert oder auf eigenen Wunsch versetzt werden. Der Streß ist zu groß. Aber ich bin geradezu süchtig danach. Ich bleibe hier, bis sie mich irgendwann raustragen, und ich erinnere mich an alte Fälle wie den der Ikeis und freue mich, wenn sie eines Tages abgeschlossen werden können. Fangen wir also an, auf dem Friedhof zu graben! Ich tue das nicht zum erstenmal.«

Sergeant Clemson schaltete den Lautsprecher seines Telefons ein, damit die anderen sein Gespräch mit einem Staatsanwalt mithören konnten. Als er dem Staatsanwalt beschrieben hatte, worum es ging, wurde sein Tonfall kompromißlos streng.

»Ja, Sergeant, ich weiß natürlich, daß wir nicht von einer Exhumierung reden. Tatsache ist jedoch, daß Sie in keinem Menschengrab ohne richterliche Anordnung graben dürfen -selbst wenn Sie das Messer noch so dicht unter der Oberfläche vermuten.«

»Spricht irgendwas dagegen, daß wir e~st nachsehen, ob es dieses Grab überhaupt gibt?«

»Vermutlich nicht, solange es sich um offizielle Ermittlungen handelt. Aber seien Sie diskret! Bei Gräbern sind die meisten Leute sehr empfindlich; jede Störung wird als Verletzung der Intimsphäre oder als noch Schlimmeres empfunden.«

Danach wies Clemson Yanis an: »Sandy, du stellst fest, ob es auf diesem Friedhof ein Grab gibt, auf dem der Name Doil steht. Findest du eins, kannst du mit deiner eidesstattlichen Versicherung zu einem Richter gehen und eine Exhumierungserlaubnis beantragen.« Clemson wandte sich an Ruby. »Das wird ein paar Tage dauern, vielleicht sogar länger, aber wir versuchen, die Sache möglichst zu beschleunigen.«

Ruby Bowe fuhr mit Yanis zum städtischen Liegenschaftsamt, wo sie einen Termin bei Ralph Medina hatten, in dessen Zuständigkeitsbereich der alte Friedhof Marti Cemetery lag. Medina, ein freundlicher kleiner Beamter Anfang Fünfzig, erklärte ihnen: »Marti erfordert nicht viel Verwaltungsarbeit, höchstens vier bis fünf Prozent meiner Arbeitszeit. Gut ist vor allem, daß wir sehr ruhige Mieter haben, die sich nie beschweren.« Er lächelte über seinen eigenen Scherz. »Wenn ich kann, helfe ich Ihnen natürlich gern.«

Ruby erläuterte den Grund ihres Besuchs - Elroy Doils Geständnis unmittelbar vor der Hinrichtung - und worum es ihnen ging. Dann erkundigte sie sich, wie viele Personen dieses Namens auf dem Friedhof bestattet seien.

»Wie schreibt man den Namen?«

»Doil.«

Medina holte einen dicken Band aus einem Regal, fuhr mit dem Zeigefinger mehrere Listen hinunter und schüttelte dann den Kopf. »Den Namen gibt's hier nicht. Dort ist niemals jemand dieses Namens bestattet worden.«

»Was ist mit ähnlichen Namen?« fragte Yanis.

»Der Name Doyle kommt mehrmals vor.«

»Wie oft?«

Medina sah wieder in seine Listen. »Dreimal.«

Yanis wandte sich an Ruby. »Was halten Sie davon?«

»Ich weiß nicht recht. Doil hat gesagt: >Derselbe Familienname wie meiner!< Und der Gedanke, auf Verdacht in drei Gräbern herumzubuddeln...« Sie schüttelte den Kopf.

»Yeah, ich weiß, was Sie meinen. Mr. Medina, wann sind hier drei Doyles beerdigt worden?«

Der städtische Beamte brauchte einige Minuten, um die Daten herauszusuchen. »Der erste 1903, ein weiterer 1971, der letzte 1986.«

»Den dritten können wir abhaken; das ist sechs Jahre nach der Ermordung der Ikeis gewesen. Was die beiden anderen betrifft haben Sie noch Verbindung zu den Angehörigen?«

Medina wühlte sich nochmals durch Register, Akten und vergilbte Schriftstücke, bevor er feststellte: »Nein, Kontakte gibt es keine mehr. Bei diesem ersten Bestattungsfall ist das nicht verwunderlich; schließlich liegt er Jahrzehnte zurück. Nach der zweiten Beerdigung hat's noch einen Briefwechsel gegeben, aber danach hat die Familie sich nie mehr gemeldet.«

»Sie könnten also keine Angehörigen der Verstorbenen mehr ermitteln, selbst wenn Sie wollten?« fragte Yanis weiter.

»Nein, wahrscheinlich nicht.«

»Und Sie würden keine Einwände erheben, wenn wir mit einer richterlichen Anordnung kämen, die uns gestattet, diese Gräber ungefähr einen Viertelmeter tief aufzugraben?«

»Gegen eine richterliche Anordnung gäbe es natürlich keine Einwände.«

Bis die letzten Hürden überwunden waren, vergingen zwei volle Tage. Der Staatsanwalt setzte eine eidesstattliche Versicherung und eine richterliche Anordnung auf, die der Polizei gestatten würde, die beiden Gräber oberflächlich zu öffnen. Detective Yanis und Ruby Bowe gingen damit zu einem Richter, der Sandy Yanis kannte und die Anordnung nach kurzer Diskussion unterschrieb.

Das Grabungsteam, das sich am nächsten Morgen um sieben Uhr auf dem Friedhof versammelte, bestand aus vier Kriminalbeamten - Yanis, Jasmund, Bowe und Detective Andy Vosko, den das Raubdezernat abgestellt hatte - und drei Personen von der Spurensicherung in Uniform. Außerdem war Ralph Martin vom städtischen Liegenschaftsamt gekommen -»Bloß um mein Revier im Auge zu behalten«, wie er sagte -, und ein Polizeifotograf machte Aufnahmen von den beiden Gräbern mit dem Namen Doyle.

Neben dem ersten Grab waren die benötigten Gerätschaften aufgestapelt: Bretter, mehrere Schaufeln, Spaten und Pflanzschaufeln, Schnurrollen und zwei aufstellbare Drahtsiebe.

Die Ausrüstung des Spurensicherungsteams war in Kisten und Ledertaschen verstaut. Ebenfalls aufgereiht massenweise Mineralwasserflaschen. »Die sind bis heute abend leer«, kündigte Yanis an. »Heute wird's nämlich verdammt heiß.« Obwohl es offiziell noch Winter war, kletterte die Sonne am wolkenlosen Himmel schon höher, und auch die Luftfeuchtigkeit stieg bereits an.

Alle trugen weisungsgemäß alte Sachen - meistens Overalls und Gummistiefel - und hatten Arbeitshandschuhe mitgebracht. Shirley Jasmund hatte Ruby ihre weitesten alten Jeans geliehen, die jedoch an der Taille und im Schritt zwickten.

Zuerst sollte das ältere Grab geöffnet werden, in dem ein gewisser Eustace Maldon Doyle lag, der im Jahr 1903 gestorben war, wie auf dem verwitterten Grabstein zu lesen stand. »Hey, das ist das Jahr, in dem die Brüder Wright zum erstenmal geflogen sind«, sagte jemand.

»Dies ist der älteste Teil des Friedhofs«, bestätigte Yanis. »Hier sind wir dem Haus, in dem die Ikeis ermordet worden sind, am nächsten.«

Unter Anleitung des Spurensicherungs-Sergeant wurden als erstes sechs Bretter zu einem zweieinhalb mal eineinhalb Meter großen Rahmen zusammengenagelt. Dieser aufs Grab gelegte Holzrahmen markierte die Grenzen des Grabungsbereichs. Er wurde so mit Schnüren überspannt, daß fünfzehn Quadrate mit je fünfzig Zentimeter Seitenlänge entstanden. Auf diese Weise konnte ein Quadrat nach dem anderen untersucht werden, und jeder Fund ließ sich genau lokalisieren.

