VIERTER TEIL. DIE VERGANGENHEIT

1

Cynthia Ernst wußte genau, in welchem Augenblick sie beschlossen hatte, ihre Eltern eines Tages umzubringen. Sie war damals zwölf Jahre alt und hatte vor zwei Wochen das Kind ihres Vaters zur Welt gebracht.

Eine unauffällig gekleidete Mittvierzigerin war unangemeldet in der Villa der Familie Ernst in der exklusiven, von einem Sicherheitsdienst bewachten Wohnsiedlung Bay Point an der Biscayne Bay erschienen. Sie hatte sich als Sozialarbeiterin des Jugendamts ausgewiesen.

Als Cynthia eine fremde Stimme hörte, schlich sie lautlos zur Tür des Salons im Erdgeschoß, in den ihre Mutter die Besucherin gebeten hatte. Die Tür war geschlossen, aber Cynthia öffnete sie ebenso lautlos einen Spaltbreit, um in den Salon sehen und das Gespräch belauschen zu können.

»Mrs. Ernst, ich bin dienstlich hier«, sagte die Frau gerade, »um mit Ihnen über das Baby Ihrer Tochter zu sprechen.« Sie sah sich um und schien von ihrer Umgebung beeindruckt zu sein. »Ich muß jedoch sagen, daß in solchen Fällen im allgemeinen Armut und Vernachlässigung vorherrschen. Das ist hier ganz offensichtlich nicht der Fall.«

»Hier hat es keine Vernachlässigung gegeben, das kann ich Ihnen versichern - ganz im Gegenteil.« Eleanor Ernst sprach ruhig und überlegt. »Mein Mann und ich haben unserer Tochter von Geburt an jeden Wunsch von den Augen abgelesen und lieben sie innig. Was passiert ist, hat uns begreiflicherweise sehr mitgenommen, weil wir uns vorwerfen müssen, als Eltern versagt zu haben.«

»Es wäre vielleicht nützlich, etwas über die Vorgeschichte zu erfahren. Wie ist Ihre Tochter...« Die Besucherin sah in ihrem Notizbuch nach. »Ihre Tochter Cynthia... unter welchen Umständen ist sie schwanger geworden? Und wer ist der Vater des Kindes? Was wissen Sie über ihn - vor allem in bezug auf sein Alter?«

Cynthia trat noch etwas dichter an die Tür heran, damit ihr ja kein Wort entging.

»Tatsächlich wissen wir überhaupt nichts über den Kindsvater, und Cynthia hat sich strikt geweigert, seine Identität preiszugeben.« Eleanors Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Bevor sie fortfuhr, tupfte sie sich die Augen mit einem Spitzentaschentuch ab. »Leider hat unsere Tochter trotz ihres jugendlichen Alters schon viele Freunde gehabt. Ich sage das nicht gern, aber ich fürchte, daß sie schrecklich zur Promiskuität neigt. Das macht meinem Mann und mir schon seit längerem Sorgen.«

»Hören Sie, Mrs. Ernst...«, die Stimme der Sozialarbeiterin klang jetzt schärfer, »...wäre es da nicht logisch gewesen, sich um professionelle Hilfe zu bemühen? Ihr Mann und Sie sind informierte Menschen; Sie hätten wissen müssen, daß es solche Einrichtungen gibt.«

»Aus heutiger Sicht hätten wir das vielleicht tun sollen. Aber wir haben es eben nicht getan.« Eleanor fügte pointiert hinzu: »Für Außenstehende ist es immer leicht, nachträglich Fehler zu erkennen.«

»Haben Sie vor, sich jetzt beraten zu lassen? Wollen Sie auch Ihre Tochter daran beteiligen?«

»Mein Mann und ich sind noch dabei, verschiedene Möglichkeiten zu überlegen. Bisher haben uns die nötigen Vorbereitungen in Atem gehalten. Das Baby ist gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben worden - das hatten wir alles vorbereitet.« Eleanor machte eine Pause. »Muß ich diese Fragen wirklich alle beantworten? Mein Mann und ich hatten auf Respektierung unserer Privatsphäre gehofft.«

Die Besucherin hatte sich während ihres Gesprächs Notizen gemacht. »Das Wohl eines Kindes ist wichtiger als die Privatsphäre der Eltern, Mrs. Ernst. Aber falls Sie Zweifel daran haben, ob unsere Behörde zu Nachforschungen berechtigt ist, brauchen Sie nur Ihren Anwalt zu fragen.«

»Das ist bestimmt nicht nötig«, wehrte Eleanor beschwichtigend ab. »Ich kann Ihnen sagen, daß mein Mann und ich - und natürlich auch Cynthia - aus dieser unglücklichen Geschichte viel gelernt haben. In gewisser Beziehung hat sie uns drei enger zusammengeführt. Wir haben lange miteinander geredet, und Cynthia hat uns feierlich versprochen, sich von jetzt an zu bessern.«

»Vielleicht sollte ich selbst mit Ihrer Tochter sprechen.«

»Mir wäre es lieber, wenn Sie das nicht täten. Ich bitte Sie sogar darum, es nicht zu tun. Das könnte alle bisher erzielten Fortschritte wieder zunichte machen.«

»Wissen Sie das bestimmt?«

»Ganz sicher.«

Heute, als Erwachsene, fragte Cynthia sich manchmal, warum sie in diesem Augenblick nicht in den Salon gestürmt und mit der Wahrheit herausgeplatzt war. Aber sie mußte wohl instinktiv erkannt haben, daß sie damit zwar ihre Eltern wegen der bestimmt peinlichen Fragen in Verlegenheit gebracht, aber letztlich doch keinen Glauben gefunden hätte. Sie hatte von schlimmen Fällen von Kindesmißbrauch gelesen, in denen man den Erwachsenen, die alles abgestritten hatten, geglaubt und die Kinder als Lügner bezeichnet hatte. Die beschuldigten Erwachsenen konnten sich geldgierige Anwälte nehmen, die es verstanden, Aussagen von Kindern geschickt zu widerlegen, während Kinder - auch wenn sie begriffen, worum es ging -nicht über solche Möglichkeiten verfügten.

Jedenfalls stürmte Cynthia - vielleicht aus instinktiver Einsicht - nicht in den Salon, und die Stimmen der beiden Frauen wurden leiser, als sie wegschlich, weil sie genug gehört hatte.

Zehn Minuten später kamen ihre Mutter und die Sozialarbeiterin aus dem Salon. Eleanor brachte die Besucherin zur Haustür und schloß sie hinter ihr. Als sie sich umdrehte, verließ Cynthia ihr Versteck und vertrat ihrer Mutter den Weg.

Eleanor wurde blaß. »Mein Gott, Cynthia! Wie lange bist du schon hier?«

Cynthia funkelte sie schweigend und mit anklagend durchdringendem Blick an. Mit kurzen braunen Ponyfransen und Sommersprossen sah sie noch ganz wie eine Zwölfjährige aus, aber aus dem Blick ihrer smaragdgrünen Augen sprach die Willenskraft einer Frau.

Eleanor Ernsts Blick war unstet, ihre Hände verkrampften sich nervös. Sie trug elegante Kleidung mit hochhackigen Schuhen und kam frisch vom Friseur. »Cynthia«, sagte sie jetzt. »Ich bestehe darauf, daß du mir sagst, wie lange du schon hier bist. Hast du gehorcht?«

Noch immer kein Wort.

»Hör auf, mich anzustarren!« Als Eleanor einige Schritte auf sie zutrat, wich Cynthia vor ihr zurück.

Sekunden später bedeckte ihre Mutter ihr Gesicht mit den Händen und begann leise zu weinen. »Du hast's gehört, nicht wahr? Oh, Schätzchen, ich konnte nicht anders; das siehst du bestimmt ein. Du weißt, daß ich dir niemals weh tun würde... Bitte laß mich dich in den Arm nehmen.«

Cynthia beobachtete sie völlig ungerührt; dann wandte sie sich langsam ab und ging davon.

Alle lügenhaften, heuchlerischen Worte ihrer Mutter, die sie belauscht hatte, blieben für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt. Ihren Vater haßte sie bereits, weil er sie körperlich mißbraucht hatte, solange sie zurückdenken konnte. Aber in gewisser Beziehung verabscheute sie ihre Mutter noch mehr. Selbst als Zwölfjährige wußte Cynthia, daß ihre Mutter sich um Hilfe von außen hätte bemühen können und sollen, und daß Eleanor das nicht getan hatte, konnte sie ihr nie verzeihen.

Aber Cynthia, die schon mit zwölf Jahren clever und gerissen war, verbarg ihre Wut um ihrer Zukunft willen. Um ihre großen Pläne verwirklichen zu können, brauchte sie ihre Eltern - vor allem ihren Reichtum und ihre Beziehungen. Deshalb spielte sie in der Öffentlichkeit die wohlerzogene, manchmal sogar liebevolle Tochter. Zu Hause sprach sie nur selten mit ihnen.

Ihr Vater, das wußte sie, akzeptierte die Täuschung, weil er für das Bild, das sie Außenstehenden vermittelte, dankbar war. Ihre Mutter benahm sich, als sei innerhalb der Familie alles in bester Ordnung.

Wurde ihr jemals ein Wunsch verweigert, verschränkte Cynthia die Arme und starrte ihre Eltern mit kaltem Blick durchdringend an, als wollte sie sagen: Ich weiß, was ihr mir angetan habt, und ihr wißt es auch. Wäre es nicht besser, wenn sonst niemand davon erführe? Ihr habt die Wahl!

Diese unausgesprochene Drohung, ein Appell an ihr Scham-und Schuldgefühl und ihre Feigheit, wirkte hundertprozentig. Nach einer nervösen, verlegenen Pause knickte Gustav Ernst unweigerlich unter dem herausfordernden Blick seiner Tochter ein und murmelte: »Ich weiß einfach nicht, was ich mit ihr anfangen soll.«

Eleanor zuckte wie üblich hilflos mit den Schultern.

Ihre ganze Durchsetzungskraft bewies Cynthia, als es einige Jahre später darum ging, welche Schule sie in Zukunft besuchen würde.

Sie hatte die Unter- und Mittelstufe in Miami besucht, und ihre Zeugnisse wiesen sie als überdurchschnittlich begabte Schülerin aus. Gustav und Eleanor hatten vor, Cynthia auf die angesehene Privatschule Ransom-Everglades in Coral Gables zu schicken. Aber ihre damals vierzehnjährige Tochter hatte andere Ideen. Als sie bereits in Ransom-Everglades angemeldet war, erklärte sie ihren Eltern plötzlich, sie habe sich für das Internat Pine Crest in Fort Lauderdale - ungefähr vierzig Kilometer nördlich von Miami - entschieden. Sie hatte sich dort auf eigene Faust angemeldet.

Gustav war total dagegen. »Du hast absichtlich gegen unsere Wünsche gehandelt«, sagte er an diesem Tag beim Abendessen.

»Hätten wir uns für Pine Crest entschieden, hättest du auf Ransom-Everglades bestanden.«

Eleanor beobachtete die beiden hilflos und wußte, daß Cynthia sich zuletzt doch durchsetzen würde.

Mit ihrer bewährten Methode schaffte sie das auch. Cynthia blieb am Tisch sitzen, rührte aber das Essen nicht an, sondern starrte ihren Vater mit einem Blick an, aus dem absolute Überlegenheit sprach, bis er endlich seine Gabel weglegte und unwillig brummte. »Mach doch meinetwegen, was du willst.«

Cynthia nickte, stand vom Tisch auf und ging in ihr Zimmer.

Vier Jahre später wiederholte sich das alles, als Cynthia sich für ein College entscheiden mußte. Unterdessen war sie achtzehn und besaß die Klugheit und Schönheit einer erwachsenen Frau. Sie wußte recht gut, daß ihre Mutter sich sehnlichst wünschte, Cynthia würde am Smith College in Northampton, Massachusetts - Eleanors prestigeträchtiger Alma mater - studieren, und ließ sie vier Jahre lang in dem Glauben, sie werde dieses College wählen.

Cynthia war eine sehr aussichtsreiche Kandidatin: Sie war in Pine Crest die Klassenbeste und wurde in die National Honor Society aufgenommen. Außerdem spendete Eleanor dem Smith College regelmäßig größere Beträge, was zwar angeblich nicht zählte, aber vielleicht doch nutzte.

Die Zusage wurde an die Adresse der Ernsts geschickt, und Eleanor öffnete den Brief. Sie rief Cynthia sofort im Internat an, um ihr die aufregende Nachricht mitzuteilen.

»Ja, ich habe erwartet, daß sie mich nehmen würden«, sagte Cynthia kühl.

»Schätzchen, ich kann dir nicht sagen, wie begeistert ich bin! Das muß gefeiert werden! Wie wär's mit einem Dinner am Samstagabend? Hättest du Zeit?«

»Klar, klingt gut.«

Cynthia machte die Symmetrie der Ereignisse bereits Spaß, und am Samstagabend saßen die drei an dem langen Eichentisch im Speisezimmer: ihre Eltern an den Kopfenden, Cynthia an der Seite. Der Tisch war mit englischem Damast und Eleanors bestem Herend-Porzellan gedeckt. In mehrarmigen Silberleuchtern brannten Kerzen. Cynthia trug sogar ein Abendkleid. Ihre Eltern, das war nicht zu übersehen, strahlten vor Glück.

Nachdem ihr Vater den Wein eingeschenkt hatte, hob er sein Glas und sagte: »Auf die kommende Generation von Smith-Absolventinnen!«

»Hört, hört!« rief Eleanor begeistert. »Oh, Cynthia, ich bin so stolz auf dich! Du wirst sehen, als Smith-Absolventin steht dir die ganze Welt offen.«

Cynthia spielte mit ihrem Weinglas. »Das könnte stimmen, Mutter, wenn ich am Smith studieren würde.« Sie beobachtete amüsiert, wie das glückstrahlende Lächeln ihrer Mutter verblaßte. Dieses kleine Ritual hatten sie schon so oft zelebriert, daß jede Nuance voraussehbar war.

»Was zum Teufel soll das heißen?« fragte der Vater.

»Ich habe mich bei der Florida State University in Tallahassee beworben«, antwortete Cynthia fröhlich. »Letzte Woche ist die Zusage gekommen, und ich habe mich gleich angemeldet.« Sie hob ihr Weinglas. »Auf Tallahassee!«

Eleanor brachte vor Entsetzen kein Wort heraus.

Auf der Stirn ihres Mannes standen plötzlich Schweißperlen. »Du studierst am Smith College, nicht an einer staatlichen Universität. Das verbiete ich dir!«

Am anderen Tischende stand Eleanor auf. »Weißt du eigentlich, was für eine Ehre es ist, von Smith angenommen zu werden? Die dortigen Studiengebühren betragen über zwanzigtausend Dollar im Jahr. Beweist dir das nicht, wie exklusiv... «

»In Tallahassee sind dreitausend fällig«, unterbrach Cynthia sie. »Stellt euch vor, wieviel Geld ihr da sparen werdet!« Sie betrachtete ihre Eltern gelassen.

»Glaubst du etwa, daß uns das Geld... Oh!« Eleanor verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Gustav schlug mit der Faust auf den Tisch. »Damit kommst du nicht durch, junge Dame!«

Unterdessen war Cynthia ebenfalls aufgestanden und starrte ihre Eltern abwechselnd an. Ihre unausgesprochenen Worte waren ohrenbetäubend laut.

Gustav bemühte sich, ihrem Blick standzuhalten, aber dann sah er wie schon so häufig weg und seufzte. Zuletzt gestand er mit einem Schulterzucken seine Niederlage ein und verließ den Raum. Sekunden später folgte Eleanor ihm hinaus.

Cynthia aß in aller Ruhe weiter.

Drei Jahre später schloß Cynthia, die ein Vierjahrespensum in drei Jahren bewältigt hatte, ihr Studium an der Florida State University mit höchster Auszeichnung und als Mitglied der Vereinigung Phi Beta Kappa ab.

Cynthia hatte als Schülerin und Studentin viele Freunde und stellte zu ihrer Überraschung fest, daß Sex ihr trotz traumatischer Kindheitserinnerungen Spaß machte. Aus ihrer Sicht hatte Sex jedoch vor allem mit Macht zu tun. Sie würde nie wieder eine willfährige Partnerin sein und war bestrebt, in jeder sexuellen Beziehung die dominierende Rolle zu spielen. Eine weitere Überraschung war die Tatsache, daß viele Männer ihre Dominanz genossen, sie sogar erregend fanden. Aber trotz ihrer vielen Affären gestattete Cynthia sich niemals den Luxus, sich zu verlieben. Sie war einfach nicht bereit, auf einen so großen Teil ihrer Unabhängigkeit zu verzichten.

Viel später galten diese Spielregeln für ihre Affäre mit Malcolm Ainslie nur zum Teil. Wie die meisten seiner Vorgänger genoß er ihre »sexuellen Freiübungen«, wie er sie einmal nannte, und revanchierte sich auf ähnliche Weise. Aber Cynthia schaffte es nie, ihn wie die anderen völlig zu dominieren; er besaß eine innere Kraft, die sie nie ganz überwinden konnte. Während ihrer Affäre hatte sie aus reinem Mutwillen versucht, Malcolms Ehe zu zerstören, dabei aber keineswegs die Absicht gehabt, ihn selbst zu heiraten - oder irgendeinen anderen Mann. In ihren Augen bedeutete eine Ehe, sich einem Mann praktisch auszuliefern, und sie hatte sich geschworen, das nie zu tun.

In direktem Gegensatz zu Malcolm stand der Romanautor Patrick Jensen, den Cynthia vom ersten Augenblick an beherrscht hatte. Anfangs war ihre Beziehung rein sexueller Natur gewesen, aber später wurde sie komplexer. Cynthias Affären mit beiden Männern begannen etwa gleichzeitig, aber sie hielt Malcolm und Patrick sorgsam auseinander, so daß sie gewissermaßen auf getrennten Bahnen liefen.

Patrick Jensen steckte gerade in einer schwierigen Lage - vor allem wegen des Scheiterns seiner Ehe -, als seine Affäre mit Cynthia begann. Seine Frau Naomi hatte sich scheiden lassen und nach erbitterten Auseinandersetzungen eine großzügige Abfindung erstritten. Nach Auskunft von Freunden waren die sieben Ehejahre der Jensens von Patricks Wutanfällen geprägt gewesen, die dazu geführt hatten, daß Naomi ihn dreimal wegen Körperverletzung angezeigt hatte. Alle drei Anzeigen waren zurückgezogen worden, nachdem Patrick Besserung gelobt hatte. Aber die trat nie ein. Auch nach der Scheidung zeigte Patrick öffentlich, wie eifersüchtig er auf Naomi war, wenn sie sich mit anderen Männern zeigte, und wurde einmal sogar gewalttätig gegen ihren Begleiter.

Für Patrick war Cynthia Ernst in jeder Beziehung ein Geschenk des Himmels. Er gestand sich ein, daß sie viel stärker war als er, unterwarf sich ihr bereitwillig und verließ sich mehr und mehr auf ihre Führung. Cynthia glaubte ihrerseits, in Patrick jemanden gefunden zu haben, den sie beherrschen und zur Verwirklichung ihrer langfristigen persönlichen Pläne einsetzen konnte.

Ihre Überzeugung bestätigte sich, als Patrick eines Nachts sehr spät bei Cynthia aufkreuzte.

Sie hörte vom Bett aus, wie jemand ungeduldig an ihre Wohnungstür hämmerte. Ein Blick durch den Spion zeigte ihr Patrick, der sich nervös im Flur umsah und sich mit allen zehn Fingern durchs Haar fuhr.

Als sie ihm öffnete, stürzte er herein und sagte hastig: »Gott, Cynthia, ich hab' was Schlimmes angestellt! Ich muß aus Miami weg. Leihst du mir dein Auto?« Er trat ans nächste Fenster und sah ängstlich nach beiden Seiten die Straße entlang. »Ich muß weg... sofort weg von hier! Cynthia, du mußt mir helfen.« Er starrte sie bittend an, während er sich wieder die Haare raufte.

»Mein Gott, du bist in Schweiß gebadet.« Cynthia fuhr energisch fort: »Komm, beruhig dich erst mal. Setz dich hin, ich hole dir einen Scotch.«

Sie brachte ihm den Drink, nahm neben ihm auf der Couch Platz und massierte seinen Nacken. Er begann zu reden, verstummte dann und stieß plötzlich hervor: »O Gott, Cynthia, ich hab' Naomi umgebracht! Hab' sie erschossen.« Seine Stimme versagte.

Cynthia rückte von ihm ab. Ihre Pflicht als Polizeibeamtin, vor allem als Kriminalbeamtin der Mordkommission - war klar. Sie hätte Patrick verhaften, ihn über seine Rechte belehren und in Handschellen abführen müssen. Aber sie überlegte rasch, wog die Chancen und Risiken ab und tat nichts dergleichen. Statt dessen trat sie an einen Schrank, holte ein Tonbandgerät heraus, legte eine neue Kassette ein und drückte die Aufnahmetaste. Patrick hatte seine Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte laut. Cynthia stellte das Tonbandgerät in seiner Nähe auf die Fensterbank, wo es hinter Topfpflanzen versteckt war.

