ZWEITER TEIL. DIE VERGANGENHEIT

1

Orlando Cobo, ein fünfzigjähriger Wachmann des Hotels Royal Colonial in Coconut Grove, war müde. Er war froh, bald nach Hause fahren zu können, als er bei seinem Routinerundgang kurz vor sieben Uhr den achten Stock betrat. Hinter ihm lag eine verhältnismäßig ruhige Nacht mit nur drei unbedeutenden Vorfällen während seiner Achtstundenschicht.

Sicherheitsprobleme, die mit Jugend, Sex oder Drogen zusammenhingen, gab es im Royal Colonial nur sehr selten. Seine Klientel bestand hauptsächlich aus gesetzten, wohlhabenden Gästen mittleren Alters, denen die altmodisch ruhige Hotelhalle, die massenhaft herumstehenden tropischen Pflanzen und der Zuckerbäckerstil des alten Gebäudes gefielen.

In gewisser Weise war das Hotel ein Spiegelbild des Stadtteils Coconut Grove, in dem es stand - eine manchmal disharmonische Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart. Hier drängten sich baufällige Holzhäuser neben einst exklusiven, eleganten Stadthäusern; winzige Secondhandshops befanden sich unmittelbar neben teuren Galerien und Boutiquen; Schnellimbißbuden mit Straßenverkauf befanden sich in Nachbarschaft von Luxusrestaurants; überall lebten Arm und Reich auf Tuchfühlung nebeneinander. Coconut Grove, Floridas älteste Siedlung - zwanzig Jahre älter als Miami -, schien nicht nur einen Charakter, sondern viele zu haben, die alle undiszipliniert miteinander konkurrierten.

Das alles kümmerte Cobo nicht, als er aus dem Aufzug trat und den Flur im achten Stock entlangging. Er war weder Philosoph noch Einwohner von Coconut Grove, sondern kam jeden Tag aus North Miami zur Arbeit. Bis jetzt schien hier alles in bester Ordnung zu sein, und er begann schon, sich auf die geruhsame Heimfahrt zu freuen.

Als er sich dann der Feuertreppe am Ende des Korridors näherte, fiel ihm auf, daß die Tür von Zimmer 805 nur angelehnt war. Aus dem Zimmer drang laute Musik, als sei das Radio oder der Fernseher eingeschaltet. Er klopfte an die Tür, und als niemand antwortete, stieß er sie weit genug auf, um den Kopf ins Zimmer strecken zu können, und würgte angewidert, weil ihm grausiger Gestank entgegenschlug. Cobo bedeckte seinen Mund mit einer Hand, betrat Zimmer 805 und bekam bei dem Anblick, der sich ihm dort bot, ganz weiche Knie. Unmittelbar vor sich sah er in einer großen Blutlache die Leichen eines Mannes und einer Frau - beide von abgetrennten Gliedmaßen umgeben.

Cobo schloß hastig die Tür, atmete mehrmals tief durch und griff dann nach dem Telefon in der Halterung an seinem Gürtel. Er tippte die 911 ein.

In der Notrufzentrale der Miami Police hörte eine Sachbearbeiterin zu, wie Orlando Cobo einen mutmaßlichen Doppelmord im Hotel Royal Colonial meldete.

»Sie sind dort Wachmann, sagen Sie?«

»Ja, Ma'am.«

»Wo sind Sie jetzt?«

»Draußen vor dem Zimmer. Nummer achtnullfünf.« Während die Beamtin zuhörte, gab sie alle Informationen ihrem Computer ein, so daß sie im nächsten Augenblick von einem Dispatcher in einer anderen Abteilung gelesen werden konnten.

»Bleiben Sie dort«, wies sie den Anrufer an. »Bewachen Sie das Zimmer. Lassen Sie keinen hinein, bis unsere Beamten eintreffen.«

Eineinhalb Meilen vom Hotel entfernt war Tomas Ceballos, ein junger Streifenpolizist, mit Wagen 164 auf dem South Dixie Highway unterwegs, als er den dringenden Anruf eines Dispatchers empfing. Er wendete sofort mit quietschenden Reifen und raste mit Blinklicht und Sirene zum Royal Colonial.

Wenige Minuten später traf Officer Ceballos vor Zimmer 805 mit dem Wachmann zusammen.

»Ich hab' eben bei der Rezeption nachgefragt«, sagte Cobo und sah auf einen Notizzettel. »Als Gäste haben sich Mr. und Mrs. Homer Frost aus Indiana eingetragen; die Lady heißt mit Vornamen Blanche.« Er übergab dem Beamten den Zettel und eine Magnetkarte für die Zimmertür.

Ceballos steckte die Karte ins Schloß und betrat vorsichtig Zimmer 805. Er schrak instinktiv zurück, zwang sich dann jedoch, den Tatort genau zu inspizieren, weil er wußte, daß er ihn später würde beschreiben müssen.

Der junge Beamte sah die Leichen eines älteren Mannes und einer Frau, die sich gefesselt und geknebelt gegenübersaßen, als seien beide Zeugen des Todes des jeweils anderen gewesen. Die Gesichter beider Toten waren entstellt; Augen und Gesicht des Mannes waren verbrannt. Die Leichen wiesen unzählige Messerstiche auf. Im Hintergrund spielte ein Radio harten Rock.

Tomas Ceballos hatte genug gesehen. Er trat auf den Korridor hinaus und schaltete sein Handfunkgerät ein, um die Zentrale zu rufen; seine Dienstnummer würde automatisch auf dem Bildschirm des Dispatchers erscheinen. Seine Stimme schwankte. »Ich brauche ein Ermittlungsteam auf Tac One.«

Tactical One war ein für die Mordkommission reservierter Funkkanal. Detective-Sergeant Malcolm Ainslie, Dienstnummer 1910, war mit einem neutralen Dienstwagen ins Büro unterwegs und hatte sich schon bei dem Dispatcher gemeldet. Heute hatten Ainslie und sein Team Bereitschaftsdienst.

Der Dispatcher alarmierte Ainslie, der sofort auf Tac One umschaltete. »Einssechsvier hier neunzehnzehn. QSK?«

»Zwei Leichen im Hotel Royal Colonial«, meldete Ceballos. »Zimmer achtnullfünf. Vermute einunddreißig.« Er schluckte und sprach dann ruhiger weiter. »Nein, bestimmt einunddreißig. Eine schlimme Sache, ganz schlimm.«

Die Codeziffer 31 bezeichnete einen Mord. »Okay, bin unterwegs«, bestätigte Ainslie. »Sichern Sie den Tatort. Dort darf niemand rein - auch Sie selbst nicht.«

Ainslie wendete auf der Straße und gab sofort wieder Gas. Gleichzeitig rief er über Funk Detective Bernard Quinn, der zu seinem Team gehörte, und wies ihn an, ebenfalls ins Royal Colonial zu kommen.

Seine übrigen Beamten ermittelten wegen anderer Morde und waren im Augenblick nicht verfügbar. Da sich in den vergangenen Monaten besonders viele Morde ereignet hatten, war ein Ermittlungsstau entstanden. Auch heute schien sich diese schlimme Serie fortzusetzen.

Ainslie und Quinn erreichten das Hotel fast gleichzeitig und gingen miteinander zu den Aufzügen. Quinn, der grauhaarig war und ein runzliges, von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht hatte, war wie immer untadelig gekleidet: blaues Sportsakko, graue Hose, weißes Hemd und gestreifte Krawatte. Der gebürtige Engländer und eingebürgerte Amerikaner, ein Veteran der Mordkommission, würde schon bald als Sechzigjähriger pensioniert werden.

Quinn war bei den Kollegen beliebt und geachtet, was damit zusammenhing, daß er für deren Karriere keine Gefahr darstellte; denn nachdem er Detective geworden war und sich in diesem Job bewährt hatte, verzichtete er auf jede weitere Beförderung. Er wollte einfach nicht für andere verantwortlich sein und hatte nie die Sergeantprüfung abgelegt, die er mühelos bestanden hätte. Aber Quinn war als leitender Ermittler an jedem Tatort ein guter Mann.

»Das ist Ihr Fall, Bernie«, sagte Ainslie. »Aber ich helfe Ihnen noch, bis die Ermittlungen in Gang gekommen sind.«

Auf ihrem Weg durch die weitläufige, üppig bepflanzte Hotelhalle entdeckte Ainslie zwei Reporterinnen, die an der Rezeption standen. Es war erstaunlich, wie schnell Leute von den Medien, die durch die Stadt fuhren und den Polizeifunk abhörten, sich am Tatort einfanden. Eine der beiden, die Ainslie erkannte, hastete auf die Kabine des Aufzugs zu, in der die Kriminalbeamten standen, aber die Tür schloß sich vor ihr.

Quinn seufzte, während sie nach oben fuhren. »Man sollte einen Tag auch besser beginnen können.«

»Sie werden's bald erfahren«, meinte Ainslie. »Aber vielleicht geht Ihnen die Aufregung im Ruhestand sogar ab.«

Als sie im achten Stock ausstiegen, verstellte Wachmann Cobo ihnen den Weg. »Gentlemen, hier darf niemand...« Er sprach nicht weiter, als er die Dienstausweise an Ainslies und Quinns Jacken sah.

»Leider«, sagte Quinn, »müssen wir hier durch.«

»Sorry, Leute! Bin echt froh, euch zu sehen. Ich hab' jeden aufgehalten, der hier nichts zu... «

»Weitermachen«, wies Ainslie ihn an. »Von uns kommen noch mehr Leute, aber lassen Sie niemanden durch, der sich nicht ausweisen kann. Wir wollen, daß dieser Korridor frei bleibt.«

»Ja, Sir.« Cobo dachte nicht ans Heimfahren, solange hier alles so aufregend war.

Auf dem Flur kam ihnen Officer Ceballos entgegen, der die Kriminalbeamten respektvoll behandelte. Da er wie viele andere junge Polizeibeamten den Ehrgeiz hatte, eines Tages die Uniform abzulegen und Detective zu werden, konnte es nicht schaden, einen guten Eindruck zu machen. Ceballos übergab den Zettel mit den Namen der Gäste in Zimmer 805 und meldete, abgesehen von zwei flüchtigen Besichtigungen durch Cobo und ihn befinde der Tatort sich im ursprünglichen Zustand.

»Gut«, antwortete Ainslie. »Sie bleiben hier, und ich fordere zwei Mann Verstärkung für Sie an. Die Presse ist schon im Hotel und wird sich bald überall rumtreiben. Ich will hier oben keine Reporter sehen, und Sie dürfen keine Auskunft geben; sagen Sie einfach, daß später ein PI-Beamter zur Verfügung stehen wird. Ohne meine oder Detective Quinns Erlaubnis darf vorläufig niemand auch nur in die Nähe vo n Zimmer achtnullfünf. Haben Sie das verstanden?«

»Ja, Sergeant.«

»Okay, sehen wir uns mal an, was wir hier haben.«

Als Ceballos die Tür von Zimmer 805 öffnete, rümpfte Bernard Quinn angewidert die Nase. »Und Sie glauben, daß mir das fehlen wird?«

Ainslie schüttelte melancholisch den Kopf. Der Geruch des Todes war ein ekelerregender, widerwärtiger Gestank, der sich nach jedem Mord, vor allem bei offenen Wunden und austretenden Körperflüssigkeiten, am Tatort ausbreitete.

Die beiden Kriminalbeamten hielten in ihren Notizbüchern fest, wann sie Zimmer 805 betreten hatten. Sie würden sich weitere Notizen machen, bis dieser Fall irgendwann einmal abgeschlossen war. Das war lästig, aber sie würden ihre Aufzeichnungen brauchen, falls sie später vor Gericht aussagen mußten.

Zunächst blieben sie stehen und betrachteten die grausige Szene vor ihnen - die beiden teilweise schon eingetrockneten Blutlachen und die verstümmelten, schon leicht in Verwesung übergegangenen Toten. Das Zimmer 805 selbst, befand sich in wilder Unordnung: Sessel waren umgestürzt, die Betten zerwühlt und Kleidungsstücke der Ermordeten im ganzen Raum verstreut. Aus dem Radio auf einem der Nachttische drang weiter laute Rockmusik.

Quinn wandte sich an Ceballos. »Ist das Radio eingeschaltet gewesen, als Sie reingekommen sind?«

»Ja - und als der Wachmann im Zimmer gewesen ist. Der Sender klingt nach >HOT 105<.«

»Danke.« Quinn machte sich eine Notiz. »Den hört mein Sohn auch. Ich kann den Lärm nicht ausstehen.«

Ainslie benutzte die Kombination aus Handfunkgerät und Mobiltelefon, um mehrere Telefongespräche zu führen. Das Telefon in Zimmer 805 durfte erst angefaßt werden, wenn es auf Fingerabdrücke untersucht worden war.

Als erstes forderte er ein Spezialistenteam zur Spurensicherung an. Die Fachleute würden den Tatort und alles Beweismaterial fotografieren - auch winzige Einzelheiten, die ein ungeübtes Auge leicht übersehen konnte. Sie würden nach Fingerabdrücken suchen, Blutproben sicherstellen und sonstige Untersuchungen vornehmen, die den Ermittlern zweckmäßig erschienen. Bis die Spurensicherung eintraf, blieb am Tatort »die Zeit eingefroren« - er blieb in genau dem Zustand, in dem er vorgefunden worden war.

Schon ein einziger Ahnungsloser, der durch den Raum ging oder Gegenstände berührte, konnte eine wichtige Spur vernichten und so den Ausschlag dafür geben, daß eine Straftat nicht aufgeklärt wurde und ein Verbrecher straffrei ausging. Selbst Vorgesetzte, die einen Tatort aus Neugier besichtigten, konnten unwissentlich Beweismaterial zerstören; deshalb hatte der Kriminalbeamte, der die Ermittlungen leitete, unabhängig von seinem Dienstgrad die alleinige Befehlsgewalt am Tatort.

Ainslie telefonierte weiter: Er informierte Lieutenant Newbold, den Chef der Mordkommission, der bereits unterwegs war, forderte einen Staatsanwalt an und bat im Präsidium um Entsendung eines PI-Beamten, der sich um die Reporter kümmern sollte.

Sobald die Spurensicherung mit den Ermordeten fertig war, würde Ainslie einen Gerichtsmediziner anfordern, dessen Erstuntersuchung möglichst früh nach Eintritt des Todes stattfinden sollte. Aber Gerichtsmediziner mochten es nicht, zu früh verständigt zu werden und dann warten zu müssen, bis die Spurensicherung ihre Arbeit beendet hatte.

Noch später - nach der Erstuntersuchung und der Überführung der Toten ins Leichenschauhaus von Dade County würde eine Autopsie in Anwesenheit von Bernard Quinn stattfinden.

Während Ainslie telefonierte, streifte Quinn einen Latexhandschuh über, um den Stecker des lauten Radios herauszuziehen. Als nächstes nahm er die Leichen der Ermordeten in Augenschein: ihre Verletzungen, welche Kleidungsstücke sie noch trugen, welche Gegenstände in ihrer Nähe lagen - und machte sich dabei wieder Notizen. Auf dem anderen Nachttisch sah er einige Schmuckstücke liegen, die ziemlich teuer aussahen. Dann drehte er den Kopf zur Seite und rief verblüfft: »Hey, sehen Sie sich das an!«

Ainslie trat neben ihn. Von dort aus bot sich ihm ein bizarrer, rätselhafter Anblick: hinter den Leichen, wo sie anfangs nicht zu sehen gewesen waren, lagen vier tote Katzen.

Die Kriminalbeamten betrachteten die Tierkadaver.

»Die sollen uns etwas sagen«, stellte Ainslie schließlich fest. »Irgendwelche Ideen?«

Quinn schüttelte den Kopf. »Nicht sofort. Darüber muß ich erst nachdenken.«

In den kommenden Woche n und Monaten würde die ganze Mordkommission sich Erklärungen für die toten Katzen zurechtlegen. Obwohl zahlreiche exotische Theorien vorgebracht wurden, stand letztlich fest, daß keine sinnvoll zu sein schien. Erst viel später würde erkannt werden, daß am Tatort im Mordfall Frost ein weiterer wichtiger Hinweis vorhanden gewesen war - gar nicht weit von den Katzen entfernt.

Jetzt beugte Quinn sich über die grob abgetrennten Gliedmaßen, um sie genauer zu betrachten. Ainslie, der ein Würgen hörte, sah zu ihm hinüber. »Alles in Ordnung, Bernie?«

»Bin gleich wieder da«, brachte Quinn noch heraus, bevor er zur Tür stürzte.

Draußen zeigte Cobo hilfsbereit den Flur entlang. »Gleich da vorn, Chief!«

Sekunden später übergab Quinn sich in die Toilettenschüssel. Nachdem er sich Gesicht und Hände gewaschen und einen Schluck Wasser getrunken hatte, kehrte er an den Tatort zurück. »So was ist mir schon lange nicht mehr passiert«, sagte er geknickt.

Ainslie nickte verständnisvoll. Das kam in ihrem Beruf gelegentlich vor und wurde nie kritisiert. Unverzeihlich wäre es gewesen, sich am Tatort zu übergeben und damit vielleicht Spuren zu vernichten.

Stimmen auf dem Korridor kündigten das Eintreffen der Spurensicherung an. Julio Verona, der Teamchef, trat mit Sylvia Waiden, einer Technikerin, ins Zimmer 805. Verona, ein kleiner, untersetzter Mann mit Stirnglatze, blieb an der Tür stehen und suchte den Tatort methodisch mit seinen undurchdringlichen schwarzen Augen ab. Waiden, eine junge, langbeinige Blondine, die auf Fingerabdrücke spezialisiert war, trug einen schwarzen Gerätekoffer von der Größe eines Wochenendkoffers.

Niemand sprach, während die beiden den Raum inspizierten. Zuletzt schüttelte Verona seufzend den Kopf. »Ich habe zwei Enkel. Heute morgen haben wir gemeinsam gefrühstückt und im Fernsehen einen Bericht über zwei Teenager gesehen, die den Freund ihrer Mutter ermordet haben. Ich habe zu den Kids gesagt: >Diese Welt, die wir euch hinterlassen, ist ein grausiger Ort geworden< - und im nächsten Augenblick kommt dieser Anruf.« Er nickte zu den verstümmelten Leichen hinüber. »Das wird täglich schlimmer.«

»Die Welt ist schon immer ein grausiger Ort gewesen, Julio«, meinte Ainslie nachdenklich. »Der Unterschied ist nur, daß es jetzt viel mehr Menschen gibt, die man umbringen kann, und viel mehr potentielle Täter. Und die Schreckensbotschaften werden viel schneller verbreitet; manchmal können wir das Entsetzliche sogar miterleben, während es passiert.«

Verona zuckte mit den Schultern. »Typisch Malcolm - immer der wissenschaftliche Standpunkt. Trotzdem bleibt's deprimierend.«

Er begann die Toten zu fotografieren und machte aus jedem Blickwinkel drei Aufnahmen: eine Übersichtsaufnahme, eine aus mittlerer Entfernung und eine Nahaufnahme. Sobald er die Leichen aufgenommen hatte, würde er weiterfotografieren: sämtliche Aspekte von Zimmer 805, den Korridor, die Feuertreppe, die Aufzüge und zuletzt das Hotel von außen - mit allen Ein- und Ausgängen, die der oder die Täter hätten benutzen können. Solche Aufnahmen lieferten oft Hinweise, die zuvor übersehen worden waren.

