FÜNFTER TEIL

1

Seit Malcolm Ainslie sich entschlossen hatte, ein Spurensicherungsteam in das nur vorübergehend benutzte kleine Büro im Präsidium zu beordern, waren ungeheuerliche Entdeckungen gemacht worden.

Die Gegenstände in dem von Ruby Bowe geöffneten Pappkarton schienen zu beweisen, daß Patrick Jensen vor sechseinhalb Jahren seine Exfrau Naomi und ihren Freund Kilburn Holmes erschossen hatte. Jensen war damals sofort verdächtigt worden, aber die Kriminalbeamten hatten ihm diese Tat nicht nachweisen können.

Der Kartoninhalt bewies aber auch, daß Cynthia Ernst, damals noch Beamtin der Mordkommission, die Beweise für Jensens Verbrechen absichtlich unterschlagen hatte. Obwohl diese Funde Ainslie entsetzten und deprimierten, unterdrückte er seine persönlichen Empfindungen und wartete ungeduldig auf das Eintreffen der Spurensicherung.

Julio Verona, der Chef der Spurensicherung, der selbst einen Blick auf das werfen wollte, was Ainslie entdeckt hatte, sah sich den Kartoninhalt an und erklärte dann: »Hier können wir nichts untersuchen. Das ganze Zeug muß ins Labor.«

Lieutenant Newbold, den Ainslie ebenfalls verständigt und über seinen Fund informiert hatte, nickte zustimmend. »Okay, aber untersuchen Sie alles so schnell wie möglich - und warnen Sie Ihre Leute, daß diese Sache ultrageheim ist; es darf keine undichte Stelle geben.«

»Es gibt keine. Dafür garantiere ich.«

Zwei Tage später, an einem Donnerstag, kam Verona um neun Uhr morgens mit dem Karton und seinem Untersuchungsbericht in das kleine Büro zurück. Dort erwarteten ihn Ainslie, Newbold, Ruby Bowe und Curzon Knowles, der Leiter der für Mordsachen zuständigen Staatsanwaltschaft. In dem winzigen Raum war so wenig Platz, daß alle fünf nur stehen konnten.

»Ich will mit den Plastikbeuteln beginnen«, erklärte Verona den anderen. »Vier von ihnen tragen Cynthia Ernsts Fingerabdrücke.« Wie sie alle wußten, wurden die Fingerabdrücke von Polizeibeamten gespeichert und auch dann nicht gelöscht, wenn jemand aus dem Dienst ausschied.

Der Chef der Spurensicherung fuhr fort: »Nun zur Beschriftung der Aufkleber. Wir haben handschriftliche Aktennotizen aus der Zeit, als Commissioner Ernst noch Major gewesen ist, und unser Graphologe hat eine hundertprozentige Übereinstimmung festgestellt.« Er schüttelte den Kopf. »Dieser Leichtsinn... sie muß verrückt gewesen sein.«

»Sie hat nie geglaubt, daß jemand diese Sachen finden würde«, stellte Knowles fest.

»Bitte weiter«, forderte Newbold Verona auf. »Was ist mit dem Revolver?«

Der Chef der Spurensicherung berichtete über die weiteren Untersuchungsergebnisse:

Der Revolver, ein Smith & Wesson Kaliber 38, trug Patrick Jensens Fingerabdrücke. Als vor einigen Jahren bei ihm eingebrochen worden war, hatte er sich zu Vergleichszwecken die Fingerabdrücke abnehmen lassen. Jensen hatte seine Fingerabdruckkarte damals routinemäßig zurückerhalten, ohne aber wie die meisten Nichtverdächtigen zu erfahren, daß seine Abdrücke gespeichert blieben.

Die ins Ballistiklabor geschickte Waffe wurde geladen und in einen Wassertank abgeschossen. Gleich danach wurde das Geschoß unter dem Mikroskop mit einem der beiden aufgefundenen tödlichen Geschosse verglichen. Die typischen Rillen und Riefen aus dem Waffenlauf waren identisch - auch beim Vergleich mit dem zweiten tödlichen Geschoß. »Das Untersuchungsergebnis ist eindeutig«, sagte Verona und zeigte in den Karton. »Dies ist der Revolver, mit dem die beiden Menschen erschossen worden sind.«

Die Blutspuren an einem T-Shirt und den Sportschuhen, die ebenfalls in dem Karton gelegen hatten, stammten nachweislich von Naomi Jensen und Kilburn Holmes.

»Und das hier ist der endgültige Beweis«, kündigte Verona an, indem er eine Tonbandkassette hochhielt. »Dies ist eine Kopie; das Original liegt wieder in seinem Plastikbeutel im Karton. Auf dem Tonband schildert Jensen den Tathergang -allerdings mit Lücken, als sei eine zweite Stimme nachträglich gelöscht worden.«

Er stellte einen kleinen Recorder auf den Tisch, legte die Kassette ein und drückte die Taste PLAY. Nach einigen Sekunden Stille waren Geräusche zu hören, als würden Gegenstände bewegt; dann sprach ein Mann mit stockender, immer wieder von Emotionen erstickter Stimme, die trotzdem deutlich zu verstehen war.

»Ich hab's nicht vorgehabt, hab's nicht geplant... aber ich habe den Gedanken, daß Naomi einen anderen hat, nie ertragen können... Als ich die beiden miteinander gesehen habe, sie und diesen Scheißkerl, bin ich ausgerastet, blind vor Wut gewesen... Ich hatte einen Revolver in der Tasche. Ich habe ihn gezogen und immer wieder abgedrückt... Plötzlich ist's vorbei gewesen... Dann habe ich gesehen, was ich getan hatte... O Gott, ich habe beide erschossen!«.

Danach folgte eine Pause. »Hier hat jemand einen Teil der Aufnahme gelöscht«, sagte Verona. Dann sprach die Männerstimme weiter.

»...Kilburn Holmes... Er ist Naomis Freund gewesen, hat dauernd mit ihr zusammengesteckt. Das haben mir andere Leute erzählt.«

Verona drückte die Taste STOP. »Den Rest können Sie sich später selbst anhören. Er besteht überwiegend aus kurzen Antworten auf gelöschte Fragen. Ich weiß natürlich nicht, ob das Jensens Stimme ist; ich habe ihn nie reden hören. Aber den Stimmenvergleich können wir nachholen.«

»Richtig«, stimmte Ainslie zu, »aber ich sage Ihnen schon jetzt, daß das Jensen gewesen ist.« Er dachte an ihre Begegnung bei Elroy Doils Hinrichtung.

Als Verona gegangen war, herrschte Schweigen, bis Lieutenant Newbold das Wort ergriff. »Hat noch jemand irgendwelche Zweifel?« Die anderen schüttelten nacheinander mit ernster Miene den Kopf.

»Warum?« fragte Newbold hörbar entsetzt. »Warum zum Teufel hat Cynthia das getan?«

Ainslie, der sichtlich mitgenommen wirkte, zuckte hilflos mit den Schultern.

»Ich könnte einige Vermutungen anstellen«, sagte Knowles. »Aber wenn wir mit Jensen reden, wissen wir mehr. Wir müssen ihn sofort vernehmen.«

»Wie sollen wir vorgehen, Counselor?« fragte Ainslie.

Der Staatsanwalt überlegte kurz. »Verhaften Sie ihn.« Er deutete auf den Karton vor ihnen. »Was wir an Beweismaterial brauchen, liegt alles hier drin. Ich stelle einen Haftbefehl aus; einer von Ihnen kann ihn unauffällig einem Richter zur Unterschrift vorlegen.«

»Das ist Charlie Thurstons Fall gewesen«, stellte Newbold fest. »Er sollte die Verhaftung vornehmen.«

»Meinetwegen«, stimmte Knowles zu. »Aber sonst darf niemand davon erfahren, und Sie warnen Thurston, daß er mit keinem Menschen darüber redet. Die Sache muß vorerst streng geheim bleiben.«

»Und was machen wir mit Cynthia?« fragte Newbold.

»Noch nichts; deshalb brauchen wir strikte Geheimhaltung. Ich muß erst mit Montesino reden. Bevor wir einen City Commissioner verhaften, will sie bestimmt eine Entscheidung der Anklagekammer herbeiführen. Deshalb darf Ernst nicht mal gerüchtweise etwas erfahren.«

»Wir tun unser Bestes«, versprach Newbold ihm. »Aber diese Sache ist brandheiß. Wenn wir uns nicht beeilen, schwirren bald alle möglichen Gerüchte herum.«

Am frühen Nachmittag wurde Detective Charlie Thurston in die Dienststelle zurückgerufen und erhielt den Haftbefehl gegen Patrick Jensen. Ruby Bowe würde ihn als Verstärkung begleiten. Newbold erklärte dem Veteranen Thurston: »Von dieser Sache darf sonst niemand erfahren. Niemand!«

»Mir nur recht«, bestätigte Thurston, dann fügte er hinzu: »Ich hab' mir schon lange gewünscht, diesen Scheißkerl Jensen verhaften zu dürfen.«

Vom Präsidium aus war es nicht weit zu Jensens Apartmentgebäude. Ruby, die den neutralen Dienstwagen fuhr, erkundigte sich unterwegs: »Hast du Probleme mit Jensen, Charlie? Du hast vorhin echt grimmig gewirkt.«

Thurston verzog das Gesicht. »Wahrscheinlich sind schlimme Erinnerungen hochgekommen. Ich habe bei unseren Ermittlungen viel mit Jensen zu tun gehabt, da wir ihn von Anfang an für den Mörder gehalten haben. Aber er war arrogant und aufgeblasen, als wüßte er genau, daß wir ihn nie drankriegen. Als ich ihm eines Tages noch ein paar Fragen stellen wollte, hat er mich lachend aufgefordert, ich solle mich zum Teufel scheren.«

»Glaubst du, daß er gewalttätig wird?«

»Leider nein.« Thurston lachte leise vor sich hin. »Schade, ich hätte ihm gern ein paar verpaßt. Hey, wir sind schon da!«

Als Ruby vor einem fünfstöckigen Gebäude in der Brickell Avenue hielt, studierte Thurston es mit zusammengekniffenen Augen. »Dem Kerl scheint's nicht mehr ganz so glänzend zu gehen; bei meinem letzten Besuch hat er noch 'ne Luxusvilla gehabt.« Er sah auf den Haftbefehl. »Hier steht Apartment dreinullacht. Also los!«

Wenige Sekunden später zeigte ein Blick auf die Klingelknöpfe neben dem verglasten Hauseingang, daß Jensen tatsächlich in Apartment 308 wohnte. Allerdings hatten die Kriminalbeamten nicht die Absicht, ihn von hier unten zu warnen. »Bestimmt kommt bald jemand«, meinte Thurston.

Sie brauchten tatsächlich nicht lange zu warten, bis eine zierliche ältere Frau in Baskenmütze, Tweedkostüm und hohen Stiefeln mit einem Cockerspaniel an der Leine die Eingangshalle durchquerte. Als sie die Glastür entriegelte, hielt Thurston ihr die Tür auf und wies seine Dienstplakette vor. »Wir sind Polizeibeamte, Ma'am, im Einsatz.«

Die Frau studierte auch Rubys Plakette. »Du lieber Gott, wo ich gerade gehen wollte! Wird's denn aufregend, Officers?«

»Leider nicht«, antwortete Thurston. »Wir stellen nur ein Strafmandat zu.«

Die Frau schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich habe mir Ihre Plaketten angesehen. Kriminalbeamte tun so was nicht.« Sie zog an der Leine. »Komm, Felix, wir sind hier offenbar unerwünscht.«

Thurston klopfte zweimal an die Tür von Apartment 308. Drinnen waren Schritte zu hören, dann fragte eine Männerstimme: »Wer ist da?«

»Polizei. Machen Sie bitte auf!«

Ein kleiner Lichtpunkt in Augenhöhe zeigte, daß der Spion benutzt wurde, bevor die Sicherungskette klirrte. Als die Tür geöffnet wurde, stieß Thurston sie sofort weit auf und trat über die Schwelle. Patrick Jensen, der ein Sporthemd und eine beige Sommerhose trug, wich einige Schritte zurück. Ruby, die hinter Thurston eintrat, schloß die Wohnungstür.

Mit dem Haftbefehl in der Hand sprach Thurston energisch weiter: »Patrick Jensen, ich habe einen Haftbefehl gegen Sie wegen Mordes an Naomi Jensen und Kilburn Holmes... Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie das Recht haben, die Aussage zu verweigern. Sie brauchen weder zu reden noch Fragen zu beantworten... Sie haben das Recht, einen Anwalt zu verlangen...« Während er den Verhafteten über seine Rechte belehrte, fiel Thurston auf, daß Jensen seltsam gleichmütig blieb. Fast als hätte er diesen Augenblick erwartet.

Nach dieser Belehrung fragte Jensen ruhig: »Darf ich von hier aus telefonieren?«

»Ja, aber ich muß Sie erst nach Waffen durchsuchen.« Als Jensen die Hände hob, tastete Thurston ihn ab und erklärte ihm dann: »Okay, Sir, Sie können jetzt telefonieren. Aber nur einmal.«

Jensen trat ans Telefon und tippte eine offenbar vertraute Nummer ein. Dann sagte er: »Stephen Cruz, bitte.« Wenige Sekunden später fuhr er fort: »Stephen, hier ist Patrick. Erinnerst du dich, daß ich davon gesprochen habe, ich könnte eines Tages deine Hilfe brauchen? Dieser Tag ist da. Ich bin verhaftet worden.« Wieder eine Pause, dann: »Mord.«

Danach hörte Jensen zu, während Cruz ihm offenbar Verhaltensanweisungen gab, und antwortete: »Ich habe nichts gesagt und werde nichts sagen.« Er wandte sich an die Kriminalbeamten. »Mein Anwalt möchte wissen, wohin Sie mich bringen.«

»Ins Präsidium«, antwortete Thurston. »Mordkommission.«

Jensen gab diese Information weiter und sagte: »Yeah, bis bald.« Er legte auf.

»Wir müssen Ihnen Handschellen anlegen, Sir«, sagte Ruby. »Möchten Sie erst eine Jacke anziehen?«

»Ja, das möchte ich.« Jensen wirkte überrascht. Er holte ein Sakko aus dem Kleiderschrank im Schlafzimmer und schlüpfte hinein, bevor Ruby ihm rasch die Hände auf dem Rücken fesselte.

»Sie benehmen sich beide sehr anständig«, stellte Jensen fest. »Danke.«

»Das kostet uns nichts«, bestätigte Thurston. »Wir können notfalls auch brutal sein. Aber so ist's uns lieber.«

Jensen starrte ihn forschend an. »Kennen wir uns nicht?«

»Ja, Sir. Wir kennen uns von früher.«

»Jetzt fällt's mir wieder ein. Ich bin damals ziemlich unverschämt gewesen.«

Der Kriminalbeamte zuckte mit den Schultern. »Das ist alles schon lange her.«

»Nicht zu lange für eine Entschuldigung - wenn Sie sie annehmen wollen.«

»Klar.« Thurstons Tonfall wurde geschäftsmäßig nüchtern. »Aber ich glaube, daß Sie jetzt andere, viel größere Sorgen haben. Kommen Sie, wir müssen gehen.«

Ruby Bowe sprach in ihr Mobiltelefon.

»Sie haben Jensen und sind hierher unterwegs«, sagte Ainslie zu Leo Newbold und Curzon Knowles. Der Staatsanwalt hatte sich inzwischen mit seiner Vorgesetzten Adele Montesino beraten und war eben zurückgekommen.

»Jensen hat bereits mit seinem Anwalt telefoniert«, fügte Ainslie hinzu. »Stephen Cruz. Auch er ist hierher unterwegs.«

Der Staatsanwalt nickte. »Eine gute Wahl. Cruz ist hartnäckig, aber auch jemand, mit dem man vernünftig reden kann.«

»Ja, ich kenne ihn«, bestätigte Newbold. »Aber er kann so gut sein, wie er will - gegen dieses neue Beweismaterial ist er machtlos.«

»Ich habe einen Idee, was den Kartoninhalt betrifft«, fuhr Knowles fort. »Was halten Sie davon, wenn wir das ganze Zeug in einem Vernehmungsraum auf dem Tisch ausbreiten, bevor Jensen eingeliefert wird? Sobald er dieses Material sieht, weiß er, daß er erledigt ist, und packt vielleicht aus.«

»Klasse Idee.« Newbold nickte Ainslie zu. »Nehmen Sie die Sache in die Hand, Malcolm?«

Im Polizeipräsidium mußte Jensen das Einlieferungsverfahren über sich ergehen lassen: Er beantwortete Fragen zur Person, bekam die Fingerabdrücke abgenommen, wurde fotografiert und mußte seinen Tascheninhalt gegen Quittung aushändigen. Er war ins Räderwerk einer unpersönlichen Maschinerie geraten, das wußte er. Würde er sich jemals wieder daraus befreien können? Er war etwas besorgt, aber vorerst noch weit davon entfernt, in Verzweiflung zu geraten.

Seit die Kriminalbeamten sein Apartment betreten hatten, befanden seine Gedanken sich in einem merkwürdigen Schwebezustand. Was heute geschehen war, hatte er seit langem befürchtet; der Gedanke daran hatte ihn monatelang als Alptraum verfolgt. Aber seit es nun Realität geworden war, hatte die unmittelbare Angst sich verflüchtigt - vielleicht wegen der unausweichlichen Konsequenzen. In blinder Eifersucht und Leidenschaft hatte er ein Kapitalverbrechen verübt, für das er jetzt nach Recht und Gesetz würde büßen müssen. Wie jeder andere Mensch würde er versuchen, der gerechten Strafe zu entgehen oder sie wenigstens zu minimieren, aber wie gut seine Aussichten in dieser Beziehung waren, würde sich erst zeigen müssen.

Vorerst wußte er natürlich noch nicht, welche Veränderung seine plötzliche Verhaftung ausgelöst hatte, aber er kannte das System gut genug, um zu wissen, daß sie wichtig und zwingend gewesen sein mußte. Wäre sie das nicht gewesen, hätten die Kriminalbeamten ihn erst zur Vernehmung geholt, um dann vielleicht einen Haftbefehl zu beantragen.

Nachdem die Formalitäten erledigt waren, wurde der Verhaftete - weiter in Handschellen - mit dem Aufzug zur Mordkommission hinaufgebracht und in einen Vernehmungsraum geführt.

Sobald Jensen den Raum betrat, sah er auf einem Tisch den geöffneten Pappkarton mit Cynthia Ernsts persönlichem blauen Klebeband stehen. Und neben dem Karton lag sein Inhalt ausgebreitet - das gesamte Beweismaterial in einer ordentlichen, deutlich sichtbaren, klar belastenden Reihenfolge.

Patrick blieb unwillkürlich stocksteif stehen, als jähes Begreifen, Verzweiflung und wilder Haß auf Cynthia sich seiner bemächtigten.

Im nächsten Augenblick fühlte er sich vorwärts geschoben. Der uniformierte Polizeibeamte, der ihn heraufgebracht hatte, drückte ihn auf einen Stuhl, fesselte ihn daran und ließ ihn allein.

Eine halbe Stunde war vergangen. Jetzt waren Malcolm Ainslie, Ruby Bowe, Curzon Knowles und Stephen Cruz bei Patrick Jensen im Vernehmungsraum. Die Kriminalbeamten hatten den Verhafteten absichtlich eine Zeitlang schmoren lassen.