Aber werden wir überhaupt etwas finden? fragte Ruby Bowe sich. Trotz aller Aktivität um sie herum hatten ihre Zweifel sich seit ihrer Ankunft auf dem Friedhof eher verstärkt. Der Name auf diesem Grabstein war nicht genau der, von dem Elroy Doil gesprochen hatte. Außerdem war Doil ein notorischer Lügner gewesen - hatte er seinen Friedhofsbesuch vielleicht nur erfunden? Dann riß die Stimme des Sergeant der Spurensicherung sie aus ihren trübseligen Gedanken.

»Jetzt seid ihr dran, Sandy«, erklärte er Yanis. »Wir sind hier die Gurus. Ihr seid die Kettensträflinge.«

»Zu Diensten, Boß.« Yanis griff selbst nach einem Spaten und forderte die Kriminalbeamten auf: »Okay, jeder nimmt sich irgendein Quadrat vor.« Ruby und ihre drei Kollegen aus Tampa folgten seinem Beispiel und verteilten sich gleichmäßig über den Grabungsbereich.

»Wir graben zuerst nur fünfzehn Zentimeter tief«, ordnete Yanis an. »Finden wir nichts, gehen wir fünfzehn Zentimeter tiefer.«

Der Boden war hart und ließ sich schlecht lockern. Neben jedem Quadrat stand ein Eimer, der sich nur langsam mit Erde füllte. Volle Eimer wurden zu den aufgestellten Drahtgestellen getragen, wo die Uniformierten die Erde durchsiebten.

Diese mühsame Arbeit, bei der alle rasch ins Schwitzen gerieten, ging nur langsam voran. Nach einer Stunde waren erst acht Quadrate fünfzehn Zentimeter tief ausgehoben; nach kurzer Trinkpause ging die Arbeit an den restlichen sieben weiter. Nach über zwei Stunden hatten sie drei Gegenstände gefunden: ein altes Hundehalsband, eine Fünfcentmünze aus dem Jahr 1921 und eine leere Flasche. Halsband und Flasche wurden weggeworfen. Den Nickel, verkündete Yanis zur allgemeinen Erheiterung, würde der Stadtkämmerer erhalten. Dann fingen sie an, weitere fünfzehn Zentimeter tief zu graben.

Nach gut vier Stunden erfolgloser Arbeit entschied Yanis: »So, das war's, Leute. Wir machen eine Pause, dann nehmen wir uns das andere Grab vor.«

Die Ankündigung wurde mit müden Seufzern quittiert, denn alle stellten sich weitere vier bis fünf Stunden harter Arbeit vor.

Die zweite Grabung begann um 11.40 Uhr bei Mittagstemperaturen über fünfundzwanzig Grad. Nach eineinhalb stündiger Arbeit sagte Shirley Jasmund plötzlich ruhig: »Ich glaube, ich hab' was.«

Alle hörten zu arbeiten auf und sahen zu ihr hinüber.

Detective Jasmund drückte ihren Spaten vorsichtig in das von ihr aufgegrabene Quadrat. »Nicht sehr groß«, berichtete sie, »aber massiv. Vielleicht ein Stein.«

Ruby seufzte enttäuscht. Selbst wenn das kein Stein, sondern etwas anderes war, war es jedenfalls kein Messer.

»Dürfen wir weitermachen?« fragte der Sergeant der Spurensicherung.

Jasmund zuckte mit den Schultern, als sie ihm ihren Spaten überließ. »Wir machen die Arbeit, ihr erntet den Ruhm.«

»So ist das Leben, junge Frau!« Der Sergeant gab den Spaten einem seiner Leute, kniete dann nieder und grub den Gegenstand mit den Händen aus.

Der Fund war kein Stein. Obwohl noch Erde an ihm haftete, war er als Brosche aus Gold und Emaille zu erkennen -offensichtlich wertvoll.

Der Sergeant ließ die Brosche in einen Plastikbeutel fallen. »Die sehen wir uns im Labor näher an.«

»Okay, Leute«, sagte Yanis energisch. »Jetzt geht's weiter!«

Danach verging über eine Stunde, in der Rubys Stimmungsbarometer stetig nach unten sank. Sie hatte sich schon damit abgefunden, dieser Teil ihrer Nachforschungen werde ergebnislos verlaufen, als Andy Vosko vom Raubdezernat sich meldete.

»Ich hab' hier was«, sagte er und fügte hinzu: »Aber diesmal ist's größer.«

Wieder hörten alle zu arbeiten auf und sahen zu, wie der Sergeant der Spurensicherung den Gegenstand freilegte. Als er das Erdreich mit seiner kleinen Schaufel abtrug, wurden die Umrisse eines Messers sichtbar. Der Sergeant hielt es mit einer Zange hoch, damit eine Frau von der Spurensicherung die daran haftenden Erdreste mit einem Pinsel entfernen konnte.

»Ein Bowiemesser!« sagte Ruby atemlos, als sie den stabilen Holzgriff und die lange, leicht geschwungene, spitz auslaufende Klinge sah. »Doils charakteristische Tatwaffe!« Ihre Stimmung besserte sich schlagartig, und sie war Sandy Yanis für seine Hartnäckigkeit trotz ihrer eigenen kleinmütigen Zweifel dankbar.

Das Messer kam in einen weiteren Plastikbeutel. »Das sehen wir uns auch im Labor an«, sagte der Sergeant. »Klasse, Sandy!«

»Blutspuren oder Fingerabdrücke sind nach so vielen Jahren vermutlich nicht mehr festzustellen?« fragte Ruby.

»Bestimmt nicht«, antwortete der Sergeant. »Aber...« Er sah zu Yanis hinüber.

»Gestern«, sagte Yanis, »habe ich mir die Kleidungsstücke der Ikeis - Schlafanzug und Nachthemd - angesehen, in denen das Ehepaar ermordet worden ist; sie liegen noch bei uns in der Asservatenkammer. Daher weiß ich, daß sie durch die Kleidung erstochen worden sind, was bedeutet, daß an diesem Messer noch Gewebeteilchen haften können. Stimmen diese Partikel mit den anderen Geweben überein...« Er hob die Hände und ließ den Satz unvollendet.

»Ich habe eben etwas von Ihnen gelernt, das ich nicht gewußt habe«, sagte Ruby bewundernd.

»Wir lernen alle von ihm«, warf Jasmund ein. »Ständig.«

»Wir haben also gefunden, was Sie gesucht haben«, stellte Andy Vosko fest. »Hören wir auf, oder buddeln wir weiter?«

»Wir suchen weiter«, entschied Yanis. Das taten sie noch eine Stunde lang, ohne jedoch weitere Funde zu machen.

Ruby Bowe flog spät am Abend nach Miami zurück. Shirley Jasmund brachte sie zum Flughafen; Sandy Yanis fuhr mit. Als sie sich vor dem Abfluggebäude verabschiedeten, streckte Ruby impulsiv die Arme aus und umarmte beide.

12

»Also, wie lautet das Urteil?« fragte Malcolm Ainslie.

»Das Urteil lautet«, antwortete Ruby Bowe, »daß Elroy Doil die Wahrheit gesagt hat, als er Ihnen die Ermordung der Ehepaare Esperanza und Ikei gestanden hat. Gewiß, einige Details haben nicht ganz gestimmt, und einen Gegenstand hat er überhaupt nicht erwähnt, aber an den grundlegenden Tatsachen ändert das nichts.« Sie machte eine Pause. »Soll ich alles von Anfang an erzählen?«

»Ja, bitte.« Die beiden saßen am Morgen nach Rubys Rückkehr aus Tampa an Ainslies Schreibtisch.