Außerdem würde Verona einen detaillierten Plan des Tatorts zeichnen, der später in einen speziellen, ausschließlich dafür bestimmten Computer übernommen werden würde.

Sylvia Waiden war inzwischen auf der Suche nach verborgenen Fingerabdrücken, wobei sie mit Zimmertür und Rahmen begann, weil dort am ehesten Abdrücke zu finden waren. Eindringlinge waren beim Hereinkommen oft nervös oder leichtsinnig; etwaige Vorsichtsmaßnahmen, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, wurden im allgemeinen erst später ergriffen.

Waiden bestrich die Holzflächen mit schwarzem Graphitpulver, dem winzige Eisenfeilspäne beigemischt waren und das mit einem Magnetpinsel aufgetragen wurde; diese Mischung haftete an Feuchtigkeit, Lipoiden, Aminosäuren, Salzen und weiteren chemischen Verbindungen, aus denen Fingerabdrücke bestanden.

Auf glatteren Oberflächen - Glas oder Metall - wurde ein nichtmagnetisches Pulver benutzt, das es je nach Untergrund in verschiedenen Farben gab. Bei der Arbeit verwendete Waiden abwechselnd beide Pulversorten, weil Fingerabdrücke je nach Hautstruktur, Temperatur oder Verunreinigung der Hände unterschiedlich ausfallen konnten.

Officer Ceballos war wieder hereingekommen und beobachtete Waiden interessiert. Sie sah zu ihm hinüber und sagte lächelnd: »Gute Fingerabdrücke sind schwieriger zu finden, als die meisten Leute glauben.«

Ceballos erwiderte ihr Lächeln. Waiden war ihm sofort aufgefallen, als sie aus dem Aufzug getreten war. »Im Fernsehen sieht's ganz leicht aus.«

»Ist das nicht immer so?« fragte sie. »Im richtigen Leben hängt alles vom Untergrund ab. Glatte Flächen wie Glas sind am besten - aber nur, wenn sie sauber und trocken sind; auf staubigem Untergrund verwischen die Abdrücke und sind wertlos. Türknöpfe sind nahezu aussichtslos: Ihre gewölbte Oberfläche ist für brauchbare Abdrücke zu klein, und jede Drehbewegung verwischt die Spuren.« Waiden fand offenbar Gefallen an dem jungen Polizeibeamten. »Wissen Sie übrigens, daß Fingerabdrücke durch das beeinflußt werden können, was man zuletzt gegessen hat?«

»Soll das ein Witz sein?«

»Keineswegs.« Sie lächelte erneut, bevor sie weiterarbeitete. »Säurehaltige Speisen erhöhen die Hautfeuchtigkeit und bewirken deutlichere Abdrücke. Sollten Sie also ein Verbrechen vorhaben, dürfen Sie keine Zitrusfrüchte essen - keine Orangen, Grapefruits, Zitronen oder Limonen, auch keine Tomaten. Und vor allem keinen Essig! Der ist am schlimmsten.«

»Oder aus unserer Sicht am besten«, stellte Julio Verona richtig.

»Ich werd' daran denken, wenn ich später Kriminalbeamter bin«, sagte Ceballos. Dann fragte er Waiden: »Geben Sie auch Privatunterricht?«

»Eigentlich nicht.« Sie lächelte wieder. »Aber ich könnte eine Ausnahme machen.«

»Gut. Ich laß von mir hören.« Officer Ceballos ging sichtlich zufrieden hinaus.

»Sogar am Tatort eines Doppelmordes geht das Leben weiter«, lautete Ainslies leicht ironischer Kommentar.

Waiden sah zu den verstümmelten Leichen hinüber und verzog das Gesicht. »Wär's anders, würde man bald durchdrehen.«

Sie hatte schon mehrere Fingerabdrücke gefunden, aber ob sie dem oder den Tätern, dem ermordeten Ehepaar oder jemandem vom Hotelpersonal zuzuordnen waren, würde sich erst später herausstellen. Im Augenblick bestand der nächste Schritt darin, jeden Abdruck mit durchsichtigem Klebeband abzunehmen, das auf eine Karte für nicht sofort sichtbare Fingerabdrücke geklebt wurde. Mit Datum, Fundort und Unterschrift wurde die Karte zu einem Beweisstück.

Julio Verona fragte Ainslie: »Haben Sie schon von unserem Experiment im Zoo gehört?«

Ainslie schüttelte den Kopf.

»Wir sind im MetroZoo gewesen und haben mit Erlaubnis des Direktors von Schimpansen und anderen Affen Fingerabdrücke genommen, um sie zu untersuchen.« Er nickte Waiden zu. »Erzählen Sie ihm den Rest.«

»Sie sind hundertprozentig menschenähnlich gewesen«, sagte sie. »Alle charakteristischen Merkmale - Rillen, Erhebungen, Schlingen, Wirbel, Bogen - haben übereingestimmt.«

»Darwin hat recht gehabt«, fügte Verona hinzu. »Jeder von uns hat Affen in seinem Stammbaum, was, Malcolm?« Das sagte er absichtlich, weil er von Ainslies Vergangenheit als Priester wußte.

Obwohl Ainslie nie ein Fundamentalist gewesen war, hatte er früher die katholischen Zweifel an Darwins Hauptwerk Der Ursprung der Arten geteilt. Schließlich hatte Darwin den Schöpfungsakt Gottes geleugnet und dem Menschen seine Überlegenheit über den Rest der Tierwelt abgesprochen. Aber diese Zeiten lagen weit zurück, so daß Ainslie jetzt antwortete: »Ja, das denke ich auch.«

Er war sich darüber im klaren, daß sie alle - Waiden, Verona, Ceballos, Quinn und sogar er selbst - nur versuchten, sich für einige Augenblicke von der grausigen Szene abzulenken, die sie vor sich hatten. Außenstehende hätten ihr Verhalten vielleicht als herzlos empfunden; in Wirklichkeit war es genau das Gegenteil. Die menschliche Psyche - selbst die konditionierte von Polizeibeamten - konnte nicht unbegrenzt solche erschütternden Eindrücke verkraften.

Inzwischen war ein weiterer Mann der Spurensicherung eingetroffen, der Blutproben nahm. Er füllte kleine Glasröhrchen mit Proben aus den Blutlachen, die sich um die Leichen herum angesammelt hatten. Die Proben würden später mit dem bei der Autopsie entnommenen Blut der Opfer verglichen werden. Waren die Blutgruppen verschieden, konnte ein Teil des Blutes hier von dem oder den Tätern stammen. Aber das war offenbar wenig wahrscheinlich.

Für den Fall, daß eines der Opfer den Täter gekratzt hatte, wobei winzige Spuren von Haut, Haaren, Stoff oder anderen Materialien zurückgeblieben sein konnten, kratzte der Techniker die Fingernägel der Frosts aus. Diese Proben kamen in kleine Behälter, um später im Labor untersucht zu werden. Danach wurden die Hände der Ermordeten mit schützenden Plastikbeuteln umhüllt, damit vor der Autopsie Fingerabdrücke genommen werden konnten. Bei dieser Gelegenheit würde der gesamte Körper der Leichen auf fremde Fingerabdrücke untersucht werden.

Auch die Kleidung der Frosts wurde sorgfältig begutachtet, obwohl sie an Ort und Stelle bleiben würde, bis die Toten im Leichenschauhaus waren.

Durch die zusätzlichen Leute, die durcheinanderredeten und ständig telefonierten, war Zimmer 805 jetzt überfüllt, laut und womöglich noch übelriechender.

Ainslie sah auf seine Armbanduhr. Es war 9.45 Uhr, und er mußte plötzlich an Jason denken, der jetzt mit seiner dritten Klasse in der Aula saß und auf den Beginn eines Vorlesewettbewerbs wartete. Karen würde wie andere Eltern auch nervös und stolz im Publikum sitzen. Ainslie hatte gehofft, kurz vorbeischauen zu können, aber das hatte nicht geklappt. Es klappte selten.

Er konzentrierte sich wieder auf den Tatort, fragte sich, ob dieser Fall wohl rasch zu lösen war. Aber im Verlauf der nächsten Stunden stellte sich heraus, worin das größte Problem bestand: Obwohl im Hotel ständig viele Menschen unterwegs waren, hatte niemand auch nur einen möglichen Verdächtigen gesehen. Irgendwie hatten der oder die Täter es geschafft, Zimmer 805 und vermutlich auch das Hotel unbemerkt zu betreten und auch wieder zu verlassen. Ainslie ließ alle Gäste im siebten, achten und neunten Stock befragen. Niemand hatte etwas gesehen.

In den zwölf Stunden, die Ainslie an diesem ersten Tag am Tatort verbrachte, überlegte er mit Quinn, was das Tatmotiv gewesen sein könnte. Möglicherweise Raub, weil bei den Ermordeten kein Geld gefunden worden war. Andererseits würde kein Raubmörder den am Tatort gefundenen Schmuck, der später auf zwanzigtausend Dollar geschätzt wurde, zurückgelassen haben.

Und um Bargeld zu rauben, hätte man nicht zwei Menschen ermorden müssen. Auch die Grausamkeit der Tat und das Rätsel der vier toten Katzen blieben vorerst ungeklärt. Also gab es weder ein schlüssiges Tatmotiv noch eine Täterbeschreibung.

Erste Auskünfte über Homer und Blanche Frost - telefonisch von der Polizei ihrer Heimatstadt South Bend, Indiana, eingeholt

- beschrieben sie als wohlhabendes, unauffälliges Ehepaar ohne erkennbare Laster, Familienprobleme oder verdächtige Bekanntschaften. Trotzdem würde Bernie Quinn in den nächsten Tagen nach South Bend fliegen, um dort weitere Erkundigungen einzuziehen.

Verschiedene Tatsachen und Vermutungen ergaben sich, als die Gerichtsmedizinerin Sandra Sanchez, die später auch die Autopsie vornehmen würde, die Leichen der Frosts am Tatort untersuchte.

Ihrer Ansicht nach waren die beiden Opfer überwältigt, gefesselt, geknebelt und dann so plaziert worden, daß sie einander sehen konnten. »Sie sind bei vollem Bewußtsein gefoltert worden«, vermutete Sanchez. Sie glaubte, die Mißhandlungen seien »langsam und methodisch« vorgenommen worden.

Am Tatort war keine Waffe gefunden worden, aber diese erste Untersuchung zeigte, daß beide Leichen tiefe Schnittwunden aufwiesen, die im Fleisch und an den Knochen charakteristische Spuren hinterlassen hatten. Und ein grausiges Detail: In Mr. Frosts Augen war eine brennbare Flüssigkeit geschüttet und angezündet worden, so daß in seinen rauchgeschwärzten Augenhöhlen nur verkohlte Überreste zurückgeblieben waren. Unter Mrs. Frosts Knebel war ihre Zungenspitze fast abgebissen

- vermutlich eine Reaktion auf die erlittenen Folterqualen.

Dr. Sanchez, eine Frau Ende Vierzig, war wegen ihrer direkten Art und scharfen Zunge bekannt. Sie bevorzugte konservative dunkelblaue oder braune Kostüme und trug ihr graumeliertes Haar zu einem Nackenknoten verschlungen. Wie Bernard Quinn wußte, interessierte sie sich als Wissenschaftlerin für Santeria, einen afrokubanischen religiösen Kult, der im Dade County, Florida, schätzungsweise siebzigtausend Anhänger hatte.

Quinn hatte Sandra Sanchez einmal sagen gehört: »Okay, ich behaupte nicht, an die Orishas - die Götter - der Santeria zu glauben. Aber wenn man ähnlich unwahrscheinliche Geschichten glaubt - den Zug der Kinder Israels durchs Rote Meer, die Unbefleckte Empfängnis, die Speisung der fünftausend und Jonas' Errettung aus einem Walfischbauch -, ist die Santeria mindestens ebenso logisch. Und sie bietet beruhigenden Voodoozauber für sorgenvolle Gemüter.«

Weil Quinn wußte, daß zu manchen Santeria-Ritualen Tieropfer gehörten, fragte er Sanchez, ob die vier toten Katzen darauf hinwiesen.

»Bestimmt nicht«, erklärte sie ihm. »Ich habe mir diese Katzen angesehen; sie sind mit bloßen Händen umgebracht worden - anscheinend ziemlich brutal. Santeria-Opfertiere werden mit einem Messer getötet, ehrfürchtig behandelt und niemals wie diese Katzen achtlos liegengelassen. Sie werden oft bei einem Festmahl verzehrt, aber Katzen sind niemals darunter.«

Ainslie und Quinn fanden beide, ihre ersten Erkenntnisse seien durchaus nicht ermutigend. »Ein klassisch rätselhafter Fall«, berichtete Ainslie Leo Newbold.

Solche Fälle, die nur Rätsel aufgaben, weil nicht der geringste Hinweis auf die Identität des Täters - manchmal auch des Opfers - existierte, waren bei den Teams der Mordkommission am unbeliebtesten. Im Gegensatz dazu gab es problemlose Mordfälle, in denen bald ein Verdächtiger gefaßt und überzeugendes Belastungsmaterial sichergestellt wurde. Und am einfachsten waren die Fälle, in denen der Mörder sich mit noch rauchender Pistole in der Hand am Tatort aufhielt, wenn die Polizei eintraf.

Lange nach dem grausamen Tod von Homer und Blanche Frost würde schließlich ein Mord, bei dem der Mörder auf frischer Tat geschnappt wurde, scheinbar auch diesen Fall lösen, so daß die Akte Frost geschlossen werden konnte.

2

Am Freitagmorgen, drei Tage nach dem Doppelmord im Hotel Royal Colonial, ging Bernard Quinn kurz vor acht Uhr von der Mordkommission in die Identifizierungsstelle, die ebenfalls im vierten Stock des Polizeipräsidiums lag. Dort arbeitete ein halbes Dutzend ID-Techniker an Computern, neben denen sich Ausdrucke türmten. Quinn ging zu Sylvia Waiden, der jungen Fingerabdrucksspezialistin, die Zimmer 805 nach verborgenen Abdrücken abgesucht hatte. Sie saß vor einem großen Computermonitor und hob den Kopf, als er näher kam. Er sah, daß ihre langen Haare feucht waren - vermutlich von dem Platzregen, der auch Quinn auf dem Weg zur Arbeit überrascht hatte.

»Guten Morgen, Bernard«, sagte sie lächelnd.

»Bisher ist er nicht allzugut«, antwortete er mürrisch. »Aber vielleicht können Sie ihn verbessern.«

»Wenig Hinweise auf den Fall vom Dienstag?« Waldens Stimme klang mitfühlend.

»Eher gar keine. Deshalb bin ich hier, um zu fragen, warum zum Teufel eine Fingerabdrucksanalyse so lange dauert.«

»Drei Tage ist nicht lang«, widersprach sie scharf. »Vor allem nicht, wenn ich mehrere Fingerabdrücke überprüfen und identifizieren muß. Das sollten Sie eigentlich wissen.«

»Entschuldigung, Sylvia«, sagte er geknickt. »Dieser Fall macht mich ganz fertig. Da bleiben die guten Manieren leicht auf der Strecke.«

»Schon gut«, beruhigte sie ihn. »Uns geht's auch nicht viel besser.«

»Was haben Sie bisher?«

»Heute morgen sind ein paar Abdrücke aus New York gekommen. Sie stammen von dem Mann, der das Hotelzimmer unmittelbar vor den Frosts bewohnt hat.«

»Sind sie dort gespeichert gewesen?«

»Nein, nein. Er hat sich vom NYPD die Fingerabdrücke abnehmen lassen, um uns die Fahndung zu erleichtern. Ich vergleiche sie gerade mit denen, die wir gefunden haben.«

Der Computer, an dem Waiden saß, war das neueste AFIS-Modell - die Abkürzung für Automated Fingerprint Identification System. Wurde dem Gerät ein Fingerabdruck vom Tatort eingegeben, schaffte es in weniger als zwei Stunden, wozu ein Mensch ungefähr hundertsechzig Jahre gebraucht hätte: Es verglich ihn mit Hunderttausenden von Abdrücken, die in den Vereinigten Staaten gespeichert waren, und identifizierte ihn, falls er bereits existierte. Das AFIS konnte viele Straftaten fast augenblicklich aufklären; seit seiner Einführung waren auch zahlreiche Fälle wiederaufgerollt, alte Fingerabdrücke identifiziert und Straftäter angeklagt und verurteilt worden. Heute war Waldens Aufgabe jedoch einfacher: Sie verglich die aus New York übermittelten Fingerabdrücke mit den im Hotel Royal Colonial in Zimmer 805 gefundenen.

Der Computer brauchte nicht lange, um zu melden, die New Yorker Abdrücke seien mit denen aus Zimmer 805 identisch.

Sylvia Waiden seufzte. »Keine guten Nachrichten, fürchte ich, Bernie.« Sie erklärte ihm, die einzigen am Tatort gefundenen Fingerabdrücke stammten von den Toten, einem Zimmermädchen und nun von dem Gast, der das Zimmer vor den Frosts bewohnt hatte.

Quinn fuhr sich mit einer Hand durch sein zerzaustes Haar und machte ein unglückliches Gesicht. Es gab Tage, an denen er das Gefühl hatte, nicht früh genug in den Ruhestand treten zu können.

»Das mit den Abdrücken wundert mich nicht sehr«, fuhr Waiden fort. »An einigen Stellen, wo ich Fingerabdrücke erwartet hätte, sind mir verwischte Flecken aufgefallen - wie von Latexhandschuhen. Ich bin mir ziemlich sicher, daß der Mörder welche getragen hat. Aber ich habe immerhin etwas gefunden.«

Quinn zog die Augenbrauen hoch. »Und das wäre?«

»Einen noch nicht identifizierten Handflächenabdruck. Er ist nicht vollständig, aber er stammt von keinem der Leute, deren Fingerabdrücke wir identifiziert haben - ich habe auch ihre Handflächenabdrücke angefordert. Auch wir haben solche Abdrücke gespeichert, aber dieser eine ist nicht dabei.« Waiden stand auf, trat an einen anderen Schreibtisch und blätterte in einem Stapel Computerausdrucken. Sie hielt Quinn ein einzelnes Blatt mit einem schwarzweißen Handflächenabdruck hin.