»Alles das erkennen Sie bestimmt wieder«, sagte Ainslie zu Jensen, indem er auf die Gegenstände auf dem Tisch deutete. Alle anderen saßen; nur Ainslie umrundete den Tisch, während er sprach. »Vor allem den Revolver, mit dem Ihre geschiedene Frau Naomi und ihr Freund Holmes erschossen worden sind. Aus dieser Waffe, an der Ihre Fingerabdrücke gefunden worden sind, kamen die tödlichen Schüsse - das haben Sachverständige festgestellt, die vor Gericht aussagen werden. Und es gibt eine Tonbandaufnahme - unverkennbar mit Ihrer Stimme -, in der Sie selbst genau beschreiben, wie Sie die beiden erschossen haben. Soll ich sie Ihnen vorspielen?«

»Gib lieber keine Antwort«, riet Stephen Cruz seinem Mandanten. »Der Sergeant soll selbst entscheiden, ob er dir die Aufnahme vorspielen will. Und du brauchst dich auch zu keinem der übrigen angesprochenen Punkte zu äußern.«

Cruz, ein schmächtiger Enddreißiger mit scharfer, energischer Stimme, war nur wenige Minuten nach Jensens Einlieferung im Präsidium erschienen. Während er warten mußte, hatte er sich freundlich mit Knowles und Newbold unterhalten, denen er dann in den Vernehmungsraum folgte.

Jensen, der sichtlich deprimiert wirkte, starrte Cruz an. »Ich müßte dringend unter vier Augen mit dir reden. Läßt sich das machen?«

»Klar.« Der Anwalt nickte. »Du kannst jederzeit eine Aussprache verlangen. Aber dazu mußt du erst...«

»Nein, das ist nicht nötig«, unterbrach Knowles ihn. »Wir drei gehen hinaus und lassen Sie mit ihm allein. Einverstanden, Sergeant?«

»Natürlich«, sagte Ainslie. Er sammelte das Beweismaterial ein und folgte Knowles und Ruby Bowe hinaus.

Patrick Jensen, der keine Handschellen mehr trug, rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. »Woher wissen wir, daß wir nicht abgehört werden?« fragte er.

»Aus zwei Gründen«, erklärte Cruz ihm gelassen. »Erstens gilt auch hier das Anwaltsgeheimnis. Zweitens müßten sie mit einem Disziplinarverfahren rechnen, wenn sie dabei erwischt würden.« Er machte eine Pause, um seinen Racquetballpartner und neuen Mandanten prüfend zu mustern. »Du wolltest mit mir reden, also bitte.«

Jensen holte tief Luft und atmete langsam aus, als hoffe er, damit Ordnung in seine wirren Gedanken bringen zu können. Er hatte die ständigen Lügen satt und wollte wenigstens hier und jetzt die Wahrheit sagen. Obwohl er nicht wußte, wie die Polizei zu diesem verdammten Karton gekommen war, stand für ihn fest, daß das Cynthias Schuld war. Sie hatte ihn damals in dem Glauben gelassen, sie werde dieses Belastungsmaterial vernichten. Aber trotz allem, was er riskiert hatte, um sie zu schützen und ihr zu helfen, hatte sie ihn schmählich hintergangen, indem sie das ganze Zeug irgendwo aufbewahrt hatte. Dafür würde er sich jetzt rächen, indem er auch sein Versprechen brach.

Jensen sah zu Cruz auf. »Du hast gehört, was der Sergeant gesagt hat«, begann er. »Nun, Steve, an der Waffe sind meine Fingerabdrücke. Die abgefeuerten Geschosse sind sicher identisch, und auf dem Tonband, das wir nicht gehört haben, ist meine Stimme zu hören. Okay, was sagst du dazu?«

»Ich habe den starken Verdacht«, antwortete Cruz, »daß du tief in der Scheiße steckst.«

»Tatsächlich«, sagte Jensen, »stecke ich tiefer drin, als du denkst.«

2

»Ich werde dir alles erzählen«, sagte Jensen, der mit seinem Anwalt Stephen Cruz in einem Vernehmungsraum der Mordkommission saß.

Während seine Geschichte aus ihm heraussprudelte, bemühte Cruz sich, Entsetzen, Ungläubigkeit und zuletzt Resignation zu verbergen, was ihm jedoch nur unvollständig gelang. Nach langer, nachdenklicher Pause fragte er schließlich: »Patrick, das hast du nicht bloß erfunden, das ist nicht etwa nur ein Expose für einen neuen Roman? Du willst mir diese Story nicht bloß erzählen, um zu hören, was ich davon halte?«

»Früher hätte ich so etwas vielleicht getan«, antwortete Jensen niedergeschlagen. »Leider ist jedes Wort wahr.«

Jensen empfand gewisse Erleichterung darüber, daß nun wenigstens in diesem beschränkten Rahmen alles an den Tag gekommen war. Schon die Tatsache, daß er darüber reden konnte, schien die Last, die er so lange allein getragen hatte, spürbar leichter zu machen. Aber sein gesunder Menschenverstand warnte ihn, dieses Gefühl sei vermutlich nur eine Illusion. Was Cruz als nächstes sagte, bestätigte seinen Verdacht.

»Ich glaube, du brauchst weniger einen Anwalt als einen Geistlichen oder sonst jemanden, der mit dir betet.«

»Vielleicht später einmal, wenn ich keinen anderen Ausweg mehr sehe«, wehrte Jensen ab. »Vorerst habe ich einen Anwalt, von dem ich Tatsachen hören möchte: Wo stehe ich? Was sollte ich anstreben? Wie stehen meine Chancen?«

»Also gut.« Cruz stand auf, ging in dem kleinen Raum auf und ab und behielt Jensen im Auge, während er sprach. »Nach eigener Aussage bist du in fünf Morde verwickelt, die du zum Teil selbst verübt hast. Angefangen hat's mit deiner Exfrau und ihrem Geliebten; danach kommt Rice, dieser Mann im Rollstuhl. Und dann kommen Gustav und Eleanor Ernst, die wichtige Leute gewesen sind, was sehr wohl einen Unterschied macht; im Fall Ernst liegt eindeutig Mord vor. Wegen der Ermordung des Ehepaars Ernst - vielleicht auch wegen der beiden ersten Opfer -könntest du zum Tod verurteilt werden. Was hältst du von diesen Tatsachen?«

Jensen wollte etwas sagen, aber Cruz brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Hättest du nur deine Exfrau und ihren Geliebten erschossen, hätte ich auf ein Verbrechen aus Leidenschaft plädieren können. Du hättest dich wegen Totschlags schuldig bekannt, worauf bei Schußwaffengebrauch eine Höchststrafe von dreißig Jahren steht. Da du nicht vorbestraft bist, hätte ich erreicht, daß du mit fünfzehn, vielleicht sogar nur zehn Jahren davonkommst. Aber mit weiteren Morden in den Kulissen...« Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Damit ändert sich alles.«

Cruz sah aus dem Fenster. »Mit einer Tatsache solltest du dich schon jetzt abfinden, Patrick. Selbst wenn du der Todesstrafe entgehst, wirst du unweigerlich zu einer Haftstrafe verurteilt, bestimmt zu einer sehr hohen. Ich halte es für unwahrscheinlich, daß wir jemals wieder Racquetball miteinander spielen können.«

Jensen verzog das Gesicht. »Nachdem du jetzt weißt, was für ein Schuft ich bin, würdest du wahrscheinlich nicht mehr mit mir spielen wollen.«

Cruz machte eine wegwerfende Handbewegung. »Solche Bewertungen überlasse ich Richtern und Geschworenen. Solange ich dein Anwalt bin - wir müssen übrigens bald über Geld reden, und ich warne dich: Ich bin nicht billig -, hast du wie alle meine Mandanten Anspruch darauf, daß ich mein Bestes für dich gebe, und ich versichere dir, ich bin gut!«

»Das akzeptiere ich alles«, sagte Jensen. »Aber ich habe noch eine Frage.«

Cruz nahm wieder Platz. »Bitte!«

»Wie sieht Cynthias rechtliche Position aus?« fragte Jensen. »Ich meine, nachdem sie erst verschwiegen hat, was sie über den Mord an Naomi und Holmes wußte, und dann alles Beweismaterial - Revolver, Kleidungsstücke, Tonband und so weiter verschwinden ließ?«

»Sie wird sicher wegen Behinderung der Justiz angeklagt, was ein Verbrechen und im Zusammenhang mit einem Mord besonders schwerwiegend ist, und dürfte außerdem der Strafvereitelung beschuldigt werden, wofür ihr eine Gesamtstrafe von fünf bis zehn Jahren Haft droht. Nimmt sie sich einen erstklassigen Anwalt, kommt sie vielleicht mit zwei Jahren Haft oder sogar, was aber unwahrscheinlich ist, mit einer Bewährungsstrafe davon. Jedenfalls ist ihre Karriere im öffentlichen Dienst damit zu Ende.«

»Das heißt also, daß Cynthia wesentlich besser wegkäme als ich.«

»Natürlich. Du hast gestanden, die beiden ermordet zu haben. Sie hat vorher nichts von deiner Absicht gewußt, und was sie getan hat, ist alles nach der Tat passiert.«

»Aber was ist mit dem Mord an Cynthias Eltern? Davon hat sie vorher gewußt. Sie hat ihn selbst geplant!«

»Ja, das behauptest du. Und ich neige dazu, dir zu glauben. Aber Cynthia Ernst wird alles leugnen, und wie willst du das Gegenteil beweisen? Ist sie zum Beispiel jemals mit diesem Virgilio zusammengetroffen, den du als den wahren Mörder bezeichnest?«

»Nein.«

»Hat sie jemals etwas schriftlich festgelegt?«

»Nein.« Jensen machte eine Pause. »Doch, eigentlich schon. Nicht viel, aber...« Er beschrieb die Werbebroschüre mit dem Straßenplan von Bay Point, auf dem Cynthia das Haus ihrer Eltern angekreuzt und dann in seiner Gegenwart vermerkt hatte, wann das Dienstmädchen dort arbeitete und daß der Butler Palacio und seine Frau jeden Donnerstagabend außer Haus waren.

»Wieviel hat sie geschrieben?«

»Vielleicht ein Dutzend Wörter - wenn man die Abkürzungen mitzählt. Aber eindeutig in ihrer Handschrift.«

»Du hast recht, das ist nicht viel. Sonst noch was?« Während sie miteinander sprachen, machte Cruz sich Notizen.

»Na ja, wir sind zusammen auf den Cayman Islands gewesen, drei Tage auf Grand Cayman. Dort hat Cynthia mir erstmals erzählt, sie wolle ihre Eltern ermorden.«

»Bestimmt nicht vor Zeugen?«

»Okay, das könnte ich also nicht beweisen. Aber...« Cruz hörte zu, während Jensen ihm schilderte, wie sie einzeln angereist waren und in getrennten Hotels gewohnt hatten. »Ich bin mit Cayman Airways geflogen und habe mein Ticket aufbewahrt. Sie ist unter dem Namen Hilda Shaw mit American Airlines geflogen; ich habe ihr Ticket gesehen.«

»Weißt du zufällig die Flugnummer?«

»Sie hat die Morgenmaschine genommen; da gibt's nur eine. Der Name Shaw muß auf der Passagierliste stehen.«

»Was immer noch nichts beweist.«

»Es beweist einen Zusammenhang, weil Cynthia später diese vierhunderttausend Dollar von ihrem Konto bei einer Bank auf Grand Cayman abgehoben haben muß.«

Cruz hob abwehrend die Hände. »Kannst du dir vorstellen, wie aussichtslos es wäre, eine dortige Bank zu einer Aussage über ein Kundenkonto zu bewegen?«

»Natürlich. Aber was wäre, wenn Cynthias Bankkonto bei der hiesigen Steuerbehörde aktenkundig wäre?«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil's so ist!« Jensen schilderte, wie er einen Blick in Cynthias Aktenkoffer geworfen, die Kontounterlagen entdeckt und sich die wichtigsten Punkte notiert hatte. »Ich habe den Namen ihrer Bank, die Kontonummer, das damalige Guthaben und den Namen des Mannes, der ihr das Geld geschenkt hat. Dieser >Onkel Zachary< ist Gustav Ernsts Bruder, der auf den Cayman Islands lebt.«

»Jetzt kann ich mir vorstellen, wie du Bücher geschrieben hast«, sagte der Anwalt. »Wer hat die Steuerbehörde ins Spiel gebracht?«

»Cynthia selbst. Um nicht gegen amerikanische Gesetze zu verstoßen, hat sie sich an ihren Steuerberater gewandt - ich habe seinen Namen und seine Adresse in Fort Lauderdale -, der ihr mitgeteilt hat, alles sei okay, wenn sie die Zinsen als Einkommen angebe und versteuere. Das hat sie auch getan. Dazu gibt es ein Schreiben der Steuerbehörde.«

»Dessen Einzelheiten du bestimmt auch kennst.«

»Ja.«

»Erinnere mich daran«, sagte Cruz, »niemals meinen Aktenkoffer aus der Hand zu legen, wenn du in der Nähe bist.« Er lächelte schwach. »Obwohl diese Sache nicht viel Lustiges an sich hat, ist es fast amüsant, wie Cynthia Ernst im Bestreben, alles legal abzuwickeln, Fakten geschaffen hat, die sie belasten könnten. Andererseits beweist ihr vieles Geld überhaupt nichts, es sei denn...«

»Es sei denn?«

»Es sei denn, dein selbstgefälliges Grinsen - das mir übrigens nicht gefällt - würde bedeuten, daß du noch mehr hast. Also heraus damit!«

»Okay«, sagte Jensen. »Ich habe eine Tonbandaufnahme, ein anderes Tonband. Es liegt in einem Banksafe und enthält den Beweis für alles, was ich dir erzählt habe. Und alle Papiere, die ich erwähnt habe - der Prospekt mit Cynthias Handschrift, meine Aufzeichnungen über die Unterlagen aus ihrem Aktenkoffer und mein Flugticket -, liegen auch darin.«

»Schluß mit den Andeutungen!« Cruz beugte sich zu Jensen hinüber und flüsterte drohend: »Dies ist kein gottverdammtes Spiel, Patrick. Du könntest auf dem besten Weg zum elektrischen Stuhl sein, deshalb muß ich sofort wissen, ob du tatsächlich eine wichtige Aufnahme hast, verstanden?«

Jensen nickte eingeschüchtert; dann beschrieb er die Aufnahme, die er vor eindreiviertel Jahren bei dem Mittagessen in Boca Raton gemacht hatte. Damals hatte Cynthia sich damit einverstanden erklärt, Virgilio als Killer anzuheuern, und zugestimmt, Virgilio und Jensen je zweihunderttausend Dollar zu zahlen; sie hatte ihren eigenen Plan erläutert, den Mord an ihren Eltern als die Tat eines Serienmörders hinzustellen, und von Jensen erfahren, daß Virgilio den Rollstuhlmord verübt hatte - eine Tatsache, die sie ebenfalls für sich behalten hatte.

»Du lieber Himmel!« Der Anwalt schüttelte staunend den Kopf. »Zählt man das alles zusammen, könnte es alles ändern... Okay, natürlich nicht alles. Aber ziemlich viel.«

»Mein Mandant ist bereit, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, wenn ihm dafür bestimmte Gegenleistungen garantiert werden«, teilte Stephen Cruz dem Staatsanwalt mit, als sie wieder zu fünft im Vernehmungsraum der Mordkommission saßen.

»In welcher Beziehung will er mit uns zusammenarbeiten?« fragte Curzon Knowles. »Unser Beweismaterial reicht für eine Verurteilung Mr. Jensens wegen Mordes an Naomi Jensen und Kilburn Holmes aus. Meiner Überzeugung nach können wir wahrscheinlich sogar die Todesstrafe erwirken.«

Jensen wurde blaß. Er streckte eine Hand aus und berührte den Arm seines Anwalts. »Los, erzähl's ihm.«

Cruz drehte sich nach ihm um und funkelte ihn an.

»Was sollen Sie mir erzählen?« fragte Knowles mit schwachem Lächeln.

Cruz fand seine Selbstbeherrschung wieder. »Nun, aus meiner Sicht haben Sie sehr viel weniger Beweise, mit denen Sie Commissioner Cynthia Ernst konfrontieren können.«

»Ich weiß nicht, warum Sie sich darüber den Kopf zerbrechen, Steve, aber ich kann Ihnen versichern, daß sie ausreichen. Sie hat als Polizeibeamtin einem Verbrechen Vorschub geleistet, es geduldet und verheimlicht. Wir werden vermutlich zwanzig Jahre Haft beantragen.«

»Und womöglich einen Richter finden, der sie zu fünf oder auch nur zwei Jahren verurteilt. Sie könnte sogar auf Bewährung freikommen.«

»Eine Bewährungsstrafe ist ausgeschlossen, aber ich verstehe noch immer nicht... «

»Das wird Ihnen gleich klarwerden«, versicherte Cruz ihm. »Hören Sie sich bitte folgendes an: Kommt die Anklagebehörde ihm entgegen, kann mein Mandant dafür sorgen, daß Sie einen weit größeren Fisch an die Angel bekommen - Cynthia Ernst als Organisatorin des Mordes an ihren Eltern, Gustav und Eleanor Ernst.« Im Vernehmungsraum herrschte atemlose Stille. Alle Augen waren auf Cruz gerichtet. »Welches Strafmaß Sie dafür beantragen wollen, müßten Montesino und Sie entscheiden, Curzon - aber in diesem Fall könnten sie natürlich bis an die Höchstgrenze gehen.«

Anwälte und Staatsanwälte lernen frühzeitig, sich eisern zu beherrschen, und auch Knowles verzog keine Miene. Aber er zögerte merklich, bevor er fragte: »Und durch welche Hexerei wäre Ihr Mandant dazu imstande?«

»Er bewahrt in einem sicheren Geheimversteck zwei Schriftstücke, die Ms. Ernst belasten, und - noch wichtiger - eine unbearbeitete Tonbandkassette auf. Dieser Originalmitschnitt eines Gesprächs mit Cynthia Ernst enthält sämtliche Beweise, die Sie für eine Verurteilung brauchen.«

Mit Hilfe seiner Notizen faßte Cruz zusammen, welche Aussagen Cynthias das Band enthielt, ohne dabei Patrick Jensen oder den Rollstuhlmord zu erwähnen. Abschließend stellte er fest: »Außerdem wird auf dem Band als eine Art Dreingabe der Name eines Mannes genannt, der einen ganz anderen, bisher nicht aufgeklärten Mord verübt hat.«

»Ist Ihr Mandant in diese beiden weiteren Straftaten verwickelt?«

Der Anwalt lächelte. »Diese Frage möchte ich im Interesse meines Mandanten vorerst nicht beantworten.«

»Haben Sie diese angeblich existierende Aufnahme schon gehört, Counselor? Oder die versteckten Schriftstücke im Original gesehen?«

»Nein, bisher nicht.« Cruz hatte mit dieser Frage gerechnet. »Aber ich vertraue darauf, daß mein Mandant den Inhalt zutreffend wiedergegeben hat. Außerdem müßte über alles, worauf Sie und ich uns vielleicht einigen, neu verhandelt werden, falls das übergebene Beweismaterial doch weniger brauchbar wäre.«

»Dann wäre unsere Übereinkunft null und nichtig«, stellte Knowles fest.

Cruz zuckte mit den Schultern. »Vermutlich.«

»Aber nehmen wir mal an, dieses Material wäre brauchbar was würden Sie dafür erwarten?«

»Für meinen Mandanten? Nun, unter Berücksichtigung aller Umstände sollte die Anklage auf Totschlag lauten.«

Knowles warf seinen Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Respekt, Steve! Das macht Ihnen so leicht keiner nach! Aber mir ist's ein Rätsel, wie Sie's schaffen, unter solchen Umständen eine milde Bestrafung vorzuschlagen, ohne dabei rot zu werden.«

Cruz zuckte mit den Schultern. »Ich halte meinen Vorschlag für vernünftig. Aber wie sieht Ihr Gegenangebot aus?«

»Ich habe keines, denn was wir tun konnten, haben wir getan«, erklärte Knowles ihm. »Alle weiteren Entscheidungen muß Adele Montesino treffen, die uns zu sich bestellen wird, vermutlich noch heute.« Der Staatsanwalt wandte sich an Ainslie. »Malcolm, wir machen Schluß. Ich muß dringend telefonieren.«

Knowles fuhr zu Generalstaatsanwältin Montesino, während Stephen Cruz in seine Kanzlei in der Innenstadt zurückkehrte und dort abrufbereit blieb.