Dann sagte sie: »Patrick, wenn ich dir helfen soll, mußt du mir genau erzählen, was passiert ist.«

Er sah auf, nickte und begann mit brüchiger Stimme: »Ich hab's nicht vorgehabt, hab's nicht geplant... aber ich habe den Gedanken, daß Naomi einen anderen hat, nie ertragen können... Als ich die beiden miteinander gesehen hab', sie und diesen Scheißkerl, bin ich ausgerastet, blind vor Wut gewesen... Ich hatte einen Revolver in der Tasche. Ich hab' ihn gezogen und immer wieder abgedrückt... Plötzlich ist's vorbei gewesen... Dann habe ich gesehen, was ich getan hatte. O Gott, ich habe beide erschossen!«

Cynthia war entsetzt. »Du hast zwei Menschen erschossen? Wer ist der Mann gewesen?«

»Kilburn Holmes.« Er fügte niedergeschlagen hinzu: »Er ist Naomis Freund gewesen, hat dauernd mit ihr zusammengesteckt. Das haben mir andere Leute erzählt.«

»Du gottverdammter Idiot!« Cynthia empfand zum erstenmal nackte Angst. Patrick würde logischerweise verdächtigt werden, diese beiden ermordet zu haben, und was sie tat - falls sie weitermachte -, konnte sie ihre Karriere und die eigene Freiheit kosten.

»Hat dich jemand gesehen?« fragte sie. »Gibt's Tatzeugen?«

Patrick schüttelte den Kopf. »Nein, mich hat niemand gesehen. Das weiß ich bestimmt. Es ist schon lange dunkel gewesen. Nicht mal die Schüsse haben jemanden angelockt.«

»Hast du irgendwas - die kleinste Kleinigkeit - am Tatort zurückgelassen?«

»Garantiert nicht.«

»Hast du Geräusche gehört, als du abgehauen bist, oder Stimmen?«

»Nein.«

»Wo ist die Waffe?«

»Hier.« Er zog einen Revolver Smith & Wesson Kaliber 38 aus der Tasche.

»Leg ihn hier auf den Tisch«, befahl sie ihm.

Cynthia machte eine Pause, um die möglichen persönlichen Risiken gegen den Einfluß abzuwägen, den sie durch diese Geschichte über Patrick gewinnen konnte. Sie wußte genau, was ihre Pflicht gewesen wäre, aber sie sah ihn auch als nützliches Werkzeug.

Sie faßte einen Entschluß, ging in ihre kleine Küche hinaus und kam mit einer Küchenzange, Klarsichtbeuteln und einer Rolle Klebstreifen zurück. Als erstes steckte sie den Revolver mit Patricks Fingerabdrücken in einen Beutel und klebte ihn zu. Dann deutete sie auf sein T-Shirt. »Zieh das aus; es hat Blutflecken. Und deine Sportschuhe auch.«

Das T-Shirt und die Sportschuhe kamen in drei weitere Klarsichtbeutel, die ebenfalls zugeklebt wurden. »Jetzt gibst du mir deinen Hausschlüssel und ziehst dich ganz aus.«

Als Patrick zögerte, fauchte Cynthia ihn an: »Los, mach genau, was ich sage! Wo hast du die beiden erschossen?«

»In der Einfahrt vor Naomis Haus.« Er seufzte.

Mit dem Rücken zu Patrick, dem sie dadurch die Sicht versperrte, schaltete Cynthia das Tonbandgerät aus. Er war ohnehin zu benommen, um etwas mitbekommen zu haben.

Patrick hatte sich unterdessen ganz ausgezogen. Er stand mit hängenden Schultern da und starrte nervös zu Boden. Cynthia ging erneut in die Küche hinaus und kam mit einem braunen Müllbeutel zurück, in den sie die restlichen Kleidungsstücke stopfte.

»Ich fahre jetzt zu dir«, sagte sie. »Unterwegs werfe ich diese Sachen weg und hole dir neue Klamotten. Du duscht inzwischen sehr heiß und schrubbst deinen ganzen Körper - vor allem die Hand, in der du die Waffe gehalten hast - mit der Nagelbürste ab. Wo hast du den Revolver her?«

»Ich habe ihn vor zwei Monaten gekauft.« Er fügte niedergeschlagen hinzu: »Mein Name ist registriert.«

»Wird die Waffe nicht gefunden und gibt es sonst nichts, was dich belasten könnte, passiert dir nichts. Okay, du hast den Revolver eine Woche nach dem Kauf verloren. Merk dir das und bleib dabei.«

»Wird gemacht«, murmelte Patrick bestätigend.

Als Cynthia ging, nachdem sie sich rasch angezogen hatte, verschwand er in ihrem Bad.

Cynthia fuhr auf Umwegen zu Patricks Haus und entsorgte unterwegs seine Kleidung in verschiedenen Mülltonnen und einem Müllcontainer. In seinem Haus suchte sie rasch ein paar frische Kleidungsstücke für ihn zusammen.

Als sie gegen halb sechs Uhr zurückkam und leise die Wohnungstür aufschloß, sah sie Patrick auf der Couch sitzen. Er beugte sich tief über die Glasplatte des Couchtisches und hatte einen zu einem Röhrchen zusammengerollten Dollarschein in der Nase stecken.

»Wie kannst du's wagen, hier zu koksen?« kreischte sie.

Als er hochschreckte, waren auf dem Glas vier Linien Kokain zu sehen, die er noch nicht geschnupft hatte.

Patrick fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase. »Mein Gott, Cynthia, kein Grund zur Aufregung«, schniefte er. »Ich hab' bloß gedacht, das würd' mir helfen, diese Sache durchzustehen.«

»Wirf dieses Zeug ins Klo - und deinen restlichen Vorrat auch. Sofort!« Patrick wollte etwas einwenden, ging dann jedoch ins Bad und murmelte dabei: »Ich bin schließlich nicht süchtig.«

Cynthia gestand sich im stillen ein, daß Patrick tatsächlich nicht süchtig war. Wie andere, die sie kannte, schnupfte er nur gelegentlich Kokain. Sie selbst hielt sich von Drogen und allen sonstigen Rauschmitteln fern, die ihre Selbstkontrolle hätten beeinträchtigen können.

Patrick kam aus dem Bad zurück und jammerte über die zweihundert Dollar, die er hatte hinunterspülen müssen. Cynthia achtete nicht weiter auf ihn, sondern machte sich daran, die Klarsichtbeutel mit dem Revolver, dem T-Shirt und den Sportschuhen zu beschriften, wobei sie darauf achtete, daß Patrick genau mitbekam, was sie tat. Als sie damit fertig war, legte sie alles in einen großen Pappkarton, in den später auch die Tonbandkassette kommen würde.

»Wozu machst du das alles?« fragte Patrick, der ruhelos im Zimmer auf und ab ging.

»Damit alles seine Ordnung hat.« Cynthia wußte recht gut, daß ihre Antwort unbefriedigend war, aber das spielte keine Rolle. Patrick war jetzt high: hyperaktiv und sprunghaft. Er verfolgte das Thema wie erwartet nicht weiter, sondern fing an, ihr einen Vortrag darüber zu halten, wie er seine Notizen als Schriftsteller ähnlich methodisch ordnete.

Später, nachdem Cynthia den Karton mit Belastungsmaterial sicher versteckt hatte, würde sie Patricks Frage präziser beantworten - auf eine Art, die ihm weniger gefallen würde.

Als Cynthia abends allein war, spielte sie erstmals das Tonband ab. Die Aufnahmequalität war gut. Sie hatte einen zweiten Recorder und eine neue Kassette mitgebracht, um weitermachen zu können.

Als erstes bearbeitete sie das Originalband mit Patricks Schilderung des Doppelmords. Mit Hilfe einer Stoppuhr und ihrer Notizen löschte sie alles, was sie selbst gesagt hatte, indem sie die Aufnahmetaste drückte, ohne ein Mikrofon angeschlossen zu haben. Wie auf Präsident Nixons Watergate-Tonband entstanden so große Lücken, aber das war nebensächlich, denn Patricks Geständnis war unmißverständlich belastend, wie er merken würde, wenn sie es ihm vorspielte. Zu diesem Zweck kopierte sie die redigierte Aufnahme, bevor sie das Original in den Karton mit dem übrigen Beweismaterial legte.

Cynthia verschloß den Karton sorgfältig mit blauem Klebeband, das ihr Monogramm trug, und fuhr damit in die Villa ihrer Eltern in Bay Point. Dort hatte sie im ersten Stock noch immer ihr Zimmer, in dem sie gelegentlich übernachtete und einige persönliche Dinge aufbewahrte. Sie schloß das Zimmer auf und stellte den Karton in ihren Kleiderschrank, wo er hinter anderen Schachteln nicht zu sehen war. Irgendwann würde sie zurückkommen und die Aufkleber mit ihrer Handschrift durch Computeretiketten ersetzen; bei dieser Gelegenheit würde sie Latexhandschuhe tragen und die Klarsichtbeutel mit ihren Fingerabdrücken durch neue ohne Abdrücke ersetzen. Aber irgendwie fand sie nie die Zeit dazu, weil andere Dinge wichtiger waren.

Cynthia hatte von Anfang an nie vor, den Inhalt des Kartons irgend jemandem zu zeigen. Sie wollte nur, daß Patrick sah, wie sie das Beweismaterial sammelte und katalogisierte, um ihn damit für immer in der Hand zu haben. Irgendwann würde sie vermutlich das ganze Material in eine Stahlkassette packen und weit vor der Küste im Atlantik versenken.

Nachdem Naomi Jensen und Kilburn Holmes erschossen aufgefunden worden waren, sah die Mordkommission der Miami Police in Patrick Jensen den Hauptverdächtigen und vernahm ihn eingehend. Zu Cynthias Erleichterung reichte die Beweislage nicht für eine Verhaftung und Anklage aus. Gewiß, Jensen hatte Gelegenheit zur Tat gehabt und besaß kein Alibi; andererseits fehlte jegliches Belastungsmaterial. Außerdem hatte Cynthia ihm eingeschärft, bei Vernehmungen möglichst wenig zu sagen und keine freiwilligen Angaben zu machen. »Denk daran, daß du deine Unschuld nicht beweisen mußt«, hatte sie unterstrichen. »Die Cops müssen dir deine Schuld nachweisen.«

Am Tatort fanden die Spurensicherer zwei kleinere Beweisstücke, mit denen jedoch wenig anzufangen war. Ein in der Nähe der Leichen gefundenes Taschentuch paßte zu anderen, die Jensen besaß. Aber daß es Jensen gehörte, ließ sich nicht beweisen.

Das zweite Beweisstück war ein Papierfetzen, den Kilburn Holmes in der Hand gehalten hatte. Er paßte zu einem weiteren Stück Papier in Jensens Garage, aber auch das bewies nichts. Die tödlichen Schüsse waren aus einer Waffe des Kalibers 38 abgefeuert worden, und Jensen hatte nachweislich zwei Monate zuvor einen Revolver Smith & Wesson Kaliber 38 gekauft. Aber er behauptete, diese Waffe schon eine Woche später verloren zu haben; eine Durchsuchung seines Hauses förderte sie nicht zutage, und ohne Tatwaffe steckten die Ermittlungen in einer Sackgasse.

Cynthia war auch erleichtert, daß Ainslies Team nicht mit den Ermittlungen befaßt war. Zuständig für sie war Sergeant Pablo Greene, der Detective Charlie Thurston mit der Leitung der Ermittlungen betraut hatte. Da bekannt war, daß Cynthia Umgang mit Jensen hatte, fragte Thurston sie beinahe schüchtern: »Weißt du irgendwas über diesen Kerl, das uns weiterhelfen könnte?«

»Nein, leider nicht«, antwortete sie freundlich.

»Traust du Jensen zu, die beiden erschossen zu haben?«

»Ich sag's nicht gern, Charlie«, erwiderte Cynthia. »Aber ich trau' ihm die Tat zu.«

Charlie Thurston nickte. »Ich auch.«

Und damit war das Thema erledigt. Offensichtlich kam weder Sergeant Greene, Detective Thurston noch sonst jemand in der Mordkommission auf die Idee, Detective Cynthia Ernst, die früher mit dem jetzt unter Mordverdacht stehenden Jensen befreundet gewesen war, könnte auch nur im entferntesten in diesen Fall verwickelt sein.

Das lag natürlich daran, daß Cynthia ihren Kollegen, Vorgesetzten und sonstigen Gesprächspartnern gegenüber freundlich und kooperativ auftrat. Nur Verbrecher, mit denen sie beruflich zu tun hatte, erlebten sie von ihrer kalten, skrupellosen Seite.

Patrick Jensen lernte diese Seite kennen, als sie wieder zusammentrafen, nachdem Cynthia ihn vorsichtshalber über Monate hinweg strikt gemieden hatte.

2

Für ihr nächstes Treffen mit Jensen wählte Cynthia die Cayman Islands aus - ein für absolute Diskretion bekanntes Urlaubsziel, wo man völlig ungestört sein kann, wenn man Wert darauf legt. Genau das wollte sie.

Sie reisten einzeln an und wohnten in getrennten Hotels. Cynthias Reservierung im Hyatt Regency auf Grand Cayman lautete auf den Namen Hilda Shaw. Um keine Kreditkarte benutzen zu müssen, die ihre Identifizierung ermöglich hätte, ließ sie von der Western Union eine Anzahlung überweisen und beglich den Restbetrag bei ihrer Ankunft in bar. An der Rezeption wurde das anstandslos akzeptiert.

Jensen, dem sie ihre Anweisungen telefonisch erteilt hatte, wohnte ganz in der Nähe in dem bescheideneren Sleep Inn. Aber er verbrachte den größten Teil seiner drei Tage und Nächte auf Grand Cayman in Cynthias Zimmer mit Blick auf den zum Hotel gehörenden Park.

Als sie sich dort nach dreimonatiger Trennung wiedersahen, fielen sie förmlich übereinander her, rissen sich gegenseitig die Kleider vom Leib und liebten sich so heftig und gewalttätig, daß Cynthia auf ihrem Höhepunkt mit beiden Fäusten gegen Jensens Schultern trommelte.

»Himmel, das tut weh!« protestierte er.

Als sie dann erschöpft in dem zerwühlten Bett lagen, sagte Patrick: »Seit wir uns damals nachts zum letztenmal getroffen haben, ist soviel passiert, daß ich nicht dazu gekommen bin, dir für alles zu danken, was du für mich getan hast. Deshalb danke ich dir jetzt.«

»Bedanken brauchst du dich nicht«, wehrte Cynthia betont lässig ab. »Ich hab' nur einen Kaufpreis bezahlt.«

Patrick lachte. »Was soll das heißen?«

»Das heißt, daß du jetzt mir gehörst.«

Danach entstand eine Pause. »Du redest von der Wunderkiste, stimmt's?« fragte Patrick langsam. »Die hast du irgendwo versteckt.«

Sie nickte. »Natürlich.«

»Und. du glaubst, falls ich dir irgendwann nicht gehorche oder dich gegen mich aufbringe, könntest du sie aufmachen und sagen: >Hey, Jungs, seht euch das viele Beweismaterial an! Damit könnt ihr den Hundesohn Jensen auf den elektrischen Stuhl bringen.««

»Du schreibst gute Dialoge.« Cynthia gestattete sich ein kleines, humorloses Lächeln. »Ich hätte's nicht besser ausdrücken können.«

Auch auf Patricks Gesicht erschien ein schwaches Lächeln. »Aber du hast ein paar Kleinigkeiten übersehen. Das passiert sogar dir. Zum Beispiel deine Schrift auf den Etiketten. Und deine Fingerabdrücke... «

»Alles längst beseitigt«, log sie, während sie sich wieder vornahm, sich demnächst darum zu kümmern. »Ich habe die Beutel beschriftet, damit du siehst, was ich tue. Aber jetzt trägt alles nur noch deine Fingerabdrücke. Und es gibt eine Tonbandkassette.«

Cynthia schilderte ihm, wie sie alles, was Jensen in jener Nacht in ihrer Wohnung gesagt hatte - sein Geständnis, er habe Naomi und ihren Freund Kilburn Holmes erschossen -, aufgenommen hatte. »Ich habe eine Kopie davon mitgebracht. Möchtest du sie hören?«

Patrick machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schon gut; ich glaube dir. Aber ich könnte dir trotzdem schaden, indem ich aussage, wie du mir geholfen hast, das Belastungsmaterial verschwinden zu lassen. Würde ich schuldig gesprochen, wärst du auch erledigt - zumindest wegen Beihilfe.«

Cynthia schüttelte den Kopf. »Kein Mensch würde dir glauben. Ich würde alles leugnen, und mir würde man glauben. Und noch etwas.« Ihr Tonfall wurde schärfer. »Das Beweismaterial würde irgendwo gefunden, wo du es hättest verstecken können. Leider würdest du nicht wissen, wo das ist, bis die Polizei es nach einem anonymen Tip gefunden hätte.«

Sie starrten einander lauernd an. Im nächsten Augenblick ließ Jensen sich paradoxerweise zurücksinken und begann zu lachen. Er hob gutgelaunt die Hände, als ergebe er sich. »Cynthia, Liebste, du bist wirklich ein gerissenes Genie. Nun, du hast gesagt, ich gehöre dir. Ich gebe zu, daß das stimmt.«

»Das scheint dir nichts auszumachen.«

»Vielleicht ist's ein bißchen pervers, aber seltsamerweise gefällt mir das sogar.« Er fügte nachdenklich hinzu: »Das wäre eine großartige Romanvorlage.«

»Für einen Roman, den du nie schreiben wirst.«

»Aber was tue ich dann - wenn ich eine Art Schoßhund bin, den du an der Leine hältst?«

Dies war der entscheidende Moment. Cynthias Blick durchbohrte ihn. »Du hilfst mir, meine Eltern zu ermorden.«

»Hör mir zu«, verlangte Cynthia. »Hör mir gut zu!«

Als Patrick versucht hatte, etwas zu sagen - sie zur Vernunft zu bringen, wie er es sah, nachdem sie ihr ungeheuerliches Vorhaben angekündigt hatte -, war sie ihm über den Mund gefahren. Jetzt saß er stumm da und wartete.

Cynthia ließ sich Zeit, griff auf frühe Kindheitserinnerungen zurück, ergänzte sie durch Informationen, die sie ihrer Mutter entlockt hatte, und schilderte ihm bildhaft und überzeugend ihre gesamte Leidensgeschichte, ohne ihm - oder sich selbst - etwas zu ersparen.

Während sie erzählte, bewegte Patrick Jensen sich kaum. Aber sein Gesichtsausdruck spiegelte wechselnde Emotionen wider: erst Unglauben, dann Abscheu, Zorn, Entsetzen und Besorgnis. Einmal standen ihm Tränen in den Augen. Ein andermal machte er eine Bewegung, als wolle er Cynthias Hand ergreifen, aber sie entzog sie ihm.

Zuletzt schüttelte er bekümmert den Kopf. »Unglaublich.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich kann kaum glauben, daß... «

»Verdammt! Glaubst du mir etwa nicht?« unterbrach Cynthia ihn in scharfem, aggressivem Ton.

»So habe ich's nicht gemeint... Laß mir einen Augenblick Zeit, mich zu besinnen.« Nach kurzer Pause fuhr er fort: »Ich glaube dir. Jedes einzelne Wort. Aber es ist... «

»Was?« fragte sie ungeduldig.

»Es ist schwer, die richtigen Worte dafür zu finden. Ich habe in meinem Leben schon schlimme Dinge getan, aber solche widerwärtigen... «

»Unsinn, Patrick! Du hast zwei Menschen ermordet.«

»Ja, ich weiß.« Er verzog das Gesicht. »Okay, ich bin ein Scheißkerl. Ja, ich habe gemordet - aus Eifersucht, aus Leidenschaft oder dergleichen. Aber ich will darauf hinaus, daß deine Eltern, unter denen du jahrelang gelitten hast, reichlich Zeit gehabt haben, darüber nachzudenken, was sie ihrer Tochter damit angetan... Also, aus meiner Sicht sind deine Eltern der letzte Abschaum der Menschheit.«

»Gut«, sagte Cynthia zufrieden. »Dann begreifst du vielleicht, warum ich sie beseitigen will.«

Nach kaum merklichem Zögern nickte Jensen. »Ja, das verstehe ich.«

»Also hilfst du mir.«

Cynthia Ernst und Patrick Jensen sprachen zwei Stunden lang miteinander - manchmal hitzig, gelegentlich ruhig, dann wieder beschwörend, aber niemals leichthin. Ihre Überlegungen, Argumente, Zweifel, Einwände, Widersprüche, Drohungen und Beschwörungen wurden wie Dominosteine aufgebaut, über den Haufen geworfen und erneut aufgestellt.

Einmal versuchte Patrick es mit Einwänden: »Und nehmen wir mal an, ich würde nicht auf deinen verrückten Vorschlag eingehen, sondern dich auffordern, dich zum Teufel zu scheren. Würdest du dann wirklich diese Büchse der Pandora öffnen, die mich auf den elektrischen Stuhl bringen könnte? Damit hättest du nichts erreicht.«

»Ja, ich würde es tun«, antwortete Cynthia. »Ich würde dir nichts androhen, wenn meine Drohung nicht ernstgemeint wäre. Außerdem hast du's verdient, bestraft zu werden - wenn nicht meinetwegen, dann wegen Naomi.«

»Aber was tätest du dann, edle Ritterin?« Jensens Stimme klang verächtlich. »Wie würdest du deinen Plan ohne mich ausführen?«

»Ich würde mir einen anderen suchen.«

Und das würde sie tun, das wußte er.

Viel später wandte Jensen ein: »Ich habe dir erzählt, daß ich ein Verbrechen aus Leidenschaft begangen habe, ich bekenne mich dazu und wünschte, ich könnte es ungeschehen machen. Aber ich könnte niemals - ich brächte es einfach nicht über mich, das weißt du genau - eiskalt einen sorgfältig geplanten Mord verüben.« Er hob abwehrend die Hände. »Ob's dir gefällt oder nicht, so bin ich eben.«

»Das weiß ich alles«, sagte Cynthia. »Das habe ich schon immer gewußt.«

Jensen war verblüfft. »Aber warum, zum Teufel, hast du mich dann... «

»Ich will, daß du jemanden für die Tat anheuerst«, antwortete sie gelassen. »Und ihn dafür bezahlst.«

Jensen holte tief Luft, hielt sie sekundenlang an und atmete dann langsam aus. In Körper und Geist empfand er ungeheure Erleichterung. Im nächsten Augenblick fragte er sich: Weshalb?