»Das ist er.«

»Interessant.« Er betrachtete den Abdruck von beiden Seiten und auf dem Kopf stehend, dann gab er ihr das Blatt zurück. »Niemand, den ich kenne«, sagte er lakonisch. »Was können Sie damit anfangen?«

»Ganz einfach, Bernie: Sobald Sie einen Verdächtigen aufgespürt haben und mir seine Handflächenabdrücke beschaffen, kann ich Ihnen fast hundertprozentig zuverlässig sagen, ob er am Tatort gewesen ist.«

»Sollten wir jemals so weit kommen«, versicherte Quinn ihr, »bin ich sofort wieder hier.«

Als Quinn durch die Flure des vierten Stocks zur Mordkommission zurückging, fühlte er sich ein wenig ermutigt. Immerhin war dieser Handflächenabdruck ein gewisser Anfang.

Im Mordfall Frost hatte es von Anfang an einen ungewöhnlichen Mangel an Beweismaterial gegeben. Am Tag nach der Auffindung der Leichen war Quinn mit einer längeren Fragenliste ins Hotel Royal Colonial zurückgefahren. Als erstes besichtigte er nochmals eingehend den Tatort; dann besprach er mit Julio Verona den Wert des sichergestellten Beweismaterials, zu dem ein zerrissener Briefumschlag der First Union Bank gehörte. Später an diesem Tag klapperte Quinn die Filialen dieser Bank in der näheren Umgebung ab und stellte fest, daß die Frosts am Morgen vor ihrem Tod in der First Union Bank in der Southwest Twentyseventh Avenue Reiseschecks für achthundert Dollar eingelöst hatten. Der Kassierer, der ihnen den Betrag ausgezahlt hatte, konnte sich gut an das Ehepaar erinnern und war sich sicher, daß niemand die beiden begleitet hatte.

Quinn ordnete eine weitere Suche nach Fingerabdrücken mit fluoreszierendem Pulver und Laserlicht an, für die Zimmer 805 abgedunkelt werden mußte. Mit dieser Methode entdeckte man hin und wieder Fingerabdrücke, die das Standardverfahren nicht zum Vorschein bringen konnte. Aber diesmal hatte man damit keinen Erfolg.

Der Hoteldirektor stellte ihm zwei Listen zur Verfügung: eine mit den Gästen, die zur Tatzeit im Royal Colonial gewohnt hatten, und eine mit allen Hotelgästen des Vormonats. Jeder Gast würde persönlich oder telefonisch von der Polizei befragt werden. Wirkte jemand verdächtig oder auffällig abweisend, würde ein Polizeibeamter oder vielleicht sogar Quinn selbst nachhaken.

Die Aussage des Wachmanns Cobo wurde protokolliert. Quinn bedrängte ihn mit Fragen, weil er hoffte, Orlando Cobo werde sich unter Druck an irgendeine wichtige Kleinigkeit erinnern, die bisher übersehen worden war. Auch Angehörige des Hotelpersonals, die mit dem Ehepaar Frost in Berührung gekommen waren, gaben Aussagen zu Protokoll, ohne daß sich etwas Neues ergeben hätte.

Die Polizei überprüfte alle Telefongespräche, die während des Aufenthalts der Opfer aus und mit Zimmer 805 geführt worden waren. Das Hotel hatte eine Computerliste der von Gästen geführten Gespräche; die Telefongesellschaft wurde durch eine richterliche Anordnung dazu verpflichtet, eine Liste der eingegangenen Gespräche zur Verfügung zu stellen. Auch diese Überprüfung blieb ergebnislos.

Quinn sprach mehrere ihm bekannte Polizeispitzel an, weil er hoffte, auf der Straße gebe es Gerüchte über den Doppelmord. Obwohl er Geld für sachdienliche Hinweise bot, gingen keine ein.

Er flog nach South Bend, Indiana, und fragte im dortigen Polizeipräsidium nach, ob die Frosts in irgendeiner Weise polizeibekannt seien; das war nicht der Fall. Quinn sprach den Angehörigen der Opfer sein Beileid aus und stellte ihnen gezielte Fragen nach Homer und Blanche Frost. Vor allem interessierte ihn, ob die Frosts Feinde gehabt hatten, die ihnen vielleicht hätten schaden wollen. Aber das war offenbar nicht der Fall.

Nach seiner Rückkehr nach Miami wunderte Quinn sich ebenso wie Ainslie darüber, daß trotz der ausführlichen Medienberichterstattung über den Doppelmord keinerlei telefonische Hinweise eingegangen waren. Die wesentlichen Tatsachen waren durch die Pressestelle verbreitet worden, aber wie in allen Mordfällen waren bestimmte Einzelheiten zurückgehalten worden, um sicherzustellen, daß sie nur den Ermittlern und dem Täter bekannt waren. Erwähnte ein Verdächtiger sie dann unabsichtlich oder in einem Geständnis, stärkte das die Position der Staatsanwaltschaft vor Gericht.

Zu den nicht bekanntgegebenen Tatsachen gehörten die Auffindung der vier toten Katzen und die verbrannten Augen Homer Frosts.

Als immer mehr Zeit verstrich - eine Woche, zwei Wochen, drei -, schien eine Lösung dieses Falls immer unwahrscheinlicher zu werden. Bei Ermittlungen wegen Mordes sind die ersten zwölf Stunden entscheidend. Ist bis dahin keine eindeutige Spur oder ein Verdächtiger gefunden, werden die Erfolgsaussichten von Tag zu Tag geringer.

Für die Aufklärung eines Mordes gibt es drei essentielle Voraussetzungen: Zeugen, Beweismaterial und ein Geständnis. Ohne die beiden ersten ist die dritte unwahrscheinlich. Aber im Mordfall Frost fehlten alle drei.

Weil sich ständig neue Morde ereigneten, verlor der Fall Frost unvermeidlich an Bedeutung.

Monate verstrichen, während die Verbrechensflut in Florida weiter anstieg. Alle Polizeibehörden des Staates, auch die Mordkommissionen, waren mit Arbeit überlastet und ihre Beamten bis zur Erschöpfung beansprucht. Weiter verstärkt wurde dieser Druck noch durch eine nie endende Papierflut: Briefe, interner Schriftverkehr, Fernschreiben, Faxmitteilungen, Meldungen örtlicher Polizeidienststellen, Anzeigen, Vernehmungsprotokolle, Ergebnisse von Laboruntersuchungen, Anfragen und Berichte auswärtiger Dienststellen, Fahndungsmeldungen... die Liste schien endlos zu sein.

Rein aus Notwendigkeit ergaben sich Prioritäten. Dringende eigene Fälle wurden vorgezogen, sonstige Anfragen und Meldungen je nach Wichtigkeit bearbeitet. Oft genug blieben sie jedoch liegen. Manche Schriftstücke wurden nur überflogen und beiseite gelegt, so daß der Stapel unerledigter Akten ständig anwuchs. Es konnte drei, sechs oder sogar neun Monate dauern, bis bestimmte Unterlagen bearbeitet wurden - falls überhaupt.

Bernard Quinn hatte diese Akten einmal als Morgen-Stapel bezeichnet, und der Name war ihnen geblieben. Charakteristischerweise hatte er aus Macbeth zitiert:

»Morgen, und morgen, und dann wieder morgen,

Kriecht so mit kleinen Schritten von Tag zu Tag...«

Deshalb wurde ein Fernschreiben, das die Polizei in Clearwater, Florida, am 15. März an alle Polizeidienststellen Floridas geschickt hatte, bei der Mordkommission in Miami nur flüchtig zur Kenntnis genommen und schlummerte dann im Morgen-Stapel... volle fünf Monate lang.

Das Fernschreiben kam von Detective Nelson Abreu, der wegen eines besonders brutalen Doppelmords ermittelte und anfragte, ob irgendwo eine ähnliche Tat verübt worden sei. Mitgeteilt wurde auch, am Tatort im Haus der Opfer seien »ungewöhnliche Gegenstände« zurückgelassen worden. Sie wurden jedoch nicht beschrieben, weil die Mordkommission in Clearwater aus demselben Grund Informationen zurückhielt, aus dem die Mordkommission in Miami Informationen über den Fall Frost zurückgehalten hatte.

In Clearwater lebten viele Senioren, und die Ermordeten waren Hal und Mabel Larsen, ein Ehepaar in den Siebzigern. Sie waren geknebelt und gefesselt, einander gegenübergesetzt und gefoltert worden, bis sie schließlich verblutet waren. Der oder die Täter hatten sie mit Schlägen und Messerstichen traktiert.

Obwohl die Larsens erst vor einigen Tagen tausend Dollar von ihrem Bankkonto abgehoben hatten, wurde am Tatort kein Geld gefunden. Es gab keine Zeugen, keine fremden Fingerabdrücke, keine Tatwaffe, keine Verdächtigen.

Obwohl Detective Abreu auf sein Fernschreiben mehrere Zuschriften erhielt, half ihm keine weiter, und der Fall Larsen blieb ungelöst.

Zweieinhalb Monate später ein weiterer Tatort.

Fort Lauderdale, 23. Mai.

Wieder ein Ehepaar - Irving und Suzanne Hennenfeld, beide Mitte Sechzig -, das am Ocean Boulevard in der Nähe der Twentyfirst Street wohnte. Wieder wurden die Ermordeten gefesselt, geknebelt und einander gegenübersitzend aufgefunden. Beide waren durch Schläge und Messerstiche getötet worden, aber die Leichen wurden erst schätzungsweise vier Tage nach der Tat entdeckt.

An diesem Tag rief ein Nachbar, dem der aus ihrer Wohnung dringende Gestank auffiel, die Polizei, die die Wohnungstür aufbrach. Sheriff-Detective Benito Montes, der dort als erster eindrang, überkam beim Anblick der Leichen und wegen des Gestanks Übelkeit.

An diesem Tatort waren keine »ungewöhnlichen Gegenstände« zurückgelassen worden. Allerdings war ein Heizlüfter mit zwei Heizstäben mit Draht an Irving Hennenfelds bloßen Füßen befestigt und eingeschaltet worden. Die Heizspiralen waren durchgebrannt, als die Ermordeten aufgefunden wurden, aber zuvor hatten sie die Füße des Ermordeten verkohlen lassen. Auch in diesem Fall schien ein größerer Geldbetrag entwendet worden zu sein.

Wieder keine Zeugen, keine Fingerabdrücke, keine Tatwaffe.

Sheriff-Detective Montes erinnerte sich jedoch an Meldungen über den Mord an einem älteren Ehepaar in Coconut Grove, das vor ungefähr einem Vierteljahr unter ähnlichen Umständen zu Tode gekommen war. Nach einem Telefongespräch mit der dortigen Mordkommission fuhr Montes am nächsten Tag nach Miami, wo er mit Bernard Quinn zusammentraf.

Im Gegensatz zu dem Veteranen Quinn war Montes jung, Mitte Zwanzig, und hatte eine modische Kurzhaarfrisur. Wie die meisten Kriminalbeamten kleidete er sich gut - an diesem Tag trug er einen dunkelblauen Anzug mit gestreifter Seidenkrawatte. Während ihrer zweistündigen Diskussion erörterten die Beamten ihre Ermittlungsergebnisse in den Mordfällen Frost und Hennenfeld und sahen sich Fotos beider Tatorte an. Sie stimmten darin überein, daß die Opfer auf identische Weise ermordet worden sein mußten. Auch weitere Faktoren wie die Position der Ermordeten und die Grausamkeit des Täters stimmten überein.

Ein weiteres kleines Detail: Als die Leichen aufgefunden wurden, lief das offenbar von dem Mörder eingeschaltete Radio noch immer in voller Lautstärke.

»Wissen Sie noch, was für Musik es gespielt hat?« fragte Quinn.

»Natürlich. So gottverdammt laute Rockmusik, daß man sein eigenes Wort kaum verstehen konnte.«

»Bei den Frosts auch.« Quinn machte sich eine Notiz.

»Das ist der gleiche Kerl gewesen«, stellte Montes nachdrücklich fest. »Hundertprozentig.«

Quinn zog die Augenbrauen hoch. »Sie rechnen mit nur einem Mann - einem Einzeltäter?«

»Genau. Und der Hundesohn ist groß, stark wie ein Bär und clever.«

»Gebildet clever?«

»Instinktiv würde ich nein sagen.«

Quinn nickte zustimmend. »Ich auch.«

»Der Kerl geilt sich daran auf, suhlt sich darin, sabbert dabei«, fuhr Montes fort. »Wir fahnden nach einem Sadisten.«

»Irgendwelche Ideen in bezug auf die toten Katzen an unserem Tatort?«

Montes schüttelte den Kopf. »Dieser Dreckskerl mordet einfach gern. Vielleicht hat er die Katzen als Zeitvertreib umgebracht und nur so zum Spaß hingelegt.«

»Ich glaube weiterhin, daß sie eine Botschaft übermitteln sollen«, sagte Quinn. »In einem Code, den wir noch nicht entschlüsselt haben.«

Bevor Sheriff-Detective Montes ging, entschuldigte Quinn seinen abwesenden Sergeant. Da Malcolm Ainslie an den Ermittlungen beteiligt gewesen war, hätte er gern an ihrer Besprechung teilgenommen. Aber heute war er zu einem Tagesseminar über moderne Polizeiführung abbeordert, das in einem anderen Stadtteil stattfand.

»Okay, dann sehen wir uns ein andermal«, sagte Benito Montes. »Ich glaube, daß das erst der Auftakt war.«

3

Im Frühjahr und Sommer dieses Jahres litten die Bewohner Südfloridas unter extremer Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit, die zu täglichen Gewittern mit starken Regenfällen führten. In Miami stürzten durch Überlastung des Stromnetzes hervorgerufene wiederholte Stromausfälle die Besitzer von Klimaanlagen in die verschwitzte Welt derer, die keine besaßen. Ein weiteres Problem, das durch hitzebedingte Reizbarkeit und Unbeherrschtheit verstärkt wurde, waren Gewalttaten. Bandenkriege, Verbrechen aus Leidenschaft und häusliche Gewalt nahmen ständig zu. Sogar an sich friedliche Menschen wurden ungeduldig und reizbar; auf Straßen und Parkplätzen arteten Meinungsverschiedenheiten wegen Bagatellen in Schlägereien aus. War mehr Grund zum Streit vorhanden, verwandelte Ärger sich in Wut, die bis zum Mord gehen konnte.

Bei der Mordkommission im vierten Stock des Polizeipräsidiums hing eine große, weißlackierte Wandtafel, auf der in ordentlichen Zeilen und Spalten die Namen aller Mordopfer des laufenden und des vergangenen Jahres verzeichnet waren. Auch die Namen aller Tatverdächtigen standen dort. Verhaftungen waren rot gekennzeichnet.

Im Vorjahr hatten dort Mitte Juli siebzig Morde gestanden, von denen fünfundzwanzig nicht aufgeklärt waren. Im laufenden Jahr waren es Mitte Juli sechsundneunzig Morde, und die Zahl der nicht aufgeklärten Fälle lag mit fünfundsiebzig unbefriedigend hoch.

Diese ansteigende Tendenz wies auf eine Zunahme an Morden bei so alltäglichen Straftaten wie Einbruch, Autodiebstahl und Raubüberfällen hin. Immer häufiger schienen Verbrecher ihre Opfer ohne erkennbaren Grund zu töten.

Weil der Anstieg dieser Delikte die Öffentlichkeit zunehmend beunruhigte, hatte Major Manolo Yanes, der als Leiter des Dezernats Verbrechen gegen Personen die Aufklärung von Morden und Raubüberfällen koordinierte, Lieutenant Leo Newbold, den Chef der Mordkommission, schon mehrmals zu sich zitiert.

Bei der letzten Besprechung hatte Major Yanes, ein stämmiger Mann mit buschigem Haarschopf und der Stimme eines Rekrutenausbilders, keine Zeit verloren, ihn zur Rede zu stellen, als seine Sekretärin Newbold hereinführte.

»Lieutenant, was zum Teufel tun Sie und Ihre Leute eigentlich? Oder sollte ich nicht tun sagen?«

Normalerweise hätte der Major ihn mit dem Vornamen angesprochen und ihn gebeten, Platz zu nehmen. Aber diesmal tat er nichts dergleichen, sondern funkelte ihn nur über seinen Schreibtisch hinweg an. Newbold, der sich denken konnte, daß Yanes seinerseits einen Anpfiff bekommen hatte, den er jetzt weitergab, ließ sich mit seiner Antwort Zeit.

Das Dienstzimmer des Majors lag wie die der Mordkommission im vierten Stock und hatte ein großes Fenster mit Blick auf die in strahlendem Sonnenschein liegende Innenstadt Miamis. Auf der weißen Kunststoffplatte seines grauen Metallschreibtischs lagen militärisch ausgerichtet Akten, Bleistifte und Kugelschreiber. In einer Ecke des Raums stand ein Konferenztisch mit acht Stühlen. Aufgelockert wurde die für Polizeidienstzimmer typische Strenge nur durch einige Fotos von Yanes' Enkeln auf einem Beistelltisch.

»Sie kennen die Situation, Major«, antwortete Newbold ruhig. »Wir sind mit Arbeit überlastet. Jeder meiner Leute arbeitet bis zu sechzehn Stunden täglich, um jede Spur zu verfolgen. Die Jungs sind völlig ausgepowert.«

Yanes machte eine irritierte Handbewegung. »Na los, setzen Sie sich schon!«

Als Newbold Platz genommen hatte, fuhr Yanes fort: »Lange Arbeitszeiten bis zur Erschöpfung gehören zu diesem Job, das wissen Sie. Ich bestehe darauf, daß Sie Ihre Leute noch mehr antreiben. Und denken Sie daran: Müde Leute übersehen leicht etwas, und Sie sind dafür verantwortlich, daß das nicht passiert. Ich rate Ihnen dringend, Newbold, sich jeden einzelnen Fall genau anzusehen! Sorgen Sie dafür, daß nichts unterbleibt, was hätte getan werden müssen - und achten Sie besonders auf Zusammenhänge zwischen einzelnen Fällen. Sollte sich später herausstellen, daß etwas Wichtiges übersehen worden ist, werden Sie's bereuen, mir erzählt zu haben, daß Ihre Leute müde sind. Müde! Großer Gott!«

Newbold seufzte innerlich, hielt aber den Mund.

»Das war's, Lieutenant«, sagte Yanes abschließend.

»Ja, Sir.« Newbold stand auf, machte zackig kehrt, verließ den Raum und überlegte sich dabei, daß er genau das tun würde, was Manolo Yanes ihm dringend geraten hatte.

Kaum einen Monat nach dieser Konfrontation »fiel das ganze verdammte Dach ein«, wie Leo Newbold es später ausdrücken sollte.