Weil abzusehen war, daß das Police Department in diese Sache hineingezogen werden würde, hatte Lieutenant Newbold inzwischen Major Manolo Yanes, der als Leiter des Referats Verbrechen gegen Personen sein Vorgesetzter war, in groben Zügen über den Verdacht gegen Cynthia Ernst informiert. Yanes hatte seinerzeit mit Major Mark Figueras gesprochen, und der Leiter der Abteilung Verbrechensbekämpfung setzte sofort eine Besprechung in seinem Dienstzimmer an.

Als Newbold mit Ainslie und Ruby Bowe eintraf, wurden sie bereits von Yanes und Figueras erwartet. Vom Kopfende seines rechteckigen Konferenztischs aus forderte Figueras nachdrücklich: »Wir müssen alles durchsprechen, was bisher bekannt ist - alles

Obwohl ihre Vorgesetzten regelmäßig über die Tätigkeit der Mordkommission informiert wurden, erfuhren sie aus Geheimhaltungsgründen selten Details laufender Ermittlungen. Auf Newbolds Aufforderung hin schilderte Ainslie jetzt jedoch seine frühen Zweifel in bezug auf den Mordfall Ernst, die sich bestätigt hatten, als Elroy Doil zwar vierzehn Morde gestanden, aber strikt geleugnet hatte, auch das Ehepaar Ernst ermordet zu haben. »Obwohl Doil uns natürlich als pathologischer Lügner bekannt war, habe ich mit Erlaubnis des Lieutenants weitere Nachforschungen angestellt.« Ainslie erläuterte, wie er die Ermittlungsakten durchforstet, Unstimmigkeiten gefunden und Bowe ins Metro-Dade Police Department und nach Tampa geschickt hatte.

Er nickte Ruby zu, die nun weiterberichtete, während Yanes und Figueras ihr aufmerksam zuhörten. Dann faßte Ainslie zusammen: »Die entscheidende Frage war: Hat Doil wirklich in allen Punkten außer dem Fall Ernst die Wahrheit gesagt? Seit sich das bestätigt hat, glaube ich, daß Doil nicht der Mörder der Ernsts ist.«

»Das ist natürlich kein Beweis«, sagte Figueras nachdenklich, »aber eine begründete Annahme, Sergeant, die ich teilen würde.«

Als nächstes ließ Ainslie Ruby Bowe schildern, wie sie die am Tatort beschlagnahmten Papiere gesichtet, dabei erschreckende Aufschlüsse über Cynthias Kindheit erhalten und zuletzt einen ganzen Karton voller Beweise für den von Patrick Jensen verübten Doppelmord entdeckt hatte - Beweismaterial, das Cynthia Ernst absichtlich unterschlagen hatte.

Abschließend schilderte Ainslie, wie Jensen heute verhaftet worden war, worauf er Cynthia Ernst belastet und angeboten hatte, dem Staatsanwalt Schriftstücke und ein Tonband zu übergeben.

Obwohl Yanes und Figueras als Veteranen abgebrüht waren, wirkten beide wie vor den Kopf geschlagen. »Haben wir irgendeinen Beweis dafür«, fragte Yanes, »daß Cynthia Ernst in den Mord an ihren Eltern verwickelt ist?«

»Vorerst nicht, Sir«, gab Ainslie zu. »Daher sind Jensens Tonband und die Schriftstücke - falls sie so belastend sind, wie sein Anwalt behauptet - ungeheuer wichtig. Morgen müßte der Staatsanwalt das ganze Material haben.«

»Okay, das muß ich erst mal nach oben weitermelden«, entschied Figueras. Er sah zu Newbold hinüber. »Sollte wirklich ein City Commissioner verhaftet werden, müssen wir sehr behutsam vorgehen. Diese Sache ist verdammt heiß.« Er nahm seine Brille ab, rieb sich die Augen und murmelte: »Mein Vater wollte immer, daß ich Arzt werde.«

»Wir wollen keine Zeit mit Spielchen vergeuden«, sagte Floridas Generalstaatsanwältin Adele Montesino streng zu Stephen Cruz. »Curzon hat mir von Ihrer verrückten Idee erzählt, Ihr Mandant könnte sich wegen Totschlags schuldig bekennen. Okay, Sie haben sich einen kleinen Scherz erlaubt, aber jetzt befassen wir uns mit der Realität. Mein Angebot lautet folgendermaßen: Ist das Beweismaterial, das Ihr Mandant uns anbietet, so gut, wie er behauptet, und ist er bereit, es vor Gericht durch seine Aussage zu bestätigen, verzichten wir darauf, für ihn die Todesstrafe zu beantragen.«

»Halt, nicht so schnell!« protestierte Cruz mit erhobener Stimme.

An diesem Spätnachmittag saßen sie in Montesinos imponierendem Büro mit mahagonigetäfelten Wänden und Bücherschränken voller gewichtiger juristischer Fachwerke. Das große Fenster führte auf einen Innenhof mit einem Springbrunnen hinaus; dahinter waren Bürohochhäuser und in der Ferne das Meer zu sehen. Als Eßtisch hätte Montesinos riesiger Schreibtisch zwölf Personen Platz geboten. In einem nach allen Richtungen dreh- und kippbaren Ledersessel hinter dem Schreibtisch saß die Generalstaatsanwältin - eine kleine, untersetzte Gestalt, die ihrem beruflichen Spitznamen »Bullterrier« wieder einmal alle Ehre machte.

Stephen Cruz, der Curzon Knowles rechts neben sich hatte, saß Montesino gegenüber.

»Halt, nicht so schnell!« wiederholte Cruz. »Das ist kein Entgegenkommen, denn mein Mandant hat ein Verbrechen aus Leidenschaft verübt... Sie erinnern sich an Leidenschaft, Adele -Liebe und Haß.« Dabei lächelte er plötzlich.

»Danke, daß Sie mich daran erinnert haben, Steve.« Montesino, die nur wenige mit ihrem Vornamen anzusprechen wagten, war dafür bekannt, Sinn für Humor und Wortgefechte zu haben. »Aber ich möchte auch Sie an etwas erinnern: an die Möglichkeit, daß Ihr Mandant in ein weiteres Schwerverbrechen verwickelt ist - in den Fall Ernst, bei dem eindeutig Mord vorliegt. Unter diesen Umständen ist mein Angebot, nicht die Todesstrafe zu beantragen, sogar großzügig.«

»Um das beurteilen zu können«, wandte Cruz ein, »müßte man die Alternative kennen.«

»Die kennen Sie genau. Lebenslänglich.«

»Aber doch wenigstens mit einer Anmerkung - mit einer bei der Urteilsverkündung ausgesprochenen Empfehlung, dem Gouverneur nach zehn Jahren eine Begnadigung nahezulegen?«

»Ausgeschlossen!« wehrte Montesino ab. »Das gibt's nicht mehr, seit wir den Bewährungsausschuß abgeschafft haben.«

Wie alle drei wußten, hatte Cruz damit eine sehr entfernte Möglichkeit angesprochen. Seit 1995 bedeutete lebenslänglich in Florida genau das, was das Wort besagte - lebenslängliche Haft. Gewiß, jeder Häftling konnte nach zehn Jahren ein Gnadengesuch einreichen, aber für die meisten - insbesondere für Mörder - bestand kaum Hoffnung, daß der Gouverneur sie begnadigen würde.

Falls Cruz enttäuscht war, ließ er sich nichts anmerken. »Übersehen Sie dabei nicht etwas? Angesichts dieser schlimmen Alternativen könnte mein Mandant beschließen, die Beweise nicht vorzulegen und seine Chance im Schwurgerichtsverfahren zu suchen.«

Montesino nickte Knowles zu. »Über diese Möglichkeit haben wir schon gesprochen«, sagte der Staatsanwalt. »Unserer

Überzeugung nach führt Ihr Mandant einen persönlichen Rachefeldzug gegen Ms. Ernst und würde das Belastungsmaterial auf jeden Fall vorlegen.«

»Wir sind bereit, über eine Absprache wegen des Strafmaßes nachzudenken«, fügte Adele Montesino hinzu, »sobald alle Beweise auf dem Tisch liegen und wir wissen, was Ihr Mandant wirklich verbrochen hat. Aber über mein Angebot hinausgehende Garantien wird's nicht geben. Also Schluß mit den Spitzfindigkeiten, Schluß mit dieser Diskussion. Auf Wiedersehen, Counselor.«

Knowles begleitete Cruz hinaus. »Wollen Sie unser Angebot annehmen, müssen Sie sich schnell melden - und mit >schnell< meine ich noch heute.«

»Mein Gott, für den Rest meines Lebens hinter Gitter! Das ist unmöglich, unvorstellbar!« jammerte Jensen.

»Es mag unvorstellbar sein«, sagte Stephen Cruz, »aber in deinem Fall ist's nicht unmöglich. Das ist der beste Deal, den ich für dich rausholen konnte, und wenn du nicht lieber auf den elektrischen Stuhl willst, mit dem du nach der Sachlage rechnen mußt, rate ich dir, dieses Angebot anzunehmen.« Wie Cruz aus Erfahrung wußte, kam im Gespräch mit Mandanten, denen man unangenehme Wahrheiten mitzuteilen hatte, irgendwann der Zeitpunkt für klare, deutliche Worte.

Die beiden saßen im Dade-County-Gefängnis in einem Vernehmungsraum. Jensen war in Handschellen aus seiner Zelle hergebracht worden, in die er aus dem nur einen Wohnblock entfernten Polizeipräsidium verlegt worden war. Draußen war es bereits dunkel. Für diesen späten Besuch hatte Cruz eine Sondergenehmigung gebraucht, aber ein Anruf der Staatsanwaltschaft hatte ihm den Weg geebnet.

»Es gibt noch eine weitere Möglichkeit, auf die ich dich als dein Anwalt hinweisen muß. Du könntest das Tonband und die übrigen Beweise nicht vorlegen und dich nur wegen der Ermordung Naomis und ihres Geliebten vor Gericht verantworten. Dann müßtest du allerdings ständig damit rechnen, daß später Beweise auftauchen, die Cynthia und dich wegen der Ermordung des Ehepaars Ernst belasten.«

»Die tauchen bestimmt auf«, sagte Jensen bedrückt. »Nachdem ich davon gesprochen habe, werden die Cops - in erster Linie Ainslie - nicht lockerlassen, bis sie alles beweisen können. Ainslie hat unmittelbar vor der Hinrichtung mit Doil gesprochen; er wollte Cynthia anschließend etwas mitteilen, das Doil über ihre Eltern gesagt hat, aber sie ist ihm ins Wort gefallen. Ich weiß, daß Cynthia starr vor Angst gewesen ist, weil sie sich gefragt hat, wieviel Ainslie rausgekriegt haben mag.«

»Du weißt, daß Ainslie ein ehemaliger Priester ist?«

»Yeah. Vielleicht befähigt ihn das zu ungewöhnlichen Einsichten.« Jensens Entschluß schien festzustehen; er schüttelte den Kopf. »Ich werde das Tonband und die übrigen Beweise nicht zurückhalten. Ich will, daß alles rauskommt. Teils, weil ich die ständigen Lügen satt habe, teils weil ich unabhängig davon, was mir passiert, dafür sorgen will, daß auch Cynthia nicht straffrei ausgeht.«

»Dann sind wir wieder bei dem Deal, den die Staatsanwaltschaft angeboten hat«, stellte Cruz fest. »Ich habe versprochen, deine Antwort noch heute abend zu überbringen.«

Ihr Gespräch dauerte eine weitere halbe Stunde, bis Jensen schließlich unter Tränen eingestand: »Ich will nicht auf dem Stuhl sterben, und wenn das die einzige Möglichkeit ist, ihm zu entgehen, muß ich wohl zustimmen.« Er seufzte schwer. »Vor ein paar Jahren, als ich noch obenauf gewesen bin, als ich alles hatte, was man sich nur wünschen konnte, hätte ich mir nie träumen lassen, daß ich jemals in diese Lage geraten könnte.«

»Leider«, bestätigte Cruz, »bist du nicht der einzige, von dem ich diese Klage gehört habe.«

Als Cruz von einem Gefängniswärter begleitet den Vernehmungsraum verließ, rief er Jensen noch zu: »Morgen früh sorge ich als erstes dafür, daß du das Tonband und die Papiere abholen kannst!«

Am nächsten Morgen betrat Malcolm Ainslie als einer der ersten Kunden die First Union Bank in Coral Gables und ging direkt ins Büro des Filialleiters. Eine Sekretärin schien ihn aufhalten zu wollen, aber Ainslie wies seine Polizeiplakette vor und marschierte weiter.

Der Filialleiter, ein sportlicher Mittvierziger, lächelte beim Anblick von Ainslies Plakette. »Na ja, ich gebe zu, daß ich heute morgen auf dem Weg zur Bank vielleicht ein bißchen zu schnell gefahren bin.«

»Darüber sehen wir hinweg«, sagte Ainslie, »wenn Sie uns bei einem kleinen Problem behilflich sind.«

Er erklärte dem Filialleiter, ein gegenwärtig inhaftierter Kunde der Bank warte draußen in einem neutralen Dienstwagen. Er solle zu seinem Schließfach begleitet werden, um es zu öffnen, damit die Polizei seinen Inhalt sicherstellen könne. »Das tut Ihr Kunde völlig freiwillig - Sie können ihn selbst fragen, wenn Sie wollen -, deshalb brauchen wir keinen Durchsuchungsbefehl, aber wir möchten diese Sache rasch und diskret abwickeln.«

»Ich natürlich auch«, bestätigte der Filialleiter. »Haben Sie...«

»Ja, Sir.« Ainslie gab ihm den Zettel, auf den Jensen seinen Namen und die Schließfachnummer geschrieben hatte.

Der Filialleiter zog die Augenbrauen hoch, als er den Namen las. »Das erinnert an eine Szene aus einem von Mr. Jensens Büchern.«

»Schon möglich«, stimmte Ainslie zu. »Nur ist sie leider nicht erfunden.«

An diesem Freitagmorgen war Ainslie als erstes in die Asservatenkammer gegangen, in dem Jensens persönlicher Besitz, den er unmittelbar nach seiner Einlieferung hatte abgeben müssen, aufbewahrt wurde. Zu den dort lagernden Gegenständen gehörte ein Schlüsselring, von dem Ainslie den Schlüssel abnahm, der offenbar zu einem Bankschließfach paßte.

Der eigentliche Vorgang im Schließfachraum der Bank dauerte nicht lange. Patrick Jensen, dessen Hände fei waren, obwohl sein linkes Handgelenk an Ruby Bowes rechtes gefesselt war, leistete die erforderliche Unterschrift und sperrte das Schließfach mit seinem Schlüssel auf.

Sobald die Kassette herausgezogen war, trat eine Technikerin aus der Abteilung Spurensicherung vor. Sie öffnete den Deckel mit Gummihandschuhen an den Händen und nahm vier Gegenstände heraus: eine alte zusammengefaltete Immobilienbroschüre, eine beschriebene Notizbuchseite, ein benutztes Flugticket und eine Minikassette Olympus XB60 aus einem Diktiergerät. Die Technikerin legte alles in einen Kunststoffbehälter, den sie rundherum zuklebte.

Die Technikerin würde die Sachen ins Labor mitnehmen, damit sie auf Fingerabdrücke untersucht werden konnten, bevor von allem zwei Kopien angefertigt wurden - vor allem von der Tonbandaufnahme, die als wichtigstes Beweisstück galt. Danach würde Ainslie die vier Originale sowie einen Satz Kopien bei der Staatsanwaltschaft abliefern. Der zweite Satz war für die Mordkommission bestimmt.

»Okay, das war's«, sagte Ainslie. »Wir können gehen.«

Aber der Filialleiter, der bisher im Hintergrund geblieben war, hatte noch eine Frage: »Mr. Jensen, Ihr Schließfach ist jetzt leer, wie ich sehe. Brauchen Sie's in Zukunft noch?«

»Bestimmt nicht«, erklärte Jensen ihm.

»Darf ich Sie dann um den Schlüssel bitten?«

»Sorry, Sir.« Ainslie schüttelte den Kopf. »Den müssen wir als Beweisstück behalten.«

»Aber wer zahlt dann die Schließfachgebühr?« fragte der Filialleiter, als die Besucher den Raum verließen.

Der Rest dieses Freitags verging mit der Auswertung der sichergestellten Beweisstücke. Ainslie überbrachte Staatsanwalt Knowles die vier Originale und einen Satz Kopien. Dann fuhr er zur Mordkommission zurück, um sich gemeinsam mit Newbold und Bowe in Leo Newbolds Dienstzimmer, wo sie ungestört waren, ihre Kopie des Tonbands anzuhören.

Die Tonqualität war ausgezeichnet. Jedes Wort, das Patrick Jensen und Cynthia Ernst gesprochen hatten, war deutlich zu verstehen. Schon nach dem ersten Drittel flüsterte Bowe aufgeregt: »Das Band enthält tatsächlich, was Jensen versprochen hat. Da ist alles drauf!«

»Man merkt, daß er das Gespräch geschickt dirigiert hat«, stellte Newbold fest. »Unauffällig, aber doch so, daß er alles Wichtige aufnehmen konnte.«

»Cynthia ist gewissermaßen selbst in die Falle getappt«, konstatierte Bowe befriedigt.

Malcolm Ainslie, der verwirrt und durcheinander war, äußerte sich nicht dazu.

Am Spätnachmittag kam ein Anruf von der Staatsanwaltschaft für Ainslie. Als er dort eintraf, wurde er in Adele Montesinos Büro geführt. Curzon Knowles war bei ihr.

»Wir haben uns dieses Tonband angehört«, sagte Montesino. »Sie vermutlich auch.«

»Ja, Ma'am.«

»Ich wollte Ihnen das persönlich sagen, Sergeant Ainslie«, fuhr Montesino fort. »Die Anklagekammer tritt am kommenden Dienstagmorgen zusammen. Wir beantragen drei Anklagebeschlüsse gegen Cynthia Ernst, wobei der wichtigste die Anklage wegen Mordes ist - und wir brauchen Sie als Zeugen.«

»Wir haben also das Wochenende und den Montag für unsere Vorbereitungen, Malcolm«, fügte Knowles hinzu. »Und wir werden diese drei Tage brauchen, um Beweise zu sichten, Zeugen und Sachverständige zu laden, Ihre Aussage über Jensens Enthüllungen zu protokollieren und tausend weitere Dinge zu erledigen. Am besten kommen Sie gleich morgen früh um acht Uhr in mein Büro.«

»Wird gemacht«, murmelte Ainslie automatisch.

»Bevor Sie gehen«, fuhr Montesino fort, »möchte ich noch etwas sagen, Sergeant. Ich habe erfahren, daß Sie lange Zeit als einziger nicht geglaubt haben, das Ehepaar Ernst sei einem Serienmörder zum Opfer gefallen, und sich geschickt und geduldig daran gemacht haben, das Gegenteil zu beweisen, was Ihnen jetzt gelungen ist. Ich danke Ihnen dafür, gratuliere Ihnen zu diesem Erfolg und werde meine Gedanken zu diesem Thema an geeigneter Stelle vorbringen.« Sie lächelte. »Schlafen Sie sich gut aus. Sie haben vier anstrengende Tage vor sich.«

Als Ainslie zwei Stunden später nach Hause fuhr, hätte er eigentlich ein Gefühl des Triumphes empfinden müssen. Statt dessen empfand er tiefe Traurigkeit.