Die Antwort darauf wußte er bereits. Cynthia hatte ihn geschickt und mit zynischer Psychologie in eine Situation hineinmanövriert, in der dieser Vorschlag ihm als das kleinere Übel erscheinen mußte: Lebenslängliche Haft oder vielleicht sogar die Todesstrafe für den Mord an Naomi und ihrem Freund - oder das Risiko, jemanden für einen weiteren Doppelmord zu finden, zu dem er selbst nicht imstande gewesen wäre. Vielleicht brauchte er nicht mal dabeizusein, wenn es passierte. Natürlich bestand die Gefahr, entdeckt, angeklagt und bestraft zu werden. Aber das war auch in der Nacht, in der er Naomi erschossen hatte, der Fall gewesen.

Cynthia lächelte schwach, während sie Patrick beobachtete. »Na, hast du's rausgekriegt?«

»Du bist eine Hexe und ein Biest!«

»Aber du tust's«, stellte sie fest. »Dir bleibt nichts anderes übrig.«

Als geborener Geschichtenerzähler betrachtete Jensen das Ganze seltsamerweise schon als Spiel. Das war vermutlich abartig, bestimmt verabscheuungswürdig. Trotzdem war es ein Spiel, das er spielen und gewinnen konnte.

»Ich weiß, daß du dich in letzter Zeit mit sehr zweifelhaften Gestalten herumgetrieben hast«, stellte Cynthia fest. »Du brauchst nur den richtigen Mann zu finden.«

Tatsächlich war Jensen allmählich immer tiefer in die kriminelle Unterwelt eingetaucht, seit er vor über zwei Jahren beschlossen hatte, einen Roman über den illegalen Drogenhandel zu schreiben. Seine Recherchen hatte er bei Kleindealern begonnen - was einfach war, weil er manchmal Kokain für den Eigenbedarf kaufte -, die ihn größeren Haien weiterempfohlen hatten.

Einige dieser Großdealer, die bereit waren, sich aus Neugier mit ihm zu treffen, blieben lange mißtrauisch, bis sie die Überzeugung gewannen, ein leibhaftiger Schriftsteller - »ein cleverer Bursche, dessen Name auf Büchern steht« -, sei vertrauenswürdig. Auch die angeborene Eitelkeit von Berufsverbrechern und ihr Bedürfnis, um jeden Preis aufzufallen, öffneten Jensen manche Türen. Bei Drinks und vertraulichen Gesprächen in Bars und Nachtklubs wurde er häufig gefragt: »Komme ich in deinem nächsten Buch vor?« Seine Standardantwort lautete: »Vielleicht.« So lernte Jensen allmählich mehr Verbrecher kennen, als er für bloße Recherchen brauchte, und betätigte sich später gelegentlich selbst als Dealer und Drogenkurier, was überraschend leicht und erfreulich lukrativ war.

Den Gewinn konnte er gut gebrauchen, denn sein Kriminalroman verkaufte sich schlecht, und als auch das folgende Buch ein Flop wurde, schienen Patricks große Bestsellertage gezählt zu sein. Zur selben Zeit verspekulierte er sich, weil er schlechte Berater gehabt hatte, und seine Ersparnisse schmolzen in beunruhigendem Tempo dahin.

Alle diese Faktoren ließen Cynthias bizarres Vorhaben zumindest möglich, nicht ganz undenkbar, vielleicht sogar interessant erscheinen.

»Du weißt, daß jemand für diesen Job eine Menge Geld verlangen wird«, erklärte er Cynthia. »Und soviel Geld habe ich nicht.«

»Ja, ich weiß«, sagte sie. »Aber ich habe reichlich.« Und das stimmte auch.

Im Rahmen seiner Bemühungen, mit seiner jahrelang von ihm mißbrauchten Tochter Frieden zu schließen, erhielt sie von Gustav Ernst einen großzügigen monatlichen Zuschuß, der ihr Gehalt fast verdoppelte und ihr ein Luxusleben ermöglichte.

Cynthia akzeptierte dieses Geld als etwas, das ihr zustand.

Außerdem sorgte Ernst dafür, daß immer wieder größere Beträge auf ein für Cynthia eingerichtetes Bankkonto auf den Cayman Islands eingezahlt wurden. Aber Cynthia, der es nicht eingefallen wäre, sich dafür zu bedanken, hatte dieses Geld bisher nicht angerührt, obwohl sie wußte, daß sich auf ihrem Konto schon über fünf Millionen Dollar befanden.

Gustav Ernst war nun schon seit vielen Jahren als Investor erfolgreich; seine Spezialität waren Mehrheitsbeteiligungen an kleinen, innovativen Firmen, die Wagniskapital brauchten. Sein Instinkt war geradezu unheimlich. Fast alle Firmen, für die er sich entschied, erzielten wenig später deutliche Gewinne, die den Kurs ihrer Aktien in die Höhe trieben, worauf Ernst Kasse machte. Sein auf diese Weise angehäuftes Vermögen wurde auf über sechzig Millionen Dollar geschätzt.

Gustavs jüngerer Bruder Zachary hatte seine amerikanische Staatsbürgerschaft aufgegeben, wie es viele reiche Amerikaner taten, um nicht länger prohibitiv hohe Steuern zahlen zu müssen. Zachary lebte jetzt abwechselnd auf den Caymans und den Bahamas - beides angenehme, sonnige Steueroasen. Cynthias Bankkonto auf den Cayman Islands wurde von Zachary eingerichtet, der immer wieder größere Beträge darauf einzahlte, die jeweils als steuerfreies »Geschenk« deklariert wurden. Nach jeder Einzahlung erhielt Cynthia ein Schreiben ihres Onkels, der ihr dieses neuerliche Geschenk ankündigte.

Cynthia wußte recht gut, daß dieses Geld in Wirklichkeit von ihrem Vater stammte, der eng mit seinem Bruder zusammenarbeitete, was Steuerumgehung betraf - oder war das Steuerhinterziehung? Das kümmerte Cynthia nicht weiter, obwohl sie sich darüber im klaren war, daß Steuerumgehung legal und Steuerhinterziehung illegal war.

Um sich persönlich als Steuerzahlerin legal zu verhalten, hob Cynthia die unbeantworteten Briefe ihres Onkels auf und legte sie ihrem Steuerberater vor.

»Die Briefe sind in Ordnung«, erklärte er ihr. »Bewahren Sie sie für den Fall auf, daß Sie nachweisen müssen, daß die Einzahlungen steuerfreie Geschenke gewesen sind. Ihr Bankkonto auf den Cayman Islands und die dort eingegangenen Geldgeschenke sind völlig legal. Aber Sie müssen das Konto auf jeder Steuererklärung angeben und die Zinsen als Einkommen versteuern. Dann kann Ihnen nichts passieren.«

Als die Steuerbehörde später eine Steuererklärung Cynthias nachprüfte und ohne Einwände akzeptierte, war dies die Bestätigung für den Ratschlag ihres Steuerberaters, so daß sie nie befürchten mußte, sich illegal zu verhalten. Trotzdem hielt sie ihr Millionenvermögen auf den Caymans vor jedermann außer ihrem Steuerberater und dem U.S. Internal Revenue Service geheim. Sie hatte auch nicht vor, Patrick Jensen davon zu erzählen.

Er hatte einige Minuten lang schweigend nachgedacht.

»Reichlich Geld kann nicht schaden«, sagte er jetzt. »Deinen Plan so umzusetzen, daß die Morde nie aufgeklärt werden und alle Beteiligten dichthalten... das kostet einen Haufen Geld, vielleicht zweihunderttausend oder eine Viertelmillion Dollar.«

»Das kann ich zahlen«, stellte Cynthia fest.

»Wie?«

»Bar.«

»Okay. Welchen Zeitplan hast du?«

»Es gibt keinen - noch nicht. Laß dir bei der Suche nach dem richtigen Mann ruhig Zeit. Hauptsache, du findest einen, der clever, hart, brutal, verschwiegen und absolut zuverlässig ist.«

»Das wird nicht leicht sein.«

»Darum gebe ich dir reichlich Zeit.« Ich werde die Wartezeit in dem Bewußtsein genießen, sagte Cynthia sich, daß meine lange geplante Rache vielleicht schon bald in die Tat umgesetzt werden wird.

»Wenn du schon dabei bist«, sagte Patrick, »kannst du auch für mich einen Haufen Geld einplanen.«

»Den bekommst du vor allem dafür, daß du meinen Namen aus dieser Sache raushältst. Der Mann, den du anheuerst, darf ihn unter keinen Umständen erfahren. Niemand darf jemals auch nur andeutungsweise erfahren, daß ich die eigentliche Auftraggeberin bin. Und je weniger Einzelheiten ich weiß, desto besser - aber ich muß das Datum mindestens zwei Wochen im voraus wissen.«

»Damit du dir ein Alibi verschaffen kannst?«

Cynthia nickte. »Damit ich dreitausend Meilen weit entfernt sein kann.«

3

»Laß dir bei der Suche nach dem richtigen Mann ruhig Zeit«, hatte Cynthia zu Patrick Jensen gesagt. Aber es dauerte fast vier Jahre - weit länger, als Cynthia beabsichtigt hatte -, bevor unwiderrufliche Maßnahmen ergriffen wurden.

Die Zeit bis dorthin verging jedoch rasch, vor allem für Cynthia, die im Miami Police Department ungewöhnlich schnell Karriere machte. Aber weder Cynthias Erfolg noch der Lauf der Jahre milderte den Haß, den sie für ihre Eltern empfand. Und ihr Bedürfnis nach Rache blieb unverändert stark. Sie erinnerte Jensen regelmäßig an seine Verpflichtung, die er anerkannte, während er ihr zugleich versicherte, er sei noch auf der Suche nach dem richtigen Mann, der einfallsreich, skrupellos, brutal und zuverlässig sein müsse. Bisher sei er noch nicht aufgetaucht.

Jensen erschien das ganze Vorhaben oft unheimlich und unwirklich. Als Schriftsteller hatte er häufig über Verbrecher geschrieben, aber die Beschäftigung war immer abstrakt geblieben - Wörter und Zeilen auf einem Bildschirm. Er hatte immer geglaubt, die düstere Welt des Verbrechens gehöre zu anderen Leuten, denen er ganz unähnlich sei. Aber jetzt war er einer von ihnen geworden. In blinder Wut hatte er ein Schwerverbrechen verübt, das mit einem Schlag sein bis dahin gesetzestreues Leben beendete. Gerieten auch andere ähnlich überstürzt und unabsichtlich in die Unterwelt? Er vermutete, daß es viele waren.

Während die Monate verstrichen, fragte er sich manchmal:

Was ist nur aus dir geworden, Patrick Jensen? Und er antwortete objektiv: Egal, du bist schon zu weit gegangen, es gibt kein Zurück mehr... Anständigkeit ist ein Luxus, den du dir nicht mehr leisten kannst... Ein Gewissen hast du früher haben können, aber jetzt nicht mehr... Kommt jemals heraus, was du getan hast, wird nichts - nicht die geringste Kleinigkeit – vergeben oder vergessen... Also geht's ums nackte Überleben... Überleben um jeden Preis... selbst um den Preis anderer Menschenleben...

Zugleich litt Jensen weiter unter dem Gefühl, etwas ganz Irreales zu erleben.

Im Gegensatz zu ihm hatte Cynthia bestimmt keine solchen Vorstellungen. Ihre hartnäckige Unbeirrbarkeit ließ sie niemals ein Ziel aufgeben. Da er wußte, wie dieser Charakterzug sich auswirken konnte, war ihm klar, daß er seinem Auftrag, einen Mörder für Cynthia Ernsts Eltern zu finden, nicht entgehen konnte. Versagte er dabei, würde sie ihre Drohung wahrmachen und ihn vernichten.

Im Grunde genommen, das erkannte Jensen, war er nicht mehr derselbe Mensch wie früher. Er war zu einem egoistischen, skrupellosen Fremden geworden.

Während die Verwirklichung ihres Hauptziels sich verzögerte, hatte Cynthia ein Nebenziel erreicht, als sie durch Ausnützung ihres höheren Dienstgrads und eine bösartig akribische Auswertung alter Unterlagen verhindert hatte, daß Malcolm Ainslie zum Lieutenant befördert wurde. Was sie dazu trieb, war selbst Cynthia nur allzu bewußt. Nach einer Kindheit, die einer äußersten Zurückweisung gleichgekommen war, stand ihr Entschluß fest, sich niemals mehr in eine solche Situation bringen zu lassen. Aber Malcolm hatte sie zurückgewiesen, und das würde sie ihm nie verzeihen.

Nachdem ihre endgültige Abrechnung mit Gustav und Eleanor Ernst sich lange hinausgezögert hatte, fand Cynthia schließlich, sie habe lange genug gewartet. Das teilte sie Patrick während eines Wochenendes in Nassau auf den Bahamas mit, wo sie wieder in verschiedenen Hotels wohnten - Cynthia in dem luxuriösen Paradise Island Ocean Club.

Nach einem langen, befriedigenden Vormittag im Bett setzte Cynthia sich plötzlich auf. »Hör zu, du hast überreichlich Zeit gehabt. Ich will bald Action sehen, sonst unternehme ich etwas.« Sie beugte sich zu Patrick hinüber und küßte ihn auf die Stirn.

»Und glaub mir, Sweetheart, woran ich denke, würde dir nicht gefallen.«

»Ja, ich weiß.« Jensen, der schon länger ein Ultimatum dieser Art erwartet hatte, fragte: »Wie lange habe ich Zeit?«

»Drei Monate.«

»Sagen wir sechs.«

»Vier - ab morgen.«

Er seufzte, denn er wußte, daß das ihr Ernst war. Und er war sich aus Gründen, die bei ihm lagen, darüber im klaren, daß die Zeit gekommen war.

Jensen hatte ein weiteres Buch geschrieben, das wie die beiden vorhergehenden im Vergleich zu seinen früheren Bestsellern ein Reinfall war. Deshalb wurden die Vorschüsse, die Patrick für die drei Romane erhalten und längst ausgegeben hatte, nicht verdient, und er hatte keine Tantiemen zu erwarten. Der nächste Schritt war vorauszusehen gewesen. Sein amerikanischer Verlag, der ihm früher hohe Vorschüsse für noch nicht geschriebene Bücher gezahlt hatte, verweigerte sie jetzt und wollte nur noch Verträge über komplett vorgelegte und für gut befundene Manuskripte abschließen.

Deshalb war Jensens Lage verzweifelt. Er hatte seinen luxuriösen Lebensstil in den letzten Jahren nicht geändert und damit nicht nur seine letzten Reserven aufgebraucht, sondern sich auch in hohe Schulden gestürzt. Somit war die Aussicht auf eine Viertelmillion Dollar, um einen Mörder anzuheuern - eine Summe, von der Jensen die Hälfte einstecken wollte, während er sich einen ähnlichen Betrag für seine Vermittlerdienste ausrechnete -, jetzt dringend und verlockend.

Durch eine ganze Reihe von Zufällen kam er dem gesuchten Mann näher. Diese Zufälle, die an sich nichts mit Patrick zu tun hatten, betrafen die Polizei, eine Gruppe invalider Veteranen aus dem Vietnam- und Golfkrieg und Drogen. Die Veteranen, die nach schweren Verwundungen im Rollstuhl saßen, hatten in der Nachkriegszeit Drogen genommen; jetzt waren sie wieder clean und führten einen Feldzug gegen Drogenhändler. In ihrem unruhigen, gemischtrassigen Viertel führten sie einen Privatkrieg gegen alle, die mit Drogen handelten und das Leben so vieler, besonders junger Menschen zerstörten. Die Mitglieder der Gruppe wußten, daß viele in ihrer Wohngegend versuchten, gegen Drogen und Dealer zu kämpfen - meist erfolglos. Aber die Veteranen in ihren Rollstühlen waren erfolgreich, bildeten eine Art Bürgerwehr und versorgten die Polizei heimlich mit Informationen.

Paradoxerweise war ihr Anführer kein Veteran oder bekehrter Drogensüchtiger, sondern ein ehemaliger Sportler und Student. Der dreiundzwanzigjährige Stewart Rice, den alle seine Freunde Stewie nannten, war vor vier Jahren als Freeclimber verunglückt und saß seitdem querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Auch er hatte den starken Wunsch, junge Menschen vor Drogen zu bewahren, und sein Bündnis mit den Veteranen basierte auf gemeinsamen Überzeugungen und der Solidarität, die Rollstuhlfahrer instinktiv füreinander empfinden.

Seine Beweggründe erläuterte Rice neuen Mitgliedern dieser mit drei Vietnamveteranen gegründeten Gruppe, die inzwischen aus einem Dutzend Rollstuhlfahrern bestand, so: »Junge Menschen, Jugendliche mit heilem Körper und aktivem Leben, werden von gewissenlosen Dealern vernichtet, die hinter Gitter gehören. Und wir tragen dazu bei, daß sie dort hinkommen.«

Die Taktik der Gruppe bestand daraus, Informationen über Dealer, ihre Lieferanten und ihre Vertriebswege zu sammeln, um sie anonym an die Drogenfahnder der Miami Police weiterzugeben.

Im Gespräch mit einem guten Freund erläuterte Rice diese Taktik: »Als Rollstuhlfahrer können wir uns überall, wo mit Drogen gehandelt wird, frei bewegen, ohne daß jemand auf uns achtet. Nehmen die Leute uns überhaupt wahr, glauben sie vermutlich, daß wir wie all die Kerle in der Bird Road betteln. Bloß weil unsere Beine gelähmt sind, halten sie uns auch für hirngeschädigt - vor allem die Dealer und Junkies, die ihre paar Gehirnzellen längst durch Drogen abgetötet haben.«

Die Drogenfahnder waren zunächst skeptisch, als die ersten Anrufe kamen, für die Rice immer sein Mobiltelefon benutzte, um nicht aufgespürt werden zu können. Sobald wieder ein Tip eingegangen war, fragte der jeweilige Beamte nach dem Namen des Informanten, aber Rice sagte jedesmal nur »Stewie«, bevor er die Verbindung rasch unterbrach. Aber sobald sich zeigte, daß seine Hinweise brauchbar und zuverlässig waren, wurde er nach jeder Ankündigung: »Hier ist Stewie!« freundlich begrüßt: »Hallo, Kumpel! Was haben Sie diesmal für uns?« Niemand versuchte, hinter seine Identität zu kommen. Wozu sollte man es sich mit ihm verderben?

Hinweise von Stewies Gruppe ermöglichten den Drogenfahndern gezielte Aktionen gegen den organisierten Drogenhandel. Verhaftungen und Verurteilungen häuften sich. Teile von Coconut Grove wurden fast clean. Aber dann riß der Faden ab.

Die Drahtzieher des Drogenhandels erkannten, daß irgendwo Spitzel am Werk sein mußten, und begannen Fragen zu stellen. Zunächst gab es keine Antworten. Dann hörte ein verhafteter Dealer, wie ein Drogenfahnder zu einem Kollegen sagte: »Stewies Tip ist wieder mal klasse gewesen.«

Binnen Stunden lief eine Frage wie ein Lauffeuer durch Coconut Grove: »Wer zum Teufel ist dieser Stewie?«

Die Antwort kam schnell. Und durch Klatsch aus der Nachbarschaft wurde die Taktik der Rollstuhlfahrer entlarvt.

Stewart Rice mußte beseitigt werden; und zwar auf eine Art und Weise, die seinen Mitstreitern als Warnung dienen sollte.

Für den folgenden Tag wurde ein Berufskiller angeheuert, und bei dieser Gelegenheit lernte Patrick Jensen durch Zufall den Mann kennen, den er suchte.

Jensen war Stammgast im Brass Doubloon geworden, einer lauten, verräucherten Bar, die das Stammlokal vieler Dealer war. Als er an diesem Abend hereinkam, rief ihm jemand von einem der Tische aus zu: »Hey, Pat! Schreibst du gerade was Neues, Mann? Komm rüber und erzähl uns davon!«

Die Stimme gehörte einem hageren, pockennarbigen Berufsverbrecher namens Arlie, der ein ellenlanges Vorstrafenregister aufwies. Er saß mit Freunden zusammen, die Jensen bei den Recherchen für seinen Kriminalroman ebenfalls kennengelernt hatte. Mitten in dieser Gruppe befand sich ein riesiger, brutal wirkender Unbekannter mit breiten Schultern, muskulösen Armen, Bürstenfrisur und dem Teint eines Mulatten. Der Fremde, der die anderen zwergenhaft erscheinen ließ, machte ein finsteres Gesicht. Er knurrte eine Frage, die einer der Männer am Tisch eilfertig beantwortete.

»Pat ist okay, Virgilio. Er schreibt Bücher, weißt du. Du erzählst ihm Scheiß, und er macht 'ne Story draus. Bloß 'ne Story - nichts Wahres, das uns schaden könnte.«

»Yeah, Pat hält die Klappe«, bestätigte ein anderer. »Er weiß, was gut für ihn ist. Stimmt's, Pat?«

Jensen nickte. »Klar weiß ich das.«

Die anderen rückten etwas auseinander, damit ein weiterer Stuhl am Tisch Platz hatte. Jensen lächelte dem riesigen Unbekannten freundlich zu. »Du brauchst mir nichts zu erzählen, Virgilio, und ich hab' deinen Namen schon wieder vergessen. Aber ich möchte dich trotzdem was fragen.« Alle starrten ihn an. »Darf ich dich zu einem Drink einladen?«

Der Riese musterte Jensen unverändert finster. Dann sagte er mit starkem Akzent: »Ich spendiere Drinks.«

»Um so besser.« Jensen wich seinem Blick nicht aus. »Einen doppelten Black Label.«

Der Barmixer hinter ihnen rief: »Kommt sofort!«

Virgilio stand auf. So wirkte er noch riesiger. »Ich geh' erst pissen«, knurrte er und wandte sich ab.