Die Ereignisse begannen am 14. August kurz nach elf Uhr, als die Temperatur in Miami sechsunddreißig Grad Celsius bei fünfundachtzig Prozent Luftfeuchtigkeit betrug. Detective-Sergeant Pablo Greene, dessen Team an diesem Tag Bereitschaft hatte, erhielt über Funk die Meldung eines Streifenpolizisten namens Frankel, der einen Doppelmord in den Pine Terrace Condominiums am Biscayne Boulevard auf Höhe der Sixtyninth Street meldete.

Die Mordopfer waren Hispanics: das Ehepaar Lazaro und Luisa Urbina, beide Anfang Sechzig. Ein Nachbar, der zu ihnen wollte und auf sein Klopfen keine Antwort bekam, hatte durch ein Fenster zwei gefesselte Gestalten entdeckt. Er hatte die Wohnungstür aufgebrochen und Sekunden später das Telefon der Urbinas benutzt, um 911 anzurufen.

Die Ermordeten waren im Wohnzimmer ihrer VierzimmerEigentumswohnung durch Schläge mißhandelt und mit einem Messer grausam verstümmelt aufgefunden worden. Unter ihnen auf dem Fußboden breiteten sich große Blutlachen aus.

Sergeant Greene, ein Veteran mit zwanzig Dienstjahren bei der Miami Police - groß, hager, mit buschigem Schnauzbart -, wies Officer Frankel an, den Tatort zu sichern, und suchte dann dringend jemanden, den er hinschicken konnte.

Als Greene aufstand, um das Großraumbüro der Mordkommission überblicken zu können, mußte er feststellen, daß sämtliche Schreibtische unbesetzt waren. Außer ihm hielten sich nur noch zwei überlastete Sekretärinnen im Büro auf, die einen Anruf nach dem anderen entgegennahmen. Wie jeden Tag, waren die Anrufer Kollegen von anderen Dienststellen, hartnäckige Reporter, Angehörige von Ermordeten, die nach dem Stand der Ermittlungen fragten, Politiker, die eine Erklärung für die plötzlich angestiegene Zahl von Gewaltverbrechen suchten, und unzählige andere Personen, nicht selten auch Spinner.

Im Augenblick waren alle verfügbaren Kriminalbeamten unterwegs, und im Großraumbüro der Mordkommission hatte es in diesem Sommer meist so ausgesehen wie jetzt. Greenes eigenes Viererteam ermittelte in acht Mordfällen, und die anderen Teams standen unter ähnlichem Druck.

Also würde Greene selbst nach Pine Terrace fahren müssen. Allein und möglichst sofort.

Er betrachtete den Aktenstapel auf seinem Schreibtisch -Ermittlungs- und andere Berichte von zwei Wochen, die Lieutenant Newbold immer dringender einforderte - und wußte, daß er die Arbeit wieder liegenlassen mußte. Er schlüpfte in seine Jacke, kontrollierte Schulterhalfter, Pistole und Munition und hastete zum Aufzug. Unterwegs würde er von seinem neutralen Dienstwagen aus über Funk seine Leute verständigen, damit jemand zu ihm an den Tatort kam, aber da er wußte, wie beschäftigt alle waren, würde das einige Zeit dauern.

Was den lästigen, niemals endenden Papierkram betraf, war Greene sich darüber im klaren, daß er heute abend zurückkommen mußte, um noch etwas davon aufzuarbeiten.

Ungefähr eine Viertelstunde später erreichte Detective-Sergeant Greene die Wohnanlage Pine Terrace, wo die Nummer 18 und ihre nähere Umgebung mit gelbem Markierband mit dem Aufdruck POLICE LINE - DO NOT CROSS abgeriegelt war. Greene ging auf den Streifenpolizisten zu, der zwischen der Wohnungstür und einer kleinen Ansammlung Neugieriger Wache hielt.

»Officer Frankel? Ich bin Sergeant Greene. Was haben Sie für mich?«

»Mein Partner und ich sind zuerst hiergewesen, Sergeant«, berichtete Frankel. »Wir haben nichts angefaßt.« Er nickte zu einem dicken vollbärtigen Mann hinüber, der in seiner Nähe stand. »Das ist Mr. Xavier. Er ist der Nachbar, der neuneinseins angerufen hat.«

Der Bärtige war herangekommen. »Als ich die beiden durchs Fenster gesehen hab', hab' ich einfach die Tür aufgebrochen. Vielleicht hätt' ich das nicht tun sollen.«

»Nein, das ist in Ordnung. Schließlich hätte noch jemand leben können.«

»Die Urbinas jedenfalls nicht. Ich hab' sie nicht besonders gut gekannt, aber ich werd' nie vergessen, wie sie... «

Frankel unterbrach ihn. »Mr. Xavier hat zwei Dinge getan - er hat aus dieser Wohnung telefoniert und das Radio abgestellt.«

»Es ist so laut gewesen«, sagte Xavier. »Ich hab' am Telefon nichts verstanden.«

»Haben Sie sonst noch was gemacht - vielleicht den Sender verstellt?« fragte Greene. »Oder irgendwas angefaßt?«

»Nein, Sir«, sagte Xavier bedrückt. »Glauben Sie, daß ich Fingerabdrücke verwischt hab'?«

Heutzutage ist jeder ein Kriminalist, dachte Greene. »Das muß sich erst zeigen, aber wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie sich zu Vergleichszwecken die Fingerabdrücke abnehmen ließen. Die Unterlagen mit Ihren Abdrücken erhalten Sie anschließend zurück.« Zu Frankel gewandt sagte er: »Halten Sie Verbindung zu Mr. Xavier. Wir brauchen ihn heute nachmittag bestimmt noch mal.«

Als Sergeant Greene die Eigentumswohnung der Urbinas betrat, wußte er gleich, daß dies kein gewöhnlicher Mord, sondern eine weitere grausige Tat des bisher nicht gefaßten Serienmörders war. Wie die meisten Teamleiter der Mordkommission hielt Greene sich über die Fälle der anderen Teams auf dem laufenden und wußte von Homer und Blanche Frost, die im Januar in Coconut Grove ermordet worden waren. Ebenso war er über den grausigen Fall Hennenfeld vor fast drei Monaten in Fort Lauderdale informiert, der ganz ähnlich gewesen war. Und jetzt hatte er unverkennbar eine dritte Greueltat in dieser Serie vor sich.

Der Sergeant reagierte sofort, griff nach dem Handfunkgerät mit Mobiltelefon an seinem Gürtel und führte mehrere Telefongespräche.

Als erstes forderte er die Spurensicherung an, weil sie in diesem Fall, da der Serienmörder jederzeit erneut zuschlagen konnte, am wichtigsten war. Das Beweismaterial mußte möglichst schnell gesammelt, untersucht und ausgewertet werden. Aber ein Dispatcher teilte ihm mit, alle Teams seien anderswo im Einsatz, so daß er frühestens in einer Stunde eines zu ihm schicken könne. Pablo Greene war wütend, weil er wußte, daß durch diese Verzögerung Spuren verlorengehen konnten. Er wußte jedoch auch, daß es zwecklos gewesen wäre, den Dispatcher zu beschimpfen, deshalb hielt er den Mund.

Seine Geduld war fast erschöpft, als er nochmals telefonierte, um einen Gerichtsmediziner anzufordern, der die Leichen untersuchen sollte. Im Augenblick sei keiner verfügbar, lautete die Auskunft, aber einer werde »möglichst bald« zum Tatort entsandt.

»Das genügt nicht«, sagte er und mußte sich beherrschen, um nicht loszubrüllen, obwohl er genau wußte, daß sich dagegen nichts machen ließ. Der nächste Anruf brachte ein ähnliches Ergebnis: kein Staatsanwalt verfügbar, aber einer, der noch bei Gericht war, würde in etwa einer Stunde am Tatort sein.

Für Ermittler hat sich viel geändert, dachte er mürrisch. Noch vor nicht allzulanger Zeit hätte der Ruf an einen Tatort hektische Aktivitäten ausgelöst, aber das war offenbar nicht mehr der Fall. Vermutlich hing das mit dem zunehmenden Werteverfall innerhalb der Gesellschaft zusammen, während andererseits die Zahl der Morde ständig anstieg.

Greene gelang es, Lieutenant Newbold über Funk zu erreichen. Obwohl er sich vorsichtig ausdrücken mußte, weil andere zuhörten, konnte er Newbold davon überzeugen, daß die Ermittlungen am Tatort Pine Terrace schnell aufgenommen werden mußten. Der Lieutenant versprach ihm, sofort seinerseits ein paar Telefongespräche zu führen.

Außerdem schlug Greene vor, Sergeant Ainslie und Detective Quinn zu benachrichtigen. Das übernahm Newbold, der hinzufügte, er werde in ungefähr einer halben Stunde selbst zum Tatort kommen.

Dann konzentrierte Greene sich wieder auf die beiden sadistisch verstümmelten Leichen und führte dabei seine Notizen fort, die er sich seit Betreten des Gebäudes gemacht hatte. Wie in den beiden anderen Fällen, von denen er wußte, saßen der Mann und die Frau einander gefesselt und geknebelt gegenüber. Beide waren offenbar gezwungen worden, in stummem Entsetzen zuzusehen, wie ihr Ehepartner gefoltert wurde.

Sergeant Greene skizzierte ihre Positionen, ohne etwas zu verändern, bevor die Spurensicherung eintraf. Auf einem Beistelltisch sah er einen Umschlag liegen, auf dem ein an das Ehepaar Urbina gerichteter Brief lag. Um ihn nicht anfassen zu müssen, schob er den Brief vorsichtig mit der Klinge seines Taschenmessers zur Seite; nun konnte er die Vornamen der beiden auf dem Umschlag lesen und notierte sie.

Auf einem Schränkchen in der Nähe der Leichen sah er ein tragbares Radio stehen - offenbar das Gerät, das Xavier ausgeschaltet hatte. Greene bemerkte, daß es auf 105,9 MHz eingestellt war. Diesen Sender kannte er: HOT 105. Ein Sender, der ausschließlich harte Rockmusik spielte.

Als nächstes machte er einen langsamen Rundgang durch die übrigen Räume der Wohnung. In den beiden Schlafzimmern waren alle Schubladen aufgerissen - vermutlich von dem Eindringling - und so zurückgelassen worden. Der Inhalt einer Damenhandtasche und einer Männergeldbörse lag ausgekippt auf einem Bett. Der Täter schien alles Geld mitgenommen zu haben, hatte aber einige nicht allzu teure Schmuckstücke unberührt gelassen.

Zu jedem Schlafzimmer gehörte ein eigenes Bad mit Toilette. Die Spurensicherung würde beide Räume genau unter die Lupe nehmen, aber Greene sah dort auf den ersten Blick nichts Auffälliges. In einem Bad war der Klodeckel hochgeklappt, und im WC stand Urin. Greene notierte sich diese Einzelheiten, obwohl er wußte, daß weder Kot noch Urin zur Identifizierung eines Verdächtigen beitragen konnten.

Er ging zurück ins Wohnzimmer und nahm dort einen anderen Gestank wahr, der sich von dem Leichengeruch abhob. Als er sich den Ermordeten näherte, wurde dieser Gestank durchdringender. Dann sah Greene, woher er kam. Neben einer Hand der toten Frau stand eine Bronzeschale, die offenbar menschliche Exkremente enthielt, die teilweise mit Urin bedeckt zu sein schienen. Dies war einer der Momente, in denen Pablo Greene sich wünschte, er hätte einen anderen Beruf gewählt.

Während er zurückwich, erinnerte er sich daran, daß es gelegentlich vorkam, daß ein Krimineller am Tatort seine Notdurft verrichtete - meist bei Villeneinbrüchen, vermutlich als Geste der Verachtung gegenüber den abwesenden Besitzern. Aber er konnte sich an keinen Mord erinnern, vor allem an keine so grausame Tat wie die Ermordung dieses alten Ehepaars, in dem das der Fall gewesen war. Greene, ein anständiger Kerl und guter Familienvater, fuhr den Mörder in Gedanken angewidert an: Was für ein widerliches Stück Dreck bist du eigentlich?

»Was war das, Pablo?« fragte eine Stimme von der Wohnungstür her. Sie gehörte Lieutenant Newbold, der eben angekommen war, und Greene merkte, daß er laut gesprochen hatte.

In heftiger Erregung, wie er sie selten spürte oder sich anmerken ließ, deutete Greene stumm auf die beiden Toten und zeigte dann auf die Schale, die er gerade entdeckt hatte.

Leo Newbold kam näher und sah sich alles genau an.

Dann sagte er ruhig: »Keine Angst, wir schnappen den Hundesohn. Und wenn's soweit ist, haben wir so gottverdammt gute Beweise, daß er auf den Stuhl kommt.«

Newbold dachte daran, wie Major Yanes ihn erst vor kurzem ermahnt hatte: Sorgen Sie dafür, daß nichts unterbleibt, was hätte getan werden müssen - und achten Sie besonders auf Zusammenhänge zwischen einzelnen Fällen.

Die Mordkommission vermutete natürlich einen Zusammenhang zwischen den Fällen Frost in Miami und Hennenfeld in Fort Lauderdale, aber nach diesem dritten Doppelmord, der offensichtlich mit den ersten zusammenhing, würde unweigerlich gefragt werden: Wäre mehr zu erreichen gewesen, wenn die Ermittlungen zusammengelegt, wenn die Taten von Anfang an als Serienmorde behandelt worden wären? Hätte dann vielleicht schon ein Verdächtiger gefaßt werden können?

Newbold bezweifelte es. Trotzdem würden bestimmte Leute -vor allem Journalisten - nachträglich wieder einmal schlauer sein und so das Police Department und vor allem die Mordkommission unter noch stärkeren Druck bringen.

Aber jetzt kam es darauf an, sich auf diesen letzten Fall zu konzentrieren und zugleich die beiden ersten nochmals unter die Lupe zu nehmen. Für Newbold stand außer Zweifel, daß die Mordkommission Jagd auf einen Serienmörder machen mußte.

»Haben Sie Ainslie und Quinn erreicht?« fragte Greene.

Der Lieutenant nickte. »Beide sind hierher unterwegs. Und ich habe Quinn angewiesen, seinen Kontaktmann in Lauderdale zu informieren.«

Wenige Minuten später traf ein vierköpfiges Team zur Spurensicherung ein, und im nächsten Augenblick tauchte auch Sandra Sanchez, die Gerichtsmedizinerin, auf. Nach Greenes dringendem Anruf vom Tatort aus hatte Newbold offensichtlich alle Hebel in Bewegung gesetzt, um diese Leute loszueisen.

In den folgenden fünf Stunden ging die Arbeit rasch voran. Danach wurden die sterblichen Überreste von Lazaro und Luisa Urbina in Leichensäcken abtransportiert, damit die Gerichtsmedizinerin abends die Autopsie vornehmen konnte. Greene würde als Zeuge anwesend sein müssen, was bedeutete, daß der Papierkram auf seinem Schreibtisch einen Tag länger unerledigt liegenbleiben und noch neuer hinzukommen würde.

Obwohl das von der Spurensicherung gesammelte Beweismaterial erst untersucht und ausgewertet werden mußte, stand eine enttäuschende Tatsache schon frühzeitig fest.

»Der Täter hat ziemlich sicher Handschuhe getragen«, erklärte Sylvia Waiden, die nach Fingerabdrücken suchte, Sergeant Greene. »Ich habe mehrere verwischte Spuren gefunden, die von Latexhandschuhen stammen dürften - wie im Royal Colonial. Und ich glaube, daß er clever genug gewesen ist, zwei Paar Handschuhe zu tragen, weil sich Fingerabdrücke mit der Zeit durchdrücken. Natürlich habe ich auch gute Abdrücke gefunden, die wir überprüfen werden, aber ich glaube nicht, daß sie vom Täter stammen.«

Greene schüttelte den Kopf. »Danke«, murmelte er.

»Tut mir leid, aber ich kann's nicht ändern«, sagte Waiden noch, bevor sie weiterarbeitete.

Ainslie und Quinn, die erst Stunden später in der Wohnanlage Pine Terrace eingetroffen waren, stimmten mit Newbold und Greene überein, hier sei offenbar ein einzelner Serienmörder am Werk gewesen.

Bevor Ainslie den Tatort verließ, machte er einen weiteren Rundgang und betrachtete dabei nochmals eingehend die Bronzeschale in der Nähe einer Hand der ermordeten Frau. Irgend etwas an diesem Gefäß und seinem Inhalt weckte in ihm einen Gedanken, eine vage Erinnerung, eine verschwommene Vorstellung. Ainslie kam noch zweimal zurück, um das Objekt zu betrachten, weil er auf einen Anstoß hoffte, der seine Erinnerung auffrischen würde.

Aber vielleicht steckte doch nichts dahinter, überlegte er sich, außer seinem Überdruß an Szenen tragischer Tode - oder dem heimlichen Wunsch nach neuen Spuren. Bestimmt konnte er nichts Besseres tun, als nach Hause fahren und den Abend mit seiner Familie zu verbringen... beim Abendessen lachen... Jason bei den Hausaufgaben helfen... seine Frau lieben... und morgens vielleicht mit der im Unterbewußtsein gefundenen Lösung dieses Rätsels aufwachen.

Wie sich dann zeigte, war Ainslie auch am nächsten Morgen nicht schlauer. Sein Gedächtnis brauchte vier Tage, um zu einem völlig unerwarteten Zeitpunkt zu einer dramatischen, schockierend eindeutigen Erkenntnis zu gelangen.

4

Vier Tage nach dem Doppelmord in der Wohnanlage Pine Terrace lud Lieutenant Leo Newbold zu einer offiziellen Besprechung der Mordkommission ein. Teilnehmer waren alle mit den Serienmorden befaßten Teamleiter, ihre Ermittler, die Spurensicherung, eine Gerichtsmedizinerin und ein Staatsanwalt. Auch die Führungsspitze des Präsidiums war informiert worden; zwei Vorgesetzte Newbolds nahmen daran teil. Bei dieser Besprechung, so sah es Ainslie später, hatte sich das Drama erweitert; wie bei einem Szenenwechsel nach dem Vorbild Shakespeares hatten neue Personen die Bühne betreten.

Zu den neuen Personen der Handlung - aber nicht der Mordkommission - gehörte Detective Ruby Bowe aus Ainslies Ermittlerteam. Ruby, eine zierliche achtundzwanzigj ährige Schwarze mit einer Vorliebe für glitzernde Ohrringe und modische Kleidung, war allgemein beliebt und geachtet, arbeitete so fleißig wie ihre Kollegen, oft fleißiger, und erwartete keinerlei Konzessionen wegen ihres Geschlechts. Sie konnte hartnäckig und zäh, sogar skrupellos sein. Aber bei anderen Gelegenheiten bewies sie wieder ausgeprägten Sinn für Humor, den ihre Kollegen zu schätzen wußten.