Ruby berichtete, was ihre Nachforschungen bei der MetroDade Police und danach in Tampa ergeben hatten. »Heute früh bin ich zu Hause angerufen worden«, fügte sie hinzu. »Das Labor in Tampa hat an dem Messer Gewebeteilchen von der Kleidung der Ikeis gefunden - also ist's hundertprozentig die Tatwaffe gewesen. Und die Brosche aus dem Grab...« Sie warf einen Blick in ihre Notizen. »Die ist als japanische Cloisonne-Brosche identifiziert worden - sehr alt, sehr kostbar. Sandy Yanis vermutet, daß sie Elroy Doil einfach so gut gefiel, daß er sie mitgenommen hat.«

»Aber dann hat er Angst gehabt, sie könnte bei ihm gefunden werden«, schloß Ainslie, »und hat sie lieber auch vergraben.«

»Richtig. Also hat Doil doch nicht ganz die Wahrheit gesagt.«

»Aber was er mir erzählt hat, ist wahr gewesen - das haben Ihre Nachforschungen bestätigt.«

»Oh, hier habe ich noch etwas.« Ruby gab Ainslie Fotokopien des Briefumschlags, der nach Shirley Jasmunds Auskunft neben den Ikeis gelegen hatte - des Umschlags mit den sieben Siegeln, der eine Seite aus der Offenbarung des Johannes enthalten hatte. Ainslie studierte sie aufmerksam.

»Das ist Kapitel fünf«, sagte er nach einem Blick auf die herausgerissene Seite. »Drei Verse sind markiert.« Er las sie laut vor:

»>Und ich sah in der rechten Hand des, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben inwendig und auswendig, versiegelt mit sieben Siegeln.

Und ich sah einen starken Engel, der rief aus mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?

Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe, der da ist vom Geschlecht Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel...««

Ainslie sah auf. »Typisch Doil«, stellte er fest. Und er dachte an sein Gespräch mit Pater Kevin O'Brien von der Gesu Church, der ihm geschildert hatte, wie Doil als Zwölfjähriger vom Alten Testament mit seinen Geschichten über heilige Kriege, den Zorn Gottes, Verfolgungen, Rache und Morde fasziniert gewesen war.

»Das paßt zu allem, was er viel später getan hat«, fügte Ainslie hinzu.

»Warum hat er diesen Bibeltext neben den Leichen zurückgelassen?« fragte Ruby.

»Das hat nur er selbst gewußt. Ich vermute, daß Doil sich als der Löwe von Juda gesehen hat, was ihn dann zu seinen Serienmorden veranlaßte.« Ainslie schüttelte bedauernd den Kopf, legte eine Hand auf die Fotokopien und sagte: »Hätten wir das hier früher gehabt und von dem Mord an dem Ehepaar Ikei gewußt, hätten wir Doil viel eher geschnappt.«

Dann entstand eine Pause, bis Ruby das Wort ergriff. »Sie haben gerade von >Serienmorden< gesprochen. Was bedeutet das für den Mordfall Ernst?«

»Der gehört nicht dazu.« Ainslie hatte noch Doils verzweifelten Aufschrei im Ohr: Ich hab' die anderen umgelegt, aber ich will mir nichts anhängen lassen, was ich nicht getan habe!

»Ob Doil die Wahrheit gesagt hat, ist bisher zweifelhaft gewesen«, sagte Ainslie. »Aber da er anscheinend nicht gelogen hat, müssen die Ermittlungen in der Mordsache Ernst wiederaufgenommen werden, glaube ich.«

»Im Fall Ernst wird ab sofort weiterermittelt«, entschied Leo Newbold. »Und wie's aussieht, haben Sie von Anfang an recht gehabt, Malcolm.«

Ainslie schüttelte den Kopf. »Das spielt keine Rolle. Die Frage ist nur: Wo fangen wir am besten an?« Die beiden saßen in Newbolds Büro, dessen Tür geschlossen war.

»Wir fangen damit an, daß wir alles streng vertraulich behandeln - und das möglichst lange.« Newbold zögerte, bevor er hinzufügte: »Das gilt sogar für die Mordkommission, und Sie sagen Ruby, daß sie mit niemandem darüber reden darf.«

»Das habe ich schon getan.« Ainslie musterte seinen Vorgesetzten neugierig. »Was denken Sie?«

Der Lieutenant schüttelte unsicher den Kopf. »Das weiß ich selbst nicht recht. Aber wenn der Mörder der Ernsts ein Nachahmungstäter gewesen ist - danach sieht's jetzt aus -, hat er bewußt einen der Serienmorde imitiert. Und dieser Täter hat verdammt viel über Doils Morde gewußt - weit mehr, als Presse und Fernsehen jemals berichtet haben.«

Ainslie wählte seine Worte sorgfältig. »Wollen Sie damit andeuten, daß jemand Insiderinformationen gehabt oder bewußt Informationen nach draußen weitergegeben hat?«

»Verdammt, ich weiß selbst nicht, was ich andeuten will! Ich weiß nur, daß ich schrecklich nervös bin und mich frage, ob jemand im Präsidium, vielleicht sogar in der Mordkommission mehr über den Fall Ernst weiß, als Sie und ich wissen.«

Newbold stand auf, trat ans Fenster, kam an den Schreibtisch zurück. »Sagen Sie bloß nicht, daß Sie das nicht auch denken, denn ich seh's Ihnen an!«

»Ja, das habe ich mir auch schon überlegt.« Ainslie machte eine Pause. »Ich glaube, ich sollte damit anfangen, alle Ermittlungsakten durchzugehen und festzustellen, welche Tatsachen wir bekanntgegeben und welche wir geheimgehalten haben. Dann können wir beurteilen, wie alles mit den Umständen im Fall Ernst zusammenpaßt.«

Newbold nickte. »Eine gute Idee, aber machen Sie das lieber nicht im Dienst. Sieht jemand die ganzen Akten herumliegen, könnte er erraten, was wir vorhaben. Nehmen Sie die Unterlagen mit nach Hause, und bleiben Sie ein paar Tage dran. Ich vertrete Sie hier inzwischen.«

Ainslie war verblüfft. Er hatte vorsichtig sein wollen - aber nicht so sehr, daß er seinen Kollegen mißtraute. Trotzdem hatte Newbold vermutlich recht. Außerdem kamen viele Leute - auch Außenstehende - zur Mordkommission, und alle Besucher interessierten sich dafür, was hier vorging.

An diesem Abend fuhr Ainslie mit fünf überquellenden Aktenordnern, die er unauffällig ins Auto geschafft hatte - je einen für die Morde an den Ehepaaren Ernst, Larsen, Hennenfeld, Urbina und Ernst -, nach Hause und war darauf vorbereitet, sie pedantisch genau durchzuarbeiten.

»Ich weiß nicht, warum du zu Hause arbeitest«, sagte Karen am nächsten Tag, »aber es ist schön, dich mit deinem Papierkram hier sitzen zu sehen. Kann ich dir irgendwie helfen?«

Malcolm sah dankbar auf. »Könntest du einige meiner Notizen abtippen und ausdrucken?«

Als Jason aus der Schule heimkam, freute er sich genauso über die Anwesenheit seines Vaters. Er setzte sich zu ihm an den Eßtisch und schob einige Ermittlungsakten beiseite, um Platz für seine Hausaufgaben zu haben. Während die beiden nebeneinander arbeiteten, stellte Jason immer wieder Fragen: »Dad, hast du gewußt, daß jede Zahl durch neun teilbar ist, wenn ihre Quersumme durch neun teilbar ist? Findest du das nicht merkwürdig?«... »Dad, hast du gewußt, daß der Mond nur dreihundertfünfundachtzigtausend Kilometer entfernt ist? Glaubst du, daß ich mal hinfliegen kann, wenn ich groß bin?«... Und zuletzt: »Dad, warum sind wir nicht immer so zusammen?«

Ainslie brauchte zwei volle Tage, um die nach Hause mitgenommenen Ermittlungsakten genau durchzuarbeiten, sich Notizen zu machen und schließlich eine Liste aller auffälligen Details zu erstellen, aber als er damit fertig war, konnte er einige wichtige Schlußfolgerungen ziehen.