3

»Wir haben wie der Teufel geschuftet, um alles zusammenzubekommen«, sagte Curzon Knowles zu Ainslie. »Alle haben mitgespielt, und wir glauben, daß wir überzeugend argumentieren können, aber diese verdammte Hitze ist wirklich lästig!« An diesem Dienstagmorgen um neun Uhr saßen Knowles und Ainslie im Dade-County-Gerichtsgebäude in Miami im vierten Stock in einem für Staatsanwälte reservierten kleinen Büro. Nebenan befand sich der Verhandlungsraum der Anklagekammer, in dem die heutige Verhandlung stattfinden würde.

Beide Männer hatten ihre Jacken abgelegt, weil die Klimaanlage ausgefallen war und jetzt angeblich von Wartungstechnikern instandgesetzt wurde - bisher ohne spürbaren Erfolg.

»Montesino will Sie als ersten Zeugen aufrufen«, fuhr der Staatsanwalt fort. »Bitte versuchen Sie, uns bis dahin nicht wegzuschmelzen.«

Stimmen auf dem Flur signalisierten, daß die achtzehn Mitglieder der Anklagekammer den Saal betraten. Die Kammer bestand aus neun Männern und neun Frauen, ungefähr zu gleichen Teilen Hispanics, Schwarze und Weiße.

Die Hauptaufgabe einer Anklagekammer ist leicht zu definieren: Sie muß entscheiden, ob das vorgelegte Belastungsmaterial die Eröffnung eines Strafverfahrens gegen einen Verdächtigen rechtfertigt. Manche Anklagekammern haben zusätzlich die Aufgabe, Korruption und Mißwirtschaft in öffentlichen Einrichtungen zu untersuchen, aber der unmittelbare strafrechtliche Auftrag ist wichtiger und historisch fundiert.

Im Vergleich zu normalen Strafprozessen laufen Verfahren vor der Anklagekammer überraschend formlos ab. Hier im Dade County stand ein Bezirksrichter zur Verfügung, der aber nur selten an den Verhandlungen teilnahm. Er belehrte die Geschworenen über ihre Rechte und Pflichten, vereidigte sie -im allgemeinen für ein halbes Jahr - und ernannte einen Vorsitzenden, seinen Stellvertreter und den Protokollführer. Der Richter beriet die Geschworenen auf ihren Wunsch in Rechtsfragen und nahm nach jeder Verhandlung ihre Entscheidung entgegen.

Im Verhandlungsraum saßen die Geschworenen an vier langen Tischen; der Vorsitzende, sein Stellvertreter und der Protokollführer hatten ihren Platz an einem Quertisch. Am zweiten Quertisch ihnen gegenüber saß ein Staatsanwalt, der das Beweismaterial erläuterte und Zeugen befragte. Diese Rolle würde heute die Generalstaatsanwältin selbst übernehmen.

Wurden Zeugen vernommen, schrieb eine Gerichtsstenografin ihre Aussagen mit.

Jeder Geschworene konnte die Verhandlung durch Fragen unterbrechen, was oft genug vorkam. Alle Beteiligten verpflichteten sich durch einen Eid zur Geheimhaltung dessen, was hier besprochen wurde; die unbefugte Weitergabe von Informationen wäre als Straftat geahndet worden.

Adele Montesino stand jetzt vor den sechs Tischen und begann mit einer flapsigen Bemerkung: »Ich möchte mich für die schreckliche Hitze entschuldigen. Die Klimaanlage soll angeblich bald wieder funktionieren; wer bis dahin irgendein Kleidungsstück ablegen will, kann das in vernünftigem Rahmen tun. Am einfachsten ist das natürlich für Männer - wenn auch weniger interessant.«

Unter halblautem Gelächter zogen mehrere Männer ihre Jacken aus.

»Ich stehe heute vor Ihnen, um drei Anklagebeschlüsse gegen ein und dieselbe Frau zu erwirken«, fuhr Montesino fort. »Der erste betrifft eine Anklage wegen zweifachen Mordes, und die Beschuldigte heißt Cynthia Mildred Ernst.«

Bis dahin hatten die Geschworenen entspannt gewirkt; jetzt war es mit ihrer Gelassenheit vorbei. Die meisten setzten sich abrupt auf, und einige ächzten sogar hörbar. Der Vorsitzende beugte sich stirnrunzelnd nach vorn, um zu fragen: »Ist das eine zufällige Namensgleichheit?«

»Nein, Mr. Foreman«, antwortete die Generalstaatsanwältin. Sie wandte sich wieder an alle Geschworenen. »Ja, meine Damen und Herren, ich spreche von Miami City Commissioner Cynthia Ernst. Und die beiden Mordopfer sind ihre verstorbenen Eltern - Gustav und Eleanor Ernst.«

Alle starrten sie verblüfft an. »Das kann ich nicht glauben!« sagte eine ältere Schwarze.

»Ich hab's zuerst auch nicht glauben wollen«, gab Montesino zu, »aber jetzt bin ich davon überzeugt. Und ich weiß, daß Sie es ebenfalls glauben werden, sobald Sie die Zeugenaussagen und eine wichtige Tonbandaufnahme gehört haben. Zumindest werden Ihre Zweifel dann soweit ausgeräumt sein, daß Sie ein Strafverfahren anordnen.«

Sie blätterte in den vor ihr auf dem Tisch liegenden Papieren. »Der zweite Anklagebeschluß, den ich ebenfalls gegen Cynthia Ernst erwirken möchte, betrifft aktive Beihilfe zur Vertuschung einer schweren Straftat, als sie noch Polizeibeamtin war. Bei diesem Verbrechen handelt es sich um die Ermordung zweier anderer Menschen, und ich werde Ihnen auch dafür Beweise vorlegen. Der dritte Anklagebeschluß bezieht sich auf Behinderung der Justiz durch Verschweigen von Wissen über ein Verbrechen - in diesem Fall den Namen eines Mörders.«

Die Geschworenen starrten sich verwundert an, als wollten sie fragen: Kann das wahr sein? Halblautes Stimmengewirr erfüllte den Raum.

Adele Montesino wartete geduldig, bis wieder Ruhe einkehrte, und rief dann ihren ersten Zeugen auf: Malcolm Ainslie, der vom Gerichtsdiener hereinbegleitet und an den Tisch der Anklagebehörde geführt wurde. Als er aufgerufen wurde, hatte Ainslie wieder seine Jacke angezogen.

Die Generalstaatsanwältin begann: »Mr. Foreman, meine Damen und Herren Geschworenen, dies ist Sergeant Malcolm Ainslie vom Miami Police Department, ein Kriminalbeamter der Mordkommission. Stimmt das, Sir?«

»Ja, Ma'am.«

»Eine persönliche Frage, Sergeant Ainslie: Warum schwitzen Sie, obwohl Sie hier nicht angeklagt sind?«

Die Geschworenen lachten schallend.

»Möchten Sie, daß der Gerichtsdiener Ihre Jacke nimmt?«

»Ja, bitte.« Ainslie konstatierte nüchtern, daß Montesino clever war, wenn sie die Geschworenen bei Laune hielt; später waren sie dann um so eher bereit, ihr zu geben, was sie wollte. Er wünschte sich, er wäre ebenfalls gutgelaunt.

»Sergeant Ainslie«, fuhr Montesino fort, »erzählen Sie uns bitte, wann und wie Sie erstmals mit Ermittlungen wegen des Mordes an Gustav und Eleanor Ernst befaßt gewesen sind.«

Ainslie, der müde und gestreßt war, atmete tief durch, um Kraft für diese persönliche Zerreißprobe zu sammeln.

Seit Malcolm Ainslie letzte Woche zweifelsfrei erfahren hatte, daß Cynthia Ernst erst Jensens Doppelmord vertuscht und anschließend die Ermordung ihrer eigenen Eltern organisiert hatte, war er seinen dienstlichen Pflichten weiterhin nachgekommen - manchmal jedoch fast roboterhaft. Bestimmte Dinge, das stand fest, mußte er selbst erledigen; dazu gehörte auch die heutige Zeugenaussage. Aber er wünschte sich zum erstenmal seit Jahren verzweifelt, er könnte die ganze Sache einem Stellvertreter überlassen und einfach weggehen.

In den letzten Tagen voller Arbeit und Enthüllungen hatte er kaum mehr klar denken können. Als am Freitagabend das Ergebnis ihrer Ermittlungen feststand, hatte ihn große Traurigkeit erfaßt. Seine Gedanken kreisten ständig um Cynthia... Cynthia, deren Leidenschaft er einst geteilt hatte; deren Kompetenz er so oft bewundert, an deren Integrität er stets geglaubt hatte. Und in letzter Zeit hatte es eine Cynthia gegeben, für die er aufrichtiges Mitleid empfand, seit er wußte, daß sie als Kind mißbraucht worden war und ihr Baby hatte weggeben müssen, ohne es überhaupt richtig gesehen zu haben.

Gewiß, es hatte warnende Anzeichen gegeben. Malcolm erinnerte sich an die düsteren Vorahnungen, mit denen er Ruby Bowe vor einem Monat den Auftrag erteilt hatte, den Inhalt der nach der Tat in der Villa der Ernsts beschlagnahmten Kartons zu sichten. Damals hatten sie bereits gewußt, daß Doil nicht der Mörder des Ehepaars Ernst gewesen war, und bei dieser Gelegenheit hatte er flüchtig daran gedacht, Cynthia könnte in die Morde verwickelt sein. Er hatte seinen Verdacht für sich behalten, weil er ihn selbst für unwahrscheinlich hielt, und später nicht weiterverfolgt. Aber nun hatte ihn die Wirklichkeit eingeholt.

Was mußte er jetzt tun? Selbstverständlich hatte er keine Wahl. Obwohl er Cynthia bemitleidete, weil sie so viel durchgemacht hatte, und sogar ihren Haß auf ihre Eltern verstand, konnte er deren Ermordung niemals billigen. Wie in diesem Augenblick würde er tun, was er tun mußte - aber kummervoll und unter Schmerzen.

Trotz aller Konflikte und emotionaler Wirren hatte er jedoch einen festen Entschluß gefaßt.

Vor eineinhalb Jahren hatte Karen ihn nach Doils letztem Doppelmord gefragt: »Oh, Liebling, wieviel mehr kannst du ertragen?« Und er hatte geantwortet: »Von der Art wie heute abend nicht mehr viel.«

Diese Antwort war eine Ausflucht gewesen, das hatten sie beide gespürt. Aber noch heute würde er Karen eine andere, differenziertere Antwort geben. Sie würde lauten: Liebste, ich habe genug. Dies ist mein letzter Mordfall.

Im Augenblick konzentrierte er sich jedoch darauf, Adele Montesinos Frage zu beantworten: Erzählen Sie uns bitte, wann und wie Sie erstmals...

»Als Leiter einer Sonderkommission, die zur Aufklärung einer Mordserie gebildet worden war.«

»Und hat es so ausgesehen, als sei auch das Ehepaar Ernst diesem Serienmörder zum Opfer gefallen?«

»Anfangs ja.«

»Und später?«

»Später sind begründete Zweifel aufgetaucht.«

»Können Sie uns diese Zweifel näher erläutern?«

»Wir Ermittler sind allmählich zu der Auffassung gelangt, der wahre Täter habe versucht, den Mord an dem Ehepaar Ernst als weitere Tat eines Serienmörders hinzustellen, gegen den wir damals ermittelt haben. Letztlich hat das jedoch nicht geklappt.«

»Sie haben eben >wir Ermittler< gesagt, Sergeant. Stimmt es, daß Sie ursprünglich als einziger Kriminalbeamter bezweifelt haben, auch die Ernsts seien Opfer dieses Serienmörders geworden?«

»Ja, Ma'am.«

»Ich wollte Ihnen nicht zuviel Bescheidenheit durchgehen lassen«, sagte Montesino lächelnd, und einige der Geschworenen lächelten ebenfalls.

»Stimmt es auch, Sergeant Ainslie, daß ein Gespräch, das Sie mit Elroy Doil, einem überführten Serienmörder, vor seiner Hinrichtung geführt haben, bei Ihnen den Verdacht geweckt hat, die Ermordung der Ernsts gehöre nicht zu dieser Mordserie, und Sie bei weiteren Ermittlungen die Gewißheit gewonnen haben, Cynthia Ernst habe den Doppelmord geplant und dafür einen Killer angeheuert?«

Ainslie war entsetzt. »Damit überspringen Sie schrecklich viele... «

»Sergeant!« unterbrach Montesino ihn. »Bitte beantworten Sie meine Frage einfach mit ja oder nein. Ich denke, Sie haben sie verstanden, aber wenn Sie wollen, kann die Stenografin sie Ihnen nochmals vorlesen.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe sie gehört.«

»Und die Antwort?«

»Ja«, sagte Ainslie unbehaglich.

Er wußte, daß das eine klassische Suggestivfrage gewesen war: Sie ließ Tatsachen aus und war der Beschuldigten gegenüber unfair. Vor Gericht wäre der Verteidiger aufgesprungen und hätte Einspruch erhoben, dem jeder Richter stattgegeben hätte. Aber bei Verhandlungen der Anklagekammer gab es keine Einsprüche, weil keine Verteidiger zugelassen waren - auch keine Beschuldigten. Soviel bekannt war, wußte die Beschuldigte - Cynthia Ernst -nicht einmal, daß diese Verhandlung stattfand.

Eine weitere Tatsache: Staatsanwälte legten der Anklagekammer beliebig viel oder wenig Beweismaterial vor; im allgemeinen gaben sie nur das absolute Minimum preis. Und wenn sie einen Anklagebeschluß für sich behielten, arbeiteten sie mit Tricks, wie Montesino es jetzt tat, um das Verfahren zu beschleunigen.

Ainslie, der schon mehrmals vor Anklagekammern ausgesagt hatte, mißfiel diese Einrichtung von Mal zu Mal mehr, und er wußte, daß viele Polizeibeamte sein Unbehagen teilten, weil auch sie fanden, das System der Anklagekammern sei einseitig und nicht mit unparteiischer Rechtsprechung vereinbar.

Obwohl Adele Montesino das Verfahren zu straffen versuchte, gingen die Zeugenbefragungen zwei Stunden lang weiter. Malcolm Ainslie war nach knapp einer Stunde entlassen und hinausgeschickt worden; er mußte sich allerdings zur Verfügung halten, weil er später nochmals aussagen sollte. Was andere Zeugen darlegten, durfte er nicht hören; außer den Geschworenen waren nur die Justizangestellten der Anklagekammer während der gesamten Verhandlung zugelassen.

Das Tatmotiv für den Doppelmord - Cynthia Ernsts lebenslanger Haß auf ihre Eltern - erläuterte Detective Ruby Bowe, die in einem chicen Leinenkostüm auftrat, alle Fragen sorgfältig abwog und sich gewandt ausdrückte.

Bowe schilderte, wie sie Eleanor Ernsts geheime Tagebücher entdeckt hatte, aber Adele Montesinos Fragen hörten vor Cynthias Schwangerschaft auf. Statt dessen übersprang Bowe auf Drängen Montesinos, die Eleanors Tagebücher offenbar im Klartext kannte, viele Jahre und las einen wichtigen Eintrag vor: Ich habe Cynthia manchmal dabei ertappt, daß sie uns anstarrt. Aus ihrem Blick scheint finsterer Haß auf uns beide zu sprechen... Manchmal glaube ich, daß sie etwas mit uns vorhat, um sich an uns zu rächen, und habe Angst. Cynthia ist sehr clever, viel cleverer als wir beide.

Bowe erwartete, auch über Cynthias Schwangerschaft und die Geburt ihres Kindes befragt zu werden, aber Montesino sagte: »Danke, Detective, das war alles.«

Als Ruby Bowe später mit Ainslie über die Auslassung diskutierte, stellte er nüchtern fest: »Die Tatsache, daß Cynthia von ihrem Vater schwanger gewesen ist, hätte allzu viele Sympathien für sie wecken können. Als Staatsanwältin darf man das nicht zulassen.«

Um die Glaubwürdigkeit der Tonbandaufnahme zu untermauern, befragte die Generalstaatsanwältin als nächsten Zeugen Julio Verona, den Chef der Spurensicherung im Miami Police Department. Nachdem er sich als Fachmann ausgewiesen hatte, fuhr Montesino fort: »Soviel ich weiß, haben Ihre Tests bewiesen, daß auf dem Tonband, das Sie uns vorspielen werden, tatsächlich die Stimmen Cynthia Ernsts und Patrick Jensens zu hören sind. Ist das richtig?«

»Ja, das stimmt.«

»Bitte beschreiben Sie uns die Tests und Ihre Schlußfolgerungen daraus.«

»In unserem Archiv hatten wir bereits Aufnahmen von Commissioner Ernst aus ihrer Zeit als Kriminalbeamtin sowie von Mr. Jensen, der einmal wegen einer anderen Sache vernommen worden war. Diese Aufnahmen haben wir mit der vorhin von Ihnen erwähnten verglichen.« Verona erläuterte, mit welchen technischen Mitteln der Stimmenvergleich vorgenommen worden war, und stellte abschließend fest: »Die beiden Stimmen waren jeweils identisch.«

»Und jetzt spielen wir Ihnen das Tonband vor, das zum Beweismaterial in diesem Fall gehört«, erklärte Montesino den Geschworenen. »Hören Sie bitte aufmerksam zu, aber falls Sie irgendeine Stelle noch mal hören wollen, können wir das Band beliebig oft abspielen.«

Verona blieb da, um den mitgebrachten Recorder zu bedienen. Sobald Patrick Jensen und Cynthia Ernst zu hören waren - erst bei ihrer Bestellung, dann etwas leiser, als sie über den Kolumbianer Virgilio sprachen -, konzentrierten alle Geschworenen sich sichtlich darauf, jedes Wort mitzubekommen. Als Cynthia protestierte, nachdem Jensen ihr erzählt hatte, daß Virgilio der Rollstuhlmörder war - Halt die Klappe! Erzähl's mir nicht. Ich will nichts davon wissen. -, rief ein hispanischer Geschworener laut: »Pues ya lo sabe!« Und seine Nachbarin, eine junge Blondine, fügte hinzu: »Aber das Biest hat's für sich behalten!«

»Psst!« sagten mehrere Stimmen nachdrücklich, und eine Geschworene fragte: »Können wir das bitte noch mal hören?«

»Gewiß.« Die Generalstaatsanwältin nickte Verona zu, der auf die Taste STOP drückte, das Band etwas zurückspulte und es wieder anlaufen ließ.

Als die Tonbandstimmen dann über zwei Zahlungen von zweihunderttausend Dollar sprachen - eine für den Kolumbianer, eine für Jensen - und Cynthia Ernst vorschlug, den Mord an ihren Eltern durch »Eigentümlichkeiten« als Tat des Serienmörders zu tarnen, wurden mehrmals empörte, aufgebrachte und entschlossene Ausrufe laut, und als die Aufnahme zu Ende war, stellte ein Mann nachdrücklich fest: »Eindeutig schuldig, und mehr brauche ich gar nicht zu hören!«

»Ich verstehe, was Sie meinen, Sir, und achte Ihre Gefühle«, sagte Adele Montesino. »Aber hier geht es um zwei weitere Anklagebeschlüsse, deshalb möchte ich Sie bitten, noch etwas Geduld zu haben. Ich weiß übrigens nicht, ob das schon jemand aufgefallen ist, aber die Klimaanlage scheint wieder zu funktionieren.«

Ihre Feststellung löste sporadischen Beifall und etliche Seufzer aus, diesmal vor Erleichterung.