Als er verschwunden war, sagte Dutch, der vorhin als zweiter gesprochen hatte, zu Patrick: »Er taxiert dich. Hoffentlich mag er dich.«

»Was kümmert's mich, ob er mich mag oder nicht?«

»Mit Virgilio ist nicht zu spaßen, Mann. Er ist Kolumbianer, hat aber oft in Miami zu tun. Bei ihm in Kolumbien haben neulich vier Kerle ihren Boß verpfiffen - haben mit den Cops geredet. Virgilio sollte ihnen zeigen, daß man das nicht tut. Weißt du, was er gemacht hat?«

Jensen schüttelte den Kopf.

»Er hat die vier Kerle aufgespürt und mit ausgestreckten Armen zwischen Bäume gebunden. Dann hat er sich mit 'ner Kettensäge an die Arbeit gemacht - hat einem nach dem anderen den rechten Arm abgeschnitten.«

Jensen trank hastig einen Schluck Scotch.

»Könnte dir nützen, Virgilio zu kennen«, flüsterte Arlie ihm zu. »Heute nacht ist Action angesagt. Interessiert?«

»Ja.« Noch während er das sagte, hatte Jensen einen neuen Einfall.

»Wenn er zurückkommt«, fuhr Dutch fort, »wartest du 'ne halbe Minute, dann gehst du aufs Klo und läßt dir Zeit. Wir fragen Virgilio, ob's ihm recht ist, wenn du mitkommst.«

Jensen hielt sich an diese Anweisungen. Als er zurückkam, nickte Dutch ihm zu.

»Du fährst einfach weiter dem Jeep nach«, wies Dutch Jensen an. »Hält er und macht das Licht aus, tust du's auch.«

Es war fast zwei Uhr morgens. Die beiden Männer saßen in Jensens Volvo und waren auf dem Florida's Turnpike sechzig Kilometer weit hinter einem Chrysler Cherokee mit Arlie als Fahrer und Virgilio auf dem Beifahrersitz nach Süden gefahren. Gleich hinter Florida City, wo die Everglades begannen, bogen sie auf die Cart Sound Road ab - eine einsame Nebenstraße nach Key Largo. Bei Halbmond konnte Jensen das Wattengebiet und die auf beiden Ufern im Schlick liegenden baufälligen Hausboote sehen. Sie hatten die Straße für sich allein, weil Autofahrer diese Strecke nachts mieden und lieber auf dem befahreneren und sichereren Highway US 1 blieben.

»Verdammt, ich könnt's in keinem dieser Scheißkähne aushalten«, sagte Dutch. »Und du?« Die Autoscheinwerfer hatten ihnen einen verrotteten alten Schlepper mit einem handgemalten Schild Blue Crabbs For Sale gezeigt. Patrick Jensen, der sich inzwischen fragte, warum er überhaupt mitgefahren war, gab keine Antwort.

In diesem Augenblick bog der Jeep vor ihnen von der Straße auf eine mit Kies bestreute Fläche ab, und Arlie schaltete seine Scheinwerfer aus. Jensen bog ebenfalls ab, schaltete die Scheinwerfer aus und stieg aus seinem Volvo. Die beiden anderen standen schweigend neben dem Jeep.

Der große Kolumbianer trat ans Wasser und starrte mit zusammengekniffenen Augen ins Dunkel hinaus.

Plötzlich tauchten hinter ihnen Scheinwerfer auf. Ein Lieferwagen mit der seitlichen Werbeaufschrift Plumber's Pal bog von der Straße ab und hielt neben Arlies und Virgilios Jeep. Patrick fiel auf, daß die beiden Männer, die sofort ausstiegen, Handschuhe trugen. Die Neuankömmlinge gingen zur Hecktür des Lieferwagens, wo die anderen sich zu ihnen gesellten. Jensen hielt sich im Hintergrund.

Auf der Ladefläche wurde ein Gegenstand sichtbar. Als er zur Tür gezogen wurde, erkannte Patrick einen Rollstuhl, der hinten transportiert worden war. In diesem Rollstuhl saß eine mit Stricken gefesselte Gestalt, die gegen ihre Fesseln anzukämpfen schien. Virgilio trat vor; auch er hatte sich inzwischen Handschuhe übergestreift. Der Kolumbianer hob den Rollstuhl heraus, als sei er federleicht, und stellte ihn auf den Kies.

Nun erkannte Jensen, daß der vor ihm Sitzende ein gefesselter und geknebelter junger Mann war, der verzweifelt mit den Augen rollte, während er sich bemühte, den Knebel herauszustoßen. Irgendwie gelang es ihm tatsächlich, einen Teil davon auszuspucken. Er wandte sich hilfesuchend an Jensen, der sich etwas im Hintergrund hielt, und stieß flehend hervor: »Ich bin entführt worden! Ich heiße Stewie Rice. Diese Leute wollen mich ermorden! Bitte helfen... «

Aber er konnte den Satz nicht zu Ende bringen, weil Virgilios mächtige Pranke in sein Gesicht krachte. Aus seiner Nase schoß ein Blutstrom; sein lauter Aufschrei wurde sofort erstickt, als Dutch ihm den Knebel wieder zwischen die Zähne zwängte. Trotzdem starrte der Gefesselte weiter hilfesuchend und verzweifelt zu Jensen hinüber. Patrick mußte sich abwenden.

»Wir gehen schnell«, befahl Virgilio den anderen. Er schob den Rollstuhl zum Wasser und hob ihn wieder mühelos hoch, als er einmal steckenblieb. Die beiden Männer, die mit dem Lieferwagen gekommen waren, folgten ihm; einer trug eine Kette, der andere schleppte einen Betonklotz mit eingegossener Öse. Dutch, der ihnen folgte, machte Jensen ein Zeichen, er solle ebenfalls mitkommen. Patrick setzte sich widerstrebend in Bewegung. Arlie blieb bei den Fahrzeugen zurück.

Sie wateten durch knöcheltiefes Wasser, das jedoch weiter draußen in der vor Jahren ausgebaggerten Fahrrinne zweieinhalb bis drei Meter tief war. Die Männer aus dem Lieferwagen gingen um ein Mangrovendickicht voraus, bis sie eine kleine Bucht mit seichtem Wasser und üppigem Seegrasbewuchs erreichten. Sie schienen die Stelle zu kennen, denn sie blieben stehen, sobald das Wasser tiefer wurde. »Hier sind wir richtig«, sagte einer von ihnen.

Virgilio, der den Rollstuhl mit seinem in panischer Angst gegen die Fesseln ankämpfenden Insassen mühelos allein schob, stieß ihn ins Wasser, bis nur noch Kopf und Schultern des Gefesselten herausragten. Die beiden anderen Männer zogen die mitgebrachte Kette durch die Räder des Rollstuhls und befestigten sie mit einem Vorhängeschloß an dem Betonklotz, den sie in tieferes Wasser klatschen ließen.

»Der schwimmt nicht mehr«, stellte Dutch fest. »Die Flut kommt bereits rein - in einer Stunde steht sie über seinem Kopf.« Er lachte. »Da hat er Zeit, über alles nachzudenken.«

Der junge Mann im Rollstuhl, der offenbar alles mitbekommen hatte, stöhnte lauter und versuchte noch heftiger, sich von seinen Fesseln zu befreien. Aber damit erreichte er nur, daß der Rollstuhl tiefer ins Wasser sank.

Im Dunkeln zitterte Jensen unkontrollierbar. Seit er den gefesselten jungen Mann gesehen hatte, war ihm klar, daß er an einem Mord beteiligt sein würde - zumindest duldend, womit der Tatbestand der Beihilfe erfüllt war. Aber er wußte auch, daß er nicht lebend davonkommen würde, wenn er jetzt zu fliehen versuchte. Virgilio würde keine Sekunde zögern, ihn als unerwünschten Augenzeugen zu beseitigen.

In seinem Innersten fragte eine leise Stimme aus der Vergangenheit: Was bin ich? Wann habe ich aufgehört, Mitgefühl zu empfinden?... Und dann erinnerte Jensen sich an eine frühere Einsicht: Der Mensch, der ich früher gewesen bin, existiert nicht mehr.

»Wir gehen«, kündigte Virgilio an.

Als sie ans Ufer zurückwateten und den Rollstuhl mit seinem Insassen im Wasser zurückließen, versuchte Jensen, nicht daran zu denken, wie Stewie Rice sterben würde. Aber er tat es unweigerlich doch. Er stellte sich vor, wie Rice hilflos zusehen mußte, wie die hereinkommende salzige Flut höher, immer höher stieg...

Jensen schaffte es nur mit gewaltiger Willensanstrengung, an etwas anderes zu denken.

An Land ließ Virgilio die anderen Männer stehen und trat dicht an Patrick Jensen heran. »Du behältst diese Sache für dich. Sonst komme ich und leg' dich um.«

»Ich muß dichthalten, stimmt's? Schließlich hab' ich mitgemacht.« Jensen wich keinen Schritt zurück und versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen. Er wollte sich auf keinen Fall von Virgilio einschüchtern lassen.

»Yeah«, gab der große Mann zu. »Du bist mit dabei.«

»Ich muß mal privat mit dir reden«, sagte Jensen halblaut. »Unter vier Augen.«

Virgilio wirkte überrascht. Nach kurzer Pause zog er fragend die Augenbrauen hoch.

»Genau«, bestätigte Jensen, weil er wußte, daß seine unausgesprochene Botschaft angekommen war.

»Ich muß nach Kolumbien«, sagte Virgilio. »Aber ich komme zurück, ich finde dich.«

Jensen wußte, daß er das tun würde. Und er wußte, daß er seinen Killer gefunden hatte.

Einige Harley-Davidson-Fahrer, die am nächsten Morgen vorbeikamen, entdeckten den tief im Wasser stehenden Rollstuhl als erste. Sie fuhren zu Alabama Jack's, einer in der Nähe liegenden beliebten Biker-Bar, und riefen von dort aus die 911 an, um die Metro-Dade Police zu alarmieren. Zwei uniformierte Polizisten und zwei Sanitäter wateten ins Wasser; der ältere der beiden Sanitäter erklärte den Mann für tot. Stewart Rice wurde anhand seiner bei ihm gefundenen Kreditkarten mühelos identifiziert. Unterdessen waren Reporter aus Florida City, die den Polizeifunk abgehört hatten, in Massen herbeigeströmt.

Viele Zeitungen und das Fernsehen verbreiteten dramatische Bilder von der Bergung des Rollstuhls mit der nach vorn gesackten, noch immer gefesselten Gestalt des Ertrunkenen. Unabsichtlich förderten sie damit das Ziel dieses Verbrechens, das anderen - vor allem den Veteranen im Rollstuhl - als Warnung dienen sollte. Da ihre Gruppe und ihre Methoden offenbar bekannt waren, stellten die Rollstuhlfahrer die Überwachung von Dealern ein, so daß die Drogenfahnder aus dieser Quelle keine Tips mehr erhielten.

»Schade um Stewie«, sagte ein Drogenfahnder nach einigen Tagen zu einem Kollegen. »Jemand muß nicht dichtgehalten haben. Aber so geht's immer.«

Einige Tage später rief Patrick Cynthia zu Hause an, um ein Treffen mit ihr zu vereinbaren. Vor ihrem Abflug von den Bahamas hatte sie ihn gewarnt, bis ihr Ziel erreicht sei - und auch längere Zeit danach -, dürften sie nicht mehr miteinander gesehen werden. Deshalb sollte Jensen nicht mehr zu ihr kommen, sondern sie notfalls privat anrufen, damit sie ein unbedingt erforderliches Treffen an einem Ort vereinbaren konnten, wo sie vermutlich niemand kannte. Bei diesem Anruf bestellte Cynthia ihn für den folgenden Sonntag nach Boca Raton, das gut erreichbar, aber weit genug von Miami entfernt war. Als Treffpunkt nannte sie ihm Pete's Restaurant in der Glades Road, in dem sie bestimmt nicht damit rechnen mußten, erkannt zu werden.

Jensen kam etwas früher und wartete in seinem Volvo, bis Cynthia erschien und in seiner Nähe parkte. Sie betraten gemeinsam das hübsche Restaurant und entschieden sich für einen Tisch auf der Veranda mit Blick auf den Springbrunnen und einen See, an dem sie ungestört waren. Cynthia bestellte einen griechischen Salat, Patrick den »Fang des Tages«, ohne zu wissen, welchen Fisch er bekommen würde; die Bezeichnung erschien ihm irgendwie passend.

Sobald der Ober gegangen war, kam er ohne weitere Vorrede zur Sache.

»Ich habe den Mann gefunden, den wir brauchen.« Jensen beschrieb ihr Virgilio und erwähnte, was seine Freunde im Brass Doubloon ihm über den riesigen Kolumbianer erzählt hatten.

»Woher weißt du, daß er...«, begann Cynthia, aber Patrick unterbrach sie mit einer ungeduldigen Handbewegung.

»Das ist noch nicht alles. Ich habe miterlebt, wie er arbeitet.« Er senkte seine Stimme und begann ihr zu schildern, was sich vor einigen Tagen am Card Sound ereignet hatte. Als er beschrieb, wie der Lieferwagen den Mann im Rollstuhl gebracht hatte, fauchte Cynthia ihn über den Tisch hinweg mit funkelnden Augen an: »Halt die Klappe, verdammt noch mal!« Er schwieg verblüfft, und sie fügte hinzu: »Erzähl's mir nicht. Ich will nichts davon wissen.«

Er zuckte mit den Schultern. »Nun, jetzt weißt du's. Der springende Punkt ist, daß Virgilio den Rollstuhlmord verübt hat. Von dem mußt du gehört haben.«

»Natürlich habe ich davon gehört!« Cynthia war zornrot und atmete schwer. »Paß auf, du Idiot! Das hättest du mir nicht erzählen müssen, und ich verlange, daß du vergißt, daß du's getan hast. Du streichst diese letzten Minuten aus deinem Gedächtnis, verstanden?«

»Okay, wenn du darauf bestehst, aber ich wollte auf etwas anderes hinaus...« Jensen machte eine Pause, als ihr Essen serviert wurde. Als der Ober wieder gegangen war, beugte er sich nach vorn und senkte seine Stimme noch mehr. »Der springende Punkt ist, daß es Virgilio Spaß macht, Leute zu ermorden; ich habe ihn in dieser Nacht beobachtet. Er ist clever und kennt keine Angst.«

Cynthia, die noch immer sichtlich aufgebracht war, fragte erst nach längerer Pause: »Weißt du bestimmt, daß er sich bei dir melden wird?«

»Yeah, das weiß ich bestimmt. Er will offenbar in Kolumbien abwarten, bis die Aufregung über den Rollstuhlmord sich gelegt hat, aber er kommt zurück; dann rede ich mit ihm darüber, ob er deine Eltern beseitigen will. Ich weiß, daß er's tun wird. Aber bis dahin müssen die Voraussetzungen stimmen. Vor allem brauchen wir Bargeld.«

»Das liegt bereit.«

»Zweihunderttausend?«

»Das ist der Betrag, von dem du gesprochen hast.«

»Und noch einmal die gleiche Summe für mich.«

Cynthia zögerte, dann stimmte sie zu: »Also gut, aber erst danach.«

»Einve rstanden.«

Sie schien sich wieder beruhigt zu haben. »Ich habe eine Idee, was die Morde betrifft«, sagte sie etwas ruhiger.

»Laß hören.«

»In letzter Zeit hat's zwei Doppelmorde gegeben, einen in Coconut Grove, den anderen in Fort Lauderdale; sie sind anscheinend von demselben Täter verübt worden und weisen bestimmte Eigentümlichkeiten auf. Die Mordkommission befürchtet, daß es weitere geben wird.«

»Was für Eigentümlichkeiten?«

»In Coconut Grove - ich meine den Doppelmord im Hotel Royal Colonial - sind am Tatort tote Tiere zurückgelassen worden.«

»Ich habe von den Morden im Royal Colonial gelesen - aber nichts von toten Tieren.«

»Davon haben Presse und Fernsehen nichts erfahren.«

»Und in Fort Lauderdale?«

»Darüber weiß ich nicht genau Bescheid, aber die Umstände müssen ähnlich gewesen sein.« Cynthia machte eine Pause. »Ich habe mir überlegt, ob es zweckmäßig wäre, bei der Ermordung meiner Eltern ähnlich vorzugehen... «

»Ja, ich verstehe«, sagte Jensen. »Das würde den Verdacht in eine bestimmte Richtung lenken, als ob derselbe Täter erneut zugeschlagen hätte. Kannst du nähere Einzelheiten rauskriegen?«

Sie nickte.

»Gut. Dann treffen wir uns in zwei Wochen wieder.«

Wenig später verließen sie das Restaurant, nachdem Cynthia die Rechnung bar bezahlt hatte.

Jensens Volvo war hinter Cynthias BMW-Roadster, als sie beide auf die I-95 abbogen, um in Richtung Süden nach Miami weiterzufahren. Cynthia fuhr schneller, und Jensen wartete, bis ihr Wagen außer Sicht war, bevor er die nächste Ausfahrt nahm und auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums hielt.

Er blieb im Auto sitzen, griff unter seine Jacke, knöpfte sein Hemd auf und zog darunter ein Diktiergerät hervor. Nachdem er die Kassette zurückgespult hatte, stöpselte er einen Ohrhörer ein und ließ die Aufnahme ablaufen. Obwohl sie vertraulich halblaut gesprochen hatten, war die Tonqualität ausgezeichnet. Jedes Wort war klar verständlich - auch Cynthias Reaktion auf seine Mitteilung, wer der Rollstuhlmörder gewesen war, und die anschließende Vereinbarung, ihre Eltern von Virgilio ermorden zu lassen.

Patrick Jensen lächelte. Cynthia, sagte er sich, du bist nicht die einzige, die belastende Gespräche aufnehmen kann. Die heutige Aufnahme würde er hoffentlich nie verwenden müssen, aber eines stand fest: Sollte irgend etwas schiefgehen, sollte er geschnappt und angeklagt werden, war er entschlossen, Cynthia Ernst mit ins Verderben zu reißen.

4

»Erinnerst du dich an die beiden Doppelmorde, von denen ich letztes Mal gesprochen habe?« fragte Cynthia. »Den in Coconut Grove und... «

»Natürlich«, unterbrach Patrick sie gereizt. »Du wolltest dich näher über sie informieren.«

»Nun, das habe ich getan.«

Dieses Treffen fand in der dritten Juniwoche statt - zwei Wochen nach ihrem gemeinsamen Mittagessen in Boca Raton. Sie hatten erneut zusammenkommen müssen, aber Cynthias Dienstplan ließ kein Treffen auf den Caymans oder Bahamas zu. Statt dessen hatte sie sich für Homestead entschieden, eine Kleinstadt, die etwas mehr als fünfzig Kilometer südlich von Miami das Einfallstor zu den Everglades bildete. Sie fuhren getrennt hin und trafen sich dort im Restaurant Potlikkers.

Die Autofahrt hatte Jensen ermüdet; sein Schlaf war letzte Nacht wieder so schlecht gewesen wie schon in den Nächten davor. Und er hatte Alpträume gehabt. Auch wenn er sich nur vage an Einzelheiten erinnern konnte, war er in Schweiß gebadet hochgeschreckt; in dem nebulösen Niemandsland zwischen Schlafen und Wachen erinnerte er sich wieder an einen Rollstuhl unter Wasser und glaubte jedesmal, Virgilios finstere Miene vor sich zu sehen.

Das Restaurant Potlikkers war rustikal eingerichtet. Cynthia und Patrick saßen etwas abseits von den übrigen Gästen auf einer Eckbank an einem Tisch mit gehobelter Kiefernholzplatte. Cynthia hatte einen Aktenkoffer dabei, der nun auf der Bank neben ihr stand. Sie musterte Patrick prüfend. »Irgendwas nicht in Ordnung?«

»Um Himmels willen! Ist denn irgendwas in Ordnung?« Jensen hätte beinahe gelacht und überlegte, ob er sagen sollte:

Nein, alles in bester Ordnung. Wir sitzen nur hier, um zwei Morde zu planen, für die wir beide ein Motiv haben, falls dir das entgangen sein sollte, und die einige der besten Kriminalbeamten Miamis aufzuklären versuchen werden... Womöglich gelingt ihnen das sogar. Wer weiß, vielleicht werden wir gemeinsam auf dem elektrischen Stuhl landen... Aber ansonsten ist alles in bester Ordnung.

»Nicht so laut!« ermahnte Cynthia ihn. »Und reiß dich gefälligst zusammen! Es gibt keinen Grund, beunruhigt zu sein, denn alles wird klappen - und das kann ich besser beurteilen als du. Hast du von deinem Mann gehört, über den wir gesprochen haben? Aber keinen Namen nennen!«

Jensen nickte. »Vor drei Tagen.«

Der Anruf war fünfzehn Tage nach dem Rollstuhlmord gekommen. Nichts deutete darauf hin, woher der Anruf kam; Patrick hatte nicht danach gefragt, vermutete aber, daß er aus Kolumbien kam.

»Sie wissen, wer ich bin, aber nicht sagen.« Das war eindeutig Virgilios Stimme.

»Ja, das weiß ich.«

»Ich komme bald. Sie wollen noch?«

»Ja.« Virgilio drückte sich offenbar so knapp wie möglich aus. Jensen folgte seinem Beispiel.