Er begann mit einer Überprüfung der Tatumstände, die vor den Medien geheimgehalten worden waren - immer in der Hoffnung, ein Verdächtiger könnte sich selbst belasten, indem er solche Einzelheiten erwähnte. Zu diesen Details gehörte die Serie bizarrer Gegenstände - von den vier toten Katzen angefangen -, die bei den Opfern zurückgelassen worden waren. Die laute Radiomusik an allen Tatorten war ebenso geheimgehalten worden wie das Detail, daß die Ermordeten sich gefesselt und geknebelt gegenübergesessen hatten. Während bekannt war, daß in allen Fällen Geld verschwunden ist, wußte niemand, daß mehrmals wertvoller Schmuck liegengelassen wurde.

Manche Reporter hatten jedoch private Informationsquellen bei der Polizei, und was sie inoffiziell erfuhren, wurde unweigerlich gedruckt oder gesendet. Das warf zwei Fragen auf: Hatten die Medien es erstens geschafft, alles über die vier Doppelmorde vor der Ermordung des Ehepaars Ernst zu berichten? Das hielt Ainslie für sehr unwahrscheinlich. Und konnte es zweitens, wie Leo Newbold angedeutet hatte, im Police Department ein bewußtes oder unabsichtliches Leck geben? Davon war Ainslie schon eher überzeugt.

Als nächstes stellte Ainslie sich die Frage: Gibt es Unterschiede zwischen dem Mord an Gustav und Eleanor Ernst und den übrigen Morden Doils? Ja, es gab mehrere.

Einer betraf die Radios, die an allen Tatorten angestellt zurückgelassen worden waren. Im Mordfall Frost im Royal Colonial Hotel war das Radio auf HOT 105 eingestellt gewesen und hatte harte Rockmusik gespielt - das Standardrepertoire dieses Senders. Der nächste Fall war der Mord an Hal und Mabel Larsen in Clearwater, und weil in den Akten nichts von einem Radio stand, telefonierte Ainslie mit Detective Nelson Abreu, der die Ermittlungen geleitet hatte. »Nein«, antwortete sein Kollege, »soviel ich weiß, ist kein Radio angestellt gewesen. Aber ich frage nach und rufe Sie zurück.« Das tat er nach etwa einer Stunde.

»Ich habe eben mit dem Streifenpolizisten gesprochen, der als erster am Tatort gewesen ist«, berichtete Abreu. »Dort hat ein Radio gespielt, laute Rockmusik, sagt er jetzt, und der Idiot hat es ausgestellt und kein Wort darüber verloren. Er ist noch ziemlich jung, und ich habe ihn anständig zusammengestaucht. Ist diese Sache mit dem Radio wichtig?«

»Schwer zu sagen«, antwortete Ainslie, »aber ich bin Ihnen dankbar, daß sie ihr nachgegangen sind.«

Abreu interessierte der Grund für diese Nachforschungen. »Die Angehörigen haben sich erkundigt, ob Doils Täterschaft im Fall Larsen eindeutig feststeht. Können Sie das bestätigen?«

»Vorerst nicht, aber ich sage meinem Lieutenant, daß Sie auf dem laufenden gehalten werden möchten, falls sich etwas Neues ergibt.«

Abreu lachte halblaut. »Ah, ich verstehe! Sie wissen etwas, das Sie nicht erzählen dürfen.«

»Sie sind vom Fach«, sagte Ainslie. »Sie kennen sich mit solchen Dingen aus.«

Er wußte, daß Doils Raiforder Geständnis bisher zurückgehalten worden war, und konnte nur hoffen, es werde zunächst weiter vertraulich behandelt. Aber um des Seelenfriedens der Hinterbliebenen willen würden irgendwann alle Einzelheiten veröffentlicht werden müssen.

Nach den Larsens war das Ehepaar Irving und Rachel Hennenfeld in Fort Lauderdale ermordet worden. Bei seinem dienstlichen Besuch in Miami hatte Sheriff-Detective Benito Montes berichtet, auch am dortigen Tatort habe ein Radio gespielt - »so gottverdammt laute Rockmusik, daß man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte«.

Dann kamen Lazaro und Luisa Urbina, die in Miami ermordet worden waren. Ein Nachbar hatte das laut plärrende Radio abgestellt, um 911 anrufen zu können, aber die Einstellung auf HOT 105 nicht verändert.

Als Gustav und Eleanor Ernst von Theo Palacio, ihrem Butler, tot aufgefunden worden waren, hatte ebenfalls ein Radio laut gespielt. Auch Palacio hatte es abgestellt, aber das Gerät war auf WTMI, 93,1 MHz, eingestellt - »Mrs. Ernsts liebster Sender«, weil er Musicals und klassische Musik brachte. WTMI sendete niemals harte Rockmusik.

War die Art der an den Tatorten gespielten Musik irgendwie bedeutsam? Ainslie neigte zu dieser Auffassung - vor allem in Verbindung mit einem weiteren Unterschied im Mordfall Ernst: dem neben den Ermordeten zurückgelassenen toten Kaninchen, das er von Anfang an nicht für ein Symbol aus der Offenbarung gehalten hatte.

Konnte der Täter, der die Ernsts ermordet hatte, von den vier toten Katzen im Mordfall Frost gewußt und irrtümlicherweise geglaubt haben, jedes tote Tier sei recht? Auch diese Frage ließ sich wahrscheinlich mit ja beantworten.

Bedeutsam war auch, daß Ainslie im Kollegenkreis erst einen Tag nach der Ermordung des Ehepaars Ernst auf die Offenbarung des Johannes hingewiesen hatte; zuvor hatte es nur unbewiesene Vermutungen über die an den Tatorten zurückgelassenen Symbole gegeben.

Ein weiterer Zeitfaktor warf ebenfalls Fragen auf.

Nach jedem der Morde an den Ehepaaren Frost, Larsen, Hennenfeld und Urbina war die Zeitspanne bis zum nächsten Mord nie kürzer als zwei Monate gewesen und hatte durchschnittlich zwei Monate und zehn Tage betragen. Aber zwischen der Ermordung der Urbinas und dem Mord an dem Ehepaar Ernst hatten nur drei Tage gelegen.

Als ob die Ermordung der beiden Ernsts für einen Zeitpunkt geplant gewesen wäre, dachte Ainslie, der dem gewohnten Abstand entsprochen hätte, wenn der Mord an dem Ehepaar Urbina nicht dazwischengekommen wäre. Und war es vielleicht zu spät gewesen, die Vorbereitungen im Fall Ernst abzublasen, obwohl die Ermordung der Urbinas rasch gemeldet worden war?

Ainslie hatte flüchtig einen Verdacht, den er jedoch wieder verwarf.

Obgleich bei Elroy Doils letztem Mord - dem an Kingsley und Nellie Tempone - einige der charakteristischen Hinweise auf Doils Täterschaft fehlten, was daran liegen mochte, daß er überrascht worden war und zu fliehen versucht hatte, entsprach der Zeitpunkt ziemlich genau seinem bisherigen Verhaltensmuster, zu dem Ainslie eine Theorie hatte.

Nach Ainslies Überzeugung war Doil, auch wenn er vor Gericht als zurechnungsfähig gegolten hatte, geistesgestört gewesen. Traf diese Annahme zu, konnte er unter dem Zwang gestanden haben, in regelmäßigen Zeitabständen Menschen umzubringen, und im Fall des Ehepaars Tempone war tragischerweise wieder einmal die Zeit zum Morden gekommen.

Aber diese Theorie würde sich nicht mehr beweisen lassen, das wußte Ainslie.

Unmittelbar nach seinen zweitägigen Nachforschungen stattete Ainslie der Asservatenkammer der Miami Police einen Besuch ab.