Danach wurden verhältnismäßig rasch einige Lücken geschlossen. Ein vorgeladener IRS-Inspektor legte Cynthia Ernsts Steuerakten vor, die bewiesen, daß sie die Zinsen ihres Bankguthabens auf den Cayman Islands ordnungsgemäß angegeben und versteuert hatte. Ihr Bankguthaben war durch Einzahlungen, die als Geschenke steuerfrei waren, auf über fünf Millionen Dollar angewachsen. »Ich weise darauf hin«, sagte der Inspektor zuletzt, während er seine Lesebrille abnahm, »daß Ms. Ernsts Steuern völlig in Ordnung sind.«

»Aber die Existenz dieses Bankkontos«, erklärte Montesino den Geschworenen, »untermauert die Tonbandaussage, Ms. Ernst habe die Absicht gehabt, für die Ermordung ihrer Eltern vierhunderttausend Dollar zu bezahlen.« Montesino wies nicht auf die Ironie des Schicksals hin, daß nur durch Cynthias Steuerehrlichkeit Beweismaterial entstanden war, das sonst für amerikanische Gerichte unerreichbar auf den Cayman Islands gelegen hätte.

Malcolm Ainslie wurde wieder hereingerufen. Er berichtete über die Öffnung von Jensens Bankschließfach mit dem Tonband, das die Anklagekammer gehört hatte, sowie weiteren Gegenständen. Einer davon war ein auf den Namen Jensen ausgestelltes Flugticket der Cayman Airways für einen Flug Miami - Grand Cayman und zurück.

»Was hat dieser Flug zu bedeuten?« fragte Montesino.

»Mr. Jensen hat mir vorgestern im Beisein seines Anwalts erklärt«, sagte Ainslie, »er habe mit Cynthia Ernst drei Tage auf den Cayman Islands verbracht und in dieser Zeit die Ermordung des Ehepaars Ernst geplant. Und er hat ausgesagt, sie seien getrennt hingeflogen - Miss Ernst unter dem Namen Hilda Shaw mit American Airlines von Miami aus.«

»Haben Sie diese zweite Aussage verifiziert?«

»Ja, Ma'am. Ich bin bei American Airlines in Miami gewesen, und die Fluggesellschaft hat mit Hilfe ihrer im Computer gespeicherten Passagierlisten festgestellt, daß an diesem Tag eine Hilda Shaw mit American Airlines nach Grand Cayman geflogen ist.«

Diese Feststellungen beruhten auf Hörensagen, das wußte Ainslie, und wären vor einem normalen Gericht nicht zugelassen worden, aber in diesem manchmal etwas merkwürdigen Verfahren waren sie erlaubt.

Mit Bezug auf den zweiten angestrebten Anklagebeschluß wegen Nichtanzeige der von Jensen verübten beiden Morde wies Ainslie auf den Karton mit belastendem Material, das Cynthia Ernst gesammelt und versteckt hatte. Auf Montesinos Aufforderung hin zeigte und erläuterte er anschließend die einzelnen Gegenstände.

Danach wurde Julio Verona erneut als Zeuge aufgerufen. Er sagte aus, die Fingerabdrücke auf den Plastikbeuteln in dem Karton stammten von Cynthia Ernst; auch die Handschrift auf mehreren Etiketten sei untersucht worden und stamme ebenfalls von ihr.

»Was den dritten Anklagebeschluß betrifft«, erklärte Montesino den Geschworenen, »werde ich keinen Zeugen aufrufen, um bestätigen zu lassen, daß Cynthia Ernst den Namen des Täters, der den sogenannten Rollstuhlmord verübt hat, erfahren und entgegen ihrer gesetzlichen Verpflichtung nicht angezeigt hat. Darauf kann ich verzichten, weil Sie alle, meine Damen und Herren, selbst Zeugen sind, seit Sie vorhin diese Tonbandaufnahme gehört haben.«

Auch diese Feststellung löste Kopfnicken und zustimmendes Gemurmel aus.

Bei ihrem Schlußwort faßte Montesino sich kurz.

»Diese Verhandlung ist lang und schmerzlich gewesen, und ich möchte sie nicht unnötig hinauszuziehen, sondern Sie lediglich noch an eine Tatsache erinnern. Es ist nicht Ihre Aufgabe, darüber zu entscheiden, ob Cynthia Ernst schuldig oder nicht schuldig ist. Diese Entscheidung muß ein Schwurgericht treffen - wenn Sie der Auffassung sind, daß die vorgelegten Beweise ausreichen, um eine Anklageerhebung zu rechtfertigen. Ich persönlich glaube, daß die Beweise weit mehr als nur ausreichend sind und daß Sie der Gerechtigkeit dienen, wenn Sie die beantragten Anklagebeschlüsse fassen. Ich danke Ihnen.«

Danach zogen die Generalstaatsanwältin und alle Justizangestellten sich zurück, damit die Geschworenen sich ungestört beraten konnten.

Es dauerte nicht lange. Nach kaum einer Viertelstunde wurden der Bezirksrichter und die Generalstaatsanwältin hereingerufen, worauf der Richter die Entscheidung der Geschworenen erhielt und laut verlas. In allen drei Fällen verfügte der Anklagebeschluß die Verhaftung Cynthia Ernsts.

4

»Ihr müßt euch beeilen, Jungs«, sagte Curzon Knowles warnend, als er Ainslie eine Aktenhülle mit zwei unterzeichneten Ausfertigungen der drei Anklagebeschlüsse übergab. »Sobald die Geschworenen hier herauskommen, ist ihr Geheimhaltungsschwur nichts mehr wert. Irgend jemand redet doch, und dann breitet sich diese Nachricht über Commissioner Ernst wie ein Buschfeuer aus - natürlich auch bis zu ihr.«

Sie standen auf dem Gang vor dem Verhandlungsraum der Anklagekammer. Während Knowles ihn zum Aufzug begleitete, fragte Ainslie: »Können Sie die Geschworenen noch eine Zeitlang hierbehalten? Ist noch eine weitere Verhandlung angesetzt?«

»Eine. Das haben wir bewußt so geplant, aber mehr als eine Stunde bringt Ihnen das nicht. Danach wird die Sache riskanter.«

Knowles fuhr fort: »Das Präsidium ist bereits über die Anklagebeschlüsse informiert; Montesino hat den Chef angerufen. Übrigens noch etwas: Ich soll Ihnen ausrichten, daß Sie gleich nach Ihrer Rückkehr zu Assistant Chief Serrano kommen sollen.« Er musterte Ainslie neugierig. »Ziemlich ungewöhnlich, daß die Führungsspitze in Ermittlungen wegen eines Mordfalls eingreift.«

»Nicht bei einem City Commissioner. Der Oberbürgermeister und die Commissioners genießen besondere Vorrechte und müssen sehr vorsichtig angefaßt werden.«

Als Staatsbeamter, der für viele Groß- und Kleinstädte in ganz Florida zuständig war, verstand Knowles weniger von Lokalpolitik als selbst ein Detective-Sergeant.

Auf dem Papier, das wußte Ainslie, war das Police Department von der Stadtpolitik unabhängig, aber die Wirklichkeit sah anders aus. Die City Commission kontrollierte den Polizeihaushalt über den Stadtdirektor, der den Polizeipräsidenten ernannte und ihn auch absetzen konnte, was schon einmal vorgekommen war. Die Commissioners besaßen Insiderkenntnisse über hohe Polizeibeamte, die befördert werden sollten. Und alle hatten Freunde im Präsidium, durch die sie unauffällig Druck ausüben konnten - was sie manchmal taten.

Gelegentlich, auch das wußte Ainslie, gab es Meinungsverschiedenheiten zwischen City Commission und Police Department, weil die Commission eifersüchtig über ihre Privilegien wachte und empfindlich reagierte, wenn diese beschnitten wurden. Schon deshalb hatte Lieutenant Newbold seine Vorgesetzten, die Majors Yanes und Figueras, vor fünf Tagen über die sensationellen neuen Erkenntnisse informiert. Die beiden hatten diese Informationen weitergegeben, und da die Führungsspitze Grund zur Besorgnis hatte, überwachte sie alle weiteren Schritte.

»Viel Glück!« sagte Knowles noch, als die Aufzugtür sich schloß.

Viel Glück wobei? fragte Ainslie sich. Im Augenblick hätte er es als Glück empfunden, wäre seine Rolle in diesem Drama mit der Überbringung der Anklagebeschlüsse beendet gewesen. Aber er hatte den Verdacht, daß es dabei nicht bleiben würde.

Seine tiefen Depressionen vom vergangenen Freitag hatten über das Wochenende und auch gestern angehalten, als das Netz um Cynthia sich stetig enger zuzog.

In seinem Privatleben hatte es einige Veränderungen gegeben. Am späten Freitagabend hatte er Karen seinen Entschluß mitgeteilt, nach diesem Fall aus der Mordkommission auszuscheiden und vielleicht auch den Polizeidienst zu quittieren, obwohl das noch zweifelhaft war. Darauf hatte Karen ihn umarmt und ihm fast unter Tränen versichert: »Darling, ich bin so erleichtert! Ich habe erlebt, wie du unter diesen Scheußlichkeiten leidest. Du solltest bei der Polizei ganz aufhören. Mach dir um die Zukunft keine Sorgen; wir kommen schon irgendwie zurecht! Du bist wichtiger als alles andere - für mich, für Jason, für...« Sie legte eine Hand auf ihren im vierten Schwangerschaftsmonat gerundeten Bauch, »...für diesen Irgendjemand.«

Jetzt kam es darauf an, diesen Auftrag - unter allen Umständen sein letzter Einsatz - so rasch wie möglich durchzuführen.

Die Aufzugstür öffnete sich im Erdgeschoß des Gerichtsgebäudes.

Als Polizeibeamter hatte Ainslie seinen neutralen Dienstwagen gleich vor dem Gebäude geparkt, und die Fahrt ins Präsidium - drei Blocks nach Norden und zwei nach Westen -dauerte nicht lange.

Im Vorzimmer von Assistant Chief Serrano, der alle polizeilichen Ermittlungen beaufsichtigte, begrüßte ihn eine Sekretärin:

»Guten Tag, Sergeant Ainslie. Sie werden erwartet.« Sie stand auf und öffnete ihm die Tür zum Chefbüro.

Drinnen sprachen Otero Serrano, Mark Figueras, Manolo Yanes und Leo Newbold miteinander. Als Ainslie eintrat, verstummten sie und sahen ihm entgegen.

»Sind das die Anklagebeschlüsse, Sergeant?« Chief Serrano, ein großer, sportlicher Mann, saß an seinem Schreibtisch. Als ehemaliger Kriminalbeamter hatte er eine Bilderbuchkarriere gemacht.

»Ja, Sir.«

Ainslie überreichte ihm die mitgebrachte Aktenhülle. Serrano zog die zweifach ausgefertigten Schriftstücke heraus und verteilte sie, damit die anderen sie ebenfalls einsehen konnten.

Während die vier Männer lasen, führte die Sekretärin Ruby Bowe herein. Sie blieb bei Ainslie stehen und flüsterte. »Wir müssen miteinander reden. Ich habe ihr Kind gefunden.«

»Cynthias?« Er starrte sie verblüfft an. »Müssen wir...«

Sie antwortete flüsternd: »Nein, noch nicht.«

Von den anderen, die weiterlasen, war gelegentlich ein unterdrücktes Stöhnen zu hören, dann ächzte Figueras vernehmlich: »O Gott! Schlimmer hätte's nicht kommen können.«

»Manchmal passieren eben Dinge, die keiner für möglich hält«, stimmte Serrano resigniert zu.

Die Tür ging erneut auf, und Polizeipräsident Farrell Ketledge kam herein. Alle schwiegen und setzten sich unwillkürlich auf. »Weitermachen«, sagte der Chief halblaut. Er trat an ein Fenster, drehte sich um und erklärte Serrano: »Das ist Ihre Show, Otero.«

Die vier lasen weiter.

»Cynthia hat uns echt aufs Kreuz gelegt«, sagte Figueras. »Hat sich befördern lassen, nachdem sie den Mord an Jensens Exfrau und ihrem Freund vertuscht hatte.«

»Die gottverdammten Medien werden uns in der Luft zerreißen«, sagte Yanes voraus.

Obwohl der erste Anklagebeschluß wegen Mordes schwerwiegender war, schmerzten der zweite und dritte Beschluß Cynthias Vertuschung zweier Morde, als sie noch Kriminalbeamtin gewesen war, und das Verschweigen eines dritten Mordes - offenbar am meisten.

»Kommt der Fall vor Gericht, kann der Prozeß sich jahrelang hinziehen«, stellte Newbold fest. »Und wir stehen dann ständig unter Beschuß.«

Die anderen nickten resigniert.

»Das war's vorläufig«, entschied Serrano. »Ich wollte Sie auf dem laufenden halten, weil wir alle betroffen sind. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren.«

»Wäre vielleicht nicht schlecht, wenn Ernst davon erführe, bevor wir sie holen.« Das war Manolo Yanes' Stimme. »Dann könnte sie sich anständigerweise eine Kugel in den Kopf jagen. Das würde allen eine Menge Scherereien ersparen.«

Ainslie hatte erwartet, daß Yanes' Bemerkung einen scharfen Tadel auslösen würde. Zu seiner Überraschung blieb er jedoch aus; statt dessen herrschte nur Schweigen. Bedeutet das etwa eine subtile Aufforderung? Als er diesen Gedanken als unwürdig verwarf, sprach Serrano ihn an.

»Das mag unangenehm für Sie sein, Sergeant Ainslie, aber wir haben beschlossen, Sie die Verhaftung vornehmen zu lassen.« Nach kurzer Pause fragte er rücksichtsvoll: »Bereitet Ihnen das irgendwelche Probleme?«

Er wußte es also. Ainslie konnte sich denken, daß sie alles von Cynthia und ihm wußten. Ihm fiel ein, was Ruby gesagt hatte: Wir sind schließlich Kriminalbeamte, nicht wahr?

»Es wird mir keinen Spaß machen, Sir. Wer hätte wohl Spaß daran? Aber ich tue, was erforderlich ist.« Irgendwie fühlte er sich Cynthia gegenüber verpflichtet, diese Sache durchzustehen.

Serrano nickte anerkennend. »Da es um einen City Commissioner geht, wird die Öffentlichkeit ab sofort jeden Schritt mit Argusaugen verfolgen. Sie genießen einen ausgezeichneten Ruf, und ich bin zuversichtlich, daß keine Pannen, keine Fehler passieren.«

Der Assistant Chief warf einen Blick auf den Zettel, den seine Sekretärin ihm eben hingelegt hatte. »Wir lassen Ernst seit heute morgen beschatten. Vor einer halben Stunde ist sie in ihr Büro im Rathaus gefahren. Dort befindet sie sich jetzt.« Er sah zu Ainslie auf. »Sie müssen eine Kriminalbeamtin mitnehmen. Detective Bowe wird Sie begleiten.«

Ainslie nickte. Heutzutage wurde keine Frau mehr von einem einzelnen Beamten verhaftet; das leistete Klagen wegen angeblicher sexueller Belästigung zu leicht Vorschub.

Serrano fuhr fort: »Ich habe angeordnet, daß Sie von einer Streifenwagenbesatzung unterstützt werden. Sie steht bereits unten und wartet auf Ihre Befehle. Und das hier brauchen Sie auch.« Er übergab den im Vorgriff auf die Anklagebeschlüsse ausgestellten Haftbefehl. »Und jetzt los!«

Im überfüllten Lift sah Ruby zu Ainslie auf, aber er murmelte: »Später. Erzählen Sie's mir unterwegs.« Als sie aus der Kabine traten, wies er Ruby an: »Sie besorgen uns einen Wagen. Ich rede inzwischen mit unseren Begleitern.«

Die beiden uniformierten Beamten - Sergeant Ben Braynen, den Ainslie gut kannte, und sein Partner - warteten vor dem Personaleingang neben ihrem blauweißen Streifenwagen. »Wir sind eure Verstärkung«, sagte Braynen zur Begrüßung. »Der Befehl ist von ganz oben gekommen. Du scheinst verdammt wichtig zu sein.«

»Höchstens vorübergehend«, erklärte Ainslie ihm. »Und ich bekomme trotzdem nur den üblichen Gehaltsscheck.«

»Okay, welchen Auftrag haben wir?«

»Wir fahren zur City Hall in Coconut Grove, wo die Commissioners ihre Büros haben. Ich nehme dort mit Bowe eine Verhaftung vor, und ihr kommt zur Verstärkung mit.« Er wies den Haftbefehl vor und zeigte seinem Kollegen, auf welchen Namen er ausgestellt war.

»Ohne Scheiß?« fragte Braynen ungläubig. »Stimmt das wirklich?«

Ruby Bowe stellte sich mit einem neutralen Dienstwagen vor den Streifenwagen.

»Ja, leider«, bestätigte Ainslie. »Bleibt also dran. Wir brauchen euch wahrscheinlich nicht, aber es beruhigt, euch in der Nähe zu wissen.«

Ainslie wartete, bis sie auf die Straße hinausgefahren waren, bevor er Ruby fragte: »Also, was gibt's?«

»Wichtig ist, daß Cynthia uns möglicherweise schon erwartet«, sagte Ruby. »Wegen einer Tatsache, die ich gestern am späten Abend rausbekommen habe.«

»Viel Zeit haben wir nicht mehr. Los, reden Sie schnell!«

Und Ruby berichtete...

Seit sie aus Eleanor Ernsts Tagebuch wußte, daß Cynthia das Kind ihres Vaters zur Welt gebracht hatte, war sie bestrebt gewesen, das weitere Schicksal des Babys aufzuklären: eines ungeliebten Kindes, dessen Geschlecht Eleanor Ernst nicht einmal erwähnt hatte und das sofort zur Adoption freigegeben worden war.

»Es ist ein Mädchen gewesen«, berichtete Ruby. »Das habe ich im Adoptionszentrum gleich anfangs erfahren.« Weitergehende Auskünfte sowie die Einsichtnahme in die damalige Akte hatte das Zentrum jedoch aus Datenschutzgründen verweigert. Ruby hatte nicht darauf bestanden, erklärte sie Ainslie, weil diese Informationen nicht ermittlungsrelevant waren. Die Existenz des Kindes war schon bekannt, und die Aufklärung seines Schicksals hätte keinen Einfluß auf die Ermittlungen im Mordfall Ernst gehabt.

»Aber die Sache hat angefangen, mich persönlich zu interessieren«, sagte Ruby. »Ich bin noch mehrmals im Zentrum gewesen, weil ich dort eine ältere Sozialarbeiterin kennengelernt hatte, der ich zugetraut habe, sich über die Vorschriften hinwegzusetzen und mir Informationen zu liefern. Sie hat lange gezögert - und mich vorgestern angerufen, weil sie nächste Woche pensioniert wird. Ich bin gestern abend zu ihr gefahren, und sie hat mir die fotokopierte Adoptionsakte mitgegeben.«

Aus dieser Akte ging hervor, berichtete Ruby weiter, daß die Adoption von Cynthias Tochter keine zwei Jahre gedauert hatte. Die Adoptiveltern waren in einem Verfahren wegen Kindesmißhandlung verurteilt worden und hatten die Kleine wieder hergeben müssen. Danach war das Mädchen bis zu seinem vierzehnten Geburtstag, mit dem die Akte schloß, in ständig wechselnden Pflegefamilien untergebracht gewesen.