»In ein bis zwei Wochen. Okay?«

»Okay.«

Das war alles gewesen. Nachdem Patrick ihr Gespräch wiedergegeben hatte, fragte Cynthia ihn: »Bist du sicher, daß du dich auf deinen Instinkt verlassen kannst? Er weiß, was wir wollen?«

»Bestimmt. Einen Mann wie ihn engagiert man nicht für belanglose Aufträge, das weiß er selbst am besten. Erzähl mir jetzt von diesen anderen Doppelmorden. Du hast von Eigentümlichkeiten gesprochen, nicht wahr?«

»Ja.« Eine Pause. »In Coconut Grove sind neben den Ermordeten vier tote Katzen zurückgelassen worden.«

»Vier Katzen?« fragte Jensen ungläubig.

»Frag mich nicht nach dem Grund - der ist mir so rätselhaft wie allen anderen auch. Die Mordkommission grübelt noch immer darüber nach.«

»Du hast gesagt, in Fort Lauderdale habe es einen ähnlichen Fall gegeben. Wie steht's damit?«

»Dieser Fall ist komplizierter. Die Füße des Mannes sind verbrannt worden, aber niemand weiß, weshalb. Trotzdem sieht man auch darin eine symbolische Handlung eines möglicherweise geistesgestörten Killers.«

»Was schlägst du also vor?«

»Ich bin dafür, den ersten Mord zu kopieren. Sag deinem Mann, er soll am Tatort einen Tierkadaver zurücklassen.«

»Nicht vier Katzen, hoffe ich.«

Cynthia schüttelte den Kopf. »So genau wollen wir den Täter nicht nachahmen, und ein Tier ist genug - vielleicht ein Kaninchen. Das reicht als Symbol. Außerdem gibt's weitere Eigentümlichkeiten.«

»Zum Beispiel?«

Sie beschrieb ihm, wie die Ehepaare Frost und Hennenfeld sich gefesselt und geknebelt gegenübergesessen hatten. »Und der Mörder hat ein Bowiemesser benutzt. Du kennst diese Art Messer?«

Jensen nickte. »Ich habe mal eines in einem Buch beschrieben. Leicht zu beschaffen. Weiter!«

»An beiden Tatorten hat ein Radio sehr laut harte Rockmusik gespielt.«

»Kein Problem.« Jensen konzentrierte sich, um sich diese Einzelheiten zu merken, die er sich weder jetzt noch später aufschreiben durfte.

»Alles vorhandene Geld muß gestohlen werden«, fuhr Cynthia fort. »Mein Vater hat immer viel Geld in der Tasche und läßt es auf seinem Nachttisch liegen. Aber der Schmuck meiner Mutter darf nicht angerührt werden. So ist's an diesen anderen Tatorten auch gewesen. Ich möchte, daß du das deinem Mann unmißverständlich klarmachst.«

»Das dürfte nicht schwierig sein. Schmuck läßt sich identifizieren und kann auf die Spur des Täters führen; das hat dieser andere Kerl bestimmt auch gewußt.«

»Jetzt zu ihrem Haus«, fuhr Cynthia fort. »Das hier wirst du brauchen.«

Sie schob ihm eine Werbebroschüre über Immobilien in Bay Point hin. Als Jensen sie aufschlug, fand er in der Mitte einen Straßenplan mit genau eingezeichneten Häusern. Eines davon war angekreuzt.

»Das ist...?«

»Ja«, sagte Cynthia rasch. »Außerdem solltest du wissen, daß es dort drei Hausangestellte gibt: das Ehepaar Palacio - er ist Butler, sie führt den Haushalt -, das im Haus wohnt, und ein Dienstmädchen, das früh kommt und gegen sechzehn Uhr geht.«

»Nachts sind also vier Personen im Haus?«

»Außer donnerstags. Jeden Donnerstag fahren die Palacios nach West Palm Beach, um dort Mrs. Palacios Schwester zu besuchen. Sie fahren am Spätnachmittag weg und kommen nie vor Mitternacht zurück, manchmal erst später.«

Patrick hatte das Gefühl, sein Gedächtnis sei überlastet. »Das muß ich mir notieren, bevor ich's vergesse.« Er suchte in seinen Jackentaschen nach einem Kugelschreiber.

Cynthia griff ungeduldig nach der Broschüre. »Gib her, ich schreib's dir auf.« Auf dem Umschlag notierte sie:

DM - kommt früh, geht um 16 h

EP - Donnerstagabend bis Mitternacht

Jensen steckte die Broschüre ein. »Sonst noch etwas, das ich über diese anderen Morde wissen sollte?«

»Ja, sie sind brutal gewesen.« Cynthia verzog das Gesicht, während sie ihm die Verletzungen der Ehepaare Frost und Hennenfeld beschrieb - nach Angaben in den von ihr eingesehenen Ermittlungsakten der Mordkommission der Miami Police.

Als Patrick Jensen alle Vor- und Nachteile gegeneinander abwog, gefiel ihm Cynthias Idee, diese beiden früheren Doppelmorde nachzuahmen, immer besser; auf perverse Weise, fand er, war sie sogar brillant. Dann korrigierte er sich. In dem Leben, das er jetzt zwangsweise führte, war Cynthias Idee keineswegs pervers, sondern brillant... und damit Punktum!

»Du denkst anscheinend viel nach«, sagte Cynthia über den Tisch hinweg.

Er schüttelte den Kopf und behauptete: »Ich präge mir nur die einzelnen Punkte ein.«

»Dann kannst du die Liste um einen erweitern - keine Fingerabdrücke.«

»Bestimmt kein Problem.« Jensen erinnerte sich daran, wie Virgilio sich Handschuhe übergestreift hatte, bevor er mithalf, den Rollstuhl aus dem Lieferwagen zu heben.

»Noch etwas«, sagte Cynthia. »Das ist der endgültig letzte Punkt.«

Patrick wartete.

»Zwischen den Morden in Coconut Grove und Fort Lauderdale haben vier Monate und zwölf Tage gelegen. Ich hab's nachgerechnet.«

»Und?«

»Serienmörder schlagen oft in ziemlich regelmäßigen Zeitabständen zu, was bedeutet, daß der Täter, von dem wir sprechen, in den letzten Septembertagen oder in der ersten Oktoberwoche erneut zuschlagen könnte. Auch das habe ich nachgerechnet.«

Jensen zog die Augenbrauen hoch. »Was hat das mit uns zu tun?«

»Wir kommen dem Kerl zuvor, indem wir unser Datum auf Mitte August festlegen. Sollte er dann Ende September oder Anfang Oktober erneut zuschlagen, hat das Intervall sich verschoben, aber darauf achtet niemand mehr, weil die Abstände zu unregelmäßig sind.«

Cynthia machte eine Pause. »Was hast du? Was soll das lange Gesicht?«

Patrick, dessen Miene immer zweifelnder geworden war, holte tief Luft. »Willst du wissen, was ich glaube?«

»Das ist mir eigentlich egal, aber erzähl's mir trotzdem.«

»Cynthia, ich glaube, du willst zu clever sein.«

»Wie meinst du das?«

»Je länger wir reden, desto mehr fürchte ich, etwas könnte schiefgehen, schrecklich schiefgehen.«

»Was schlägst du also vor?« fragte Cynthia eisig.

Jensen zögerte, dann antwortete er mit gemischten Gefühlen, weil er sich der Bedeutung seiner Worte durchaus bewußt war: »Daß wir aufgeben, diese ganze Sache abblasen. Hier und jetzt.«

Cynthia trank einen Schluck Diet Coke, bevor sie halblaut fragte: »Vergißt du dabei nicht etwas?«

»Du meinst vermutlich das Geld.« Als sie nickte, fuhr er sich mit seiner Zungenspitze über die Lippen.

»Ich hab's mitgebracht, um es dir zu geben.« Cynthia berührte den neben ihr liegenden Aktenkoffer. »Macht nichts, ich nehm's wieder mit.« Sie griff nach dem Aktenkoffer, stand auf um zu gehen, blieb dann aber stehen und sah auf Patrick hinunter.

»Ich bezahle an der Kasse für dich mit. Schließlich wirst du jeden Cent, den du noch besitzt, für einen Strafverteidiger brauchen, und ich schlage vor, daß du dir gleich morgen einen suchst. Solltest du dir keinen leisten können, bekommst du auf Staatskosten einen Pflichtverteidiger. Die sind allerdings nicht sehr gut, fürchte ich.«

»Bleib hier!« Jensen hielt sie am Arm fest und sagte müde: »Um Himmels willen, setz dich doch wieder.«

Cynthia nahm erneut Platz, schwieg aber hartnäckig.

Seine Stimme klang resigniert. »Okay, wenn du darauf wartest, daß ich's ausspreche: Ich ergebe mich... zum zweitenmal. Ich weiß, daß du alle Trümpfe in der Hand hältst, und ich weiß, daß du sie bedenkenlos ausspielen würdest. Machen wir also dort weiter, wo wir aufgehört haben.«

»Willst du das wirklich?« fragte Cynthia.

Er nickte schicksalsergeben. »Klar.«

»Dann merk dir, daß die Sache möglichst genau Mitte August steigen muß.« Sie sprach wieder so geschäftsmäßig, als hätten die letzten paar Minuten sich nie ereignet. »Wir dürfen uns längere Zeit nicht mehr treffen. Du kannst mich notfalls zu Hause anrufen, aber mach's kurz und sei vorsichtig mit dem, was du sagst. Und wenn du mir das Datum durchgibst, zählst du fünf Tage dazu, die ich dann wieder abziehe. Ist das klar?«

»Alles klar.«

»Sonst noch Fragen?«

»Nur eine«, antwortete Jensen. »Von dem ganzen Verschwörergerede hab' ich echt 'nen Steifen gekriegt. Wie wär's damit?«

Sie lächelte. »Ich kann's kaum noch erwarten. Komm, wir verschwinden und suchen uns ein Motel.«

Als sie gemeinsam das Restaurant verließen, sagte Cynthia plötzlich: »Hier, paß gut auf ihn auf.« Sie drückte ihm den Aktenkoffer in die Hand.

Obwohl Jensen sich Cynthia gegenüber zum Mitmachen verpflichtet und ihr Geld angenommen hatte, wurde er weiter von Zweifeln geplagt. Und ihr Vorschlag, er solle sich einen Rechtsanwalt suchen, brachte ihn auf eine Idee.

Im Downtown Athletic Club in Miami spielte Patrick immer dienstags Racquetball mit einem Mitglied namens Stephen Cruz. Die beiden Männer hatten sich dort kennengelernt und gingen nach vielen Monaten auf dem Spielfeld freundschaftlich locker miteinander um. Von anderen Clubmitgliedern und aus Medienberichten wußte Jensen, daß Cruz ein erfolgreicher Strafverteidiger war. Als sie eines Nachmittags nach einem harten, befriedigenden Spiel duschten, fragte Jensen impulsiv: »Stephen, könnte ich mich an dich wenden, falls ich mal mit dem Gesetz in Konflikt käme und Hilfe brauchte?«

Cruz starrte ihn verblüfft an. »Hey, du hast doch hoffentlich nichts... «

Patrick schüttelte den Kopf. »Nein, nein, das ist nur so eine Idee gewesen.«

»Brauchst du mich, bin ich natürlich für dich da.« Damit ließen sie es bewenden.

5

Exakt zweihunderttausend Dollar in bar. Patrick Jensen hatte das Geld in seinem Schlafzimmer gezählt - nicht Banknote für Banknote, was zu lange gedauert hätte, sondern indem er die Scheinbündel nur durchgeblättert und die auf den Banderolen angegebenen Summen zusammengezählt hatte. Zu seiner Erleichterung waren die Zwanziger und Fünfziger, aus denen etwa die Hälfte der Summe bestand, gebraucht und abgegriffen, während es sich bei den restlichen Hundertern um die 1996 eingeführten fälschungssicheren Scheine handelte.

Er vermutete, daß Cynthia genau angegeben hatte, was für Scheine sie wollte - das war für ihre Gründlichkeit typisch -, und das Geld vermutlich auf mehreren Flügen von den Cayman Islands mitgebracht hatte. Jede Einfuhr von über zehntausend Dollar war ohne entsprechende Zollerklärung illegal, aber Cynthia hatte ihm einmal erzählt, als hiesige und besonders als hohe Polizeibeamtin werde man in Miami vom Zoll selten belästigt, wenn man diskret seine Dienstplakette vorweise.

Cynthia ahnte natürlich nicht, daß Patrick von ihrem Millionenvermögen auf den Caymans wußte. Vor vier Jahren hatte er im Hyatt Regency auf Grand Cayman die Gelegenheit genutzt, Cynthias Aktenkoffer zu durchsuchen, als sie sich im Bad die Haare wusch. Unter anderen Papieren war er auf einen Kontoauszug einer hiesigen Bank gestoßen, bei der Cynthia ein Guthaben von über fünf Millionen Dollar hatte.

Ohne zu wissen, ob diese Informationen verwertbar waren, ob er sie jemals würde verwerten können, hatte er sich rasch einige Angaben notiert; am liebsten hätte er Fotokopien angefertigt, aber dafür reichte die Zeit nicht aus. Wenige Minuten später standen die wichtigsten Einzelheiten in seinem Notizbuch: der Name ihrer hiesigen Bank, Cynthias Kontonummer und der letzte Saldo; der Name ihres Steuerberaters und seine Anschrift in Fort Lauderdale; Datum und Geschäftszeichen eines Schreibens der Steuerbehörde wegen steuerfreier Geldgeschenke ihres Onkels Zachary Ernst. Später trennte Jensen die Seite aus seinem Notizbuch, schrieb das Datum darauf, zeichnete die Eintragungen ab und verwahrte das Blatt sorgfältig.

Jensen hatte einen weiteren instinktiven Verdacht in bezug auf Cynthias Millionenvermögen auf diesem Bankkonto: Sie hielt es nicht für richtiges Geld und hätte es vermutlich nie für sich verwendet; deshalb würde ihr ziemlich egal sein, wieviel sie abhob und wer das Geld bekam. Er war sich beispielsweise sicher, daß Cynthia den Verdacht hegte, er habe die für Virgilio benötigte Summe absichtlich viel zu hoch angesetzt, um einen Teil dieses Geldes für sich abzweigen zu können - zusätzlich zu dem hohen Betrag, den er nach der Tat erhalten sollte.

Jensen wollte sie natürlich betrügen und hatte nicht die Absicht, Virgilio für den Mord an dem Ehepaar Ernst mehr als achtzigtausend, notfalls hunderttausend Dollar zu bieten. Patrick lächelte, während er darüber nachdachte, als er das Geld wieder in den Aktenkoffer packte. Und diese gehobene Stimmung hielt an und erwies sich als wirkungsvolles Mittel gegen die Ängste und Zweifel, die ihn in dem Restaurant in Homestead geplagt hatten.

Fünf Tage später wurde kurz nach neunzehn Uhr in Jensens Apartment im zweiten Stock eines Hauses in der Brickell Avenue geklingelt. Der Klingelknopf befand sich unten auf der Namenstafel neben dem Eingang. Jensen betätigte die Ruftaste der Sprechanlage und sagte: »Ja, bitte?« Als sich niemand meldete, wiederholte er seine Frage. Als erneut keine Antwort kam, wandte er sich schulterzuckend ab.

Ein paar Minuten später wiederholte sich dieser Vorgang. Jensen war irritiert, ohne sich viel Gedanken darüber zu machen; manchmal spielten die Nachbarskinder mit den Klingelknöpfen. Beim drittenmal fiel ihm jedoch ein, daß das eine Nachricht sein könnte, so daß er mit leichtem Unbehagen seine Wohnung verließ und ins Erdgeschoß hinunterging. Aber außer einem Hausnachbarn, der von der Straße hereinkam, war die Eingangshalle menschenleer.

Jensen hatte seinen Volvo draußen auf der Straße geparkt. Einem Impuls folgend verließ er das Gebäude, ging darauf zu und sah zu seiner Verblüffung eine Gestalt, die den Beifahrersitz ausfüllte; Sekunden später erkannte er sie als Virgilio. Er wußte genau, daß er den Wagen abgeschlossen hatte; als er jetzt mit seinem Schlüssel die Fahrertür aufsperrte, wollte er fragen: »Wie zum Teufel bist du hier reingekommen?« Aber diese Frage konnte e~ sich sparen. Virgilio hatte seine vielfältigen Talente schon unter Beweis gestellt.

Die gewaltige Pranke des Kolumbianers deutete nach vorn. »Fahr«, sagte er.

Jensen, der am Steuer saß, ließ den Motor an und fragte: »Wohin?«

»Wo's ruhig ist.«

Nach zehn Minuten ziellosen Herumfahrens lenkte Jensen das Auto auf den Parkplatz eines geschlossenen Eisenwarengeschäfts, stellte den Motor ab, schaltete die Scheinwerfer aus und wartete.

»Du jetzt sprechen«, befahl Virgilio ihm. »Du hast Job für mich?«

»Ja.« Patrick sah keinen Grund, nicht sofort zur Sache zu kommen. »Ich habe Freunde, die zwei Leute beseitigen lassen möchten.«

»Wer deine Freunde?«

»Das erfährst du nicht. Das ist für alle sicherer.«

»Okay.« Virgilio nickte zustimmend: »Die sterben sollen... wichtige Leute?«

»Ja. Einer ist ein City Commissioner.«

»Dann kostet viel Geld.«

»Ich zahle dir achtzigtausend Dollar«, sagte Jensen.

»Reicht nicht.« Der Kolumbianer schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Viel mehr. Hundertfünfzig.«

»Soviel habe ich nicht. Ich könnte vielleicht hunderttausend kriegen, aber nicht mehr.«

»Dann kein Deal.« Virgilio legte seine Hand auf die Tür, schien aussteigen zu wollen, ließ die Hand sinken. »Hundertzwanzig. Hälfte jetzt, Hälfte nach dem Job.«

Schluß mit dieser Feilscherei, dachte Jensen, der nur bedauerte, nicht mit einem niedrigeren Betrag wie fünfzigtausend angefangen zu haben. Trotzdem würden ihm auch so achtzigtausend Dollar bleiben - plus die zweihunderttausend, die Cynthia ihm nach der Tat versprochen hatte. Und Patrick wußte, daß sie Wort halten würde.

»Die sechzigtausend sind in zwei Tagen abholbereit«, sagte er. »Du kannst mich wieder wie heute abend verständigen.«

Der große Mann grunzte etwas Zustimmendes, dann zeigte er aufs Lenkrad. »Wo diese Leute wohnen? Zeig's mir.«

Warum eigentlich nicht? dachte Jensen. Er ließ den Motor wieder an, fuhr zum Biscayne Boulevard, folgte ihm bis nach Bay Point und hielt dort kurz vor dem Tor an der Einfahrt zu der exklusiven Wohnsiedlung.

»Das Haus liegt innerhalb des eingezäunten Geländes«, erklärte er Virgilio. »Der Zaun ist bestimmt elektronisch gesichert und wird vom Sicherheitsdienst überwacht.«

»Ich finde Weg hinein. Hast du Karte mit Haus?«

Patrick öffnete das Handschuhfach seines Wagens und holte eine Fotokopie der Werbebroschüre heraus, die Cynthia ihm vor fünf Tagen gegeben hatte. Das Original bewahrte er an einem sicheren Ort auf. Er zeigte Virgilio den Lageplan, auf dem eines der Häuser durch ein Kreuz markiert war, und wies auf Cynthias handschriftliche Anmerkung hin:

DM - kommtfrüh, geht um 16 h

EP - Donnerstagabend bis Mitternacht

»Das ist wichtig«, sagte Jensen und setzte Virgilio auseinander, wann das Dienstmädchen arbeitete und wann der Butler und seine Frau einmal pro Woche außer Haus waren.

»Gut!« Virgilio steckte die Fotokopie ein. Er hatte aufmerksam zugehört, zweimal nachgefragt, weil ihm Einzelheiten nicht klar waren, und dann genickt, wenn er alles verstanden hatte. Unabhängig davon, was er sonst noch sein mochte, war er jedenfalls intelligent.

Als nächstes sprach Jensen über die erforderliche Übereinstimmung mit zwei in letzter Zeit verübten Doppelmorden und erläuterte den Grund dafür. »Das ist auch für dich vorteilhaft«, unterstrich er, und Virgilio nickte zustimmend. Dann beschrieb er die Punkte, auf die es ankam: Am Tatort mußte ein totes Tier, vielleicht ein Kaninchen, zurückbleiben; ein Radio mußte plärrend laut harte Rockmusik spielen - die hiesige Station HOT 105... »Kenn' ich«, warf Virgilio ein... Keine Fingerabdrücke... Virgilio nickte energisch... Alles Geld aus den Taschen der Opfer und in ihrer näheren Umgebung mußte verschwinden, aber Schmuck durfte nicht angerührt werden... Eine zustimmende Handbewegung... Ein Messer als Tatwerkzeug. »Ein Bowiemesser, verstehst du? Kannst du eines besorgen?«... Virgilio: »Ja.«... Jensen wiederholte Cynthias Beschreibung der beiden anderen Tatorte - die Opfer, die sich gefesselt und geknebelt gegenübersaßen, und die häßliche Brutalität...

»Du mußt dir verdammt viel merken. Hast du alles?«

Der Kolumbianer tippte sich mit dem Zeigefinger an seine Stirn. »Okay, alles da drin.«

Als nächstes sprachen sie über ein mögliches Datum, wobei Jensen sich daran erinnerte, daß Cynthia möglichst einen Termin Mitte August wollte.

»Ich gehe weg, dann komme wieder«, sagte der Kolumbianer, und Patrick erriet, daß er die sechzigtausend Dollar Anzahlung in seine Heimat bringen wollte.