Die Asservatenkammer, eine wichtige Dienststelle, in der meistens Hochbetrieb herrschte, war im Keller des Polizeipräsidiums untergebracht. Captain Wade Iacone, ein schwergewichtiger, grauhaariger Veteran mit neunundzwanzig Dienstjahren, der es leitete, empfing Ainslie in seinem Büro.

»Genau der Mann, den ich brauche! Wie geht's, Malcolm?«

»Gut, Sir. Danke.«

Iacone winkte ab. »Keine Formalitäten, Malcolm. Ich wollte Ihnen gerade eine Erinnerung wegen des Materials im Fall Doil schicken. Nachdem der Kerl jetzt tot ist und die Ermittlungen abgeschlossen sind, möchten wir einen Haufen Zeug loswerden. Wir brauchen den Lagerraum dringend.«

Ainslie verzog das Gesicht. »Diese Erinnerung können Sie vergessen, Wade. Einer der Fälle wird neu aufgerollt.«

»Wieso das?« fragte der Captain.

»Einer der Serienmorde ist vielleicht nicht restlos aufgeklärt, deshalb muß das sichergestellte Material dableiben. Aber Sie haben von einem >Haufen Zeug< gesprochen. Ist wirklich soviel da?«

»Anfangs ist's nicht viel gewesen - bis zur Ermordung von Commissioner Ernst und seiner Frau«, antwortete Iacone. »Danach ist ein Berg Material gekommen. Lauter versiegelte Kartons. Ihre Leute haben viel sichergestellt, weil der Fall so wichtig gewesen ist.«

»Darf ich die Kartons mal sehen?«

»Klar.«

Der Dienststellenleiter führte ihn durch Büros und Lagerräume, in denen zwanzig Mitarbeiter - fünf Polizeibeamte und fünfzehn Zivilbedienstete - erstaunliche Ordnung in das sie umgebende Chaos brachten. Jeder Gegenstand ließ sich unabhängig von seiner Lagerdauer, die zwanzig und mehr Jahre betragen konnte, in Minutenschnelle lokalisieren, indem man einem Computer die Fallnummer, einen Namen oder das Einlieferungsdatum eingab.

Iacone demonstrierte dieses Verfahren, indem er unbeirrbar auf über ein Dutzend großer Kartons zusteuerte, die mit Klebeband mit dem Aufdruck TATORTMATERIAL verschlossen waren. »Die sind gleich nach der Ermordung der Ernsts reingekommen«, berichtete er. »Ich glaube, Ihre Leute haben eine Menge Zeug - vor allem schriftliche Unterlagen - aus dem Haus mitgenommen, um es hier sichten zu können, aber das ist anscheinend nie gemacht worden.«

Ainslie konnte sich vorstellen, was passiert war. Unmittelbar nach der Ermordung der Ernsts hatte seine Sonderkommission mit der sehr personalintensiven Überwachung Verdächtiger begonnen. In dieser Zeit war das sichergestellte Material vorerst in der Asservatenkammer geblieben. Und als Doil nach dem Mord an dem Ehepaar Tempone verhaftet und verurteilt worden war, hatte auch der Fall Ernst als abgeschlossen gegolten. Deshalb war der Inhalt dieser vielen Kisten offenbar nie unter die Lupe genommen worden.

»Ich kann Ihnen das Zeug leider nicht abnehmen«, erklärte Ainslie dem Captain, »aber wir holen jeweils ein paar dieser Kisten ab, sichten den Inhalt und bringen sie wieder zurück.« Iacone zuckte mit den Schultern. »Das ist Ihr Recht, Malcolm.«

»Danke«, sagte Ainslie. »Vielleicht werden wir fündig.«

13

»Ich möchte«, sagte Ainslie zu Ruby, »daß Sie den Inhalt aller dieser in der Asservatenkammer stehenden Kartons sichten.«

»Suchen wir irgendwas Bestimmtes?«

»Ja - etwas, das uns auf die Spur des Mörders der Ernsts führt.«

»Aber Sie können nichts Genaueres sagen?«

Ainslie schüttelte den Kopf. Eine schlimme Vorahnung, die er sich nicht erklären konnte, warnte ihn vor dem unerforschten Terrain, das vor ihm lag. Wer hatte Gustav und Eleanor Ernst ermordet - und warum? Die Antwort darauf würde nicht ganz unproblematisch sein, dessen war er sich sicher. Dann fiel ihm das Land der Finsternis und des Dunkels aus dem Buch Hiob ein. Ein Instinkt sagte ihm, daß er es betreten hatte, und er wünschte sich plötzlich, diese Ermittlungen abgeben zu können.

Ruby beobachtete ihn. »Irgendwas nicht in Ordnung?«

»Ich weiß nicht.« Er rang sich ein Lächeln ab. »Sehen wir erst mal nach, was diese Kartons enthalten.«

Die beiden standen in einem weit von den Büros der Mordkommission entfernten winzigen Raum. Ainslie hatte ihn sich vorübergehend zuteilen lassen, weil ihre neuen Ermittlungen auf Wunsch Leo Newbolds möglichst geheimgehalten werden sollten. Das Büro enthielt nur einen Tisch, zwei Stühle und ein Telefon, aber es würde ausreichen.

»Wir gehen in die Asservatenkammer hinunter«, erklärte er Ruby, »und ich veranlasse, daß Sie einen Karton nach dem anderen mitnehmen können. Die Arbeit dürfte nicht länger als ein paar Tage dauern.«

Wie sich zeigen sollte, lag er damit völlig falsch.

Nach zwei Wochen suchte Ainslie Ruby ziemlich ungeduldig zum drittenmal in ihrer vorläufigen Unterkunft auf. Wie bei seinen beiden früheren Besuchen traf er sie zwischen Stapeln von Papier sitzend - viele davon auf dem Fußboden verstreut an.

Beim vorhergehenden Besuch hatte Ruby berichtet: »Die Ernsts haben es anscheinend nicht über sich gebracht, irgendein Stück Papier wegzuwerfen. Sie haben alles aufgehoben - alte Briefe, Rechnungen, Notizen, Zeitungsausschnitte, Einladungen und so weiter -, und diese Kartons sind voll davon.«

Ainslie hatte ihr erklärt: »Ich habe mit Hank Brewmaster gesprochen, der anfangs die Ermittlungen geleitet hat. Überall im Haus haben unglaubliche Papiermengen gelegen - in unzähligen Schachteln in fast allen Räumen. Einerseits hat niemand Zeit gehabt, das Zeug zu sichten, und andererseits hätte es als Beweismaterial wichtig sein können. Deshalb ist alles abtransportiert worden, und später ist niemand mehr dazugekommen, sich damit zu befassen.«

Diesmal hatte Ruby ein zerfleddertes altes Schreibheft vor sich liegen und machte sich auf einem Block Notizen.