Als jüngstes Kind des Ehepaars Erskine und Allyssa Bowe war Ruby mit ihren acht Geschwistern in Overtown aufgewachsen - in dem wegen seiner hohen Kriminalität berüchtigten Schwarzengetto Miamis. Der Polizeibeamte Erskine Bowe war von einem fünfzehnjährigen Nachbarsjungen, der unter Drogeneinfluß einen dortigen 7-Eleven-Laden überfallen hatte, angeschossen und tödlich verletzt worden. Ruby war damals zwölf gewesen: schrecklich jung, um ihren Vater zu verlieren, aber alt genug, um ihr besonders inniges Verhältnis zu ihm in Erinnerung zu behalten.

Erskine Bowe hatte seine jüngste Tochter stets für etwas Besonderes gehalten und allen Freunden erklärt: »Ruby macht später mal was ganz Wichtiges. Ihr werdet schon sehen!«

Ruby hatte die Edison High-School besucht, war eine gute Schülerin gewesen und hatte sich schon dort freiwillig im sozialen Bereich engagiert. Sie hatte vor allem gegen Drogenmißbrauch gekämpft, weil sie wußte, daß er der wahre Mörder ihres Vaters gewesen war.

Mit Hilfe eines Stipendiums hatte Ruby an der Florida A & M University Psychologie und Soziologie studiert und war nach dem mit Auszeichnung bestandenen Examen sofort zum Miami Police Department gegangen. Ihr Vater war siebzehn Jahre lang bei der Polizei gewesen; vielleicht konnte sie seinen Tod wiedergutmachen, indem sie »die Welt veränderte«. Und wenn nicht gleich die Welt, so wenigstens ihre unmittelbare Umgebung.

Niemand war sonderlich überrascht, als Ruby Bowe die Polizeiakademie als eine der Jahrgangsbesten verließ. Hochgezogene Augenbrauen gab es jedoch wegen Lieutenant Newbolds Entscheidung, Ruby sofort als Kriminalbeamtin in die Mordkommission aufzunehmen. Das hatte es noch nie gegeben.

Wie bei jeder Polizei stellte die Mordkommission im Miami Police Department eine Elite dar. Ihre Beamten standen in dem Ruf, besonders intelligent und gewieft zu sein, und ihr Prestige machte die meisten Kollegen neidisch. Deshalb bewirkte Rubys Ernennung, daß einige ältere Kriminalbeamte, die auf einen Posten in der Mordkommission gehofft hatten, enttäuscht und verbittert waren. Aber Newbold wußte instinktiv, daß seine Entscheidung richtig gewesen war. »Manchmal«, vertraute er Malcolm Ainslie an, »wittert man einen guten Cop geradezu.«

Ruby Bowe gehörte seit nunmehr vier Jahren der Mordkommission an und war dienstlich nie anders als »überragend« beurteilt worden.

Als Angehörige von Sergeant Ainslies Team würde Ruby automatisch an der für acht Uhr angesetzten Besprechung teilnehmen, aber während die anderen sich bereits im Konferenzraum versammelten, saß sie noch zwische n Aktenstapeln am Telefon. Newbold rief ihr im Vorbeigehen zu: »Machen Sie Schluß, Ruby. Wir brauchen Sie dort drinnen.«

»Ja, Sir«, antwortete Ruby. Sekunden später stand sie auf und folgte ihm, während sie den großen goldenen Ohrclip, den sie zum Telefonieren abgenommen hatte, wieder anbrachte.

An das Großraumbüro der Mordkommission schlossen sich Vernehmungsräume für Zeugen und Verdächtige, ein mit Sofas und Sesseln behaglich möblierter Raum, in dem manchmal die Angehörigen Ermordeter befragt wurden, ein großes Archiv mit den Fallakten der vergangenen zehn Jahre und zuletzt der Konferenzraum an.

An dem großen rechteckigen Konferenztisch saßen außer Malcolm Ainslie zwei weitere Teamleiter - die Sergeants Pablo Greene und Hank Brewmaster - und die Kriminalbeamten Bernard Quinn, Esteban Kralik, Jose Garcia und Ruby Bowe.

Garcia, ein gebürtiger Kubaner, war seit zwölf Jahren bei der Polizei in Miami und gehörte seit acht Jahren der Mordkommission an. Mit stämmiger Figur und weit fortgeschrittener Glatze wirkte der dreiunddreißigjährige Garcia gut zehn Jahre älter, was ihm bei seinen Kollegen den Spitznamen »Pop« eingebracht hatte.

Mit am Konferenztisch saß der jugendliche Sheriff-Detective Benito Montes, der auf Quinns telefonische Einladung aus Fort Lauderdale nach Miami gekommen war. Bei den Ermittlungen im Fall des Doppelmords an dem Ehepaar Hennenfeld, berichtete Montes, habe es seit seinem letzten Besuch in Miami keine Fortschritte gegeben.

Zu den übrigen Teilnehmern gehörten die Gerichtsmedizinerin Dr. Sanchez, Julio Verona und Sylvia Waiden von der Spurensicherung und der stellvertretende Staatsanwalt Curzon Knowles.

Knowles, der in Adele Montesinos Behörde das Morddezernat leitete, hatte einen ausgezeichneten Ruf als Strafverfolger. Dieser zurückhaltende, fast schüchterne Mann, der immer unauffällige Anzüge von der Stange und Strickkrawatten trug, war einmal mit einem unscheinbaren Schuhverkäufer verglichen worden. Nahm er vor Gericht widerspenstige Zeugen ins Kreuzverhör, wirkte er oft linkisch und unsicher, was er durchaus nicht war. Viele solcher Zeugen, die sich einbildeten, diesen unscheinbaren Staatsanwalt ungestraft belügen zu können, mußten plötzlich feststellen, daß sie in ein Spinnennetz gelockt worden waren, in dem sie sich verfangen und dabei selbst belastet hatten, ohne es zu merken.

Seiner entwaffnenden Art und einem messerscharfen Verstand verdankte es Knowles, daß er in fünfzehn Dienstjahren als Anklagevertreter bei Mordprozessen bemerkenswerte zweiundachtzig Prozent Verurteilungen erreicht hatte. Die Kriminalbeamten der Mordkommission waren immer froh, wenn Curzon Knowles ihre Fälle bearbeitete, genau wie Newbold und die anderen es begrüßten, daß er diesen Termin wahrgenommen hatte.

Ebenfalls anwesend waren Major Yanes und Assistant Chief Otero Serrano, dessen Teilnahme die Wichtigkeit der laufenden Ermittlungen unterstrich.

Lieutenant Newbold, der oben am Konferenztisch saß, eröffnete die Besprechung mit einer knappen Einführung: »Wie wir alle wissen, sind zwei unserer ungelösten Fälle und ein dritter in Ford Lauderdale jetzt als Doppelmorde eines Serientäters erkennbar. Unter Umständen wird uns später vorgeworfen, wir hätten schon vor der dritten Tat zu dieser Schlußfolgerung gelangen sollen. Aber damit befassen wir uns, wenn's soweit ist. Im Augenblick haben wir Wichtigeres zu tun.

Was ich will, hier und jetzt, ist eine vollständige Rekapitulation aller drei Doppelmorde, bei der nicht die geringste Kleinigkeit ausgelassen wird. Wir müssen irgendeinen Zusammenhang finden, der uns zu...«

Ruby Bowe hob eine Hand. Newbold brach mitten im Satz ab und runzelte unwillig die Stirn. »Was immer es ist, Ruby, aber kann das nicht warten, bis ich fertig bin?«

»Nein, Sir. Ich glaube nicht«, antwortete Detective Bowe. Ihre Stimme klang nervös, aber beherrscht. Vor sich hatte sie ein Blatt Papier liegen.

»Na, hoffentlich haben Sie was Vernünftiges.« Newbolds Gereiztheit war unüberhörbar.

»Sie haben von drei Doppelmorden gesprochen, Sir.«

»Und? Zweifeln Sie an meinen Rechenkünsten?«

»Nicht direkt, Sir.« Ruby nahm das Blatt in die Hand, sah sich am Tisch um. »Das wird niemandem gefallen, aber tatsächlich sind's wohl vier.«

»Vier! Was soll das heißen?«

Malcolm Ainslie, der ihr gegenübersaß, fragte ruhig: »Was haben Sie gefunden, Ruby?«

Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu, bevor sie sich erneut an Newbold wandte. »Vor ein paar Tagen, Sir, haben Sie sich Sorgen wegen der Größe des Morgen-Stapels gemacht. Sie haben mir den Auftrag gegeben, ihn wenigstens teilweise aufzuarbeiten.«

Am Tisch wurde gelächelt, als Ruby den Morgen-Stapel erwähnte: Quinns spaßige Bezeichnung für unbearbeitet liegengebliebenen Papierkram.

Der Lieutenant nickte. »Ja, das stimmt. Und Sie haben offenbar etwas entdeckt.«

»Erst heute morgen, Sir. Ein Fahndungsersuchen aus Clearwater.«

»Lesen Sie's vor.«

Alle schwiegen gespannt, als Ruby Bowe den Text vorlas.

»An alle Polizeidienststellen Floridas: Doppelmord an älterem Ehepaar in Clearwater am 12. März. Ungewöhnlich brutales Vorgehen. Opfer gefesselt und geknebelt. Schwere Stichwunden und Gewalteinwirkung an Kopf und Oberkörper. Teilweise verstümmelt. Vermutlich Geldraub, Höhe unbekannt. Keine Fingerabdrücke oder sonstige Spuren. Ungewöhnliche Gegenstände von dem oder den Tätern zurückgelassen. Sollten ähnliche Straftaten bekannt sein, erbittet dringend ausführliche Nachricht: Detective N. Abreu, Clearwater Police Department, Mordkommission.«

Major Yanes räusperte sich. »Wie war das Datum gleich wieder, Detective?«

Bowe sah auf das Blatt in ihrer Hand. »Der Doppelmord hat sich am zwölften März ereignet, Sir. Dieser Fahndungsaufruf trägt den Stempel: >Eingegangen 15. Märze.«

Ein kollektives Stöhnen ging durch den Raum. »Jesus!« sagte Hank Brewmaster. »Vor fünf Monaten!«

Alle wußten, daß so etwas passieren konnte - daß es nicht vorkommen durfte, aber trotzdem passierte. Manchmal rutschten Schriftstücke im Morgen-Stapel immer tiefer und blieben längere Zeit unbemerkt. Aber das hier war die größte denkbare Katastrophe.

Auch ohne polizeiliche Hinweise wurden die Medien in Florida oft auf Übereinstimmungen zwischen an verschiedenen Orten verübten Straftaten aufmerksam und berichteten darüber. Meldungen über solche Gemeinsamkeiten hatten den Ermittlern gelegentlich weitergeholfen. Aber da überall so viele Verbrechen verübt wurden, gingen manche Übereinstimmungen im allgemeinen Chaos unter.

Leo Newbold, der sichtbar litt, schlug die Hände vors Gesicht. Alle wußten, daß der Lieutenant die Verantwortung für diese Schlamperei, die verhindert hatte, daß die Mordkommission prompt auf das Fahndungsersuchen aus Clearwater reagierte, würde tragen müssen.

»Ich schlage vor«, sagte Yanes finster, »daß wir zunächst weitermachen, Lieutenant.« Sein Tonfall verriet, daß die Sache später eingehend besprochen werden würde - vermutlich unter vier Augen.

»Ich habe noch etwas mehr, Sir«, warf Bowe ein.

Newbold nickte ihr zu. »Bitte weiter.«

»Ich habe vorhin mit Detective Abreu in Clearwater telefoniert. Ich habe erwähnt, daß wir wegen ähnlicher Fälle ermitteln. Sein Sergeant und er wollen morgen herfliegen und alles mitbringen, was sie haben.«

»Einverstanden.« Newbold hatte seine Fassung wiedergewonnen. »Lassen Sie sich die Ankunftszeit sagen, und schicken Sie einen Wagen hin, der sie abholt.«

»Lieutenant«, warf Ainslie ein, »ich möchte Ruby eine Frage stellen.«

»Bitte.«

Ainslie sah zu ihr hinüber. »Hat Abreu irgend etwas über die in Clearwater am Tatort zurückgelassenen Gegenstände gesagt?«

»Ich habe mich danach erkundigt. Der eine war eine verbeulte alte Trompete, der andere ein Stück Pappkarton.« Sie warf einen Blick auf ihre Notizen. »Der Karton war halbmondförmig zugeschnitten und rot bemalt.«

Ainslie runzelte die Stirn, konzentrierte sich, überlegte angestrengt und dachte an die Bronzeschale in Pine Terrace. Ohne jemanden direkt anzusprechen, fragte er in die Runde: »Sind an jedem Tatort Gegenstände zurückgelassen worden? Ich erinnere mich an vier tote Katzen im Hotelzimmer des Ehepaars Frost.«

Er wartete keine Antwort ab, sondern wandte sich an Bernard Quinn. »Ist bei den Hennenfelds etwas am Tatort zurückgelassen worden?«

Quinn schüttelte den Kopf. »Nicht, daß ich wüßte.« Er sah den Sheriff-Detective fragend an. »Das stimmt doch, Benito?«

Als Besucher hatte Montes bisher nur schweigend zugehört, aber jetzt antwortete er auf Quinns Frage: »Na ja, der Täter hat anscheinend nichts mitgebracht. Auffällig ist nur die Sache mit dem Heizlüfter gewesen, der aber den Hennenfelds gehört hat. Das haben wir überprüft.«

»Welcher Heizlüfter?« fragte Ainslie. »Was war damit?«

»Er war mit Draht an Mr. Hennenfelds Füßen befestigt, Sergeant, und ist dann eingeschaltet worden. Als wir ihn aufgefunden haben, waren die Heizstäbe durchgebrannt, aber seine Füße sind völlig verkohlt gewesen.«

An Quinn gewandt sagte Ainslie scharf: »Das haben Sie mir nicht erzählt!«

Quinn machte ein verlegenes Gesicht. »Tut mir leid, aber das muß ich vergessen haben.«

Ainslie ließ es dabei bewenden. Er wandte sich an Newbold und fragte: »Lieutenant, darf ich weitermachen?«

»Bitte sehr, Malcolm.«

»Ruby«, fragte Ainslie, »können wir eine Liste sämtlicher an den Tatorten gefundenen Gegenstände aufstellen?«

»Klar. Wollen Sie eine Computerliste?«

»Ja, das wäre gut«, warf Newbold ein.

Ruby stand auf und setzte sich an den Bildschirmarbeitsplatz in einer Ecke des Besprechungsraums. Seit sie bei der Mordkommission arbeitete, bezeichneten ihre Kollegen sie als »unser Computergenie«, und auch andere Teams nahmen häufig ihre besonderen Fertigkeiten auf diesem Gebiet in Anspruch. Während Ainslie und die anderen am Konferenztisch warteten, schaltete sie den Computer ein und ließ ihre Finger über die Tasten fliegen. »Okay, schießen Sie los, Sergeant.«

Mit einem Blick in die vor ihm liegenden Fahndungsakte diktierte Ainslie ihr: »Siebzehnter Januar, Coconut Grove. Homer und Blanche Frost. Vier tote Katzen.«

Rubys Finger tippten rasend schnell. Als sie nickte, fuhr Ainslie fort: »Zwölfter März, Clearwater.«

»Augenblick!« Das war Quinns Stimme. Die anderen sahen zu ihm hinüber. »In Coconut Grove hat's außerdem Mr. Frosts Augen gegeben. Der Täter hat eine brennbare Flüssigkeit reingekippt und sie angezündet. Wenn wir Mr. Hennenfelds verbrannte Füße aufnehmen... «

»Ja, Mr. Frosts Augen gehören in die Liste«, sagte Ainslie zu Ruby. Er lächelte schwach, als er zu Quinn hinübersah. »Danke, Bernie. Die hätte ich glatt vergessen. Das kann jedem mal passieren.«

Sie ergänzten die Liste mit der in Clearwater gefundenen alten Trompete und dem Halbmond aus Pappkarton, fügten Fort Lauderdale mit dem Heizlüfter und den verbrannten Füßen des Ermordeten hinzu und kamen zuletzt zur Nummer achtzehn der Wohnanlage Pine Terrace.

»Eine Bronzeschale«, diktierte Ainslie Ruby weiter.

Ihre Finger blieben auf der Tastatur. »Hat sie etwas enthalten?«

»Yeah, Pisse und Scheiße«, warf Sergeant Greene von seinem Platz aus angewidert ein.

Ruby sah sich um und fragte harmlos: »In Ordnung, wenn ich dafür >Kot und Urin< schreibe?«

Ihre Frage löste schallendes Gelächter aus. Sogar Newbold, Yanes und der Assistant Chief lachten mit. In einer Atmosphäre, in der grausige Tode alltäglich waren, wirkte unerwarteter Humor wie ein reinigender Regenguß.

Und dann... als das Lachen verklang... in diesem Augenblick wurde Ainslie auf einmal alles klar.

Er hatte es plötzlich. Alle Teile des Puzzles paßten zusammen.

Es war, als habe eine unvollständige Hypothese, die langsam und vage in seinem Gehirn entstanden war, jäh greifbare Formen angenommen. Er konnte seine Erregung kaum im Zaum halten.

»Ich brauche eine Bibel«, sagte Ainslie.

Die anderen starrten ihn an.

»Eine Bibel«, wiederholte er lauter, fast befehlend. »Ich brauche eine Bibel!«

Newbold nickte Quinn zu, der gleich neben der Tür saß. »In meinem Schreibtisch liegt eine. Rechts, zweite Schublade von oben.« Quinn ging hinaus, um sie zu holen.

Die Mordkommission hatte stets mehrere Bibeln zur Verfügung. Es kam immer wieder vor, daß Festgenommene, die vernommen werden sollten, eine Bibel verlangten, um darin zu lesen - manche aus einem echten Bedürfnis heraus, andere auch nur, weil sie hofften, ihre demonstrative Frömmigkeit werde ihnen später zu einer milderen Strafe verhelfen. Diese Hoffnung war nicht ganz unbegründet; bestimmte Straftäter, vor allem solche aus dem Bereich der Wirtschaft, hatten durch angebliche religiöse »Bekehrung« und ihre Behauptung, »wiedergeboren« zu sein, mildere Urteile erwirkt. Aber im Ermittlungsstadium waren die Kriminalbeamten, auch wenn sie skeptisch blieben, gern bereit, eine Bibel zur Verfügung zu stellen, wenn dadurch ein rascheres Geständnis zu erwarten war.

Quinn kam mit der Bibel in der Hand zurück. Er beugte sich über den Tisch und legte sie vor Ainslie, der das letzte Buch des Neuen Testaments aufschlug - die Katholiken als Apokalypse bekannte Offenbarung des Johannes.