Schließlich einigten sie sich auf den 17. August.

Kurz bevor sie Jensens Apartmentgebäude erreichten, wiederholte Virgilio sinngemäß seine Warnung aus der Nacht des Rollstuhlmords: »Hey, du legst mich rein, ich bring' dich um, verstanden?«

»Virgilio, ich würde dich niemals reinlegen«, versicherte Jensen ihm aufrichtig. Gleichzeitig beschloß er, nach der Ermordung des Ehepaars Ernst einen weiten Bogen um Virgilio zu machen. Er war imstande, jeden zu ermorden - auch Patrick Jensen -, um seine Fährte zu verwischen.

An diesem Abend rief er Cynthia an, nannte aber keinen Namen und sagte nur: »Das Datum ist der 22. August.«

Sie zog in Gedanken fünf Tage ab und antwortete: »Ja, ich verstehe.« Dann legte sie auf.

6

Cynthia Ernst hielt sich seit acht Tagen in Los Angeles auf, als sie die Schreckensnachricht von der Ermordung ihrer Eltern erhielt. In dieser Zeit hatte sie das Gefühl, zwei Leben zu führen: eines bei angehaltener Uhr in gespannter Erwartung der erlösenden Nachrichten, das andere normal, routinemäßig, sogar prosaisch.

Offiziell war sie nach L.A. gekommen, um vor ausgewählten Beamten des L.A. Police Departments eine Reihe von Vorträgen über die in Miami gemachten Erfahrungen mit Kommunalarbeit zu halten - eine Vortragsreihe, von der schon viele Police Departments profitiert hatten. Außerdem wollte sie ein paar Urlaubstage bei ihrer alten Freundin Paige Burdelon aus der Pine Crest School verbringen, die jetzt als Vizepräsidentin bei Universal Pictures in Brentwood lebte.

Nachdem Cynthia am 27. Juni von Patrick Jensen gehört hatte, daß der langersehnte Tag der 17. August sein würde, traf sie ihre Vorbereitungen, um am 10. August nach Kalifornien zu fliegen. Der Miami Herald meldete ihre Vortragsreise in Joan Fleischmans vielgelesener Kolumne »Talk Of Our Town« - auf ein freundliches Telefongespräch hin, das Cynthia am Tag vor ihrer Abreise geführt hatte. Auf Veranlassung von Commander Winslow McGowan, der Cynthias Kollege und Ansprechpartner im LAPD war, brachte die Los Angeles Times eine ähnliche Notiz. So waren ihr Abflug von der Ostküste und ihre Ankunft an der Westküste bestens dokumentiert.

Paige Burdelon war begeistert, als sie von Cynthias Reiseplänen hörte. »Du mußt unbedingt bei mir wohnen!«, jubelte sie am Telefon. »Seit Biffy und ich uns getrennt haben, irre ich in dieser Riesenwohnung wie eine Fremde im eigenen Heim umher. Komm schon, Cynthia, wir werden uns herrlich amüsieren, ich versprech's dir!«

Cynthia nahm die Einladung dankend an und fuhr vom Flughafen aus direkt zu Paige.

Cynthias Vortragsreihe beim LAPD, sechs einstündige Vorträge im Zeitraum von zwei Wochen, begann einen Tag nach ihrer Ankunft. Ihr in einem Konferenzsaal des Polizeipräsidiums versammeltes Publikum bestand aus achtzig ausgesuchten Beamtinnen und Beamten aller achtzehn LAPD-Abteilungen - ein Querschnitt durch alle Dienstgrade und Hautfarben, ungefähr zwei Drittel in Uniform, der Rest in Zivil. Das LAPD versuchte gerade, eine flächendeckend arbeitende Polizei, über die viele Jahre ein Despot geherrscht hatte, in bürgernahe kleinere Police Departments umzuwandeln. Miami, das diesen Prozeß schon früher erfolgreich abgeschlossen hatte, wurde landesweit als nachahmenswerter Prototyp angesehen.

Trotz anfänglicher Skepsis erhielt Cynthia zuletzt lauten Beifall und mußte anschließend so viele Fragen beantworten, daß ihr erster Vortrag über eine halbe Stunde länger als geplant dauerte.

Commander McGowan, ein großer, auffällig hagerer Mann in Cynthias Alter, gesellte sich zu ihr und sagte: »Glückwunsch, das war ein voller Erfolg.« Er wartete, bis sie allein waren, bevor er zögernd hinzufügte: »Hören Sie, Cynthia, eigentlich geht mich das nichts an, aber seit Sie hier sind, wirken Sie ein bißchen zerstreut. Ist alles okay, oder habe ich bei den Vorbereitungen irgendwas falsch gemacht?«

Cynthia erschrak, denn sie hatte bis zu diesem Augenblick geglaubt, ihre innerliche Anspannung erfolgreich unterdrückt zu haben. Aber Winslow McGowan war offenbar ein scharfer Beobachter.

»Nein, nein, alles ist bestens«, versicherte sie ihm hastig. »Es gibt keinerlei Probleme.« Aber sie nahm sich vor, in Zukunft noch vorsichtiger zu sein.

Cynthias Sorgen wegen des Ereignisses, das in wenigen Tagen fast fünftausend Kilometer weit entfernt stattfinden sollte, wurden durch den von Paige organisierten Wirbel aus Aktivitäten gemildert. An ihrem ersten gemeinsamen Morgen fuhr Cynthia mit Paige in ihrem schwarzen Saab-Kabrio zu einem der Universal-Ateliers, in dem ein Kriminalfilm gedreht wurde. Sie waren auf der Interstate 405 nach Norden unterwegs und ließen sich den Fahrtwind durchs Haar wehen.

»Genau wie in Thelma and Louise«, meinte Paige lachend. Sie war groß und schlank, hatte schulterlanges blondes Haar und blaue Augen. »Ein waschechtes L.A. Girl!« sagte sie von sich selbst.

»Wie heißt der Film, zu dessen Dreharbeiten wir fahren?« erkundigte Cynthia sich.

»Dark Justice. Eine großartige Story! Ein kleines Mädchen wird in einer Seitenstraße in der Nähe des Polizeireviers ermordet. Der Kriminalbeamte, der die Ermittlungen leitet, ist ein anständiger Cop - intelligent, Familienvater -, aber je mehr Beweise gefunden werden, desto mehr wird er belastet.«

»Der Cop hat die Kleine ermordet?«

»So steht's im Drehbuch. Er leidet an akuter Schizophrenie, deshalb weiß er nichts von der Tat.«

Cynthia lachte. »Soll das ein Witz sein?«

»Nein, echt, die Story ist faszinierend. Wir haben einen Psychiater als Berater engagiert, damit die verrückten Stellen stimmen.«

»Und wie geht's weiter?«

»Weiß ich ehrlich gesagt nicht. Seit wir Max Cormick für die Hauptrolle an Land gezogen haben, sind die Drehbuchautoren dabei, das Ende umzuschreiben. Sein Agent behauptet, als Kindermörder wäre seine Karriere ruiniert. Deshalb muß jetzt vermutlich sein Partner als Mörder herhalten.«

»Sein Partner? Das ist reichlich durchsichtig.«

»Findest du?« Paiges Stimme klang besorgt.

»Klar doch. Wie wär's mit der Frau des Kriminalbeamten?«

»Mit seiner Frau? Natürlich! Augenblick mal.« Paige griff nach ihrem Autotelefon und tippte eine Nummer ein. »Michael? Hör zu, ich bin gerade mit einer alten Freundin zusammen, die Kriminalbeamtin in Miami ist. Sie findet, Suzanne sollte die Mörderin sein.«

Eine Pause. »Okay, ich frage mal nach... Cynthia, warum sollte seine Frau die Mörderin sein?«

Cynthia zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat sie einen Geliebten und will ihren Mann loswerden. Aber statt ihn selbst umzulegen, will sie dafür sorgen, daß er lebenslänglich bekommt oder in der Gaskammer stirbt.«

»Michael, hast du das gehört?... Okay, laß dir die Sache durch den Kopf gehen.«

Paige legte auf und wandte sich lächelnd an Cynthia. »So, jetzt kann ich dich auf Geschäftskosten in die besten Restaurants der Stadt einladen.«

»Wofür?«

»Du bist eine Drehbuchberaterin.«

Paige fuhr auf den rückwärtigen Parkplatz der Universal Studios und hielt vor einem der großen weißen Ateliergebäude. In dem riesigen Innenraum herrschte reger Betrieb. Cynthia sah sich erstaunt um. Sie hatte den Eindruck, eine echte Dienststelle der Kriminalpolizei sei mitten in das Gebäude versetzt und dann mit Scheinwerfern, Gerüsten, Kameras und einem Filmteam in Kompaniestärke umgeben worden.

Sie stieß Paige an und fragte flüsternd: »Lerne ich auch Max Cormick kennen?«

»Komm.« Paige ging in den abgesperrten Bereich voraus, in dem der gefeierte Filmstar auf seine nächste Szene wartete. Er war ein großer, selbstbewußter Vierziger mit leicht angegrautem Haar und haselnußbraunen Augen.

»Guten Morgen, Max«, sagte Paige. »Ich möchte dich mit Major Cynthia Ernst bekannt machen. Sie kommt vom Miami Police Department.«

Er wirkte leicht verwirrt. »Spielt jetzt auch eine Kriminalbeamtin aus Miami mit?«

»Nein, nein.« Cynthia lächelte. »Ich bin keine Schauspielerin.«

»Oh, sorry. Aber... nun, Sie sehen eher wie eine Schauspielerin als eine Polizeibeamtin aus.«

»Nach allem, was man hört, würde ich damit mehr Geld verdienen.«

Der Schauspieler nickte leicht verlegen. »Ja. Ungerecht, nicht wahr?«

»Na ja, vielleicht auch nicht. Ich habe mich in der Schule als Schauspielerin versucht, bin aber nicht damit zurechtgekommen. Der Versuch, meine Rolle zu verstehen, hat mich so beschäftigt, daß sie mir nie lebensecht vorgekommen ist.«

Max Cormick nahm ihren Arm und führte sie ans Frühstücksbufett. »Major, ein Schauspieler denkt nie an seine Rolle niemals. Tut er's doch, merkt man's ihm an. Ein Schauspieler denkt nur an sich... an die neue Persönlichkeit, die er in einer anderen Welt, die jetzt ganz seine ist, angenommen hat. Leben, Familie, Job - alles neu!«

Cynthia nickte anscheinend höflich interessiert. In Wirklichkeit hatte sie sich jedes Wort gemerkt.

Sechs Tage später, am Morgen des 18. August, erklang um 6.50 Uhr der Türgong in Paige Burdelons Eigentumswohnung. Sekunden später erklang er nochmals.

Cynthia, die schon wach war, aber noch im Bett lag, hörte den ersten Gong und nach dem zweiten Paiges gedämpfte Stimme, die protestierte: »Wer zum Teufel... um diese Zeit...«, während die andere Schlafzimmertür geöffnet wurde. Bevor sie die Wohnungstür erreichen konnte, ertönte der Gong zum drittenmal.

»Schon gut, schon gut! Ich komme!« rief Paige gereizt.

Cynthia fühlte, wie ihr Puls sich beschleunigte, aber sie blieb ruhig liegen und ließ die bevorstehenden Ereignisse gelassen auf sich zukommen.

An ihrer Wohnungstür warf Paige einen Blick durch den Spion und erkannte eine Polizeiuniform. Sie hakte die Sperrkette aus, sperrte zwei Schlösser auf und öffnete dann die Tür.

»Ich bin Commander McGowan, Ma'am.« Eine ruhige und kultivierte Stimme. »Ich arbeite mit Major Ernst zusammen, die meines Wissens bei Ihnen wohnt.«

»Ja, das stimmt. Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

»Tut mir leid, daß ich so früh störe, aber ich muß sie unbedingt sprechen.«

»Kommen Sie rein, Sir.«

Paige drehte sich um. »Cynthia, bist du schon wach?« rief sie. »Du hast Besuch!«

Cynthia ließ sich Zeit, bevor sie im Morgenrock aus ihrem Zimmer kam. »Hallo, Winslow«, begrüßte sie McGowan lächelnd. »Was führt Sie so früh hierher?«

Anstatt ihre Frage zu beantworten, wandte McGowan sich an Paige. »Können Cynthia und ich irgendwo ungestört miteinander reden?«

»Klar.« Sie deutete hinter sich. »Gehen Sie ins Arbeitszimmer. Rufen Sie mich, wenn Sie fertig sind. Ich koche inzwischen Kaffee.«

Als McGowan und sie Platz nahmen, sagte Cynthia: »Sie machen ein so ernstes Gesicht, Winslow. Ist irgendwas nicht in Ordnung?« Während sie das scheinbar unbekümmert fragte, erinnerte sie sich wieder an Max Cormicks Worte in den Universal Studios: Als Schauspieler denkt man nie an seine Rolle niemals. Tut er das, merkt man's ihm an...

»Ja«, antwortete McGowan. »Ich habe Ihnen eine schlechte Nachricht, eine sehr schlechte Nachricht zu überbringen. Cynthia, Sie müssen sich aufs Schlimmste gefaßt machen.«

»Ich bin darauf gefaßt. Reden Sie doch!« Ihre Stimme klang besorgt. Dann fragte sie, als sei ihr plötzlich etwas eingefallen: »Irgendwas mit meinen Eltern?«

McGowan nickte langsam. »Ja, es handelt sich um Ihre Eltern... Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß sie...«

»O nein! Sind sie...« Cynthia verstummte, als widerstrebe es ihr, den Satz zu Ende zu bringen.

»Ja, meine Liebe. Ich wollte, ich könnte es Ihnen irgendwie anders sagen, aber... Sie sind beide tot, fürchte ich.«

Cynthia schlug mit einem Aufschrei die Hände vors Gesicht. Dann rief sie laut: »Paige! Paige!«

Als Paige hereingestürmt kam, kreischte Cynthia: »Paige, Mom und Dad... sie sind beide tot...« Während ihre Freundin sie tröstend umarmte, sah Cynthia zu McGowan hinüber. »Sind sie... ist's ein Unfall gewesen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, kein Unfall.« Dann schlug er vor: »Cynthia, wir wollen nichts überstürzen. Sie können unmöglich alles auf einmal verkraften. Dieser Schock reicht fürs erste.«

Paige, die Cynthia fest umarmt hielt, nickte zustimmend. »Sweetie, ich bitte dich! Bloß nicht alles auf einmal. Laß dir Zeit.«

So verging eine weitere Viertelstunde, bis Cynthia - als ihr neues Ich in einer neuen Rolle - die wenigen Einzelheiten, die bisher über den Mord an ihren Eltern bekannt waren, erfuhr.

Danach ließ sie alles um sich herum einfach geschehen. Winslow McGowan und Paige Burdelon nahmen an, Cynthia habe einen Schock erlitten - eine Vermutung, die sie durch benommene Gefügigkeit nährte. McGowan, der jetzt von zwei weiteren uniformierten Polizeibeamten unterstützt wurde, die eifrig telefonierten, erklärte ihr ruhig: »Wir kümmern uns um Ihre Heimreise. Ich habe Ihre letzten Vorträge abgesagt und Ihnen einen Platz in einer Maschine reserviert, die am frühen Nachmittag nonstop nach Miami fliegt. Ein Dienstwagen bringt Sie zum Flughafen.«

»Und ich komme mit, Cynthia«, warf Paige ein. »Du kannst unmöglich allein fliegen. Ich gehe jetzt und packe deine Sachen. Einverstanden?«

Cynthia nickte zustimmend und murmelte: »Ja, danke.« Eine Begleiterin für unterwegs konnte nützlich sein, aber in Miami würde sie Paige nicht lange um sich haben wollen, überlegte sie sich.

Sie blieb auf der Couch liegen, zu der sie geführt worden war, schloß die Augen und kapselte sich von den Aktivitäten um sie herum ab.

Endlich sind deine Eltern tot, dachte sie; nach jahrelangem Warten ist endlich erreicht, worauf du so zielbewußt hingearbeitet hast. Warum empfindest du dann nicht die erhoffte Euphorie, sondern statt dessen eine seltsame Leere? Vielleicht liegt's daran, sagte sie sich, daß außer Patrick Jensen und dir niemand jemals die Wahrheit erfahren wird - dein Motiv und deinen raffinierten Plan für den Doppelmord.

Trotzdem bedauerte sie ihren Entschluß keine Sekunde lang. Dieses Ende war notwendig gewesen; nur so hatte sich ihr Bedürfnis nach Wiedergutmachung für angetanes Unrecht befriedigen lassen. Dies war die gerechte Vergeltung für die abscheuliche, widerwärtige Art, wie Gustav und Eleanor Ernst sie als Kind behandelt und in vieler Beziehung zu dem Menschen gemacht hatten, der sie jetzt war. Zu einem Menschen, den Cynthia, wie sie sich ehrlich eingestand, oft nicht leiden konnte.

Ah! Das war eine entscheidende Frage: Wäre sie ohne diesen glühenden Haß und Zorn, den der perverse Mißbrauch durch ihren Vater und die heuchlerische Untätigkeit ihrer Mutter in ihr hervorgerufen hatten, anders geworden, hätte sie anders werden können? Natürlich!... Ja!... Sie wäre ein anderer Mensch geworden... vielleicht weniger stark... vielleicht freundlicher, gütiger. Wer konnte das sagen? Andererseits war diese Frage irrelevant... sie kam ein halbes Leben zu spät! Die Gußform, aus der Cynthia stammte, war längst zerbrochen. Sie war, was sie jetzt war, und wollte - konnte - sich nicht mehr ändern.

Sie lag noch immer mit geschlossenen Augen da, als Paiges sanfte Stimme sie aus ihren Überlegungen riß. »Cynthia, alles ist arrangiert. In ein paar Stunden fahren wir zum Flughafen. Vielleicht solltest du noch mal ins Bett gehen und zu schlafen versuchen.«

Cynthia ging erleichtert auf diesen Vorschlag ein. Später verlief der Rückflug an die Ostküste dank Paige ohne irgendwelche Schwierigkeiten.

Vor der Landung in Miami rieb Cynthia sich heimlich ein paar Salzkörner in die Augen. Dieser Trick, den sie damals im Internat bei ihrem ersten und letzten Versuch als Schauspielerin gelernt hatte, rief Tränen und gerötete Augen hervor. In den folgenden Tagen vergoß Cynthia keine echten Tränen, aber weitere Salzkörner und noch gerötete Augen erzeugten den gewünschten Eindruck.

Abgesehen von dieser gespielten Trauer ließ Cynthia seit dem Augenblick ihrer Rückkehr keinen Zweifel daran, daß sie ihre Stärke und Fassung zurückgewonnen hatte, und machte sich daran, alles zu erfahren, was über den Mord an ihren Eltern bekannt war. Ihr eigener Dienstgrad, durch den sie direkten Zugang zu allen Beamten des Police Departments hatte, erleichterte ihr dieses Vorhaben.

Am zweiten Tag nach ihrer Rückkehr besuchte Cynthia die jetzt von gelbem Polizeiabsperrband umgebene Villa ihrer Eltern in Bay Point. Im Salon im Erdgeschoß sprach sie mit Sergeant Hank Brewmaster, der die Ermittlungen im Mordfall Ernst leitete.

»Major, ich möchte Ihnen sagen, wie sehr wir alle...«, begann er, als er sie sah, aber Cynthia brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Hank, ich weiß Ihr Mitgefühl zu schätzen und danke Ihnen dafür. Aber wenn ich zuviel davon bekomme - vor allem von einem alten Freund wie Ihnen -, könnte ich die Fassung verlieren. Das müssen Sie bitte verstehen.«

»Ja, das tue ich, Ma'am«, versicherte Brewmaster ihr. »Und ich verspreche Ihnen, daß wir alles tun, um diesen Hundesohn zu fassen, der... «

»Ich möchte alles hören, was Sie wissen«, unterbrach Cynthia ihn. »Soweit ich informiert bin, sehen Sie die Ermordung meiner Eltern als mögliche Tat eines Serienmörders.«

Brewmaster nickte. »Danach sieht's aus, ein klar erkennbares Schema, allerdings mit gewissen Abweichungen.« Dieser Idiot Patrick! dachte sie. »Ich weiß nicht, ob Sie von unserer Besprechung vor zwei Tagen wissen - unmittelbar vor dem Mord an Ihren Eltern -, bei der Malcolm Ainslie eine Verbindung zwischen den früheren vier Doppelmorden und der Offenbarung des Johannes aus der Bibel hergestellt hat?«

Sie schüttelte leicht besorgt den Kopf.

»Als wir bei der Mordkommission diese vier Fälle durchgesprochen haben«, fuhr Brewmaster fort, »hat sich gezeigt, daß an allen Tatorten bestimmte Symbole zurückgelassen worden waren. Aber erst Malcolm mit seiner Vorbildung als Priester hat erkannt, was sie bedeuten.«

Cynthia zog die Augenbrauen hoch. »Sie sprechen immer von vier Doppelmorden. Ich dachte, es hätte vorher nur zwei gegeben, die in diese Serie zu passen scheinen.«

»Nein, es hat einen dritten gegeben - das Ehepaar Urbina in Pine Terrace -, der ins Schema zu passen scheint und nur drei Tage vor der Ermordung Ihrer Eltern verübt worden ist. Und schon vorher ist ein Mord bekanntgeworden, von dem wir nichts geahnt haben.« Brewmaster schilderte ihr kurz den Fall Larsen in Clearwater. »Zeitlich liegt dieser Doppelmord etwa in der Mitte zwischen den Fällen Frost und Hennefeld.«

In Cynthias Kopf klingelten sämtliche Alarmglocken. Während ihrer Abwesenheit schien sich viel Unvorhergesehenes ereignet zu haben. Solche Überraschungen konnten gefährlich werden. Sie mußte möglichst schnell auf den aktuellen Informationsstand kommen.