Ainslie zeigte auf eine geöffnete Schachtel und fragte dabei: »Immer derselbe unwichtige Kram?«

»Nein«, sagte Ruby. »Ich bin auf etwas Interessantes gestoßen, glaube ich.«

»Tatsächlich?«

»Viele dieser Aufzeichnungen stammen von Mrs. Ernst - in krakeliger Handschrift und schwer zu lesen. Völlig belanglos, habe ich geglaubt, bis ich vorgestern ihr Tagebuch entdeckt habe. Sie hat es in Schulhefte geschrieben - in viele Hefte, die Jahre zurückreichen.«

»Wie viele?«

»Zwanzig, dreißig, vielleicht mehr.« Ruby deutete auf die Schachtel. »Die ist randvoll gewesen. Ich vermute, daß es noch mehr gibt.«

»Was steht in den Tagebüchern?«

»Nun, das ist ein Problem. Mrs. Ernst hat nicht nur miserabel geschrieben, sondern auch eine Art Code, eine persönliche Kurzschrift benutzt. Um das Geschriebene geheimzuhalten, nehme ich an - besonders vor ihrem Mann, vor dem sie die Tagebücher offenbar immer versteckt hielt. Aber wer genug Geduld hat, kann lernen, sie zu lesen.«

Ruby deutete auf die vor ihr liegenden zerfledderten Seiten. »Zum Beispiel nennt sie keine Namen, sondern ersetzt sie durch Zahlen. Nach einiger Zeit habe ich gemerkt, daß >5< sie selbst und >7< ihren Mann bezeichnet. Ein ganz einfacher Code - das >E< wie Eleanor ist der fünfte Buchstabe des Alphabets, das >G< wie Gustav der siebte. Zahlen mit Bindestrichen bedeuten Doppelnamen, so daß >4-18-23< einen >Dr. W< bezeichnet, wer immer er gewesen ist oder sein mag. Und sie komprimiert die Wörter, kürzt sie ab und läßt vor allem die Vokale aus. Ich finde mich allmählich zurecht, aber die Lektüre ist zeitraubend.«

Ainslie wußte, daß er eine Entscheidung treffen mußte. War es zu vertreten, Ruby diese mühsame Suche, die endlos dauern konnte und wahrscheinlich ergebnislos bleiben würde, fortsetzen zu lassen? »Können Sie mir schon irgendwas sagen?« fragte er sie. »Irgend etwas Wichtiges?«

Ruby überlegte kurz. »Ja, es gibt etwas, das ich zurückgehalten habe, weil ich erst mehr darüber wissen wollte.« Ihre Stimme klang plötzlich schärfer. »Was halten Sie von folgender Entdeckung? Die Tagebücher zeigen bereits, daß unser verstorbener großmächtiger City Commissioner Gustav Ernst seine Frau auf übelste Weise mißhandelt hat. Er hat sie seit ihrer Hochzeit immer wieder verprügelt, so daß sie mindestens einmal ins Krankenhaus mußte. Aber Eleanor hat immer geschwiegen - vor Angst und Scham und weil sie gedacht hat, niemand würde ihr glauben, wie dieser Schweinehund von einem Ehemann ihr eingeredet hat. Das steht alles hier drin!«

Sie holte tief Luft. »Oh, verdammt! Wie ich diesen Scheiß hasse!« Sie griff impulsiv nach einem der Hefte und warf es quer durch den Raum.

Nach einer kurzen Pause hob Ainslie das Heft auf und legte es auf den Schreibtisch zurück. »Sie hat vermutlich recht gehabt; vielleicht hätte ihr niemand geglaubt - nicht in der damaligen Zeit, als niemand von mißhandelten Frauen gesprochen hat, weil die Leute einfach nichts davon wissen wollten. Glauben Sie das alles?«

»Jedes Wort.« Ruby hatte sich wieder beruhigt. »So eine Menge Einzelheiten kann sie nicht erfunden haben, und alles klingt sehr überzeugend. Vielleicht sollten Sie auch mal einen Blick hineinwerfen.«

»Das tue ich später«, sagte Ainslie, der sich auf ihr Urteil verließ.

Ruby betrachtete nachdenklich das vor ihr liegende Heft. »Ich denke, Mrs. Ernst hat gewußt, vielleicht sogar gehofft, daß ihre Aufzeichnungen eines Tages gelesen werden würden.«

»Haben Sie irgendwelche Hinweise auf...« Ainslie sprach nicht weiter, weil er merkte, daß die Frage überflüssig war. Hätte es solche Hinweise gegeben, hätte Ruby sie erwähnt.

»Sie denken an Cynthia, nicht wahr?«

Er nickte wortlos.

»Ich denke auch an sie, aber bisher kommt sie nicht vor. Diese Tagebücher hier stammen aus den ersten Ehejahren. Cynthia ist noch nicht geboren; später wird ihre Mutter sie als >3< erwähnen.«

Ihre Blicke trafen sich.

»Sie machen weiter, Ruby«, entschied Ainslie. »Sie lassen sich soviel Zeit, wie Sie brauchen, und rufen mich an, wenn Sie mir etwas mitzuteilen haben.« Er bemühte sich, seinen Verdacht zu unterdrücken, aber das wollte ihm nicht gelingen.

Danach dauerte es fast zwei Wochen, bis Ruby Bowe ihn erneut anrief. »Können Sie zu mir runterkommen? Ich möchte Ihnen einiges zeigen.«

»Was ich entdeckt habe«, sagte Ruby, »ändert vieles, obwohl die Folgen noch nicht ganz abzusehen sind.«

Die beiden befanden sich wieder in dem winzigen fensterlosen Raum voller Papiere. Ruby saß an ihrem kleinen Schreibtisch.

»Bitte weiter«, drängte Ainslie, der sich bewußt war, lange genug gewartet zu haben.

»Cynthia ist auf der Bildfläche erschienen. Innerhalb einer Woche nach ihrer Geburt hat Mrs. Ernst ihren Mann bei sexuellen Spielen mit dem Baby ertappt. Hier, so hat sie's geschildert.« Ruby schob ihm ein aufgeschlagenes Heft hin und deutete auf eine Seite. Ainslie kniff die Augen zusammen, während er sich bemühte, Mrs. Ernsts private Kurzschrift zu enträtseln.

»Am besten lesen Sie's mir vor«, sagte er dann. »Ich sehe, daß man die meisten Wörter nur ergänzen muß, aber das können Sie schneller.«

Ruby las laut vor:

»Heute habe ich gesehen, wie Gustav meine Cynthia berührt hat, kann nur sexuell gewesen sein. Er hat ihre Windel entfernt und sie angestarrt. Ohne zu wissen, daß ich ihn beobachte, hat er sich über sie gebeugt und etwas Unaussprechliches getan. Ich bin so empört und in Sorge um Cynthia gewesen! Wird ihr Vater, dieser Perverse, dem eigenen Kind nachstellen? Ich habe ihm erklärt, daß mir egal ist, was er mir antut, aber daß er Cynthia nie mehr anrühren darf, weil ich sonst zu den Kinderschutzleuten gehe, die ihn hinter Gitter bringen können.

Er hat sich offenbar nicht geschämt, aber versprochen, es nicht mehr zu tun. Ich weiß nicht, ob ich ihm glauben kann, er ist so verdorben! Kann ich Cynthia vor ihm schützen? Auch das ist zweifelhafte«

Ohne Ainslies Reaktion abzuwarten, fuhr Ruby fort: »Ähnliche Eintragungen wiederholen sich in den folgenden Monaten, und trotz Mrs. Ernsts Drohung ist klar, daß sie nie etwas unternommen hat. Nach eineinhalb Jahren findet sich diese Eintragung.« Sie schob ihm ein weiteres Heft hin und zeigte auf die Stelle, die sie meinte.

Ainslie forderte sie mit einer Handbewegung auf, den verschlüsselten Text vorzulesen. Sie zog das Schreibheft wieder zu sich heran.

»>Ich habe Gustav immer wieder gewarnt, aber er macht trotzdem weiter und tut Cynthia manchmal weh, so daß sie aufschreit. Als ich ihm Vorhaltungen gemacht habe, hat er abgewehrt: 'Das hat nichts zu bedeuten. Nur ein bißchen Zärtlichkeit von ihrem Da.' Ich habe ihm erklärt: 'Nein, das ist widernatürlich. Sie haßt es, und sie haßt dich. Sie hat Angst vor dir.' Kommt er jetzt in ihre Nähe, weint sie, krümmt sich schutzsuchend zusammen und weicht vor ihm zurück. Ich drohe ihm immer wieder damit, jemanden anzurufen - das Jugendamt, die Polizei oder sogar unseren Dr. W. -, aber Gustav lacht darüber, weil er nur allzugut weiß, daß ich das nicht über mich brächte, und damit hat er recht. Die Schande wäre zu schrecklich. Wie könnte ich den Leuten danach noch unter die Augen treten? Ich kann mit keinem Menschen darüber reden -nicht einmal um Cynthias willen. Cynthia und ich werden diese schwere Bürde allein tragen müssen.<«

»Schockiert Sie das?« fragte Ruby.