Newbold schien ein Licht aufzugehen. »Alles hängt mit der Offenbarung zusammen, was?« fragte er.

Der Sergeant nickte. »Jeder dieser Gegenstände soll eine Botschaft übermitteln.«

Ainslie deutete zu Ruby, die noch am Computer saß. »Fangen wir gleich mit dem ersten Punkt an.« Er sah sich am Konferenztisch um, dann las er aus der Bibel vor: »Offenbarung, Kapitel vier, Vers sechs: >Und vor dem Thron war es wie ein gläsernes Meer, gleich dem Kristall, und mitten am Thron und um den Thron vier himmlische Gestalten...<« Ainslie machte eine Pause. »Für >himmlische Gestalten< könnte man auch >Tiere< setzen«, fügte er erklärend hinzu.

»Die Katzen!« rief Quinn aus.

Ainslie blätterte zwei Seiten zurück, suchte mit dem Zeigefinger und las erneut vor: »Kapitel eins, Vers vierzehn: >Sein Haupt aber und sein Haar waren weiß wie Wolle, wie der Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme...<« Er sah zu Quinn hinüber. »Mr. Frost, stimmt's?«

Quinn nickte. »Diese beiden Hinweise - die Katzen und Frosts verbrannte Augen - sind unübersehbar gewesen. Aber wir haben sie nie miteinander verknüpft... jedenfalls nicht richtig.«

Am Tisch herrschte Schweigen. Assistant Chief Serrano saß nach vorn gebeugt da und hörte gespannt zu. Major Yanes hatte sich Notizen gemacht, aber jetzt legte er den Kugelschreiber beiseite. Alle warteten gespannt, während Ainslie weiterblätterte. Er fragte Ruby: »In Clearwater ist's eine Trompete gewesen, nicht wahr?«

Sie sah auf den Bildschirm. »Eine Trompete und ein rot bemalter Halbmond aus Pappe.«

»Fangen mir mit der Trompete an. Kapitel eins, Vers zehn: >Der Geist kam über mich an des Herrn Tag, und ich hörte hinter mir eine große Stimme wie von einer Posaune...<«

Ainslie blätterte weiter. »Irgendwo kommt auch ein roter Mond vor... Ah, da haben wir ihn! Kapitel sechs, Vers zwölf: >Und ich sah: als es das sechste Siegel auftat, da ward ein großes Erdbeben, und die Sonne ward finster wie ein schwarzer Sack, und der Mond ward wie Blut...<«

Er sah zu Benito Montes hinüber. »Hören Sie sich das an. Kapitel eins, Vers fünfzehn: >Und seine Füße waren gleich wie goldenes Erz, das im Ofen glüht...<«

»Mr. Hennenfelds Füße!« sagte der junge Beamte hörbar beeindruckt.

Sergeant Greene ergriff das Wort. »Was ist mit den Urbinas, Malcolm?«

Ainslie blätterte weiter. »Natürlich, ich hab's! Die Tote hat diese Schale in der Hand gehabt oder fast berührt, nicht wahr, Pablo?«

»Fast berührt, ja.«

»Das steht hier.« Ainslie las wieder aus der Offenbarung vor. »Kapitel siebzehn, Vers vier: >Und das Weib war bekleidet mit Purpur und Scharlach und übergoldet mit Gold und edlen Steinen und Perlen und hatte einen goldenen Becher in der Hand, voll Greuel und Unflat...<«

Am Tisch kam beifälliges Gemurmel auf. Ainslie winkte ab und protestierte: »Nein, nein!« Während die anderen ihn beobachteten, bedeckte er sein Gesicht einige Sekunden lang mit den Händen. Als er sie wieder wegnahm, wirkte er nicht mehr erregt, sondern bekümmert. Dann sagte er mit gepreßter Stimme: »Darauf hätte ich früher kommen müssen, ich hätte diese Symbole gleich anfangs erkennen müssen. Dann könnten einige dieser Leute vielleicht noch leben.«

»Wie hättest du sie früher erkennen können?« fragte Sergeant Brewmaster. »Wir anderen haben überhaupt nichts damit anfangen können.«

Ainslie wollte erwidern: Weil ich ein promovierter Theologe bin! Weil ich zwölf endlos lange Jahre die Bibel studiert habe. Weil alle diese Symbole mich an meine Vergangenheit erinnert haben, aber ich so langsam und begriffsstutzig gewesen bin, daß ich erst jetzt... Dann entschied er sich dafür, diese Worte unausgesprochen zu lassen. Was hätten sie jetzt noch genutzt? Aber Scham und Reue saßen tief in seinem Herzen.

Leo Newbold nahm sie wahr. Und verstand sie gut. Er suchte Ainslies Blick. »Für uns ist wichtig, Malcolm«, sagte der Lieutenant gelassen, »daß Sie uns den ersten Hinweis geliefert haben - einen sehr wichtigen Hinweis. Mich würde interessieren, wie Sie ihn deuten.«

Ainslie nickte dankend. »Erstens ist damit der Täterkreis eingeschränkt. Zweitens wissen wir jetzt ungefähr, nach welch einem Menschen wir fahnden.«

»Nämlich?« fragte Yanes.

»Nach einem religiösen Fanatiker, Major. Er sieht sich unter anderem als einen von Gott entsandten Rächer.«

»Ist das die >Botschaft<, die Sie erwähnt haben, Sergeant? Ist das die Bedeutung dieser Symbole?«

»Ganz recht - wenn wir berücksichtigen, daß zu jedem Symbol ein Doppelmord gehört. Der Täter glaubt vermutlich, eine Botschaft Gottes zu überbringen und zugleich die Rache Gottes zu vollziehen.«

»Rache wofür?«

»Das wissen wir besser, Major, wenn wir einen Verdächtigen haben, den wir vernehmen können.«

Yanes nickte anerkennend. »Ihr Hinweis scheint uns wirklich weiterzuhelfen. Gut gemacht, Sergeant.«

Assistant Chief Serrano fügte hinzu: »Richtig, das finde ich auch.«

Newbold ergriff wieder das Wort. »Malcolm, Sie verstehen besser als wir alle zusammen, was diese Stellen aus der Offenbarung bedeuten. Können Sie uns erläutern, was wir sonst noch wissen sollten?«

Ainslie überlegte, bevor er sprach, denn er war sich darüber im klaren, daß er auf unterschiedliche Ideen und Erfahrungen zurückgreifen mußte - seine Vergangenheit als Priester, seine Einstellung seither und seine Rolle als Kriminalbeamter. Selten, vielleicht noch nie hatten sich diese Bereiche so überschnitten.

Er bemühte sich um eine möglichst einfache Erklärung.

»Die Offenbarung ist in einer Art Code mit vielen symbolischen Wörtern geschrieben, die nur Bibelforscher verstehen. Für viele Leute ist sie ein wirres Durcheinander aus Visionen, Symbolen, Allegorien und Prophezeiungen -überwiegend nebulös. Aber die Tatsache, daß die Offenbarung dazu dienen kann, alles zu beweisen oder zu widerlegen, hat sie für Fanatiker und Verrückte schon immer attraktiv gemacht. Aus der Sicht dieser Leute stellt sie eine gebrauchsfertige Beschreibung aller nur denkbaren Übel dar. Deshalb müssen wir feststellen, wie der Mann, nach dem wir fahnden, zur Offenbarung gekommen ist und sie seinen Zwecken angepaßt hat. Wissen wir das, können wir losziehen und ihn verhaften.«

Lieutenant Newbold sah sich am Konferenztisch um. »Möchte jemand etwas hinzufügen?«

Julio Verona hob eine Hand. Vielleicht um seinen Mangel an Körpergröße auszugleichen, saß der Leiter der Spurensicherung kerzengerade auf seinem Stuhl. Als der Lieutenant ihm zunickte, sagte er: »Daß wir jetzt wissen, was für ein Kerl diese Verbrechen begeht, ist gut, und ich gratuliere Malcolm dazu. Aber ich möchte daran erinnern, daß das Beweismaterial - selbst wenn wir einen Verdächtigen hätten - sehr dürftig ist und bestimmt nicht für eine Verurteilung ausreichen würde.« Er sah zu Staatsanwalt Curzon Knowles hinüber.

»Mr. Verona hat recht«, bestätigte Knowles. »Um sicherzugehen, daß nichts übersehen oder falsch interpretiert worden ist, müssen wir das gesamte Beweismaterial noch mal überprüfen. Da wir's offenbar mit einem Psychopathen zu tun haben, kann die winzigste übersehene Kleinigkeit der entscheidende Hinweis sein, den wir brauchen.«

»Im Fall Frost haben wir einen teilweisen Handflächenabdruck«, stellte Sylvia Waiden fest.

Der Staatsanwalt nickte. »Aber meines Wissens reicht das nicht aus für eine eindeutige Identifizierung.«

»Unser Abdruck weist sechs Bestimmungskriterien auf. Eine eindeutige Identifizierung ist erst bei neun möglich. Zehn wären besser.«

»Also wäre der Abdruck nur ein Indizienbeweis, Sylvia.«

»Richtig«, gab Waiden zu.

Dr. Sanchez meldete sich zu Wort. Sie trug wie üblich eines ihrer dunkelblauen Kostüme und hatte ihr graumeliertes Haar zu einem Nackenknoten verschlungen. »Wie schon in den Autopsieberichten steht, lassen sich die Stichwunden der Ehepaare Frost und Urbina eindeutig identifizieren«, stellte sie fest. »Sie stammen alle von einem Bowiemesser mit zwölf Zentimeter langer Klinge, die charakteristische Einkerbungen und Scharten aufweist. Ich habe Fotos der Wunden, die deutliche Schnittspuren an Knorpel und Knochen zeigen.«

»Dr. Sanchez«, fragte Knowles, »könnten Sie diese Verletzungen einem bestimmten Bowiemesser zuordnen?«

»Wenn jemand das richtige Messer findet, ja.«

»Und das würden Sie vor Gericht aussagen?«

»Wenn ich's Ihnen jetzt erzähle, würde ich natürlich auch vor Gericht aussagen.« Sanchez fügte scharf hinzu: »Solche Beweise sind schon mehrfach zugelassen worden.«

»Ja, ich weiß. Trotzdem...« Knowles wirkte unentschlossen. Wer ihn kannte, wußte genau, daß er jetzt die Rolle des Zögernden, Unsicheren spielte, in der er oft vor Gericht auftrat. »Nehmen wir mal an, ich sei der Verteidiger, der Ihnen folgende Frage stellt: >Doktor, mir liegt eine Bestätigung vor, daß Messer dieses Typs in Partien von mehreren hundert Stück hergestellt werden. Wissen Sie ganz sicher, daß die von Ihnen beschriebenen Verletzungen nur von diesem einen Bowiemesser unter Hunderten - vielleicht sogar Tausenden - ähnlichen Messern stammen können? Und wenn Sie meine Frage beantworten, Doktor, bedenken Sie bitte, daß hier das Leben eines Mannes auf dem Spiel steht.<«

Während Sanchez zögerte, betrachtete Knowles versonnen seine Hände.

Sie begann: »Nun... «

Der Staatsanwalt sah wieder auf. Er schüttelte den Kopf. »Schon gut«, sagte er abwehrend.

Sanchez wurde rot und preßte die Lippen zusammen, als ihr klarwurde, wie geschickt Knowles sein Argument vorgebracht hatte. Statt wie üblich selbstbewußt zu antworten, hatte sie gezögert und damit zugegeben, daß gewisse Zweifel möglich waren - ein Schwachpunkt, der den Geschworenen aufgefallen wäre und den jeder Strafverteidiger durch Anschlußfragen ausgeschlachtet hätte.

Sanchez funkelte Knowles an, der beschwichtigend lächelte. »Entschuldigung, Doktor. Nur ein Probelauf, aber lieber hier als im Zeugenstand.«

»Für einen Augenblick«, sagte sie bedauernd, »bin ich mir wie vor Gericht vorgekommen.«

Der Staatsanwalt wandte sich an Julio Verona. »Das heißt natürlich keineswegs, daß wir die Messerspuren nicht anführen, falls sich dazu Gelegenheit bietet. Aber ich befürchte, da sind uns ziemlich enge Grenzen gesetzt.«

»Wir haben das Messer natürlich nicht«, stellte der Leiter der Spurensicherung fest, »und ob wir's jemals bekommen, hängt von Ihnen ab.« Seine Handbewegung schloß die Kriminalbeamten samt Newbold ein. »Nachdem Sylvia und ich jetzt wissen, daß zwei der Fälle zusammenhängen, sehen wir uns das Beweismaterial noch mal auf Gemeinsamkeiten hin an.«

»Und ich sehe in unseren Unterlagen nach«, sagte Dr. Sanchez. »Vielleicht finde ich einen nicht aufgeklärten Mord mit ähnlichen Verletzungen oder irgendeinem religiösen Zusammenhang.« Sie fügte nachdenklich hinzu: »Möglicherweise haben wir's mit einem Wiederholungstäter zu tun, dessen erste Straftaten längst in Vergessenheit geraten sind. Aus der Literatur kenne ich einen vergleichbaren Fall, in dem ein Serienmörder erst nach einer Pause von fünfzehn Jahren wieder zu morden begonnen hat.«

»Gut, vielleicht kommen wir damit weiter«, sagte Newbold. »Und jetzt...« Er sah zu seinem Vorgesetzten Manolo Yanes, dem Leiter des Dezernats Verbrechen gegen Personen, hinüber. »Major, möchten Sie noch etwas hinzufügen?«

»Ja.« Yanes hielt sich wie üblich nicht mit langen Vorreden auf. »Ich verlange, daß alle, die an diesem Tisch sitzen, sich noch mehr anstrengen - sich bis zum äußersten anstrengen. Wir müssen diese Serie stoppen, bevor weitere Morde passieren.«

Yanes suchte Newbolds Blick. »Fürs Protokoll, Lieutenant: Sie und Ihre Leute haben jetzt freie Hand für alle notwendig erscheinenden Maßnahmen - auch für die Bildung einer Sonderkommission. Sobald Sie wissen, was Sie brauchen und wie diese Kommission aussehen soll, stelle ich zusätzliche Leute aus dem Raubdezernat dafür ab. Was die Kosten betrifft, haben Sie meine Genehmigung, so viele Überstunden wie nötig anzuordnen.«

Yanes sah sich am Tisch um, dann fügte er hinzu: »Nachdem die logistische Seite geklärt ist, haben Sie alle einen klaren Auftrag: Finden Sie diesen Kerl! Ich will Ergebnisse sehen. Und halten Sie mich auf dem laufenden.«

»Wird gemacht, Sir. Wie alle gehört haben, bilden wir sofort eine Sonderkommission, die nur diese Fälle bearbeitet. Ihre Mitglieder werden von allen sonstigen Aufgaben entbunden. Ich habe Sergeant Ainslie bereits gebeten, die Leitung zu übernehmen.«

Alle sahen zu Ainslie hinüber, als Newbold ihm erklärte: »Sergeant, Sie arbeiten mit zwei Teams aus je sechs Beamten. Ich überlasse es Ihnen, einen weiteren Sergeant als Leiter des zweiten Teams zu benennen.«

»Sergeant Greene«, sagte Ainslie sofort. »Wenn er einverstanden ist.«

Pablo Greene machte eine großzügige Handbewegung. »Worauf du wetten kannst!«

Newbold nickte Greene zu. »Sie sind Sergeant Ainslie unterstellt. Ist das klar?«

»QSL. Sir.«

Ainslie fuhr fort: »Für mein Team möchte ich schon jetzt die Detectives Quinn, Bowe, Kralik und Garcia. Die verbleibenden Posten besetzen Pablo und ich im Lauf des Tages.« Er wandte sich an Major Yanes. »Wir stehen vor sehr umfangreichen Ermittlungen, Sir. Deshalb brauche ich mindestens zwei Detectives aus dem Raubdezernat, vielleicht sogar vier.«

Der Major nickte. »Sagen Sie Lieutenant Newbold, wen Sie brauchen, dann bekommen Sie die Leute.«

Curzon Knowles warf ein: »Sollte das nicht genügen, kann ich einige unserer Ermittler abstellen. Wir möchten jedenfalls beteiligt bleiben.«

»Das sollen Sie auch, Counselor«, sagte Ainslie.

»Die Sonderkommission arbeitet selbstverständlich eng mit Fort Lauderdale und Clearwater zusammen«, stellte der Lieutenant abschließend fest. »Ich möchte, daß die dortigen Kollegen auf dem laufenden gehalten werden.« Er wandte sich an Assistant Chief Serrano. »Chief, möchten Sie noch etwas hinzufügen?«

Serrano, ein ehemaliger Kriminalbeamter, der im Miami Police Department eine glänzende Karriere gemacht hatte, sprach mit ruhiger, klarer Stimme: »Ich will nur sagen, daß das gesamte Police Department in dieser Sache hinter Ihnen steht. Sobald diese Serienmorde in die Öffentlichkeit dringen, wird die Medienberichterstattung sich überschlagen und viel öffentlichen und politischen Druck ausüben. Wir werden versuchen, Sie davor in Schutz zu nehmen, damit Sie weiterhin alles tun können, was notwendig ist, um diesen Verrückten zu fassen. Trotzdem ist Eile geboten. Und vergessen Sie dabei nie das Denken. Ich wünsche uns allen viel Erfolg!«

5

Gleich nach der Besprechung versammelte die neue Sonderkommission sich um Ainslie. Auch Staatsanwalt Knowles blieb noch da. Vor zwanzig Jahren war Curzon Knowles selbst Polizeibeamter gewesen - der jüngste Sergeant der New Yorker Polizei. Später war er als Lieutenant ausgeschieden, um in Florida Jura zu studieren. Knowles fühlte sich in Gesellschaft von Kriminalbeamten wohl und war bei ihnen stets willkommen. Jetzt fragte er Ainslie: »Da wir zusammenarbeiten werden, Sergeant, darf ich wohl erfahren, was Ihr erster Schritt sein wird?«

»Ein kurzer, Counselor - zum Computer. Sie können gern mitkommen.« Ainslie sah sich um. »Wo ist Ruby?«

»Wo immer Sie sie brauchen«, antwortete Detective Bowe aus einer Gruppe heraus.

»Ich brauche Ihre flinken Finger.« Ainslie zeigte auf den Computer, an dem sie vorhin gesessen hatte. »Wir wollen ein paar Informationen einholen.«

Ruby setzte sich an den Computer, schaltete das Gerät ein und tippte LOGON.

Auf dem Bildschirm erschien: BENUTZERNUMMER EINGEBEN. Ruby fragte Ainslie: »Ihre oder meine?«

Er diktierte ihr: »Achtvierdreineun.«

Nun erschien die Aufforderung: PASSWORT EINGEBEN.