»Sie haben gesagt, im Fall meiner Eltern habe es gewisse Abweichungen gegeben. Wie meinen Sie das?«

»Nun, als erstes hat der Täter hier ein totes Kaninchen zurückgelassen. Malcolm findet, daß es nicht ins Schema paßt, aber ich weiß nicht, ob er damit recht hat.«

Cynthia wartete.

Brewmaster fuhr fort: »An den übrigen Tatorten hat alles irgendwie zur Offenbarung gepaßt, und unserer Theorie nach dürfte der Täter ein religiöser Spinner sein. Malcolm behauptet, das Kaninchen sei nicht spezifisch - nicht wie die bisherigen Symbole. Aber ich weiß wie gesagt nicht, ob er damit recht hat.«

Das mit dem Kaninchen ist deine Idee gewesen, sagte Cynthia sich betroffen. Anfangs hatte niemand in der Mordkommission die geringste Ahnung gehabt, was die ersten Symbole bedeuten könnten, und das war der Stand der Dinge gewesen, als sie nach Los Angeles abgeflogen war.

»Auffällig abweichend ist der Zeitpunkt«, berichtete der Sergeant weiter. »Zwischen allen übrigen Serienmorden haben jeweils ungefähr zwei Monate gelegen - nie weniger als zwei. Aber zwischen den Urbinas und den Ernsts... sorry, Ihren Eltern... sind's nur drei Tage gewesen.« Brewmaster zuckte mit den Schultern. »Aber das muß natürlich nichts zu bedeuten haben. Serienmörder gehen nicht logisch vor.«

Nein, dachte Cynthia, aber auch Serienmörder müssen ihre Taten vorbereiten, und eine Frist von nur drei Tagen zwischen zwei Doppelmorden ist nicht überzeugend... Verdammt! Schlimmer hätt's nicht kommen können! Dieser zusätzliche Fall in Clearwater hatte alle ihre sorgfältigen Berechnungen über den Haufen geworfen. Sie erinnerte sich daran, was Patrick in Homestead gesagt hatte: Cynthia, ich glaube, du willst zu clever sein.

»Dieser vierte Doppelmord«, sagte sie zu Brewmaster. »Wie haben die Leute gleich wieder geheißen?«

»Urbina.«

»Hat der Fall Aufsehen erregt?«

»Ziemlich. Dicke Schlagzeilen, viel im Fernsehen.« Jetzt war Brewmaster neugierig. »Wie kommen Sie darauf?«

»Oh, ich habe in L.A. gar nichts mitbekommen. Ich bin wohl zu beschäftigt gewesen.« Cynthia wußte, daß das eine schwache Antwort war, und erkannte, daß sie sich im Umgang mit den cleveren Beamten der Mordkommission vorsehen mußte. Brewmasters Antwort zeigte jedoch, daß Patrick von dem Mord an dem Ehepaar Urbina gehört haben mußte. Daraufhin hätte er den in Auftrag gegebenen Doppelmord verschieben müssen, aber vermutlich hatte er keine Möglichkeit gehabt, den Kolumbianer noch zu erreichen, und die Würfel waren gefallen...

Brewmasters Stimme unterbrach ihre Überlegungen. »Andere Einzelheiten stimmen jedoch genau mit den Serienmorden überein, Ma'am.« Sein Tonfall war respektvoll, als wolle er sich halb für seine Frage von vorhin entschuldigen. »Das Bargeld Ihres Vaters ist geraubt worden, aber den Schmuck Ihrer Mutter hat der Täter nicht angerührt; das habe ich sorgfältig überprüft. Und andere Dinge haben auch übereingestimmt, obwohl ich nicht gern darüber rede...«

»Bitte weiter«, verlangte Cynthia. »Ich kann mir denken, was jetzt kommt.«

»Nun, die Verletzungen sind denen in den anderen Mordfällen ähnlich gewesen, und... Wollen Sie das wirklich hören?«

»Irgendwann muß ich's doch erfahren. Warum nicht gleich?«

»Die Wunden sind ziemlich schlimm gewesen; nach Auskunft von Dr. Sanchez hat der Täter wieder ein Bowiemesser benutzt. Und die Opfer...« Brewmaster zögerte erneut. »Sie haben sich gefesselt und geknebelt gegenübergesessen.«

Cynthia wandte sich ab und führte ein Taschentuch an ihre Augen. An dem Stoff hafteten noch einige Salzkörner von der letzten Anwendung, die sie jetzt gebrauchte, bevor sie sich leise hüstelnd wieder umdrehte.

»Eine weitere Übereinstimmung mit früheren Fällen«, fuhr Brewmaster fort, »ist das eingeschaltet zurückgelassene Radio laut aufgedreht.«

Cynthia nickte. »Das weiß ich noch. Hat es in den beiden ersten Fällen nicht Rockmusik gespielt?«

»Ja.« Brewmaster sah in sein Notizbuch. »Diesmal ist WTMI eingestellt gewesen - Klassik und Musicals. Nach Aussage des Butlers der Lieblingssender Ihrer Mutter.«

»Ganz recht.« Innerlich kochte Cynthia vor Wut. Obwohl sie Patrick genaue Anweisungen gegeben hatte, war sein kolumbianischer Killer so dämlich gewesen, nur das Radio einzuschalten, ohne den Sender HOT 105 einzustellen.

Vielleicht hatte Patrick ihre Anweisungen nicht richtig weitergegeben; jedenfalls ließ sich das nicht mehr ändern. Vorläufig schien Brewmaster den Unterschied für nebensächlich zu halten, aber anderen in der Mordkommission konnte er nach genaueren Ermittlungen wichtig erscheinen; Cynthia wußte, wie das System funktionierte.

Verdammt! Sie spürte plötzlich einen unerwarteten Angstschauder.

7

In der dritten Nacht nach ihrer Rückkehr nach Miami schlief Cynthia schlecht: Sie war noch immer nervös wegen unvorhergesehener, aber bedeutsamer Ereignisse während ihrer kurzen Abwesenheit, von denen sie erst nachträglich erfahren hatte. Was kann noch alles schiefgehen? fragte sie sich jetzt.

Sorgen machte ihr auch die Tatsache, daß sie mit Malcolm Ainslie reden mußte - vor allem auch, weil er die Sonderkommission zur Aufklärung der gegenwärtigen Mordserie leitete, zu der auch der Mord an ihren Eltern gezählt wurde. Während Hank Brewmaster die eigentlichen Ermittlungen im Fall Ernst leitete, lag die Gesamtverantwortung bei Ainslie.

Letztlich, das erkannte Cynthia in einem Augenblick rückhaltloser Ehrlichkeit, lief alles darauf hinaus, daß Ainslie der Ermittler war, den sie am meisten fürchtete. Trotz ihrer Verbitterung darüber, daß er ihre Affäre beendet hatte, und ihrer Entschlossenheit, ihre damalige Drohung - Das wirst du für den Rest deines jämmerlichen Lebens bereuen, Malcolm! -wahrzumachen, hatte sich an ihrer Überzeugung, Ainslie sei der beste Kriminalbeamte, den sie kenne, nie etwas geändert.

Weshalb er das war, hatte sie nie ganz ergründen können. Irgendwie besaß Malcolm jedoch die Fähigkeit, die vordergründigen Aspekte seiner Ermittlungen auszuklammern und sich in Opfer und Täter hineinzuversetzen. Wie Cynthia mehrmals miterlebt hatte, führte das oft dazu, daß er in bezug auf Mordfälle zu den richtigen Schlüssen gelangte - entweder allein oder früher als alle anderen.

Cynthia vermutete, daß Ainslies Ausbildung zum Priester etwas damit zu tun hatte, und wie aus Hank Brewmasters Schilderung hervorging, hatte sein hoher Bildungsgrad es ihm ermöglicht, den Zusammenhang zwischen den an den Tatorten der Serienmorde zurückgelassenen bizarren Gegenstände zu erkennen.

Cynthia verdrängte ihre Erinnerungen wieder. Bisher wäre sie nie auf die Idee gekommen, Malcolms Intellekt könnte sich auf sie persönlich auswirken. Jetzt fürchtete sie ihn.

Sie beschloß, das Treffen nicht hinauszuschieben, sondern es sofort hinter sich zu bringen - zu von ihr diktierten Bedingungen. Nach ihrer schlaflos verbrachten Nacht erschien Cynthia am nächsten Morgen schon in aller Frühe bei der Mordkommission, wo sie Lieutenant Newbolds Büro für sich beanspruchte und ihn anwies, Sergeant Ainslie zu ihr zu schicken, sobald er zum Dienst erschien. Malcolm, der zuvor im Haus ihrer Eltern gewesen war, traf wenig später ein.

Nachdem Cynthia ihm unmißverständlich klargemacht hatte, wie groß der Rangunterschied zwischen ihnen war - ein Major stand drei Dienstgrade über einem Sergeant - und daß zwischen ihnen keinerlei persönliche Beziehung mehr existierte, stellte sie ihm präzise Fragen über die Ermordung ihrer Eltern.

Während sie sich die Antworten anhörte, war sie sich darüber im klaren, daß Malcolm sie unauffällig musterte, und begrüßte diese Tatsache. Sein mitfühlender Gesichtsausdruck zeigte ihr, daß er ihre rotgeränderten Augen bemerkt hatte. Ausgezeichnet! Ihre Trauer über den Tod ihrer Eltern war offensichtlich, und Malcolm zweifelte sie nicht an; damit war ihr erstes Ziel erreicht.

Ihr zweites Ziel war, Kraft ihrer Autorität auf schnellste Aufklärung des Mordes an ihren Eltern zu drängen, daß Malcolm gar nicht auf die Idee kommen würde, sie irgendwie zu verdächtigen. Im weiteren Verlauf ihres Gesprächs merkte Cynthia, daß ihr das gelungen war.

Gegen Ende spürte sie bei Malcolm ein gewisses Mißtrauen, als sie ihn nach den Symbolen befragte, die er mit der Offenbarung des Johannes in Verbindung gebracht hatte.

Außerdem vermutete sie, daß er nicht vorhatte, sie über die Arbeit seiner Sonderkommission so lückenlos auf dem laufenden zu halten, wie sie es gefordert hatte. Aber sie hielt es für klüger, nicht allzu nachdrücklich auf diesem Punkt zu bestehen, sondern dieses Gespräch, das eine unangenehme Konfrontation hätte werden können, mit deutlichen Vorteilen für sich zu beenden.

Als die Tür sich hinter Malcolm Ainslie schloß, überlegte Cynthia sich, ob sie seine Fähigkeiten vielleicht nicht doch überschätzt hatte.

Bevor Gustav und Eleanor Ernst mit allem Pomp feierlich beigesetzt wurden, fand am Tag zuvor die Totenwache statt, die acht Stunden dauerte und an der insgesamt etwa neunhundert Personen teilnahmen. Diese zweitägigen Trauerfeierlichkeiten waren etwas, das Cynthia irgendwie durchstehen mußte, obwohl sie sich sehnlichst wünschte, schon alles hinter sich zu haben. Von ihr wurde erwartet, die trauernde Tochter zu spielen, aber zugleich soviel Fassung und Würde zu bewahren, wie ihrem hohen Polizeidienstgrad entsprach. Bemerkungen, die sie aufschnappte, und Beileidsbekundungen von Trauergästen zeigten ihr, daß sie ihre Rolle recht gut gespielt hatte.

Eines der während der Totenwache geführten Gespräche würde hoffentlich bleibende Nachwirkungen haben. Cynthia führte es mit zwei Männern, die sie sehr gut kannte: mit Miamis Oberbürgermeister Lance Karlsson und City Commissioner Orestes Quintero, einem der beiden ehemaligen Kollegen ihres Vaters. Der Oberbürgermeister, ein sonst jovialer ehemaliger Industrieller, sprach traurig über Cynthias Vater und fügte hinzu: »Gustav wird uns sehr fehlen.« Quintero, der etwas jüngere Erbe eines mit Spirituosen erworbenen Familienvermögens, pflichtete ihm bei: »Es wird schwierig werden, ihn zu ersetzen. Er hat so gut verstanden, wie die Stadtverwaltung funktioniert.«

»Ja, ich weiß«, antwortete Cynthia. »Ich wollte, ich könnte irgendwie weitermachen, wo er aufgehört hat.«

Sie sah, wie die beiden Männer einen Blick wechselten, bevor der Oberbürgermeister kaum merklich nickte.

»Entschuldigen Sie mich bitte, ich muß mich anderen Gästen widmen«, sagte Cynthia. Als sie davonging, wußte sie, daß ihre Idee auf fruchtbaren Boden gefallen war.

Einen Tag nach der feierlichen Bestattung saß Cynthia in ihrer Dienststelle am Schreibtisch, als sie einen Anruf bekam, den ihr Gesprächspartner als vertraulich bezeichnete. Nachdem sie kurz zugehört hatte, antwortete sie: »Danke, ich nehme gern an.«

Vierundzwanzig Stunden später gab die Miami City Commission unter Vorsitz von Oberbürgermeister Lance Karlsson bekannt, sie habe satzungsgemäß entschieden, Cynthia Ernst zur Nachfolgerin ihres Vaters zu ernennen, dessen Amtszeit als gewählter City Commissioner in zwei Jahren abgelaufen wäre. Wieder einen Tag später kündigte Cynthia ihr Ausscheiden aus dem Polizeidienst an.

Als weitere Tage und Wochen vergingen, in denen Cynthia ihre neuen Amtspflichten übernahm, fühlte sie sich zunehmend sicherer. Zweieinhalb Monate später wurde Elroy Doil, einer der von der Sonderkommission überwachten Verdächtigen, auf frischer Tat ertappt und wegen Mordes angeklagt. »Animal« Doils Verhaftung am Tatort des Mordes an Kingsley und Nellie Tempone sowie zahlreiche Indizienbeweise ließen Polizei, Medien und Öffentlichkeit glauben, er sei für alle früheren Serienmorde verantwortlich.

Lediglich ein Faktor überschattete die erfolgreichen Ermittlungen der Sonderkommission: die Entscheidung von Staatsanwältin Adele Montesino, Doil lediglich wegen des eindeutig nachweisbaren Doppelmords an dem Ehepaar

Tempone anzuklagen. In den übrigen Fällen war die Beweislage ihrer Meinung nach zwar eindeutig, aber weit weniger zwingend.

Diese Entscheidung löste Proteste der Angehörigen anderer Opfer des Serienmörders aus, denen Commissioner Cynthia Ernst sich anschloß, weil sie wollte, daß Doil auch wegen der Ermordung ihrer Eltern verurteilt wurde. Letztlich machte das aber keinen Unterschied. Doil leugnete alle Morde - auch den an dem Ehepaar Te mpone, bei dem er gefaßt worden war. Die Geschworenen sprachen ihn schuldig, und er wurde zum Tod auf dem elektrischen Stuhl verurteilt - ein Ende, das durch Doils Weigerung, seine Berufungsrechte zu nutzen, noch beschleunigt wurde.

In den sieben Monaten zwischen »Animal« Doils Verurteilung und der Festsetzung des Hinrichtungstermins passierte etwas, das Cynthia Ernsts Nerven äußerst strapazierte. Obwohl ihr neues Leben als City Commissioner ziemlich hektisch war, dachte sie jeden Tag mindestens einmal - wie aus heiterem Himmel - an etwas, das sie sich seit langem vorgenommen, aber bisher nicht durchgeführt hatte. Unbegreiflicherweise hatte sie den Karton mit Belastungsmaterial, das sie in der Nacht, in der Patrick ihr gestanden hatte, seine Exfrau Naomi und Kilburn Holmes erschossen zu haben, zusammengestellt hatte, völlig vergessen. Aber jetzt war sie sich darüber im klaren, daß sie den Karton mit seinem belastenden Inhalt längst hätte beseitigen müssen.

Cynthia wußte genau, wo der Karton stand. Nachdem sie ihn in ihrer Wohnung sorgfältig zugeklebt und versiegelt hatte, nahm sie ihn mit ins Haus ihrer Eltern in Bay Point und verstaute ihn in ihrem Zimmer.

Obwohl das Haus seit dem Tod ihrer Eltern leer stand, hatte Cynthia dort nichts verändert. Sie wollte erst den Erbschein in der Hand haben, bevor sie sich entweder dafür entschied, die Villa in Bay Point zu verkaufen oder sie vielleicht selbst zu bewohnen. Die jeweiligen Testamente von Gustav und Eleanor Ernst wiesen sie als Haupterbin aus. Cynthia hatte in ihrem Elternhaus schon mehrmals Gesellschaften gegeben und beschäftigte daher den Butler Theo Palacio und seine Frau Maria als Hauspersonal weiter.

Cynthia beschloß, den Mittwoch der kommenden Woche für ihre längst überfällige Aktion zu nutzen. Sie wies ihre Sekretärin Ofelia an, sämtliche für diesen Tag eingetragenen Termine zu verlegen und keine neuen zu vereinbaren. Dann begann sie mit den Vorbereitungen für die Versenkung des Belastungsmaterials.

Sie kannte einen Bootseigner, der früher gelegentlich Aufträge ihres Vaters übernommen hatte: ein schweigsamer, bärbeißiger ehemaliger Marineinfanterist, der sich oft am Rand der Legalität bewegte, aber absolut zuverlässig war. Cynthia rief ihn an, erfuhr von ihm, daß er an dem bewußten Mittwoch verfügbar war, und teilte ihm mit: »Ich möchte Ihr Boot für den ganzen Tag mieten und bringe einen Freund mit, aber außer Ihnen darf keine weitere Besatzung an Bord sein.« Der Bootseigner beschwerte sich zwar darüber, daß er die ganze Arbeit allein tun müsse, aber zuletzt war er natürlich doch einverstanden.

Die Behauptung, sie werde einen Freund mitbringen, war eine Lüge. Cynthia würde allein aufkreuzen und nur so lange an Bord bleiben, wie es dauerte, tiefes Wasser zu erreichen, den Karton in einem Blechkasten über Bord zu werfen und an Land zurückzukehren. Aber sie würde eine ganze Tagesmiete bezahlen, damit der Bootseigner den Mund hielt. Und sie kannte einen abgelegenen kleinen Laden, in dem sie am Vortag einen geeigneten Kasten kaufen und bar bezahlen konnte.

Nachdem diese Vorbereitungen getroffen waren, fuhr Cynthia nach Bay Point und ging in ihr Zimmer hinauf. Sie glaubte zu wissen, wo der Karton stehen mußte, konnte ihn aber zu ihrer Überraschung nicht finden. Offenbar hatte ihre Erinnerung getrogen. Sie räumte weitere Gegenstände beiseite, bis schließlich der ganze Schrank leer war, aber der Karton blieb verschwunden. Ihre bis dahin mühsam unterdrückte Besorgnis eskalierte plötzlich.

Keine Panik! Dein Karton ist irgendwo im Haus... er muß irgendwo stehen... daß du nach so lange Zeit nicht mehr genau weißt, wo du ihn hingestellt hast, ist völlig natürlich... laß dir also Zeit, denk in Ruhe darüber nach, wo er noch stehen könnte... Aber auch die Durchsuchung weiterer Räume und Schränke - auch im früheren Elternschlafzimmer - brachte sie nicht weiter.

Schließlich benutzte sie das Haustelefon, um Theo Palacio in den ersten Stock zu zitieren. Er kam sofort herauf.

Als Cynthia ihm den verschwundenen Karton beschrieb, antwortete Palacio sofort: »An den erinnere ich mich gut, Miss Ernst. Die Polizei hat ihn wie viele weitere Gegenstände beschlagnahmt und mitgenommen. Das war ein Tag nach... « Der Butler schüttelte traurig den Kopf. »Das ist am zweiten Tag der Ermittlungen gewesen, glaube ich.«

»Und das haben Sie mir nicht gesagt?« fragte sie scharf.

Palacio machte eine hilflose Handbewegung. »Hier ist so viel passiert. Und da die Polizei den Karton mitgenommen hat, habe ich vorausgesetzt, Sie wüßten davon.«

Die Tatsachen kamen Stück für Stück ans Tageslicht.

Theo Palacio berichtete: »Die Polizei hat einen Durchsuchungsbefehl gehabt. Einer der Kriminalbeamten hat ihn vorgewiesen und mir erklärt, sie wollten sich alles ansehen.«

Cynthia nickte. Das war das bei Mordfällen übliche Verfahren, das sie trotz sorgfältiger Planung jedoch nicht vorausgesehen hatte.

»Nun«, fuhr der Butler fort, »dabei haben sie zahlreiche Kartons mit Papieren gefunden - viele anscheinend von Ihrer Mutter -, und soviel ich weiß, konnten die Beamten sie nicht hier sichten, sondern haben sie mitgenommen, um das anderswo zu tun. Sie haben alle Kartons, auch den Ihren, zugeklebt und im Erdgeschoß aufgestapelt. Ihr Karton ist bereits zugeklebt gewesen; ich glaube, das war der Grund, warum sie ihn mitgenommen haben.«

»Haben Sie ihnen nicht gesagt, daß er mir gehört?«

»Ehrlich gesagt, Miss Ernst, daran habe ich nicht gedacht. Hier ist soviel passiert, daß Maria und ich völlig verwirrt gewesen sind. Sollte ich unabsichtlich einen Fehler gemacht haben, bitte ich um... «

Cynthia winkte ab. »Schon gut, Theo!« Ihr Verstand arbeitete fieberhaft.

Seit dem Mord an ihren Eltern waren vierzehn Monate vergangen; folglich war der bewußte Karton seit damals beschlagnahmt. Eines stand jedenfalls fest: Er war bisher nicht geöffnet worden, sonst hätte sie davon gehört. Cynthia glaubte außerdem zu wissen, wo ihr Karton sich befand.