»Nach neun Jahren bei der Mordkommission schockiert mich nichts mehr, aber mir macht Sorgen, wie die Geschichte weitergehen wird. Sie geht weiter, nicht wahr?«

»Natürlich.« Ruby blätterte in ihren Notizen. »Als nächstes ist er zu Mißhandlungen übergegangen. Als Cynthia drei war, hat Gustav angefangen, sie zu schlagen - >wegen irgendwelcher Kleinigkeiten, manchmal völlig grundlos<, berichtet das Tagebuch. Er hat ihr Weinen nicht leiden können und einmal >zur Strafe< ihre Füße in kochendheißes Wasser gesteckt. Mrs. Ernst hat Cynthia ins Krankenhaus gebracht und die Verbrühungen als Unfall ausgegeben. Sie hat festgehalten, daß niemand ihr geglaubt habe - aber passiert ist trotzdem nichts.

Als die Kleine dann acht gewesen ist, hat Gustav sie zum ersten von vielen Malen vergewaltigt. Danach ist Cynthia vor jedem zurückgeschreckt, der sie berühren wollte - auch vor ihrer Mutter -, als habe sie Angst vor jeglicher Berührung.« Rubys Stimme versagte. Sie trank einen Schluck Wasser aus einem Glas und deutete auf einen Stapel Schulhefte. »Das steht alles dort drin.«

»Möchten Sie eine Pause machen?« fragte Ainslie.

»Ich denke schon.« Ruby ging zur Tür und murmelte dabei: »Ich bin gleich zurück.«

Ainslies Gedanken befanden sich in wildem Aufruhr. Er hatte die erregende Affäre mit Cynthia nicht aus seinem Gedächtnis gestrichen, würde es auch nie tun. Trotz ihrer Verbitterung über seinen Entschluß, sich von ihr zu trennen, und ihrer späteren absichtlichen Sabotage seiner Karriere hatte er Cynthia noch immer gern und würde ihr seinerseits nie schaden wollen. Und seit er diese neuen Tatsachen erfahren hatte, galt sein ganzes Mitleid dem armen kleinen Mädchen. Wie konnten vermeintlich zivilisierte Eltern das eigene Kind mißhandeln und mißbrauchen - der Vater aus perverser Lust, die Mutter so rückgratlos, daß sie nicht das geringste unternahm, um ihrer Tochter zu helfen?

Dann wurde leise die Tür geöffnet, und Ruby kam hereingeschlüpft. Ainslie musterte sie prüfend und fragte: »Schaffen Sie's weiterzumachen?«

»Ja, ich möchte die Sache hinter mich bringen. Vielleicht ziehe ich heute abend los und besaufe mich, um alles vergessen zu können.«

Aber er wußte, daß sie das nicht tun würde. Da ihr Vater tragischerweise von einem fünfzehnjährigen Junkie erschossen worden war, gab es für Ruby keine Drogen - auch keinen Alkohol. Daran würde diese Geschichte nichts ändern.

»Das Unvermeidliche ist passiert, als Cynthia zwölf war«, fuhr Ruby fort. »Sie ist von ihrem Vater schwanger geworden. Am besten lese ich Ihnen vor, was Mrs. Ernst darüber geschrieben hat.«

Diesmal zeigte sie ihm nicht das verschlüsselte Tagebuch, sondern las direkt aus ihrer Transkription vor.

»>In dieser schrecklichen, schändlichen Situation sind die nötigen Vorbereitungen getroffen worden. Gustavs Anwalt L. M. hat dafür gesorgt, daß Cynthia in Pensocola unter einem anderen Namen in einer diskreten Privatklinik liegt, zu der er Verbindung hat. Nach Auskunft der Ärzte muß Cynthia das Kind bekommen, weil bei so fortgeschrittener Schwangerschaft kein Abbruch mehr zulässig ist. Sie bleibt in der Klinik, bis es soweit ist. L. M. sorgt auch für eine sofortige Adoption des Babys; ich habe ihm gesagt, daß uns egal ist, wer es nimmt, solange unsere Identität geheimgehalten wird. Cynthia bekommt ihr Kind nicht zu sehen und hört nie wieder von ihm - und wir auch nicht. Gott sei Dank!

Vielleicht hat diese Sache sogar noch etwas Gutes. Bevor L. M. bereit gewesen ist, den Fall zu übernehmen, hat er Gustav gründlich die Meinung gesagt. Er hat gesagt, Gustav widere ihn an, und Ausdrücke benutzt, die ich nicht wiederholen will. Und er hat ihm ein Ultimatum gestellt: Hört Gustav nicht endgültig auf, Cynthia zu mißbrauchen, zeigt L. M. ihn an und sorgt dafür, daß er für Jahre hinter Gitter muß. L. M. hat ihm gedroht, das meine er ernst, und wenn das die einzige Möglichkeit sei, 'dann zum Teufel mit dem Anwaltsgeheimnis'! Gustav hat richtig Angst gehabt.<

Einige Zeit später wird erwähnt, daß Cynthia ihr Kind bekommen hat«, sagte Ruby. »Keine weiteren Informationen, nicht mal das Geschlecht des Babys. Dann ist Cynthia heimgekehrt, und wenig später findet sich in Mrs. Ernsts Tagebuch folgende Eintragung:

>Trotz unserer Vorsichtsmaßnahmen muß sich irgend etwas herumgesprochen haben. Eine Frau vom Jugendamt hat mich aufgesucht. Ihre Fragen haben gezeigt, daß sie nicht alles wußte, aber darüber informiert war, daß Cynthia mit zwölf Jahren ein Kind bekommen hatte. Das mußte ich zugeben, weil es nicht zu leugnen war; ansonsten habe ich gelogen. Ich habe behauptet, der Vater des Kindes sei uns unbekannt, aber Gustav und ich seien seit längerer Zeit besorgt gewesen, weil Cynthia sich mit allen möglichen Jungen herumgetrieben habe. In Zukunft würden wir sie strenger beaufsichtigen.

Ich weiß nicht, ob sie mir das alles abgenommen hat, aber sie konnte meine Aussage natürlich nicht widerlegen. Daß diese Leute in alles ihre Nase stecken müssen!

Als die Frau gegangen war, habe ich entdeckt, daß Cynthia uns belauscht hatte. Wir haben kein Wort miteinander gesprochen, aber Cynthia hat mich wild angefunkelt. Sie haßt mich, fürchte ich.<«

Ainslie schwieg, denn seine Gedanken waren zu komplex, um ausgedrückt zu werden. Vor allem empfand er überwältigenden Abscheu, weil weder Gustav noch Eleanor Ernst auch nur einen Gedanken auf das Wohlergehen des Neugeborenen verschwendet hatten - ihr Enkel oder ihre Enkelin; sein Sohn oder seine Tochter, was ihnen anscheinend beiden egal gewesen war.