Ainslie streckte die rechte Hand aus und tippte mit einem Finger CUPCAKE - ein Kosename, mit dem er Karen manchmal ansprach. Das Paßwort erschien nicht auf dem Bildschirm, aber dafür stand dort jetzt CIC, die Abkürzung für Criminal Investigation Center.

Während die anderen Kriminalbeamten und Knowles stumm zusahen, sagte Ruby: »Schön, jetzt sind wir im Wunderland.

Domine, quo vadis?«

»Was zum Teufel heißt das?« murmelte jemand.

»>Herr, wohin gehst du?<« übersetzte Bernard Quinn.

»Latein hab' ich schon im Kindergarten gehabt«, behauptete Ruby. »Wir Gettokinder sind schlauer, als viele denken.«

»Das können Sie gleich beweisen«, sagte Ainslie. »Suchen Sie >Vorstrafen<. Danach die Kategorie >Auffälligkeiten<.«

Ruby tippte einige Befehle ein, bis der Dateiname AUFFÄLLIGKEITEN auf dem Bildschirm erschien. »Da gibt's jede Menge Unterdateien«, kündigte sie an. »Irgendwelche Ideen?«

»Suchen Sie >Religion< oder >religiös<.«

Ihre Finger flogen über die Tasten. »Hey, da gibt's eine, die >Religiöse Fanatiker< heißt.«

Ainslie zog die Augenbrauen hoch. »Schön, die müßte passen.«

Falls jemand eine ellenlange Namenliste erwartet hatte, war das Ergebnis enttäuschend. Nur sieben Namen erschienen - jeder mit einer Kurzbiographie und Angaben zu Verfahren und Verurteilungen. Ainslie und Ruby lasen die Eintragungen; die anderen sahen ihnen dabei über die Schultern.

»Virgil könnt ihr streichen, weil er sitzt«, sagte Quinn. »Ich hab' ihn selbst hinter Gitter gebracht.« Die Eintragung zeigte, daß Francis Virgil erst knapp drei Jahre einer achtjährigen Haftstrafe verbüßt hatte. Auch zwei weitere Männer befanden sich derzeit in Haft, so daß nur vier übrigblieben.

»Orneus können wir auch streichen«, stellte Ainslie fest. »Hier steht, daß er tot ist.« Wie die Kriminalbeamten wußten, wurden Vorstrafen erst zwei Jahre nach dem Tod des Betreffenden gelöscht.

»Hector Longo ebenfalls«, schlug Ruby vor. Die Eintragung zeigte, daß Longo zweiundachtzig, fast blind und halbseitig gelähmt war.

»Erstaunlich, was Behinderte heutzutage alles fertigbringen«, meinte Ainslie. »Okay, löschen.«

Damit waren zwei potentielle Täter übriggeblieben, aber die Suche hatte viel weniger Namen zutage gefördert als erhofft.

»Wie wär's mit dem Stichwort >Arbeitsweise

»Damit haben wir's bereits bei den jeweiligen Fällen versucht«, antwortete Ainslie. »Beide Male erfolglos.« Er fügte nachdenklich hinzu: »Je länger wir ermitteln, desto stärker wird mein Verdacht, daß wir hinter einem Mann her sind, der nicht vorbestraft ist.«

»Soll ich's mal mit FIVOs versuchen?« fragte Ruby.

Ainslie war wenig begeistert, aber er antwortete: »Warum nicht? Wir haben schließlich nichts zu verlieren.«

FIVOs - die Abkürzung für Field Intelligence and Vehicle Occurrence - waren Meldungen von Polizeibeamten, die in der Öffentlichkeit ungewöhnliches, provozierendes oder exzentrisches Verhalten beobachteten, das jedoch nicht strafbar war. Meldung wurde auch erstattet, wenn jemand - vor allem spät nachts - unter verdächtigen Umständen beobachtet wurde, ohne sich jedoch strafbar gemacht zu haben.

Jede FIVO-Meldung war am Ort des Geschehens auf eine vorgedruckte Karte zu schreiben. Die Polizeibeamten waren angewiesen, möglichst viele Einzelheiten anzugeben: vollständiger Name, Anschrift, Beruf und Personenbeschreibung des Beobachteten, Autotyp und -kennzeichen, falls vorhanden, und die näheren Umstände der Beobachtung. Die meisten Befragten erwiesen sich als überraschend kooperativ, wenn sie erfuhren, daß sie nicht verhaftet werden oder einen Strafzettel bekommen sollten. Aber wer vorbestraft war, verschwieg diese Tatsache im allgemeinen.

Die FIVO-Karten wurden ans Polizeipräsidium weitergeleitet und dort in den Computer eingespeichert; dabei sorgte der automatische Datenabgleich dafür, daß jede FIVO-Meldung durch polizeibekannte Vorstrafen ergänzt wurde.

Eine Zeitlang hatten FIVO-Meldungen in Miami keinen guten Ruf gehabt. Schuld daran waren Streifenpolizisten, die massenhaft erfundene Meldungen abgegeben hatten, um Aufmerksamkeit zu erregen und vielleicht befördert zu werden. Auf manchen FIVO-Karten standen sogar von Grabsteinen abgeschriebene Namen. Nachdem einige Streifenpolizisten Disziplinarstrafen erhalten hatten, hörte der Schwindel auf. Aber viele Kriminalbeamte, darunter auch Ainslie, waren FIVOs gegenüber noch immer mißtrauisch.

Das Zugangsverfahren zu FIVOs war ähnlich wie zuvor beim CIC, und Ruby ging schnell zu AUFFÄLLIGKEITEN und danach zu RELIGIÖSE FANATIKER weiter. Plötzlich füllte sich der Bildschirm mit Namen, Daten und anderen Angaben. Ainslie beugte sich gespannt nach vorn. »Hey, seht euch das an!« sagte eine Stimme hinter ihm. Jemand anders stieß überrascht einen langgezogenen Pfiff aus.

Auch diesmal gingen sie die Namen gemeinsam durch, schieden einige aus und nahmen die restlichen in eine neue Datei auf, die schon die beiden Verdächtigen aus dem CIC enthielt. Zuletzt druckte Ruby ein halbes Dutzend Exemplare der kombinierten Liste aus und verteilte sie.

Der Ausdruck enthielt sechs Namen:

JAMES CALHOUN, w/m, alias »Little Jesus«.

Geburtsdatum: 10.10.67, 1,81m, 90 kg. Letzte bekannte Anschrift: 271 NW 10 St., Miami. Tätowiertes Kreuz auf der linken Brustseite. Spricht vom bevorstehenden Ende der Welt und behauptet, der wiedergekehrte Heiland zu sein. Vorstrafen: Totschlag, Raubüberfall und bewaffneter Einbruch.

CARLOS QUINONES, l/m, alias »Diablo Kid«.

Geburtsdatum: 17.11.69, 1,67m, 80 kg, untersetzt. Letzte bekannte Anschrift: 2640 SW 22 St., Miami. Gibt sich als der einzige Messias aus und predigt das Wort Gottes. Zahlreiche Vorstrafen: Körperverletzung, Vergewaltigung und Raubüberfall mit Gewaltanwendung.

EARL ROBINSON, b/m, alias »Rächer«.

Geburtsdatum: 02.08.64, 1,83m, 85 kg. Letzte bekannte Anschrift: 1310 NW 65 St., Miami. Schlank, ehemaliger Profiboxer, sehr aggressiv. Predigt an Straßenecken, zitiert aus der Bibel, immer aus der Offenbarung des Johannes, und behauptet, der rächende Engel Gottes zu sein. Mehrfache Vorstrafen: fahrlässige Tötung, bewaffneter Raubüberfall und Körperverletzung (Messerstecher).

ALEC POLITE, h/m, alias »Messias«.

Geburtsdatum: 12.12.69, 1,80m, 85 kg. Letzte bekannte Anschrift: 265 NE 65 St., Miami. Redet mit jedem, der ihm zuhören will, über die Heilige Schrift und behauptet, mit Gott zu sprechen. Wird aggressiv, wenn er Zweifel spürt oder befragt wird. Könnte gewalttätig sein, hat aber keine Vorstrafen. Seit 1993 in den USA.

ELROY DOIL, w/m, alias »Kreuzfahrer«.

Geburtsdatum: 12.09.64, 1,94m, 120 kg. Letzte bekannte Anschrift: 189 NE 35 St., Miami. Behauptet, ein Apostel Gottes zu sein und Gottes Wünsche zu kennen. Predigt öffentlich. Anscheinend nicht gewalttätig. Arbeitet zeitweise als Fernfahrer. Vorstrafen: Keine.

EDELBERTO MONTOYA, l/m, alias »Prediger«.

Geburtsdatum: 01.11.62, 1,79m, 70 kg. Letzte bekannte Anschrift: 861 NW 1 St., Miami. Trägt buschigen schwarzen Vollbart. Bezeichnet sich als wiedergeborenen Christen, zitiert aus der Bibel und betet für ein baldiges Ende der Welt. Vorstrafen: Vergewaltigung, schwere Körperverletzung und sexuelle Belästigung.

Während Ainslie, Knowles und die Kriminalbeamten die Namen und Personenbeschreibungen studierten, machte sich Erregung breit.

Sergeant Greene brachte sie zum Ausdruck. »Malcolm, da haben wir was, glaube ich!«

Detective Garcia nickte eifrig. »Robinson ist unser Mann! Er muß es sein. Seht euch nur den Passus mit der Offenbarung an! Und er ist als >Rächer< bekannt - das paßt genau. Außerdem ist er als ehemaliger Boxer bestimmt recht kräftig.«

»Abgesehen davon ist er als Messerstecher bekannt«, fügte Ruby Bowe hinzu.

»Okay, okay«, sagte Ainslie. »Keine voreiligen Schlußfolgerungen! Wir sehen sie uns alle an.«

Sheriff-Detective Montes fragte: »Haben Sie vor, jemanden festnehmen zu lassen?«

Ainslie schüttelte den Kopf. »Dafür sind die Hinweise zu dürftig. Nein, wir überwachen erst mal alle.«

»Sergeant«, sagte Knowles warnend, »das muß äußerst vorsichtig geschehen, damit diese Leute nichts merken.« Er sah einen Kriminalbeamten nach dem anderen an. »Denken Sie bitte alle daran, daß wir bisher praktisch keine Beweise haben. Ist einer dieser sechs unser Mann und wird er durch unsere Überwachung gewarnt, könnte er völlig inaktiv werden, so daß wir nichts gegen ihn in der Hand hätten.«

»Ein bißchen Untätigkeit könnte allerdings nicht schaden«, stellte Pablo Greene fest. »Wir wollen schließlich nicht, daß er weitermordet.«

»Funktioniert die Überwachung, kann das nicht passieren.« Knowles machte eine nachdenkliche Pause. »Ideal wär's natürlich, ihn auf frischer Tat zu ertappen.«

»Ideal für den Staatsanwalt«, sagte Ruby Bowe. »Riskant für das Opfer.«

Ainslie stimmte in das Gelächter der anderen mit ein, bevor er es mit einer Handbewegung beendete.

»Ruby hat trotzdem recht«, stellte Quinn fest. »Die Überwachung ist riskant. Wir wissen, daß dieser Kerl clever ist, und er weiß natürlich, daß wir nach ihm fahnden.«

Ainslie wandte sich an Leo Newbold, der sich vor einigen Minuten zu der Gruppe gesellt hatte. »Was denken Sie, Lieutenant?«

Newbold zuckte mit den Schultern. »Das ist Ihre Entscheidung, Malcolm. Sie leiten diese Sonderkommission.«

»Dann gehen wir das Risiko ein«, sagte Ainslie. »Und ich versichere Ihnen, Counselor, daß kein Verdächtiger etwas von unserer Überwachung mitbekommen wird.« Er wandte sich an Greene. »Pablo, am besten arbeiten wir gleich einen Plan aus.«

Sie einigten sich darauf, daß Sergeant Ainslies Team zunächst Earl Robinson, James Calhoun und Carlos Quinones überwachen würde. Sergeant Greenes Team sollte Alec Polite, Elroy Doil und Edelberto Montoya übernehmen. Alle sechs Männer würden Tag und Nacht observiert werden.

Ainslie teilte Newbold mit: »Wir brauchen sofort Verstärkung aus dem Raubdezernat, Sir - für den Anfang erst mal zwei Kollegen, die ich gleich einplanen möchte.«

Der Lieutenant nickte. »Gut, ich rede mit Major Yanes.«

Die Gruppe wollte sich eben trennen, als plötzlich die Tür des Konferenzraums aufgestoßen wurde. Sergeant Hank Brewmaster, der gleich nach der Besprechung gegangen war, stand atemlos und vor Entsetzen bleich auf der Schwelle. Da Brewmasters Team an diesem Tag Bereitschaftsdienst hatte, wußten alle, was kommen würde.

Newbold trat vor. »Ein schlimmer Fall, Hank?«

»Schlimmer geht's kaum, Sir.« Brewmaster holte tief Luft. »City Commissioner Gustav Ernst. Und seine Frau. Beide tot, ermordet. Die Meldung ist gerade reingekommen. Der Beschreibung nach deutet alles auf einen dieser...«

»O Gott!« sagte Ainslie betroffen. »Nicht schon wieder einer unserer... «

Er brauchte nicht weiterzusprechen, denn Brewmaster nickte nachdrücklich. »Offenbar hat unser Serienmörder wieder zugeschlagen.«

Der Sergeant wandte sich wieder an Newbold. »Meine Leute sind zum Tatort unterwegs, Sir. Das wollte ich Ihnen nur melden.« Sein Blick schloß die anderen mit ein. »Ich dachte, das solltet ihr alle wissen, denn die Medien sind bereits am Tatort, und soviel ich gehört habe, ist dort die Hölle los.« In den Tagen danach erfaßte die von den Medien geschürte Empörung der Öffentlichkeit die City wie ein Flächenbrand: Der Mordfall Ernst war zu einer Cause celebre geworden.

Für das Police Department war der grausame Mord an einem City Commissioner und seiner Frau schlimm genug -Commissioner Ernst war einer der drei Referenten gewesen, die gemeinsam mit dem Oberbürgermeister, seinem Stellvertreter und dem City Manager die Verwaltungsspitze der Stadt bildeten. Aber Ainslie, Newbold und ihre Kollegen traf das Verbrechen noch schwerer, denn die Tochter des ermordeten Ehepaars war Major Cynthia Ernst, eine hohe Polizeibeamtin in Miami.

Zum Tatzeitpunkt war Cynthia Ernst halb dienstlich, halb privat in Los Angeles. Sie wurde vom L.A. Police Department benachrichtigt und flog sofort »schmerzlich betroffen und zutiefst trauernd«, wie es in den Abendnachrichten hieß, nach Miami zurück, wo sie im Brennpunkt des öffentlichen Interesses stand.

6

Die hastige erste Meldung, der Doppelmord an Miami City Commissioner Ernst und seiner Frau sei offenbar identisch mit der grausamen Ermordung dreier älterer Ehepaare - der Frosts in Coconut Grove, der Hennenfelds in Fort Lauderdale und der Urbinas in Miami -, erwies sich als beunruhigend zutreffend. Inzwischen setzten die Medien auch den Mord an Hal und Mabel Larsen in Clearwater - den Gegenstand des von Ruby Bowe entdeckten fünf Monate alten Fahndungsaufrufs - auf ihre Liste.

Die mit Hochdruck betriebenen Ermittlungen konzentrierten sich auf das Landhaus im mediterranen Stil, in dem das Ehepaar Ernst in dem exklusiven Villenviertel Bay Point - eingezäunt und ständig bewacht - an der Westküste der Biscayne Bay gewohnt hatte.

Dort waren die übel zugerichteten, blutigen Leichen Gustav und Eleanor Ernsts von ihrem Dienstmädchen entdeckt worden. Sie war früh am Morgen ins Haus gekommen und hatte wie immer den Morgentee zubereitet, den sie auf einem Tablett ins Schlafzimmer des Ehepaars brachte. Beim Anblick der beiden, die gefesselt und in einer Blutlache einander gegenübersaßen, stieß sie gellende Schreie aus, ließ das Tablett fallen und kippte vor Schreck um.

Ihre Schreie hörte Theo Palacio, der schon ältere Butler der Ernsts, der mit seiner Frau Maria, die Köchin war, den Haushalt führte. Theo und Maria schliefen an diesem Morgen etwas länger, weil sie - mit Billigung ihrer Arbeitgeber - ausgegangen und erst nach ein Uhr morgens heimgekommen waren.

Auf die Schreckensszene im Schlafzimmer reagierte Palacio rasch: Er lief ans nächste Telefon.

Als Sergeant Brewmaster eintraf, hielt uniformierte Polizei vor dem Haus Wache, während drinnen das Dienstmädchen von einem Notarzt versorgt wurde.

Dion Jacobo und Seth Wightman, zwei Detectives aus Brewmasters Ermittlerteam, waren bereits am Tatort. Brewmaster hatte Jacobo zu seinem Stellvertreter ernannt, was Jacobo etwas zusätzliche Autorität verschaffte, die er angesichts der Bedeutung dieses Falls bestimmt brauchen würde.

Jacobo, ein muskulöser, stämmiger Mann mit zwölfjähriger Berufserfahrung in der Mordkommission, hatte die Uniformierten bereits angewiesen, das gesamte Grundstück mit gelbem Absperrband als Sperrzone zu kennzeichnen.

Nur wenig später trafen Julio Verona und Dr. Sandra Sanchez ein. Verona hatte gleich einen Gerätewagen und drei seiner besten Leute von der Spurensicherung mitgebracht. Wie es hieß, war auch der Polizeipräsident zum Tatort unterwegs.

Scharen von Reportern, die der aufgeregte Polizeifunkverkehr alarmiert hatte, drängten sich vor dem Haupttor von Bay Point, aber das Wachpersonal, das Detective Jacobos Anweisungen befolgte, verwehrte ihnen den Zutritt. Die Reporter spekulierten bereits eifrig darüber, wie der oder die Täter das Sicherheitssystem von Bay Point hatten überwinden und in die Villa der Ernsts eindringen können.

Bei manchen Polizeibehörden löste die Ermordung einer prominenten Persönlichkeit des öffentlichen Lebens »Alarmstufe eins« aus oder wurde weniger offiziell als »Katastrophenfall« eingeordnet. Fiel ein Mordfall in diese Kategorie, hatten die jeweiligen Ermittlungen absoluten Vorrang. In Miami gab es diese Kategorie angeblich nicht; hier galten alle Morde und Mörder als »vor dem Gesetz gleich«. Aber der Mord an Commissioner Ernst und seiner Frau widerlegte diese Theorie bereits.