»Eine traurige Mischung aus Gleichgültigkeit und seelischer Grausamkeit«, stellte Ruby fest. »Ich wollte mich bei der letztgenannten Familie nach ihr erkundigen, aber das war überflüssig, als ich den Namen gesehen habe, den die Kleine bekommen hat - und noch heute trägt.«

»Nämlich?«

»Maggie Thorne.«

Der Name kam Ainslie bekannt vor; er konnte ihn nur nicht einordnen.

»Den Fall hat damals Jorge Rodriguez bearbeitet«, fuhr Ruby fort. »Die Sache mit dem deutschen Touristen Niehaus, der bei einem Raubüberfall erschossen worden ist. Ich glaube, Sie haben... «

»Richtig, ich habe gemeinsam mit Jorge ermittelt.«

Ainslie erinnerte sich wieder an die Einzelheiten - an einen kaltblütigen Mord, der international Aufsehen erregt hatte, und das schuldige Paar: Kermit Kaprum, ein junger Schwarzer, und Maggie Thorne, eine junge Weiße... die ballistischen Untersuchungen hatten gezeigt, daß beide geschossen hatten, wobei die tödlichen Schüsse aus Thornes Waffe stammten... bei ihrer Vernehmung hatte sie die Tat gestanden.

Schon damals, das wußte Ainslie noch gut, war ihm das Gesicht der jungen Frau bekannt vorgekommen. Jetzt war ihm auch klar, warum. Er hatte nicht die Beschuldigte, sondern Cynthia - ihre Mutter - gekannt. Noch nachträglich war Maggie Thornes Ähnlichkeit mit ihr geradezu unheimlich.

»Das ist noch nicht alles«, sagte Ruby, als sie auf den Bayshore Drive abbog. »Die Mitarbeiterin aus dem Adoptionszentrum, von der ich die Akte habe, hat versucht, sich abzusichern. Werden vertrauliche Unterlagen aus irgendeinem Grund weitergegeben, muß die wahre Mutter des Kindes informiert werden und das hat die Sozialarbeiterin getan. Sie hat Cynthia einen Formbrief über Maggie Thorne geschrieben -diesen Namen hat Cynthia vermutlich erstmals gehört -, um ihr mitzuteilen, die Polizei habe Auskünfte über ihre Tochter eingeholt. Dieser Brief ist am Freitag an die alte Adresse in Bay Point abgeschickt worden. Cynthia dürfte ihn inzwischen haben.«

»Der Fall Niehaus...« Ainslie war so verwirrt, daß seine Stimme schwankte. »Wie ist der ausgegangen?« Es gab so viele Fälle. Er glaubte sich zu erinnern, was aus dem jungen Paar geworden war, wollte aber trotzdem sichergehen.

»Kaprum und Thorne sind beide zum Tod verurteilt worden. Sie sitzen in der Death Row, legen durch sämtliche Instanzen Berufung ein.«

Ainslie konnte nur noch an Cynthia denken, die einen Formbrief erhalten hatte... Cynthia war hellwach; sie verfolgte wichtige Fälle und würde den Namen Maggie Thorne sofort mit der Sache Niehaus in Verbindung bringen und ihre Schlußfolgerungen aus der Tatsache ziehen, daß die Polizei sich für ihre Tochter interessierte... Ein Formbrief, der ihr praktisch mitteilte, ihr einziges Kind, das sie nie kennengelernt hatte, werde bald hingerichtet werden. Mitleid und tiefstes Mitgefühl überwältigten ihn und verdrängten in diesem Augenblick alle anderen Erwägungen. Malcolm ließ den Kopf sinken und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. Ein krampfartiger Schauer durchlief seinen Körper. Er weinte.

»Entschuldigung«, sagte Ainslie zu Ruby. »Aber manchmal verliert man das Gefühl für Proportionen.« Er dachte an die Demonstranten vor dem Raiford-Gefängnis, die anscheinend die Opfer des Mörders vergessen hatten.

»Ich habe letzte Nacht auch geweint. Manchmal ist dieser Job...« Ruby schüttelte den Kopf.

»Wenn wir reingehen«, erklärte er ihr, »möchte ich zuerst allein mit Cynthia sprechen.«

»Das dürfen Sie nicht. Das wäre gegen... «

»Ich weiß, ich weiß! Das ist gegen die Vorschriften, aber Cynthia würde nie versuchen, mir sexuelle Belästigung vorzuwerfen; dazu ist sie zu stolz. Sie haben selbst gesagt, daß das Schreiben der Adoptionszentrale am Freitag an ihre alte Adresse in Bay Point gegangen ist; vielleicht hat sie's noch gar nicht bekommen. In diesem Fall könnte ich ihr die Nachricht schonender beibringen, und selbst wenn sie schon informiert wäre... «

»Malcolm, ich muß Sie an etwas erinnern«, wandte Ruby behutsam ein. »Sie sind kein Priester mehr.«

»Aber ich bin ein Mensch. Und ich verstoße gegen die Vorschriften, obwohl ich dazu Ihr Einverständnis brauche.«

»Ich habe auch meine Pflicht«, protestierte sie. Beide waren sich darüber im klaren, daß Ruby mit ihrer Karriere dafür bezahlen würde, wenn etwas schiefging.

»Hören Sie, ich stelle mich auf jeden Fall vor Sie, indem ich behaupte, ich hätte es Ihnen befohlen. Bitte!«

Sie hatten das Hafengebiet Dinner Key mit dem Rathaus erreicht. Ruby parkte direkt vor dem Haupteingang. Der Streifenwagen hielt gleich dahinter.

Ruby zögerte noch immer. »Ich weiß nicht recht, Malcolm.« Dann fragte sie: »Sagen Sie das auch Sergeant Braynen?«

»Nein. Sein Partner und er bleiben ohnehin hier draußen. Sie kommen mit hinein, warten aber in der Eingangshalle, während ich in Cynthias Büro gehe. Geben Sie mir eine Viertelstunde Zeit.«

Ruby schüttelte den Kopf. »Zehn Minuten. Höchstens.«

»Einverstanden.«

Die beiden betraten die einzigartige und anachronistische Miami City Hall durch den Haupteingang.

In einer Zeit, in der öffentliche Gebäude kaum prächtig genug sein konnten und kathedralische Bauten die vermeintliche Bedeutung von Politikern unterstrichen, drückt das Rathaus von Miami - einer der wichtigsten Großstädte Amerikas - eher das Gegenteil aus. Das auf einer Landzunge errichtete, auf zwei Seiten an die Biscayne Bay grenzende Gebäude ist ein verhältnismäßig kleiner, einstöckiger Bau, auf dessen weißer Fassade nur sein Name und einige wenige Jugendstilmotive in leuchtendem Blau prangen.

Viele Besucher staunen über die Schlichtheit dieses Gebäudes, obwohl darin der gewählte Oberbürgermeister, sein Stellvertreter, drei Commissioners und der Stadtdirektor ihre Büros haben. Andere, vor allem ältere Besucher, fühlen sich an einen Flugbootstützpunkt erinnert, was nicht überraschend ist, weil es der Fluggesellschaft Pan American Airways von 1934 bis 1951 als Stützpunkt für die Flying Clippers gedient hat, die Miami mit zweiunddreißig Ländern verbunden haben. Als Flugboote dann wie die Saurier ausstarben, mußte Pan Am den Stützpunkt schließen, der 1954 zur Miami City Hall wurde.

Hier war Geschichte gemacht worden; vielleicht wird hier heute wieder Geschichte gemacht, dachte Malcolm.

In der Eingangshalle blieben Ainslie und Bowe am Schreibtisch eines Sicherheitsbeamten stehen. Der Uniformierte winkte sie durch, als sie ihre Polizeiplaketten vorwiesen. Bevor Ainslie, der wußte, wo Cynthias Büro im Erdgeschoß lag, sich nach links wandte, zeigte er zu einer Sitzgruppe hinüber, um Ruby zu bedeuten, sie solle dort warten. Sie trennte sich widerstrebend von ihm, wobei sie sehr betont auf ihre Armbanduhr sah.

Bevor sie in das Gebäude gegangen waren, hatte Ainslie Braynen und seinen Partner angewiesen, im Streifenwagen zu bleiben, ihre Funkgeräte eingeschaltet zu lassen und sich sofort zu melden, falls er sie rief.

Ainslie ging weiter den Korridor entlang, bis er eine Tür erreichte, an der ein Schild verkündete:

OFFICE OF THE COMMISSIONER CYNTHIA ERNST

An dem Schreibtisch in dem fensterlosen Vorzimmer saß ein junger Assistent. Im Büro nebenan arbeitete eine Sekretärin an einem Computer. Die massive dunkelgrüne Tür zwischen den beiden Räumen war geschlossen.

Ainslie wies nochmals seine Polizeiplakette vor. »Ich muß dienstlich zu Commissioner Ernst. Aber melden Sie mich bitte nicht an.«

»Nicht nötig.« Der junge Mann zeigte auf die dunkelgrüne Tür. »Sie können gleich reingehen.« Ainslie öffnete die Tür, trat ein und schloß sie hinter sich.

Cynthia sah ihm entgegen. Sie saß mit ausdrucksloser Miene hinter einem reichverzierten Schreibtisch. Ihr Büro war geräumig und angenehm funktionell, aber nicht luxuriös. Aus dem Fenster gegenüber der Tür hatte man einen schönen Blick auf den Hafen mit den vor Anker liegenden Ausflugsschiffen. Hinter der schlichten Tür in der rechten Seitenwand lag vermutlich eine kleine Toilette.

Für einige Augenblicke herrschte Schweigen zwischen ihnen, bis Ainslie begann: »Ich möchte nur sagen, daß ich...«

»Danke, nicht nötig!« Cynthias Lippen bewegten sich kaum.

Ihr Blick war eisig.

Sie wußte alles. Weitere Erklärungen waren auf beiden Seiten überflüssig, das merkte er. Cynthia hatte ausgezeichnete Verbindungen; als City Commissioner konnte sie Gefälligkeiten erweisen, die andere Leute zu Dank verpflichteten. Offenbar hatte jemand, der in ihrer Schuld stand - vielleicht sogar aus der Anklagekammer oder dem Polizeipräsidium -, rasch nach dem Telefonhörer gegriffen, um sie zu warnen.

»Du wirst's wahrscheinlich nicht glauben, Cynthia«, sagte Ainslie, »aber ich wollte, es gäbe etwas, irgend etwas, das ich tun könnte.«

»Schön, denken wir mal darüber nach.« Ihre Stimme war so eisig wie ihr völlig abwesender Gesichtsausdruck. »Ich weiß, daß du Hinrichtungen magst, deshalb könntest du an der meiner Tochter teilnehmen - damit alles vorschriftsmäßig klappt. Vielleicht auch an meiner. Das würde dir sicher Spaß machen, nicht wahr?«

»Ich bitte dich, hör auf damit.«

»Was wäre dir lieber - Reue und Tränen, ein schwacher Abglanz von Frömmigkeit aus deinem früheren Gewerbe?«

Malcolm Ainslie seufzte. Obwohl er nicht recht wußte, worauf er gehofft hatte, war er sich darüber im klaren, daß er jegliche Hoffnung aufgeben mußte. Und er war sich auch darüber im klaren, daß er Ruby hätte mitnehmen sollen. Daß er sie dazu überredet hatte, ihn mit Cynthia allein zu lassen, war ein Fehler gewesen.

»Was ich zu tun habe, ist auf jeden Fall schwierig«, sagte er und überreichte ihr den Haftbefehl. »Tut mir leid, aber du bist verhaftet. Ich muß dich darauf hinweisen, daß...«

Cynthia lächelte spöttisch. »Ich nehme die Belehrung über meine Rechte als erhalten an.«

»Ich brauche deine Pistole. Wo ist sie?« Ainslies rechte Hand lag jetzt an seiner eigenen Glock, die er aber nicht zog. Er wußte, daß Cynthia ebenfalls eine 9mm-Pistole dieses Typs besaß; wie alle in den Ruhestand tretenden Polizeibeamten hatte sie ihre Dienstwaffe als Geschenk der Stadt behalten dürfen.

»Hier im Schreibtisch.« Sie war aufgestanden und deutete auf eine Schublade.

Ohne sie aus den Augen zu lassen, zog Ainslie die Schublade mit der linken Hand auf und tastete nach der Pistole ab. Sie lag unter einem weichen Tuch. Er nahm sie heraus und steckte sie ein.

»Dreh dich bitte um.« Er hielt Handschellen bereit.

»Nein, noch nicht.« Ihre Stimme klang fast wieder normal. »Ich muß erst auf die Toilette. Bestimmte Dinge kann man mit auf den Rücken gefesselten Händen schlecht erledigen.«

»Nein. Bleib, wo du bist.«

Cynthia wandte sich ungerührt ab und ging zu der inneren Tür, die er beim Hereinkommen gesehen hatte. Über die Schulter hinweg forderte sie ihn spöttisch auf: »Los, tu's doch, wenn's dir nicht paßt - erschieß mich!«

Zwei flüchtige Gedanken gingen ihm durch den Kopf, aber er verdrängte beide.

Als die Tür aufging, sah er dahinter ein WC. Ebenso offensichtlich war, daß dieser kleine Raum keinen zweiten Ausgang besaß. Die Tür fiel rasch ins Schloß. Ainslie nahm die rechte Hand von seiner Dienstwaffe und ging mit großen Schritten auf die Tür zu, um sie zu öffnen - notfalls mit Gewalt. Er ahnte plötzlich, daß er zu langsam reagiert hatte.

Aber bevor er die Tür erreichte, wurde sie schon nach wenigen Sekunden von innen aufgerissen. Cynthia, deren Gesicht zu einer haßerfüllten Maske erstarrt war, stand mit funkelnden Augen auf der Schwelle. »Halt! Keine Bewegung!« fauchte sie ihn an. In der rechten Hand hielt sie eine winzige Schußwaffe.

In dem Bewußtsein, übertölpelt worden zu sein, weil diese Waffe vermutlich auf der Toilette versteckt gewesen war, begann er: »Cynthia, hör zu... wir können...«

»Halt die Klappe!« In ihrem Gesicht arbeitete es. »Du hast gewußt, daß ich diese Waffe habe. Du hast's doch gewußt?«

Ainslie nickte langsam. Er hatte es nicht sicher gewußt, aber vor kaum einer Minute war ihm diese Möglichkeit in den Sinn gekommen; das war einer seiner Gedanken gewesen, die er verworfen hatte. Die Waffe, die Cynthia in der Hand hielt, war die winzige verchromte, fünfschüssige Pistole Smith & Wesson, ihre »Wegwerfwaffe«, die sie damals bei dem Bankraub mit Geiselnahme, den Ainslie und sie zufällig miterlebt hatten, so wirkungsvoll zum Einsatz gebracht hatte.

»Und du hast geglaubt, ich würde sie vielleicht gegen mich verwenden! Um mir und allen anderen eine Menge Schwierigkeiten zu ersparen. Los, gib's zu!«

Dies war der Augenblick der Wahrheit. »Ja, du hast recht«, gab Ainslie zu. Das war sein zweiter Gedanke gewesen.

»Nun, ich werde sie gebrauchen. Aber dich nehme ich mit, du Schweinehund!« Er sah, wie sie langsam ihre Pistole hob, um wie eine Scharfschützin zielen zu können.

Verschiedene Möglichkeiten fuhren ihm wie Blitze durch den Kopf. Er hätte beispielsweise nach seiner Waffe greifen können; aber Cynthia hätte bei der ersten Bewegung abgedrückt - und er hatte den Bankräuber mit dem Loch mitten in der Stirn gesehen. Was Ruby betraf, waren bisher noch keine fünf Minuten vergangen. Mit vernünftigen Argumenten war Cynthia nicht mehr beizukommen. Konnte er noch etwas tun? Nein, gar nichts. Er konnte nur akzeptieren, daß sein Ende gekommen war...

Cynthia war schußbereit. Er schloß die Augen, dann hörte er den Schuß... Seltsamerweise spürte er nichts... Er machte die Augen wieder auf.

Cynthia war zusammengebrochen; ihre Augen waren geschlossen, und sie hielt weiter die kleine Pistole umklammert. Aus einer Einschußwunde an ihrer linken Brustseite quoll Blut.

An der Tür zum Vorzimmer richtete Ruby Bowe sich aus der halb gebückten Haltung auf, in der sie mit ihrer 9mm-Pistole gezielt hatte.

5

Die sensationelle Meldung von Cynthia Ernsts gewaltsamem Tod brandete wie eine Flutwelle durch Miami.

Und die Nachrichtenmedien überschlugen sich.

Das taten auch die beiden verbliebenen City Commissioners, die in hellem Zorn gegen die vermeintlich fahrlässige Erschießung ihrer Kollegin protestierten.

Noch bevor die Leiche abtransportiert werden konnte, nachdem ein Notarzt Cynthia Ernsts Tod festgestellt hatte, waren zwei Fernsehteams da, filmten im Rathaus und stellten Fragen, die niemand vernünftig beantworten konnte. Abgehörte Funkgespräche der Polizei hatten sie ebenso alarmiert wie andere Reporter und Fotografen, die rasch zu ihnen stießen.

Mit hastig angeforderter Verstärkung bemühten Sergeant Braynen und sein Partner sich, Ruhe und Ordnung zu bewahren.

Für Malcolm Ainslie und Ruby Bowe glichen die Ereignisse nach der Konfrontation einer Filmmontage mit verwirrend rasch wechselnden Szenen. Nach hastigen Telefongesprächen mit Assistant Chief Serrano wurden sie angewiesen, vorerst im Rathaus zu bleiben und mit niemandem zu sprechen, bis ein Ermittlerteam der Abteilung Innere Angelegenheiten eintraf -das übliche Verfahren in Fällen von dienstlichem Schußwaffengebrauch mit Verletzungen oder Todesfolge. Das aus einer Sergeantin und einem Kriminalbeamten bestehende Team traf wenig später ein und befragte Ainslie und Bowe eingehend, aber keineswegs feindselig.

Das Police Department, das selbst noch Informationen sammelte, lehnte es zunächst ab, sich zur Erschießung von City Commissioner Ernst zu äußern, versprach aber lückenlose Aufklärung bei einer Pressekonferenz um achtzehn Uhr, an der auch der Polizeipräsident teilnehmen würde.

Unterdessen teilte der Chief of Police dem Oberbürgermeister und den City Commissioners mit, er werde sie eine Stunde vor dieser Pressekonferenz anrufen und persönlich über die neuesten Erkenntnisse informieren. Eine Besprechung in seinem Büro wäre zweckmäßiger gewesen, aber das »Sonnenscheingesetz« Floridas bestimmte, daß die Commissioners nirgends zusammenkommen durften, ohne daß Medien und Öffentlichkeit informiert und zugelassen wurden.

Nach ihrer Befragung mußten Ainslie und Bowe in Assistant Chief Serranos Büro hinter verschlossener Tür Serrano und den Majors Yanes und Figueras ausführlich Bericht erstatten. Die beiden beantworteten alle Fragen wahrheitsgemäß; andererseits wurden keine allzu bohrenden Fragen gestellt - beispielsweise nicht danach, weshalb Malcolm und Ruby sich im Rathaus für kurze Zeit getrennt hatten. Ainslies Instinkt sagte ihm, daß die Reihen sich schlossen, weil das Police Department alles unternahm, um seine eigenen Leute zu schützen. Und er fragte sich, ob ihre Vorgesetzten daran dachten, was Major Yanes bei der letzten Besprechung über Cynthia gesagt hatte: Sie könnte sich anständigerweise eine Kugel in den Kopf jagen. Das würde allen eine Menge Scherereien ersparen. Empfanden sie kollektive Schuldgefühle, weil niemand gegen diese Äußerung protestiert hatte? Und spürten sie vielleicht, daß bohrende Fragen Dinge ans Tageslicht fördern könnten, die sie nicht hören wollten?