»Danach habe ich viel übersprungen«, fuhr Ruby fort, »und ihre Tagebücher aus Cynthias Jugendjahren nur noch überflogen. Ich habe nicht alle lesen können; vielleicht tut das nie jemand. Aber sie zeigen, daß Gustav Ernst Cynthia nicht mehr nachgestellt und sie statt dessen gefördert hat - in der Hoffnung, sie werde >vergeben und vergessen<, wie seine Frau schreibt. Er hat ihr viel Geld gegeben - davon hatte er reichlich. Und als Cynthia zur Miami Police gegangen ist, hat er seinen Einfluß als City Commissioner genutzt, um sie in die Mordkommission zu bringen und dann rasch befördern zu lassen.«

»Cynthia hat sehr gut gearbeitet«, stellte Ainslie fest. »Sie hätte es auch ohne Protektion weit gebracht.«

Ruby zuckte mit den Schultern. »Mrs. Ernst hat vermutet, das habe genutzt, aber andererseits nicht geglaubt, Cynthia werde Gustav oder ihr jemals für irgend etwas dankbar sein.« Sie blätterte in ihren Aufzeichnungen. »Hier ist etwas, das Mrs. Ernst vor vier Jahren geschrieben hat:

>Gustav lebt in einer Welt voller närrischer Illusionen. Er bildet sich ein, zwischen uns beiden und Cynthia sei alles in bester Ordnung, weil wir die Vergangenheit hinter uns gelassen haben, und Cynthia empfinde nun sogar Zuneigung für uns. Was für Unsinn! Cynthia liebt uns nicht. Warum sollte sie auch? Wir haben ihr nie Grund dazu gegeben. Nachträglich wünsche ich mir oft, ich hätte manches anders gemacht. Aber nun ist's zu spät. Für alles zu spät.<

Zuletzt möchte ich Ihnen einen Tagebucheintrag vorlesen, der vielleicht der wichtigste ist«, fuhr Ruby fort. »Vier Monate vor ihrer Ermordung hat Mrs. Ernst folgende Befürchtungen zu Papier gebracht:

>Ich habe Cynthia manchmal dabei ertappt, daß sie uns anstarrt. Aus ihrem Blick scheint finsterer Haß auf uns beide zu sprechen. Für Cynthias Wesensart ist charakteristisch, daß sie nie etwas verzeiht. Niemals! Sie verzeiht niemandem auch nur die geringste Kränkung. Sie rächt sich irgendwann dafür, zahlt es dem Betreffenden heim. Bestimmt ist sie durch unsere Schuld so geworden. Manchmal glaube ich, daß sie etwas mit uns vorhat, um sich an uns zu rächen, und habe Angst. Cynthia ist sehr clever, viel cleverer als wir beide.<«

Ruby legte ihre Notizen weg. »Ich habe erledigt, was Sie mir aufgetragen haben. Jetzt ist nur noch eine Sache übrig.« Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher, als sie Ainslies bekümmerte Miene sah. »Für Sie muß das alles sehr schwer gewesen sein, Sergeant.«

»Wie meinen Sie das?« fragte er unsicher.

»Malcolm, wir wissen alle, warum Sie nicht zum Lieutenant befördert worden sind. Sie könnten wahrscheinlich schon Captain sein.«

Er seufzte resigniert. »Dann wissen Sie also, daß Cynthia und ich... « Er sprach nicht weiter.

»Natürlich. Wir haben's alle schon damals gewußt. Wir sind schließlich Kriminalbeamte, oder?«

Unter anderen Umständen hätte Ainslie vielleicht gelacht. Aber jetzt hing etwas Unausgesprochenes drohend in der Luft.

»Was gibt's noch?« fragte er. »Sie haben von einer Sache gesprochen. Welche meinen Sie?«

»In der Asservatenkammer steht noch ein verschlossener Karton aus dem Haus des Ehepaars Ernst, auf dem aber Cynthias Name steht. Sie scheint ihn bei ihren Eltern aufbewahrt zu haben, und er ist mit dem übrigen Zeug sichergestellt worden.«

»Haben Sie nachgesehen, wer ihn eingeliefert hat?«

»Sergeant Brewmaster.«

»Dann gehört er zum Beweismaterial, und wir sind berechtigt, ihn zu öffnen.«

»Ich hole ihn«, sagte Ruby.

Der große Karton, den Ruby hereinbrachte, glich den anderen und war ebenfalls mit Klebeband mit dem Aufdruck TATORTMATERIAL verschlossen. Aber unter diesem breiten Klebeband wurde ein blauer Klebstreifen sichtbar, der das wiederholte Monogramm »C. E.« trug und an mehreren Stellen mit Siegelwachs fixiert war.

»Diesen Streifen vorsichtig abziehen und aufheben«, wies Ainslie Ruby an.

Einige Minuten später hatte Ruby den Karton geöffnet und klappte die Deckelteile zurück. Sie sahen hinein und stellten fest, daß der Karton mehrere Klarsichtbeutel mit je einem Gegenstand enthielt. Obenauf lag ein Plastikbeutel mit einer Schußwaffe, die ein Revolver Smith & Wesson Kaliber 38 zu sein schien. Die beiden Beutel darunter enthielten je einen Sportschuh, die beide Flecken aufwiesen. In einem vierten Plastikbeutel steckte ein T-Shirt mit ähnlichen Flecken. Die tiefste Lage bildeten weitere Klarsichtbeutel, darunter einer mit einer Tonbandkassette. Jeder Beutel trug einen beschrifteten Aufkleber, und Ainslie erkannte sofort Cynthias Handschrift.

Er konnte kaum glauben, was er vor sich sah.

»Wie kommt dieses Zeug hierher?« fragte Ruby erstaunt.

»Nur aus Versehen. Es ist im Haus der Ernsts versteckt gewesen und irrtümlich mit dem ganzen anderen Material sichergestellt worden.« Ainslie fügte hinzu: »Vorsicht, nichts anfassen, aber vielleicht können Sie lesen, was auf dem Beutel mit dem Revolver steht.«

Ruby beugte sich darüber. »Hier ist vermerkt: >Die Waffe, mit der P. J. seine Exfrau Naomi und ihren Freund Kilburn Holmes erschossen hat.< Und darunter steht ein Datum - der 21. August vor sechs Jahren.«

»O Gott!« flüsterte Ainslie.

»Das verstehe ich nicht.« Sie richtete sich auf und starrte ihn an. »Was sind das für Sachen?«

»Beweisstücke aus einem ungelösten Mordfall«, antwortete er grimmig. »Aus einem bisher ungelösten Mordfall.«

Obwohl die damaligen Ermittlungen nicht von Ainslies Team durchgeführt worden waren, erinnerte er sich wegen Cynthias langjähriger Verbindung mit dem Schriftsteller Patrick Jensen gut an diesen Mordfall. Er rief sich ins Gedächtnis zurück, daß Jensen unter dringendem Tatverdacht gestanden hatte, nachdem seine Exfrau und ihr junger Freund mit einer Waffe des Kalibers 38 erschossen worden waren. Jensen hatte zwei Wochen vor der Tat einen Revolver Smith & Wesson Kaliber 38 gekauft; er behauptete jedoch, ihn verloren zu haben, und die Tatwaffe wurde nie gefunden. Wegen Mangels an Beweisen wurde keine Anklage gegen ihn erhoben.

Eine Frage drängte sich auf: War der Revolver in dem eben geöffneten Karton die verschwundene Waffe? Und: Warum hatte Cynthia diese Beweisstücke, falls es wirklich welche waren, gekennzeichnet und dann sechs Jahre lang bei sich versteckt? Für eine erfahrene Kriminalbeamtin wie Cynthia war die Kennzeichnung von Beweismaterial eine Routinesache. Nicht jedoch die Unterschlagung von Beweisstücken.

Rubys Stimme riß Ainslie aus seinen Gedanken. »Hängt dieser >ungelöste Mordfall< irgendwie mit dem Fall Ernst zusammen?«

Das war die nächste Frage, die auch Ainslie sich schon gestellt hatte. Es gab endlos viele Fragen. Hatte Patrick Jensen etwas mit der Ermordung des Ehepaars Ernst zu tun? Und hatte Cynthia ihm geholfen, dieses Verbrechen ebenso wie den Doppelmord vor sechs Jahren zu vertuschen?

Ein Gefühl tiefer Niedergeschlagenheit erfaßte Ainslie, während er über diese Möglichkeiten nachdachte. »Im Augenblick läßt sich nichts Bestimmtes sagen«, erklärte er Ruby. »Als erstes brauchen wir die Spurensicherung, damit sie den Inhalt dieses Kartons unter die Lupe nimmt.«

Er griff nach dem Hörer des einzigen Telefons in diesem winzigen Raum.

Загрузка...