Als Cynthia wieder in ihrem Büro in der City Commission saß, nachdem sie das Boot abbestellt hatte, zwang sie sich dazu, nüchtern objektiv nachzudenken. Es gab Augenblicke, in denen man übermenschlich ruhig sein mußte - und dies war einer. In Bay Point wäre sie vor Entsetzen über die unglaubliche Dummheit, die sie gemacht hatte, fast in Verzweiflung geraten. Aber jetzt hatte sie sich wieder unter Kontrolle.

Das Wichtigste zuerst.

Ihre Entdeckung warf zwei wichtige Fragen auf, von denen die erste schon beantwortet war: Der Karton war nicht geöffnet worden. Und die zweite: Würde er voraussichtlich ungeöffnet bleiben? Sie konnte natürlich untätig darauf hoffen, daß das nicht passierte. Aber Untätigkeit war nicht ihre Art.

Sie blätterte in einem Telefonverzeichnis und wählte die Nummer der Asservatenkammer der Miami Police. Eine Telefonistin meldete sich.

»Hier ist Commissioner Ernst. Captain Iacone, bitte.«

»Ja, Ma'am.«

Sekunden später sagte eine Männerstimme: »Hier Wade Iacone, Commissioner Ernst. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte Sie besuchen, Wade.« Die beiden kannten sich aus Cynthias Dienstzeit in der Mordkommission. »Wann hätten Sie mal Zeit?«

»Für Sie immer.«

Sie vereinbarten, daß Cynthia in einer Stunde bei ihm sein würde.

In der Asservatenkammer im Polizeipräsidium herrschte wie üblich reger Betrieb, während Iacones Mitarbeiter Unmengen von winzigen bis riesigen, von kostbaren bis wertlosen Gegenständen katalogisierten, lagerten und bewachten. Der einzige gemeinsame Nenner war die Tatsache, daß alle mit Verbrechen zu tun hatten und später als Beweismaterial dienen konnten. Die großen Lagerräume schienen bereits übervoll zu sein, aber irgendwie wurde für den nie abreißenden Strom täglich neu hereinkommender Gegenstände doch noch Raum geschaffen. Captain Iacone empfing Cynthia am Eingang und nahm sie in sein winziges Büro mit. Nicht einmal für den Abteilungsleiter gab es in der Asservatenkammer genug Platz.

Sobald sie sich gegenübersaßen, begann Cynthia: »Nach der Ermordung meiner Eltern...« Dann machte sie eine Pause, als der Veteran Iacone traurig den Kopf schüttelte.

»Ich hab's damals kaum glauben können. Es hat mir schrecklich leid getan.«

»Ich bin noch immer nicht ganz darüber hinweg«, bestätigte Cynthia seufzend. »Aber nachdem der Fall nun abgeschlossen ist und Doil bald hingerichtet wird... Nun, ich habe einige Dinge zu erledigen, und dazu gehört, daß ich mir die Papiere meiner Eltern zurückhole, die vor über einem Jahr in unserem Haus beschlagnahmt worden sind. Ich nehme an, daß sie hier bei Ihnen lagern.«

»Wir haben irgendwas. Ich weiß nicht mehr genau, worum es sich handelt, aber ich sehe gleich nach.« Iacone drehte sich nach seinem Computerterminal um und tippte den Namen und einen Suchbefehl ein.

Der Captain nickte. »Ja, wir haben einiges von Ihren Eltern sogar ziemlich viel. Jetzt erinnere ich mich wieder.«

»Ich weiß, wieviel Sie hier täglich zu bewältigen haben. Mich wundert, daß Sie sich überhaupt daran erinnern.«

»Nun, das ist ein wichtiger Fall gewesen; wir haben alle großen Anteil daran genommen. Die Papiere sind alle in Kartons verpackt, und die Kriminalbeamten wollten sie bei Gelegenheit aus dem Lager holen, um sie durchzusehen.« Iacone sah erneut auf seinen Bildschirm. »Aber anscheinend haben sie's nie getan.«

»Warum eigentlich nicht?« fragte Cynthia aus Neugier.

»Meines Wissens hat damals niemand Zeit dafür gehabt. Einige Verdächtige sind Tag und Nacht überwacht worden; jeder in der Mordkommission hat schon Überstunden gemacht, so daß nie mand die Unterlagen sichten konnte. Und dann ist der Serienmörder gefaßt worden.«

»Richtig.«

»Damit war der Fall aufgeklärt, und niemand hat sich noch für diese Kartons interessiert.«

Cynthia lächelte strahlend. »Heißt das, daß ich sie wiederhaben kann? Schließlich enthalten sie persönliche Papiere meiner Eltern.«

»Aus meiner Sicht jederzeit. Wir sind froh um jedes bißchen Lagerraum.« Nach einem weiteren Blick auf den Bildschirm stand der Captain auf. »Kommen Sie, wir sehen sie uns an.«

»Verläuft sich hier jemand«, sagte Iacone grinsend, »schicken wir Suchmannschaften los.«

Sie gingen durch einen der Lagerräume, in dem Kartons, Kisten und andere Behälter in Hochregalen bis zur Decke gestapelt waren. Die schmalen Gänge zwischen den Regalen bildeten ein regelrechtes Labyrinth, aber die eingelagerten Gegenstände waren alle deutlich numeriert. »Was wir suchen«, sagte der Captain stolz, »finden wir in wenigen Minuten.« Er blieb stehen und deutete nach oben. »Das sind die Kartons mit den Papieren Ihrer Eltern.«

Cynthia sah zwei Stapel mit ungefähr einem Dutzend stabiler Pappkartons, alle mit Klebeband und dem Aufdruck BEWEISMATERIAL verschlossen. Ziemlich weit oben im zweiten Stapel stand ein Karton, auf dem unter dem Polizeiklebeband ein blauer Klebstreifen zu erkennen war. Gefunden! dachte Cynthia erleichtert.

Jetzt muß ich den Karton nur noch rausholen.

»Kann ich das alles mitnehmen?« Sie deutete auf die beiden Stapel. »Ich unterschreibe die nötigen Formulare.«

»Sorry!« Iacone schüttelte den Kopf. »So einfach ist die Sache leider nicht - andererseits auch nicht schwierig. Damit ich Ihnen alles aushändigen kann, brauche ich eine Freigabeerklärung des Beamten, der das Material beschlagnahmt hat.«

»Wer ist das gewesen?«

»In unserem Computer ist Sergeant Brewmaster gespeichert.

Aber auch Malcolm Ainslie könnte unterschreiben; er hat die Sonderkommission geleitet. Oder natürlich Lieutenant Newbold. Sie haben die Wahl zwischen diesen drei Beamten, die Sie alle kennen.«

Cynthia überlegte sorgfältig; sie hatte gehofft, ihre eigene Autorität als Commissioner würde genügen. Bevor sie einen der drei Genannten fragte, würde sie die möglichen Folgen abwägen müssen.

Beim Hinausgehen erkundigte sie sich beiläufig: »Das meiste Zeug liegt wohl ziemlich lange hier?«

»Viel zu verdammt lange«, beschwerte Iacone sich. »Das ist mein größtes Problem.«

»Wie alt ist das älteste hier lagernde Beweismaterial?«

»Das weiß ich ehrlich nicht. Aber viele Sachen befinden sich seit zwanzig Jahren hier, manche auch schon länger.«

Noch während der Captain das sagte, traf Cynthia ihre Entscheidung in bezug auf die Freigabeerklärung. Sie würde keine einholen. Von Brewmaster wäre sie am leichtesten zu bekommen gewesen, aber auch er konnte Fragen stellen. Newbold hätte bestimmt die beiden anderen gefragt. Und was Ainslie betraf... er war der kreative Denker; er konnte jeden Vorwand durchschauen.

Unternahm sie andererseits gar nichts, konnten diese Kartons hier noch zwanzig oder mehr Jahre stehen, ohne geöffnet zu werden. Deshalb würde sie es riskieren, vorläufig alles, auch den wichtigen Karton mit Belastungsmaterial, hier zu belassen.

Was die fernere Zukunft betraf - allerdings nicht einmal sehr fern, wenn sie genauer darüber nachdachte -, mußte Cynthia sich um wichtigere Dinge kümmern.

Sie hatte vor, Oberbürgermeisterin von Miami zu werden.

Lance Karlsson, der jetzige Amtsinhaber, hatte bereits angekündigt, sich in zwei Jahren nicht wieder zur Wahl stellen zu wollen. Daraufhin hatte Cynthia beschlossen, seine Nachfolgerin zu werden. Auch wenn vielleicht ein weiterer Commissioner für dieses Amt kandidierte, traute sie sich zu, gegen jeden zu gewinnen. Die Zeit war reif für eine Oberbürgermeisterin; heutzutage waren sogar Männer mit der Amtsführung anderer Männer in wichtigen Positionen unzufrieden.

Als Oberbürgermeisterin würde Cynthia denkbar größten Einfluß im Police Department haben. In dieser Funktion könnte ihre Stimme entscheiden, wer nächster Polizeipräsident wurde und wer in die Führungsspitze der hiesigen Polizei aufrückte. Vor einer Oberbürgermeisterin kuschten alle, und mit solcher Autorität würde sie die Kartons - auch diesen einen, auf den es ihr wirklich ankam - mühelos aus der Asservatenkammer herausbekommen.

Laß das Zeug also vorläufig stehen.

»Danke für alles, Wade«, sagte sie, als Iacone sie hinausbegleitete.

In den folgenden dreieinhalb Monaten bis Elroy Doils Hinrichtungstermin fühlte Cynthia ihre innere Unruhe wachsen. Während die Tage und Wochen unendlich langsam verstrichen, erkannte sie, daß erst Doils Tod auf dem elektrischen Stuhl garantierte, daß die Ermittlungen wegen der ihm zugeschriebenen zwölf Serienmorde abgeschlossen wurden. Obwohl Doil nur wegen der Ermordung des Ehepaars Tempone angeklagt und verurteilt worden war, schien keiner der bei Polizei und Staatsanwaltschaft Zuständigen daran zu zweifeln, daß auch die übrigen fünf Doppelmorde - einschließlich des Mordes an Gustav und Eleanor Ernst - auf sein Konto gingen.

Wer wußte also, daß Doil diese beiden Morde nicht verübt hatte?

Diese Frage stellte Cynthia sich eines Nachts, als sie in ihrem Apartment allein war. Die Antwort: sie selbst, Patrick Jensen und der Kolumbianer. Das waren bereits alle - nur drei Menschen.

Aber... strenggenommen waren es vier, wenn man Doil mitzählte, überlegte sie sich. Trotzdem spielte das eigentlich keine Rolle, weil ihm niemand geglaubt hätte, wenn er diese Tat geleugnet hätte. Vor Gericht hatte er alles abgestritten: nicht nur an sich unbedeutende Kleinigkeiten, sondern selbst seine Anwesenheit im Haus der Tempones, vor dem er verhaftet worden war.

Und noch etwas anderes: Was Doils Hinrichtung betraf, ließ sie nicht etwa einen Unschuldigen in den Tod gehen, indem sie schwieg und nichts unternahm. Doil hatte diese anderen Morde verübt und verdiente es, dafür auf den elektrischen Stuhl zu kommen. Da er ohnehin für dieses Ende bestimmt war, konnte er Cynthia und Patrick ebensogut den kleinen Gefallen tun, ihre Last mitzutragen. Nur schade, daß sie sich nicht dafür bedanken konnten!

»Nichts ist so fein gesponnen...« Daran mußte Cynthia oft denken, während sie ungeduldig darauf wartete, daß die Hinrichtung endlich stattfand, damit sie eine neue Seite in ihrem Leben aufschlagen konnte.

Seit einiger Zeit ging Cynthia jetzt wieder gelegentlich mit Patrick Jensen aus oder ins Bett, und in diesen letzten Wochen war sie sogar noch häufiger mit ihm zusammen. Ihr Instinkt sagte ihr, daß das nicht unbedingt klug war, aber sie hatte manchmal das Bedürfnis nach Gesellschaft, und Patrick war der einzige, bei dem sie völlig entspannen konnte. Sie waren einander sehr ähnlich, das wußte sie, und aufeinander angewiesen, um überleben zu können.

Aus diesen Erwägungen heraus beschloß Cynthia, die vom Gefängnisdirektor eine Genehmigung zur Teilnahme an Doils Hinrichtung erhalten hatte, Patrick ins Florida-State-Gefängnis mitzubringen. Für ihre Anwesenheit gab es zwei Gründe: Sie war das einzige Kind eines Ehepaars, das anscheinend zu Doils Opfern gehörte, und ihr Amt als Miami City Commissioner sicherte ihr automatisch eine Vorzugsbehandlung. Als sie mit Patrick über ihre Idee sprach, war er sofort einverstanden. »Wir haben berechtigtes Interesse daran, diesen Kerl abkratzen zu sehen. Außerdem kann ich die Szene in einem Buch verwenden.«

Also hatte sie den Gefängnisdirektor erneut angerufen, und obwohl es schwierig war, zu einer Hinrichtung zugelassen zu werden - die Wartezeit betrug drei Jahre -, wurde Jensen dank ihres Einflusses mit auf die Liste gesetzt.

Es gab Augenblicke, in denen Patricks zunehmende Depressionen ihr Sorgen machten. In den Jahren, in denen sie ihn nun schon kannte, war er stets ein Denker gewesen, was wohl zu seinem Schriftstellerberuf gehörte, aber jetzt wirkte er grüblerischer als je zuvor. Neulich hatte er bei einem Gespräch trübsinnig Robert Frost zitiert:

Zwei Straßen teilten sich in einem Wald, und ich...

Ich nahm die weniger befahrene.

Und das hat allen Unterschied gemacht.

»Frost hatte recht, was diesen Unterschied betrifft«, stellte Patrick fest. »Nur ist's in seinem Fall die richtige Straße gewesen. Ich dagegen habe die falsche genommen - und auf dieser Straße kann niemand umkehren.«

»Du wirst doch nicht etwa religiös?« fragte Cynthia ihn.

Zur Abwechslung lachte Patrick. »Bestimmt nicht! Das kann höchstens die letzte Zuflucht sein, nachdem sie einen gefaßt haben.«

»Red nicht davon, gefaßt zu werden!« fauchte sie ihn an.

»Das wirst du nicht, sobald...« Obwohl Cynthia nicht weitersprach, wußten beide, daß sie Doils Hinrichtung meinte, die in wenigen Tagen stattfinden würde.

Eigentlich paradox, dachte Cynthia, sich erleichtert zu fühlen, wenn man ein Gefängnis betritt. Aber sie empfand Erleichterung, weil sie wußte, daß es bis zu dem lang ersehnten Augenblick - sie sah auf ihre Armbanduhr, es war 6.12 Uhr - nur noch eine Stunde dauerte. Zuvor hatten die zwanzig Hinrichtungszeugen, überwiegend gutgekleidete Unbekannte, sich in der nahe gelegenen Kleinstadt Starke getroffen und waren mit einem Bus zum State Prison hinausgefahren. Unterwegs war kaum gesprochen worden; jetzt schob ihre Gruppe sich durch schwere Stahlgitter und an einem festungsartigen Kontrollraum vorbei. Patrick war neben ihr, als Cynthia auf zwei Männer aufmerksam wurde, die stehengeblieben waren, um die Gruppe vorbeizulassen.

Der eine gehörte zum Gefängnispersonal, der andere war... Malcolm!

Bei seinem Anblick überlief sie ein eisiger Schauder.

Cynthia dachte angestrengt nach. Was tut er hier? Darauf konnte es nur eine Antwort geben: Er war hergekommen, um ein letztes Mal mit Doil zu sprechen. Warum?

Sie sah rasch zu Patrick hinüber; er hatte Ainslie ebenfalls gesehen und war offenbar zur selben Schlußfolgerung gelangt. Aber sie konnten jetzt nicht miteinander sprechen; ihre Führer drängten die Gruppe weiter.

Cynthia war davon überzeugt, daß auch Malcolm sie gesehen hatte, aber ihre Blicke waren sich nicht begegnet. Während sie mit den anderen weiterhastete, befanden ihre Gedanken sich in wildem Aufruhr. Worüber kann Malcolm mit Doil in dessen letzter Stunde sprechen wollen? Hat er etwa noch immer Zweifel, was Doils Täterschaft im Mordfall Ernst betrifft? Ist er deswegen hier, um Doil in letzter Minute die Wahrheit zu entlocken? Oder bin ich nur hysterisch, weil Ainslie aus ganz anderen Gründen hier ist? Unter Umständen hat sein Besuch gar nichts mit Doil zu tun. Aber das kann ich nicht glauben.

Die Gruppe betrat den durch eine Panzerglasscheibe von der Hinrichtungskammer abgetrennten Zeugenraum. Ein Gefängniswärter, der die Namen auf einer Liste abhakte, wies ihnen Metallklappstühle zu. Cynthia und Patrick saßen in der Mitte der ersten Reihe. Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, blieb der Stuhl rechts neben Cynthia leer.

Ein weiterer Schock: Als die Aktivitäten im Hinrichtungsraum begannen, begleitete derselbe Gefängniswärter Malcolm Ainslie zu dem freien Sitz neben ihr. Cynthia spürte, daß er sie ansprechen wollte, weil er zu ihr hinübersah, und starrte weiter geradeaus. Patrick erwiderte jedoch Ainslies Blick und lächelte ihm sogar kurz zu. Cynthia glaubte nicht, daß sein Lächeln erwidert wurde.

Als die Hinrichtung begann, konnte sie sich nur teilweise darauf konzentrieren, weil ihr Verstand größtenteils noch immer benommen und durch hektische Gedanken blockiert war. Aber als Doils Körper dann unter Stromstößen von zweitausend Volt zuckte, fühlte Cynthia leichte Übelkeit in sich aufsteigen. Patrick schien die Hinrichtung geradezu faszinierend zu finden. Und dann war plötzlich alles unerwartet schnell vorbei. Der Hingerichtete wurde in einem Leichensack abtransportiert, und die Zeugen standen auf, um den Raum zu verlassen. In diesem Augenblick wandte Malcolm sich an Cynthia und sagte halblaut: »Commissioner, ich fühle mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, daß ich kurz vor seiner Hinrichtung mit Doil über Ihre Eltern gesprochen habe. Er hat behauptet...«

Der Schock über diese jähe Bestätigung ihrer schlimmsten Befürchtungen war mehr, als sie verkraften konnte. Fast ohne zu wissen, was sie sagte, unterbrach Cynthia ihn: »Bitte, davon möchte ich nichts hören.« Dann fiel ihr ein, daß Doil angeblich auch ihre Eltern ermordet hatte. »Ich bin hergekommen, um ihn leiden zu sehen. Ich hoffe, daß er einen schweren Tod gehabt hat.«

»Den hat er gehabt.« Ainslies Stimme klang weiter ruhig.

Sie versuchte, ihre Autorität auszuspielen. »Dann bin ich zufrieden, Sergeant.«

»Ich verstehe, Commissioner.« Sein Tonfall verriet nicht, was er dachte.

Sie verließen den Zeugenraum. Draußen im Korridor machte Patrick einen unbeholfenen Versuch, sich Ainslie vorzustellen, den dieser kühl abwehrte; er zeigte, daß er wußte, wer Patrick war, und deutete an, er lege keinen Wert auf eine nähere Bekanntschaft.

Ihr kurzes Gespräch endete, als Ainslies Gefängnisbeamter erschien, um ihn hinauszubegleiten.

Im Bus, der die Zeugen nach Starke zurückbrachte, saß Cynthia neben Patrick, ohne ein Wort zu sagen. Sie wünschte sich jetzt, sie hätte Malcolm nicht unterbrochen, als er begonnen hatte: Ich habe mit Doil über Ihre Eltern gesprochen. Er hat behauptet...

Was hatte Elroy Doil behauptet? Vermutlich hatte er seine Unschuld beteuert. Aber hatte Ainslie ihm geglaubt? Würde er weiter nachforschen?

Plötzlich ein beunruhigender neuer Gedanke: Hatte sie etwa den größten Fehler ihres Lebens gemacht, als sie vor Jahren ihren höheren Dienstgrad eingesetzt hatte, um zu verhindern, daß Malcolm Ainslie vom Sergeant zum Lieutenant befördert wurde? Wahrhaftig eine Ironie des Schicksals! Hätte sie seine Beförderung nicht hintertrieben, wäre er schon lange nicht mehr bei der Mordkommission gewesen.

Jeder zum Lieutenant Beförderte wurde automatisch in eine andere Abteilung versetzt. Dann hätte Ainslie anderswo gearbeitet und nichts mit diesen Serienmorden zu tun gehabt. Die übrigen Beamten der Mordkommission, denen sein Spezialwissen fehlte, hätten wahrscheinlich keine Verbindung zwischen den Morden und der Offenbarung des Johannes erkannt, so daß auch vieles andere nicht geschehen wäre. Vor allem hätte Ainslie die Ermittlungen im Mordfall Ernst nicht weitergeführt, wie er's jetzt vielleicht tun würde.

Cynthia lief ein kalter Schauder über den Rücken. Konnte es sein, daß Malcolm Ainslie - für dessen Verbleiben in der Mordkommission sie wegen der lange zurückliegenden Fehleinschätzung gesorgt hatte - ihr eines Tages als Todesengel gegenübertreten würde?

Ob das wahrscheinlich oder auch nur möglich war, wußte sie nicht. Aber weil es überhaupt denkbar war und wegen allem, was er ihr angetan oder unterlassen hatte... und wegen allem, was er war und verkörperte... und aus so vielen anderen Gründen, die logisch oder unlogisch sein mochten, haßte, haßte, haßte sie ihn jetzt.

Загрузка...