Diese Fragen, das wußte Ainslie, würden niemals beantwortet werden.

Zuletzt wurde die amtliche Version der Ereignisse von Serrano handschriftlich zu Papier gebracht, um abgetippt und als erste Pressemitteilung verbreitet zu werden:

Aufgrund dreier Anklagebeschlüsse einer Anklagekammer sollten zwei Kriminalbeamte - Sergeant Malcolm Ainslie und Detective Ruby Bowe - City Commissioner Cynthia Ernst verhaften. Als die Verhaftete scheinbar entwaffnet war, da sie die nachweislich in ihrem Besitz befindliche Pistole abgegeben hatte, und bevor ihr Handschellen angelegt werden konnten, zog sie überraschend eine versteckt getragene kleine Pistole. Aber bevor die Verhaftete auf Sergeant Ainslie schießen konnte, wurde sie von Detective Bowe mit ihrer Polizeidienstwaffe erschossen.

Diese Tatsachen bestätigten wenig später die beiden uniformierten Beamten, Sergeant Braynen und sein Partner, die sofort nach dem Schuß von Ainslie über Funk verständigt worden und nach kaum einer halben Minute am Ort des Geschehens gewesen waren.

Malcolm und Ruby redeten erst später in einem ruhigen Augenblick darüber, was wirklich passiert war.

»Nachdem ich ein paar Minuten gewartet hatte, bin ich nervös geworden«, berichtete Ruby. »Aber das war wohl gut so, nicht wahr?«

Ainslie legte beide Hände auf Rubys Schultern und sah ihr in die Augen. »Sie haben mir das Leben gerettet«, erklärte er ihr. »Falls ich jemals etwas für Sie tun kann, brauchen Sie's nur zu verlangen.«

»Sollte mir etwas einfallen«, sagte sie mit schwachem Lächeln, »melde ich mich bei Ihnen. Aber ich hab's auch aus eigenem Interesse getan. Ohne Sie wäre die Arbeit in der Mordkommission ganz anders. Sie haben uns allen viel beigebracht, waren uns immer ein leuchtendes Beispiel gewesen. Es macht Sie hoffentlich nicht verlegen, wenn ich das sage?«

Ainslie zuckte befangen die Schultern. »Ein bißchen, nehme ich an.« Dann fügte er mit Bedacht hinzu: »Die Zusammenarbeit mit Ihnen, Ruby, habe ich immer als ein Privileg empfunden.«

Dies war nicht der rechte Augenblick, fand er, ihr von seinem Entschluß zu erzählen, die Mordkommission und vielleicht auch das Police Department zu verlassen. Davon brauchten vorläufig nur Karen und er zu wissen.

Die Vorbereitungen für die Pressekonferenz wurden in fliegender Eile getroffen, während zugleich die Telefondrähte zwischen Polizeipräsidium und Staatsanwaltschaft heiß liefen. Man einigte sich darauf, alle Cynthia Ernst betreffenden Tatsachen bekanntzugeben: die drei Anklagebeschlüsse; Eleanor Ernsts Tagebücher; Cynthias sexueller Mißbrauch durch ihren Vater; ihre Schwangerschaft; Cynthias Mordkomplott gegen ihre Eltern; sogar die Tatsache, daß wichtiges Beweismaterial, das zur Aufklärung eines weiteren von Cynthia verheimlichten Doppelmords hätte führen können, eineinhalb Jahre unbeachtet in der Asservatenkammer der Polizei gelegen hatte. Und der letzte Punkt würde Cynthias Verheimlichung des Namens des Rollstuhlmörders sein.

Nach Beratungen mit dem Polizeipräsidenten und ihrem Pressesprecher Evelio Jimenez stellte Assistant Chief Serrano ganz richtig fest: »Das Ganze ist eine Riesensauerei, aus der niemand nach Rosen duftend rauskommen wird. Aber es könnte Probleme geben, wenn wir etwas zurückhalten, das irgendein cleverer Reporter dann doch erschnüffelt.«

Lediglich bestimmte Tatsachen, die für das Verfahren gegen Patrick Jensen und Virgilio wichtig sein konnten, würden vorerst nicht bekanntgegeben werden. Aber die Nachricht von Jensens Verhaftung und den ihm vorgeworfenen Straftaten war inzwischen durchgesickert.

Was Virgilio betraf, war sehr zweifelhaft, daß er jemals gefaßt und vor Gericht gestellt werden würde. Die Metro-Dade Police fahndete wegen seiner Beteiligung an dem Rollstuhlmord nach ihm, während das Miami Police Department ihn als mutmaßlichen Mörder des Ehepaars Ernst suchte. Aber Virgilio hatte sich in seine Heimat Kolumbien abgesetzt, die ihn wegen ihrer gespannten Beziehungen zu den Vereinigten Staaten garantiert nicht ausliefern würde.

Die Pressekonferenz fand in der Eingangshalle des Präsidiums statt, an deren Haupteingang mehrere Polizeibeamte die Presseausweise kontrollierten. In der Nähe der Aufzüge im Erdgeschoß waren ein Podium und mehrere Mikrofone aufgebaut worden. Von dort aus würde Pressesprecher Evelio Jimenez - ein ehemaliger Journalist mit nüchtern-freimütiger Art - die Veranstaltung leiten.

Wenige Minuten vor der Pressekonferenz betraten Mitglieder der City Commission, die alle schon mit dem Polizeipräsidenten gesprochen hatten, die überfüllte Eingangshalle. Ihre Mienen verrieten Trauer und Entsetzen. Die Reporter umringten sie, aber sie beantworteten keine Fragen. Als jemand dem Oberbürgermeister ein Mikrofon unter die Nase hielt, knurrte er: »Weg damit! Hören Sie sich einfach an, was dort vorn berichtet wird.«

Fernsehkameras liefen, ein Wald von Mikrofonen ragte auf, und Bleistifte und Laptops waren einsatzbereit, als der Pressesprecher ankündigte: »Chief Farrell Ketledge.«

Der Polizeipräsident trat vor. Er sprach ernst, hielt sich aber nicht mit langen Vorreden auf.

»Dies ist zweifellos der traurigste Tag meiner bisherigen Polizeilaufbahn. Ich habe Cynthia Ernst für eine loyale Kollegin und gute Freundin gehalten und werde sie trotz ihrer jetzt ans Tageslicht gekommenen Verbrechen teilweise so in Erinnerung behalten. Denn wie Sie bald im Detail hören werden, ist Miss Ernst eine Verbrecherin gewesen, die unter anderem an der schrecklichen Ermordung ihrer Eltern schuld gewesen ist... «

Ein kollektives Luftholen war im Raum zu vernehmen.

Mehrere Reporter sprangen auf, um zu ihren Übertragungswagen hinauszueilen, während andere ihre Mobiltelefone zum Einsatz brachten.

Der Polizeipräsident sprach weiter und erwähnte dabei den Doppelmord, den Cynthia in ihrer Dienstzeit als Kriminalbeamtin vertuscht hatte. »Heute vormittag ist der Beschluß einer Anklagekammer ergangen, sie wegen dreier Straftaten verhaften zu lassen. Bei der Verhaftung hat Miss Ernst plötzlich eine versteckte Waffe gezogen, mit der sie offenbar auf einen der Kriminalbeamten schießen wollte. Seine Kollegin hat dann einen sofort tödlichen einzelnen Schuß abgegeben.

Falls Sie das wünschen, können wir darauf später zurückkommen, aber jetzt möchte ich über die heutigen Ereignisse sprechen und mit den Anklagebeschlüssen gegen Cynthia Ernst beginnen. Daher bitte ich Mr. Curzon Knowles, den Leiter der für Mordsachen zuständigen Staatsanwaltschaft, diese Anklage und die Gründe dafür zu erläutern.«

Knowles, der diesmal einen formellen blauen Nadelstreifenanzug trug, trat aufs Podium, sprach autoritativ zehn Minuten lang und trug die meisten Tatsachen vor, die den Beschlüssen der Anklagekammer zugrunde lagen. Die Journalisten hörten gespannt zu, als er von Eleanor Ernsts Tagebüchern und dem Mißbrauch Cynthias durch ihren Vater sprach. »Soviel ich weiß«, fuhr Knowles fort, »werden die wichtigsten Seiten dieser Tagebücher kopiert und stehen Ihnen dann zur Verfügung.« Knowles mußte anschließend einige Fragen beantworten, die jedoch nicht aggressiv gestellt wurden.

Nach dem Staatsanwalt ergriff Assistant Chief Serrano das Wort. Er stellte Leo Newbold vor, der sich auf kurze Ausführungen beschränkte, danach war Malcolm Ainslie an der Reihe, der den Doppelmord an Gustav und Eleanor Ernst und den Versuch schilderte, ihn als Tat eines Serienmörders hinzustellen. Wie sich rasch zeigte, kannte Ainslie den gesamten Tatkomplex sehr genau, und er antwortete eine halbe Stunde lang mit klarer, deutlicher Stimme auf Reporterfragen.

Er war jedoch schon etwas mitgenommen, als eine Fernsehreporterin sagte: »Wie wir gehört haben...«, sie machte eine Pause, um einen Blick in ihr Notizbuch zu werfen, »...wie Lieutenant Newbold gesagt hat, haben Sie als erster den Verdacht gehabt, der Mord an dem Ehepaar Ernst gehöre nicht zu diesen Serienmorden. Wie sind sie darauf gekommen?«

»Weil's in der Offenbarung keine Kaninchen gibt«, antwortete er spontan. Aber er bereute diese Worte, sobald er sie ausgesprochen hatte.

Nach einer verwirrten Pause fragte die Reporterin weiter: »Würden Sie uns das bitte erläutern?«

Ainslie sah hilfesuchend zu Assistant Chief Serrano hinüber, der mit den Schultern zuckte und den Journalisten erklärte: »Wir beschäftigen talentierte Leute, die manche Fälle mit unkonventionellen Methoden lösen.« Er nickte Ainslie zu. »Los, erklären Sie's ihnen.«

Ainslie begann widerstrebend: »Angefangen hat alles mit Symbolen, die ein Serienmörder an vier Tatorten zurückgelassen hatte und die später als religiöse Symbole aus der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament erkannt worden sind. Am Tatort im Mordfall Ernst ist ein Kaninchen zurückgelassen worden. Es hat nicht zu den anderen Symbolen gepaßt.«

Während Ainslie die früheren Symbole beschrieb, fiel ihm ein, daß diese Informationen damals zurückgehalten und später nicht mehr veröffentlicht worden waren, weil dafür keine Notwendigkeit bestanden hatte. Elroy Doil war zuletzt nur wegen der Ermordung des Ehepaars Tempone verurteilt und hingerichtet worden - wegen eines Doppelmords ohne Symbole.

Danach zu urteilen, wie eifrig viele Reporter mit gesenkten Köpfen mitschrieben oder tippten, waren diese Informationen neu und offenbar faszinierend.

Als Ainslie fertig war, fragte eine Männerstimme: »Wer hat rausgekriegt, was diese Symbole bedeuten?«

»Das beantworte ich«, warf Serrano ein. »Sergeant Ainslie hat die Verbindung hergestellt, die uns zu mehreren Verdächtigen, darunter auch Elroy Doil, geführt hat.«

Ein altgedienter Pressemann fragte: »Stimmt es, Sergeant Ainslie, daß Sie früher Geistlicher gewesen sind? Kennen Sie sich deshalb so gut in der Bibel aus?«

Ainslie hatte gehofft, dieses Thema würde nicht angesprochen werden. Obwohl er nie versucht hatte, seine Vergangenheit geheimzuhalten, war sie außerhalb der Polizei nur wenigen bekannt. Jetzt antwortete er: »Ja, das stimmt, und meine Bibelfestigkeit dürfte genutzt haben.«

Dann eine Frauenstimme: »Warum haben Sie als Priester beschlossen, ein Cop zu werden?«

»Ich habe meinen Priesterberuf aus freiem Entschluß aufgegeben. Das hatte persönliche, hier nicht relevante Gründe, die ich nicht erläutern werde.« Ainslie lächelte. »Ich möchte nur feststellen, daß mein Verhalten einwandfrei gewesen ist - das dürfte meine Aufnahme in den Polizeidienst beweisen.« Trotz der ernsten Stimmung, die über allem lag, löste er damit gutmütiges Gelächter aus.

Wenig später wurde die Pressekonferenz offiziell beendet, weil viele Reporter es eilig hatten; einige Journalisten und Kamerateams blieben jedoch, um englische und spanische Einzelinterviews zu führen. Als besonders begehrter Interviewpartner harrte Ainslie noch vierzig Minuten aus. Und danach wurde er auf dem Weg zu seinem Auto noch von Reportern mit Fragen bedrängt.

An diesem Abend und an den folgenden Tagen war Malcolm Ainslie ein Fernsehstar, weil seine Aussagen verbreitet und dann im Zusammenhang mit neuen Entwicklungen mehrmals wiederholt wurden. Die Berichterstattung der großen Fernsehgesellschaften über den Fall Cynthia Ernst stellte Ainslie als den Polizeisprecher hin. In ihrer Sendung »Nightline« berichtete die ABC ausführlich über die rätselhaften Tatsymbole und ihre religiöse Bedeutung - wieder mit Ainslie als Star.

Auch die Presse berichtete über den Fall Ernst und interessierte sich in diesem Zusammenhang für Ainslies früheren Priesterberuf. Ein findiger Reporter grub seine Dissertation aus, schrieb über seine Arbeit als Wissenschaftler, erwähnte das theologische Standardwerk Die Evolution des menschlichen Glaubens, das Ainslie mitverfaßt hatte, und wurde damit in ganz Amerika zitiert. Time und Newsweek erwähnten Ainslie in ihren Reportagen an prominenter Stelle, und das sonntägliche Zeitungsmagazin Parade brachte eine Titelgeschichte mit der reißerischen Schlagzeile GELEHRTER EXPRIESTER ALS HOCHGELOBTER STARDETEKTIV.

Bei der Telefonzentrale des Miami Police Departments gingen zahlreiche Anfragen von Film- und Fernsehproduzenten ein, die Assistant Chief Serranos Aussage widerlegten, aus dieser Sache werde niemand nach Rosen duftend herauskommen. Auf Ainslie traf sie offensichtlich nicht zu.

»Ich wollte, damit wäre endlich Schluß«, vertraute Ainslie Leo Newbold an.

»Wie man hört, wäre das den Leuten in der Führungsspitze auch sehr recht«, bestätigte Newbold.

Aber trotz dieses Unbehagens waren alle Verantwortlichen offenbar erleichtert, daß es kein peinliches Gerichtsverfahren gegen Cynthia Ernst geben würde.

Einige Tage nach der Pressekonferenz teilte Ainslie Leo Newbold seinen Wunsch mit, aus der Mordkommission auszuscheiden. Newbold äußerte mitfühlendes Verständnis für seine Entscheidung. Viele Kriminalbeamte hatten die Mordkommission irgendwann verlassen, weil die dortige Arbeit emotionalen Streß bedeutete, der sogar dienstunfähig machen konnte. Bis feststand, welche neue Aufgabe Ainslie übernehmen würde, betraute Newbold ihn mit der Bearbeitung ungelöster Altfälle, die mit modernster Technologie neu aufgerollt wurden - ein produktives, aber nicht sehr streßerzeugendes Arbeitsgebiet.

Drei Wochen später blieb Newbold vor Ainslies Schreibtisch stehen und sagte: »Figueras möchte Sie jetzt sprechen.«

Mark Figueras stand auf, als Ainslie hereinkam. »Ah, unsere Berühmtheit!« sagte er grinsend. »Wie fühlt man sich so als Star?«

»Reichlich unwohl.« Ainslie verzog das Gesicht.

»Nun, das wird sich nicht so bald geben. Können Sie damit leben?«

»Ich nehm's an. Aber auch das Department, Sir?«

»Da könnte's Probleme geben.« Figueras machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber lassen wir die Formalitäten, Malcolm. Ich habe Anweisung, von Mann zu Mann mit Ihnen zu reden. Aber erst noch eine kleine Formalität: Sie sind ab sofort Lieutenant Ainslie.« Der Major streckte ihm seine Hand entgegen. »Glückwunsch! Vielleicht etwas spät, aber ein Schritt in die richtige Richtung.«

Ainslie fragte sich, was nun kommen würde. Er freute sich über die Beförderung und hätte am liebsten gleich Karen angerufen, um ihr davon zu erzählen. Aber er wartete ab, was Figueras noch sagen würde.

»Karrieremäßig sind Sie jetzt in guter Form, Malcolm, und haben die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten. Die erste wäre der Posten des Chefs der Mordkommission.« Als Ainslie ein überraschtes Gesicht machte, fuhr Figueras fort: »Leo Newbold wird zum Captain befördert und übernimmt eine neue Aufgabe. Sie würden normalerweise auch versetzt, aber Sie haben in der Mordkommission so hervorragende Arbeit geleistet, daß auf Ihren Wunsch eine Ausnahme gemacht werden könnte.«

»Nein, danke.« Ainslie schüttelte den Kopf. »Ich habe Leo schon gesagt, daß ich ausscheiden möchte.«

»Das ist mir inoffiziell zu Ohren gekommen, und ich habe volles Verständnis dafür. Wir wollen nur, daß Sie sämtliche Optionen kennen.«

Das »wir« war bedeutsam. Was Figueras sagte, kam also von ganz oben.

»Okay, wägen wir Ihre Zukunft im Department ab«, fuhr der Kommandeur der Abteilung Verbrechensbekämpfung nüchtern fort. »Sie sind mit neununddreißig Jahren Lieutenant geworden. In weiteren drei Jahren könnten Sie Captain sein und dann nach Ermessen des Chiefs zum Major befördert werden. Eine Garantie gibt's dafür natürlich nicht, und Sie wären im Vergleich zu anderen immer ein bißchen alt, weil Sie ziemlich spät zu uns gekommen sind. Nach fünfzehn Dienstjahren könnten Sie mit etwa vierundvierzig Jahren Major werden, und darüber gibt's bekanntlich wenige Jobs, und die Konkurrenz ist verdammt groß. Sie könnten höher hinaufkommen, aber ebensogut als Major pensioniert werden. Sie merken, ich rede ganz offen mit Ihnen, Malcolm.«

»Das ist mir nur recht.«

»Darüber hinaus gibt's eine weitere Tatsache zu beachten, die ich wirklich offen ansprechen will. In letzter Zeit haben Sie vermutlich mehr öffentliche Aufmerksamkeit erregt als jemals irgendeiner unserer Leute. Ein Grund dafür ist natürlich Ihre sehr erfolgreiche Arbeit bei der Mordkommission. Aber die Medien haben sich vor allem auf Ihre Vergangenheit als Priester und Wissenschaftler gestürzt, was mich zu einem weiteren Punkt bringt.«

Ainslie glaubte zu wissen, worauf Figueras hinauswollte.

»Der springende Punkt ist, Malcolm, daß die Medien wegen dieser ganzen Aufmerksamkeit Ihre zukünftige Arbeit im Police Department beobachten und vielleicht übertrieben herausstellen werden. Daran ist an sich nichts auszusetzen, aber das Department könnte sich dabei unbehaglich fühlen. Wie Sie wissen, stehen hier nur wenige Leute ständig im Blickpunkt der Öffentlichkeit, und das gilt sogar für den Chief - die Mehrheit der Einwohner Miamis dürfte nicht einmal seinen Namen kennen. Das ist schon immer so gewesen, und die meisten von uns möchten diesen Zustand beibehalten.«

»Lassen Sie mich etwas klarstellen«, sagte Ainslie. »Soll das heißen, daß es Ihnen trotz meiner Beförderung und so weiter am liebsten wäre, wenn ich den Polizeidienst quittieren würde?«

»Falls Sie diesen Eindruck gewonnen haben«, antwortete Figueras, »habe ich mich mißverständlich ausgedrückt, denn genau das wollen wir auf keinen Fall damit sagen. Aber die meisten von uns hier finden, Malcolm, daß die Aufstiegsmöglichkeiten, die das Department Ihnen noch zu bieten hat, einfach nicht Ihren Fähigkeiten entsprechen. Uns wäre es lieber, Sie ergriffen eine für Sie günstige Chance, Ihre besonderen Fähigkeiten und Kenntnisse besser zu nutzen.«

»Das Dumme ist nur«, meinte Ainslie, »daß ich in letzter Zeit nicht allzu viele Stellenangebote gelesen habe. Aber das sollte ich vielleicht tun.«

Major Figueras lächelte. »Die Mühe können Sie sich sparen, Malcolm. Tatsächlich - und damit kommen wir zum eigentlichen Thema dieses Gesprächs - gibt es eine Organisation außerhalb des Police Department, die sich an den Chief, den Oberbürgermeister und vielleicht auch an andere gewandt hat, um Sie für sich zu gewinnen - zu äußerst günstigen Bedingungen, wie man hört.«

Ainslie runzelte die Stirn. »Kenne ich diese geheimnisvolle Organisation?«

»Das glaube ich nicht. Diese Initiative geht vom Vorsitzenden des Kuratoriums der South Florida University aus.« Figueras warf einen Blick auf die vor ihm liegende Notiz. »Er heißt Dr. Hartley Allardyce. Würden Sie sich mit ihm treffen wollen?«

Das Leben ist voller Überraschungen, dachte Ainslie. Er antwortete: »Wie könnte ich dazu nein sagen?«

6

»Das mag Sie überraschen, Dr. Ainslie«, sagte Hartley Allardyce, »aber wir haben an unserer Universität viel von Ihnen gesprochen, seit Ihre Fähigkeiten und Ihr ursprünglicher Beruf weithin bekanntgeworden sind.«

»Ja, das überrascht mich«, bestätigte Ainslie. »In letzter Zeit überrascht mich fast alles.«

Seit dem Gespräch mit Major Figueras waren drei Tage vergangen. Jetzt saßen Ainslie und Allardyce beim Dinner im City Club in der Innenstadt Miamis. Ainslie fand es seltsam, mit »Doktor« angesprochen zu werden. Obwohl ihm dieser Titel zustand, hatte er ihn jahrelang nicht mehr gehört und zuvor als Geistlicher nie benutzt. Aber unter den gegenwärtigen Umständen...

Dr. Hartley Allardyce, der sich offenbar gern reden hörte, fuhr fort: »Die Öffentlichkeit liebt Lokalmatadore, hat sie schon immer geliebt, und Sie sind einer, seit Sie alle diese gräßlichen Verbrechen aufgeklärt haben. Das Besondere daran ist, daß Sie diese Fälle mit wissenschaftlichen Methoden intellektuell gelöst haben, wofür viele unserer Professoren - aber auch ich - Sie bewundern.«

Ainslie murmelte verlegen lächelnd einen Dank.

Sein Gesprächspartner winkte ab und fuhr fort: »Ihr Aufstieg zu einem in der Öffentlichkeit bekannten Mann hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt erfolgen können - für mich und andere, die ich vertrete. Und hoffentlich auch für Sie.«

Hartley Allardyce war eine so eindrucksvolle Erscheinung, wie sein Name suggerierte: gutaussehend, silberhaarig und braungebrannt, mit selbstbewußtem Auftreten und ansteckendem Lächeln. Er stammte aus einer reichen Familie und hatte sein ererbtes Vermögen als Gründer eines international tätigen Investmentfonds vermehrt. Außerdem interessierte er sich leidenschaftlich für höhere Bildung - daher seine Verbindung zur South Florida University.

»Seit ich vor sechs Jahren Kuratoriumsvorsitzender geworden bin«, erklärte er Ainslie, »habe ich mir gewünscht, die SFU könnte eine Vorlesungsreihe über vergleichende Religionswissenschaft anbieten. Wir haben natürlich eine Fakultät für Theologie und Philosophie, aber dort kommt die vergleichende Religionswissenschaft meiner Überzeugung nach entschieden zu kurz.«

Allardyce machte eine Pause, während ein Ober als Hauptgericht Filet Mignon mit Sauce Bernaise servierte. »Ich hoffe übrigens, daß Ihnen der Wein schmeckt. Es ist ein Opus One, eine Kreation zweier mit Recht weltberühmter Winzer -Robert Mondavi im Napa Valley und der verstorbene Philippe de Rothschild in Bordeaux. Kosten Sie doch mal!«

»Süperb«, urteilte Ainslie wahrheitsgemäß. Er hatte von diesem berühmten Wein gehört, hätte ihn sich aber als Detective-Sergeant nie leisten können.

»Lassen Sie mich zur Sache kommen«, sagte Allardyce, »damit Sie wissen, weshalb ich Sie um dieses Gespräch gebeten habe. Heutzutage entscheiden die meisten Universitätsstudenten sich für die gängigen Fächer: Betriebswirtschaftslehre, Medizin, Jura oder Ingenieurwissenschaften. Aber ich möchte unseren jungen Menschen zeigen, wie wertvoll das Studium der vergleichenden Religionswissenschaft sein kann.

Die einzelnen Religionen sagen so viel - viel mehr als die konventionelle Geschichtswissenschaft - über die Zeiten aus, in denen Menschen leben, und über ihre Geistesverfassung in allen Epochen und Gesellschaften. Sie erzählen uns von ihren Hoffnungen und Freuden; sie geben Einblick in ihre bewußten und unbewußten Ängste, wobei die Angst vor dem Tod fast immer ganz oben rangiert, und beantworten die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod oder nur ein großes Nichts gibt -zweifellos die größte aller Ängste. Trinken Sie noch etwas Wein, Dr. Ainslie.«

»Nein, danke, im Augenblick nicht. Aber bevor Sie weitersprechen, möchte ich etwas sagen.«

»Ich will hier keineswegs Monologe halten. Bitte sehr!«

»Sie sollten wissen, Dr. Allardyce, daß die Weltreligionen mich zwar schon immer fasziniert haben, aber daß ich an keine von ihnen glaube. Schon lange nicht mehr.«

»Das weiß ich bereits«, antwortete Allardyce, »und es spielt keine Rolle. Vielleicht macht Sie das sogar objektiver. Möchten Sie wirklich nicht noch etwas Wein?«

»Danke, wirklich nicht.«

»Ich habe Sie hergebeten, weil ich erst vor kurzem genug Geld aufgetrieben habe, um auf dem Campus ein neues Zentrum für Theologie und Philosophie errichten zu können. Ein Großteil stammt von einem persönlichen Freund, der mehrere Millionen Dollar spenden will. Aber seit er von Ihnen und Ihrer einzigartigen Qualifikation gelesen hat, knüpft er Bedingungen an seine Spende. Er will zusätzlich eine Professur für vergleichende Religionswissenschaft finanzieren, für die ein angesehener Gelehrter gewonnen werden soll. Der springende Punkt dabei ist, Dr. Ainslie, daß mein Freund Sie will.«

Ainslie machte große Augen. »Ist das Ihr Ernst?«

»Durchaus.«

»Darf ich fragen, wer Ihr Freund ist?«

Allardyce schüttelte den Kopf. »Sorry! Reiche Spender ziehen es oft vor, anonym zu bleiben; dafür gibt es heutzutage gute Gründe. Jedenfalls würde die Universität Ihnen fürs erste einen Dreijahresvertrag anbieten, der mit hunderttausend Dollar im Jahr dotiert wäre. Entschuldigen Sie, daß ich von Geld spreche, aber das ist natürlich nicht zu vermeiden.«

Danach entstand eine Pause, bevor Ainslie antwortete: »Oh, das entschuldige ich gern, Doktor. Und vielleicht trinke ich doch noch ein Glas Wein.«

»Vor Ihrer Berufung sind ein paar Formalitäten zu erledigen«, sagte Allardyce wenige Augenblicke später. »Aber diese Hürden überwinden Sie leicht.«

Karen war von der angebotenen Position begeistert. »Oh, Liebling - das mußt du schaffen! Das wäre ideal für dich! Du bist eine Autorität auf diesem Gebiet und ein ausgezeichneter Lehrer dazu. Ich hab's dir bisher nicht erzählt, aber nach dieser Sache im Rathaus habe ich Ruby Bowe angerufen, um ihr zu danken, auch in Jasons Namen. Dabei hat sie mir erzählt, daß die jüngeren Kollegen anerkennen, was sie von dir gelernt haben, und wie sie dich alle achten.«

»Um den Posten zu bekommen, muß ich noch eine ganze Reihe Vorstellungsgespräche absolvieren«, sagte er warnend.

»Das schaffst du ohne Schwierigkeiten.«

Sein wichtigstes Vorstellungsgespräch führte Ainslie mit dem Kanzler der South Florida University. Dr. Gavin Lawrence war ein ruhiger, zurückhaltend wirkender Mann, der trotz kleiner Statur unverkennbare Autorität ausstrahlte. Der Kanzler, der eine aufgeschlagene Akte vor sich liegen hatte, hob den Kopf und stellte fest: »Akademisch gesehen erfüllen Sie jedenfalls alle Voraussetzungen für diesen Posten.«

»Es gibt etwas, das Sie unbedingt vorher wissen sollten.« Ainslie wiederholte seine schon vor Allardyce gemachte Aussage über seine Glaubenseinstellung.

»Das steht alles hier drin.« Der Kanzler legte eine Hand auf die Akte. »Hartley hat in seinem Bericht geschrieben, Ihre Ehrlichkeit sei sympathisch. Das finde ich auch - und ich stimme ihm zu, daß das kein Hindernis wäre.« Lawrence lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. »Tatsächlich habe ich gerüchteweise gehört, die Glaubensstärke mancher unserer Theologie- und Philosophieprofessoren habe mit zunehmendem Wissen abgenommen. So etwas kann vorkommen, finden Sie nicht auch?«

»Bei mir ist's so gewesen.«

»Nun, hier macht das keinen Unterschied, weil wir einfach nicht nach den religiösen Neigungen unserer Professoren fragen. Größten Wert legen wir jedoch auf fundiertes Wissen und engagierte Vorlesungen. Das ist hoffentlich klar.«

Ainslie nickte. »Völlig.«

Als nächstes sprach Lawrence ihn auf seinen auf drei Jahre befristeten Vertrag an. »Klappt alles gut, könnte danach ein Lehrstuhl zu besetzen sein - oder Sie erhalten einen Ruf an eine andere Universität. Es ist immer von Vorteil, wenn die Studenten einen mögen, und ich spüre, daß Sie beliebt sein werden. Im Grunde genommen hängt alles von unseren Studenten ab.

Noch ein letzter Punkt«, sagte der Kanzler. »Erzählen Sie mir ein bißchen darüber, wie Sie vergleichende Religionswissenschaft lehren würden.«

Ainslie war überrascht. »Darauf bin ich leider nicht vorbereitet... «

»Macht nichts, einfach aus dem Stegreif.«

Ainslie überlegte kurz. »Ich würde Tatsachen lehren - alle heute bekannten Tatsachen. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Religionswissenschaft große Fortschritte gemacht, die untersucht sein wollen. Und ich würde mich davor hüten, Urteile auszusprechen. Zu denen können die Studenten jederzeit selbst gelangen. Vor allem würde ich keine Proselyten machen; das und vergleichende Religionswissenschaft passen nicht zusammen.«

Lawrence nickte nachdenklich. »Und im größeren Zusammenhang des Bildungsauftrags unserer Universität - wie sehen Sie da Ihr Fachgebiet?«

»Oh, bestimmt als fünftausend Jahre weit zurückreichenden wichtigen Aspekt der Menschheitsgeschichte. In diesem Zeitraum haben Religionen unzählige Veränderungen bewirkt: Neuerungen und Zerstörungen, Krieg und Frieden, Gerechtigkeit und Tyrannei. Die meisten Religionen haben reichlich Heilige und Schurken hervorgebracht. Und die Mächtigen dieser Erde - Kaiser, Politiker, Heerführer, Söldner -haben sie benutzt, um die Macht zu erringen oder zu festigen.«

»Religionen weisen natürlich viele positive und negative Aspekte auf. Welche sind bedeutsamer? Läßt sich das objektiv beurteilen?«

»Ich könnte es nicht; vermutlich kann das niemand. Aber ich weiß, daß Religionen, unabhängig von der Bewertung ihrer historischen Rolle, der Aspekt menschlichen Verhaltens sind, der unser Leben über Jahrtausende hinweg am nachhaltigsten beeinflußt hat.« Ainslie schmunzelte. »Allein das dürfte die Bedeutung der vergleichenden Religionswissenschaft für unsere Zeit, für heute studierende junge Menschen beweisen.«

Nach kurzem Schweigen sagte Lawrence: »Gut gemacht! Danke, Dr. Ainslie, ich werde unbedingt zu Ihrer Antrittsvorlesung kommen.«

Die Verabschiedung war herzlich. »Wie ich höre, hat Hartley vor, für Sie und Ihre Frau einen Empfang in unserem Haus zu geben - eine Gelegenheit, wichtige Leute kennenzulernen. Ich freue mich darauf, Sie beide dort zu sehen.« sobald Ainslie die Position an der South Florida University sicher war, kündigte er beim Police Department, und in seinen letzten Tagen bei der Mordkommission kamen viele Kollegen, darunter auch Vorgesetzte, um ihm alles Gute zu wünschen. Für seine gut zehn Dienstjahre würde er eine Pension erhalten, nicht hoch, aber, wie er zu Karen sagte, »ab und zu für eine Flasche Opus One ausreichend«.

Etwas, das Ainslie nicht behielt, war seine Dienstpistole, die er als Polizeibeamter nach Beendigung seines Dienstes hätte mitnehmen können. Statt dessen lieferte er seine Glock in der Waffenkammer ab. Er hatte für den Rest seines Lebens von Schußwaffen genug und wollte keine Pistole im Haus haben, vor allem nicht mit Kindern.

Karen jubelte, als die endgültige Zusage kam. Sie freute sich darauf, daß Malcolm in Zukunft mehr Zeit haben würde - für sie, für Jason und ihr zweites Kind, das in vier Monaten zur Welt kommen sollte. Vor kurzem hatte eine Ultraschalluntersuchung gezeigt, daß ihr Baby ein Mädchen war. Es sollte Ruby heißen.

NACHWORT

Schließlich kam der Abend, an dem der Empfang in Dr. Hartley Allardyces Villa stattfinden sollte. Über hundert Gäste wurden erwartet.

»Ein bißchen überwältigend, fürchte ich«, sagte Allardyce zu Malcolm und Karen, als er sie in seiner imposanten, weitläufigen Villa im Tudorstil in Coral Gables begrüßte. »Angefangen habe ich mit sechzig Einladungen. Dann hat die Nachricht die Runde gemacht, und so viele Leute wollten Sie kennenlernen, daß ich mehr einladen mußte.«

Während sie sich unterhielten, kamen schon die ersten Gäste in den eleganten großen Salon, dessen hohe Fenstertüren auf die Terrasse hinausführten. Draußen waren dienstfreie Angehörige der Campus Police dabei, den Gästen Parkplätze zuzuweisen. Drinnen boten livrierte Ober mit Tabletts den Gästen köstliche Hors d'oeuvres und Champagner Dom Perignon an.

»Hartleys Einladungen sind immer etwas Besonderes, finden Sie nicht auch?« hörte Ainslie eine hochgewachsene Blondine fragen, und er stimmte ihr zu. Karen und er waren damit beschäftigt, sich mit den Gästen zu unterhalten, die Dr. Allardyce ihnen vorstellte. Sie machten verwirrend schnell die Bekanntschaft des Präsidenten der South Florida University sowie mehrerer Kuratoriumsmitglieder, Vizepräsidenten, Dekane und Lehrstuhlinhaber. Einer davon war Dr. Glen Milbury, der Kriminalistik lehrte. »Als meine Studenten hörten, daß ich Sie treffen würde«, sagte er, »baten Sie mich, Sie zu fragen, ob Sie gelegentlich auch bei uns sprechen würden. Ich kann Ihnen einen überfüllten Hörsaal garantieren.« Ainslie versprach, sein Bestes zu tun.

Unter den Gästen befanden sich auch Politiker; zwei City Commissioners waren schon da, und der Oberbürgermeister wurde erwartet. Eine Kongreßabgeordnete war eigens aus Washington gekommen, und der Polizeipräsident, heute in Zivil, traf soeben ein, als Ainslie eine Hand auf seinem Arm spürte. Als er sich umdrehte, stand Hartley Allardyce wieder neben ihm.

»Ein besonderer Gast möchte Sie sprechen«, sagte er, während er Ainslie quer durch den Salon führte. »Es handelt sich um den Stifter unseres neuen Gebäudes - und natürlich Ihrer Professur für vergleichende Religionswissenschaft -, der nun doch aus seiner Anonymität hervortreten will.«

Sie schlängelten sich zwischen mehreren Gruppen hindurch und erreichten ein zweigeteiltes Erkerfenster, vor dem eine schöne, elegante Frau sie erwartete. »Mrs. Davanal, darf ich ihnen Dr. Malcolm Ainslie vorstellen?«

»Tatsächlich kennen wir uns bereits, Hartley«, antwortete Felicia lächelnd. »Man könnte uns sogar als alte Freunde bezeichnen.«

Diese unerwartete Begegnung mit Felicia verwirrte Ainslie und machte ihn sprachlos. Die selbe verführerisch schöne Felicia, die behauptet hatte, ihr Mann sei ermordet worden, bis Ainslie nachwies, daß er Selbstmord begangen hatte... Felicia, die ihm einen Platz im Imperium der Davanals angeboten hatte - mit dem kaum verhüllten Hinweis auf mögliche engere Beziehungen... und von der Beth Embry, die allen Gesellschaftsklatsch kannte, behauptet hatte: »Felicia verschlingt Männer. Wenn du ihr gefallen hast, versucht sie's bestimmt wieder.«

»Ich habe nicht im entferntesten geahnt...«, begann er, während Allardyce sich unauffällig entfernte. »Dafür habe ich gesorgt«, sagte Felicia. »Ich dachte, Sie würden sonst nicht zustimmen. Aber haben Sie das vergessen, Malcolm? Ich habe vorhergesagt, daß unsere Wege sich noch mal kreuzen würden.«

Sie streckte eine Hand aus, ließ ihre Finger federleicht über seine Rechte gleiten. Wie damals in ihrem Salon fühlte Malcolm seine Sinne erwachen. Ähnlich hatte es auch mit Cynthia begonnen, daran konnte er sich noch sehr gut erinnern. Dann glaubte er, quer durch den großen Raum Karens Stimme und ihr Lachen zu hören. Er drehte sich um, und ihre Blicke begegneten sich. Spürte sie die plötzlich in ihm aufwallende Versuchung? Er bezweifelte es, war sich seiner Sache jedoch nicht ganz sicher.

»Wir sollten uns wirklich bald einmal treffen«, fuhr Felicia fort. »Mich interessieren Ihre Ideen in bezug auf Ihre geplanten Vorlesungen. Wollen Sie nächste Woche zum Lunch zu mir kommen, sagen wir am Dienstag um zwölf?«

Ainslie wog seine Antwort sorgfältig ab. Es war wie immer im Leben: Türen öffneten sich, Türen schlossen sich. Diese hier stand weit offen.

»Darf ich Sie deswegen noch mal anrufen?« fragte er.

Felicia lächelte erneut. »Bitte kommen Sie.«

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