Einer der Gegenbeweise war das Eintreffen des Chief of Police Farrell W. Ketledge jr. in seinem Dienstwagen, mit einem Sergeant am Steuer. An der Uniform des Chiefs glänzten die vier Sterne, die seinen Dienstgrad bezeichneten, der dem eines Viersternegenerals der U.S. Army entsprach. Bei seinem Eintreffen erklärte Detective Wightman einem der Streifenpolizisten halblaut: »Die Zahl der Morde pro Jahr, bei denen der Chief am Tatort aufkreuzt, kann man an den Fingern einer Hand abzählen.«

Lieutenant Newbold, der einige Minuten vor ihm angekommen war, empfing den Chief gemeinsam mit Brewmaster am Haupteingang des Hauses.

»Zeigen Sie mir den Tatort, Lieutenant«, befahl der Chief ihm energisch.

»Ja, Sir. Bitte kommen Sie mit.«

Unter Newbolds Führung stiegen die drei Männer eine breite Treppe hinauf, folgten der Galerie nach rechts und kamen zur Schlafzimmertür, die offenstand. Drinnen blieben sie stehen, während der Chief sich umsah.

Die Spurensicherung war bereits am Werk. Dr. Sanchez stand im Hintergrund und wartete darauf, daß ein Fotograf seine Arbeit beendete. Detective Jacobo und Sylvia Waiden sprachen darüber, wo Fingerabdrücke zu finden sein könnten.

»Wer hat die Leichen gefunden?« fragte der Chief. »Was wissen wir bisher?«

Newbold nickte Brewmaster zu, der die Ankunft des Dienstmädchens, ihre morgendliche Teezubereitung und ihre Schreckensschreie beschrieb - alles Informationen, die er dem Butler verdankte. Theo Palacio hatte ausgesagt, seine Frau Maria und er seien vom späten Nachmittag des Vortags bis zum frühen Morgen außer Haus gewesen, um seine schwerbehinderte Schwägerin in West Palm Beach zu besuchen, was sie regelmäßig einmal pro Woche taten. Auch das Dienstmädchen hatte das Haus gestern um siebzehn Uhr verlassen.

»Der Todeszeitpunkt steht noch nicht fest«, fügte Newbold hinzu, »aber bestimmt ist die Tat verübt worden, als Mr. und Mrs. Ernst sich allein im Haus befanden.«

Brewmaster erklärte dem Chief: »Wir prüfen selbstverständlich genau nach, wo sich die Palacios aufgehalten haben, Sir.«

Der Chief nickte. »Als Täter kommt also jemand in Frage, der mit den Zeitabläufen hier im Haus vertraut ist.«

Diese Schlußfolgerung war so offensichtlich, daß Newbold und Brewmaster sich nicht dazu äußerten. Wie sie beide wußten, war Chief Ketledge nie Kriminalbeamter gewesen, sondern war aus der Polizeiverwaltung, in der er sich ausgezeichnet hatte, in die Spitzenposition gelangt. Wie vielen hohen Polizeibeamten machte es dem Chief jedoch Spaß, gelegentlich Detektiv zu spielen.

Der Chief ging weiter ins Zimmer hinein, um einen besseren Überblick zu bekommen. Er trat zuerst neben, dann hinter die beiden leblosen Gestalten, mit denen die Spurensicherung beschäftigt war. Als er sich dann wieder in Bewegung setzen wollte, entfuhr es Dion Jacobo scharf:

»Halt! Nicht dorthin!«

Der Chief drehte sich ruckartig um und starrte Jacobo ungläubig und wütend an, bevor er mit eisiger Stimme fragte: »Und wer... «

Jacobo unterbrach ihn, indem er zackig meldete: »Sir! Detective Jacobo, Chief. Ich leite hier mit Sergeant Brewmaster die Ermittlungen.«

Die beiden standen sich gegenüber. Beide waren Schwarze. Jacobo erwiderte Ketledges Blick unerschrocken.

»Entschuldigen Sie die Lautstärke, Sir«, fügte der Kriminalbeamte hinzu, »aber es ist dringend gewesen.«

Der Chief funkelte ihn weiter an und schien zu überlegen, was er als nächstes tun sollte.

Theoretisch hatte Jacobo das Recht gehabt, diesen Befehl zu geben. Als mitverantwortlicher Ermittler am Tatort konnte er jedem dort Anwesenden ohne Rücksicht auf dessen Dienstgrad Befehle erteilen. Aber dieses Recht wurde nur selten eingefordert - vor allem dann nicht, wenn der Befehlsempfänger sieben Dienstgrade über dem Detective stand.

Während die anderen zusahen, schluckte Jacobo trocken. Er war sich darüber im klaren, daß er vermutlich - auch wenn er im Recht gewesen war - zu undiplomatisch vorgegangen war und morgen um diese Zeit vielleicht schon wieder in Uniform Streife gehen mußte.

Im nächsten Augenblick hüstelte Julio Verona diskret und sprach den Chief an. »Entschuldigen Sie, Sir, aber ich glaube, der Detective hat nur zu schützen versucht, was hier auf dem Boden liegt.« Er zeigte auf eine Stelle hinter den beiden Ermordeten.

»Und was ist das?« fragte Lieutenant Newbold.

»Ein totes Kaninchen«, antwortete Verona und sah zu Boden. »Es könnte wichtig sein.«

Brewmaster starrte ihn an. »Sogar verdammt wichtig! Wieder eines dieser Symbole. Wir brauchen Malcolm Ainslie.«

Der Chief fragte Verona skeptisch: »Soll das heißen, daß Detective Jacobo gewußt hat, daß dort ein Tier liegt?«

»Das weiß ich nicht, Sir«, antwortete der Leiter der Spurensicherung gelassen. »Aber bis wir hier fertig sind, müssen wir überall Beweismaterial vermuten.«

Der Chief zögerte, als ringe er um Selbstbeherrschung. Er stand in dem Ruf, streng auf Disziplin zu achten, aber auch fair zu sein.

»Nun gut.« Er wirkte gelassener, als er sich jetzt umsah. »Ich bin hergekommen, um zu unterstreichen, wie wichtig dieser Fall ist. Die Augen der Öffentlichkeit sind auf uns gerichtet. Ich verlasse mich auf Sie, Gentlemen. Der Fall muß schnellstens aufgeklärt werden.«

Beim Hinausgehen blieb Chief Ketledge vor Newbold stehen. »Lieutenant, ich möchte, daß in Detective Jacobos Personalakte eine Belobigung eingetragen wird.« Er lächelte schwach. »Sagen wir >wegen pflichtbewußter Sicherung von Beweismaterial unter schwierigen Umständenc.«

Im nächsten Augenblick war der Chief verschwunden.

Ungefähr eine Stunde später, als noch Beweismaterial gesammelt wurde, kam Verona zu Sergeant Brewmaster und berichtete: »Bei Mr. Ernsts Sachen haben wir eine Brieftasche mit Führerschein und Kreditkarten gefunden. Ohne Geld, aber der Form nach dürfte sie immer welches enthalten haben.«

Brewmaster fragte sofort bei Theo Palacio nach, der mit seiner Frau in der Küche bleiben und im Haus alles so lassen sollte, wie es war. Der Butler war den Tränen nahe und konnte kaum sprechen. Seine am Küchentisch sitzende Frau hatte verweinte Augen. »Mr. Ernsts Brieftasche ist immer voll Geld gewesen«, sagte Palacio. »Meistens große Scheine, Fünfziger und Hunderter. Er hat gern Bargeld in der Tasche gehabt.«

»Wissen Sie, ob er sich die Nummern dieser großen Scheine aufgeschrieben hat?«

Palacio schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich.«

Brewmaster machte eine Pause, bis der Butler die Fassung zurückgewonnen hatte. »Noch eine andere Frage.« Er blätterte in seinem Notizbuch zurück. »Ihrer Aussage nach sind Sie heute morgen ins Schlafzimmer der Ernsts gekommen, haben gleich erkannt, daß Mr. und Mrs. Ernst nicht mehr zu helfen war, und sind sofort ans Telefon gelaufen.«

»Ganz recht, Sir. Ich habe neuneinseins angerufen.«

»Aber haben Sie im Schlafzimmer etwas angefaßt? Irgend etwas?«

Palacio schüttelte den Kopf. »Ich habe gewußt, daß nichts verändert werden darf, bis die Polizei kommt.« Der Butler zögerte.

»Ja?« fragte Brewmaster.

»Nun, ich habe etwas zu erwähnen vergessen. Das Radio hat sehr laut gespielt. Ich habe es ausgeschaltet. Tut mir leid, wenn das... «

»Schon gut. Kommen Sie, wir sehen uns das Radio mal an.«

Im Schlafzimmer blieben die beiden vor dem Radio auf einem der Nachttische stehen. »Haben Sie beim Ausschalten die Sendereinstellung verändert?« fragte Brewmaster.

»Nein, Sir.«

»Ist das Radio seitdem benutzt worden?«

»Das glaube ich nicht.«

Brewmaster zog sich einen Latexhandschuh über die rechte Hand und schaltete das Radio ein. Der Song »Oh, What a Beautiful Mornin'« aus dem Musical Oklahoma! erfüllte den Raum. Der Kriminalbeamte bückte sich und stellte fest, daß das Gerät auf 93,1 MHz eingestellt war.

»Das ist WTMI«, sagte Palacio. »Mrs. Ernsts liebster Sender. Sie hat ihn oft gehört.«

Wenig später ging Brewmaster mit Maria Palacio nach oben, um auch sie etwas zu fragen. »Sehen Sie sich die Toten lieber nicht an«, warnte e~ sie. »Ich stelle mich vor sie. Aber ich möchte Ihnen etwas anderes zeigen.«

Er zeigte ihr Schmuck - einen Ring mit Saphiren und Brillanten, dazu passende Ohrringe, einen weiteren Goldring, ein Perlenkollier mit rosa Turmalinschließe und ein Brillantarmband. Lauter kostbare Stücke, die deutlich sichtbar auf dem Toilettentisch lagen.

»Ja, der Schmuck gehört Mrs. Ernst«, bestätigte Maria Palacio. »Sie hat ihn abends nie weggesperrt, sondern einfach so hingeworfen und erst morgens in den Safe zurückgelegt. Ich hab' sie oft gewarnt, daß...« Ihre Stimme brach.

»Danke, das war's schon, Mrs. Palacio«, sagte Brewmaster. »Ich weiß jetzt, was ich wissen wollte.«

Später antwortete Dr. Sanchez auf eine weitere Frage Brewmasters: »Ja, die Spuren von Gewaltanwendung an Kopf und Oberkörper von Mr. und Mrs. Ernst entsprechen weitgehend den Fällen Frost und Urbina - und, soviel ich aus Berichten weiß, vermutlich auch denen in Clearwater und Fort Lauderdale.«

»Und die Messerstiche, Doktor?«

»Sicher weiß ich das erst nach der Autopsie. Aber auf den ersten Blick könnten sie wie in den anderen Fällen von einem Bowiemesser stammen.«

Wegen des toten Kaninchens bat Dr. Sanchez ihre Bekannte Heather Ubens, an den Tatort zu kommen. Mrs. Ubens, die sich als Besitzerin eines Tiergeschäfts mit Kleintieren auskannte, bezeichnete das Tier mit seinem Handelsnamen als Schlappohrkaninchen. Die Tiere würden massenhaft als Haustiere verkauft, sagte sie. Da das Kaninchen keine äußeren Verletzungen aufwies, vermutete Mrs. Ubens, daß es durch Ersticken getötet worden sei.

Nachdem das Kaninchen fotografiert worden war, ließ Dr. Sanchez es in ihre Dienststelle bringen, damit es in Formaldehyd aufbewahrt werden konnte.

Sergeant Brewmaster fragte Theo Palacio, ob das Kaninchen ein Haustier der Ernsts gewesen sei. »Absolut nicht. Mr. und Mrs. Ernst haben Tiere nicht gemocht«, erklärte ihm der Butler. Dann fügte er hinzu: »Ich wollte, daß sie sich wegen der vielen Verbrecher einen Wachhund anschaffen; ich habe ihnen sogar angeboten, ihn selbst zu versorgen. Aber Mr. Ernst hat gesagt, nein, er könne sich als City Commissioner darauf verlassen, daß die Polizei für seine Sicherheit sorgen werde. Aber das hat sie nicht getan, nicht wahr?«

Darauf antwortete Brewmaster lieber nicht.

Später fragte die Polizei in allen Tiergeschäften Miamis nach und legte Tatortfotos vor, um zu versuchen, den Käufer des Kaninchens zu ermitteln. Aber da so viele Kaninchen verkauft wurden - manchmal ganze Würfe mit sieben oder acht Jungen und nur wenige Geschäfte die Namen der Käufer notierten, verlief die Suche ergebnislos.

Brewmaster erzählte Malcolm Ainslie von dem toten Kaninchen und fragte ihn: »Steht in der Offenbarung irgend etwas, das dazu paßt - wie bei allen bisherigen Gegenständen?«

»Weder in der Offenbarung noch sonstwo in der Bibel kommt ein Kaninchen vor, das weiß ich bestimmt«, antwortete Ainslie. »Trotzdem könnte es ein Symbol sein. Kaninchen sind eine schon sehr alte Tierart.«

»Irgendeine religiöse Bedeutung?«

»Weiß ich nicht sicher.« Ainslie zögerte, weil er sich an die Vortragsreihe Ursprünge des Lebens und geologische Zeitalter erinnerte, die er einmal gehört hatte. »Kaninchen gehören zur Ordnung Lagomorpha - mit den Unterarten Hase, Kaninchen und Pika. Sie hat sich im ausgehenden Paläozän in Nordasien entwickelt.« Er lächelte. »Also fünfundfünfzig Millionen Jahre vor der Bibelversion der Schöpfungsgeschichte.«

»Glaubst du, daß unser Mann, den du selbst als besessenen religiösen Fanatiker bezeichnet hast, das alles weiß?« fragte Brewmaster.

»Eher nicht. Aber wer weiß, was er denkt - oder warum?«

Abends setzte Ainslie sich zu Hause an Karens PC, auf dessen Festplatte er die komplette King-James-Bibel gespeichert hatte. Am nächsten Morgen teilte er Brewmaster mit: »Ich habe die Bibel von einem Computer nach den Stichworten >Kaninchen<, >Hase< und >Pika< durchsuchen lassen. >Kaninchen< und >Pika< kommen nicht vor, aber >Hase< erscheint zweimal - einmal im Dritten Buch und einmal im Fünften Buch Mose, nicht dagegen in der Offenbarung des Johannes.«

»Hältst du's für möglich, daß unser Kaninchen als Hase und damit als biblisches Symbol gedacht war?«

»Nein, das glaube ich nicht.« Ainslie zögerte, dann fügte er hinzu: »Aber ich will dir sagen, was ich glaube, nachdem ich gestern lange darüber nachgedacht habe. Ich glaube nicht, daß unser Kaninchen überhaupt ein Symbol aus der Offenbarung ist. Es paßt nicht rein. Ich halte es für einen Schwindel.«

Als Brewmaster zweifelnd die Augenbrauen hochzog, fuhr er fort: »Für alle bisher an den Tatorten zurückgelassenen Symbole hat es ziemlich genaue Entsprechungen gegeben. Natürlich könnte dieses Kaninchen irgendein Tier sein - die Offenbarung ist voller Tiere.« Ainslie schüttelte den Kopf. »Aber irgendwie glaube ich das nicht.«

»Was willst du damit sagen?«

»Was ich nur instinktiv vermute, kann ich nicht beweisen, Hank. Trotzdem sollten wir unvoreingenommen an die Frage herangehen, ob das Ehepaar Ernst wirklich unserem Serienmörder zum Opfer gefallen ist oder ob ein Nachahmungstäter versucht hat, seine Tat als zu dieser Serie gehörend zu tarnen.«

»Hast du vergessen, daß wir in den ersten Fällen keine näheren Einzelheiten bekanntgegeben haben?«

»Trotzdem sind einige veröffentlicht worden. Reporter haben ihre Quellen; das läßt sich nicht verhindern.«

»Nun, das klingt recht verblüffend, Malcolm, und ich werde versuchen, es zu berücksichtigen. Aber da ich den Tatort im Fall Ernst kenne, halte ich deine Theorie für ziemlich abwegig.«

So verblieben sie vorerst.

Wenig später gab Dr. Sandra Sanchez das Ergebnis der Autopsie der beiden Leichen bekannt. Wie sie schon bei der ersten Untersuchung vermutet hatte, war die Tatwaffe ein Bowiemesser gewesen. Doch die Wundmerkmale unterschieden sich von denen der früheren Mordopfer - folglich war ein anderes Messer benutzt worden. Aber das bewies nichts, denn Bowiemesser gab es überall zu kaufen, und ein Serienmörder konnte ohne weiteres mehrere besitzen.

Nach ein paar Tagen schien trotz Malcolm Ainslies Zweifeln immer sicherer festzustehen, daß die Ernsts vom selben Täter wie die ersten acht Opfer ermordet worden waren. Nicht nur die grundlegenden Umstände, sondern auch die ergänzenden waren identisch: das tote Kaninchen, das möglicherweise doch ein Symbol aus der Offenbarung war; der Bargeldraub; der unberührt liegengebliebene Schmuck; das laut aufgedrehte Radio. Und wie in allen früheren Fällen waren keine Fingerabdrücke gefunden worden.

Sorgen machte den Ermittlern jedoch die kurze Zeitspanne -nur drei Tage - zwischen der Ermordung der Urbinas in Pine Terrace und dem Mord an dem Ehepaar Ernst. Bis dahin hatten jeweils zwei bis drei Monate zwischen den Doppelmorden gelegen. Medien und Öffentlichkeit beschäftigten sich mit dieser Tatsache und stellten bohrende Fragen: Hatte der Killer seine tödliche Mission, was immer sie sein mochte, etwa beschleunigt? Hatte er das Gefühl, unbesiegbar zu sein, auf einer Erfolgswoge zu schwimmen? Lag eine besondere Bedeutung in der Tatsache, daß diesmal ein Miami City Commissioner ermordet worden war? Waren auch andere Commissioners oder Personen aus der Führungsspitze der Stadt gefährdet? Und was unternahm die Polizei, um dem Killer beim nächstenmal zuvorzukommen? Tat sie überhaupt etwas?

Die letzte Frage konnte nicht öffentlich beantwortet werden, aber die Sonderkommission unter Sergeant Ainslies Leitung hatte inzwischen mit der Überwachung der sechs Verdächtigen begonnen.

Auch der Mordfall Ernst wurde rasch der Sonderkommission übergeben. Sergeant Brewmaster, der in dieser Sache weiterermittelte, wurde Mitglied der Sonderkommission und unterstand Malcolm Ainslie ebenso wie die Detectives aus Brewmasters Team - Dion Jacobo und Seth Wightman.

Aber noch bevor der Dienstplan der Sonderkommission sich richtig eingespielt hatte, fand eine Besprechung statt, die Ainslie als unvermeidlich vorausgesehen hatte.

7

Zwei Tage nach der Auffindung der verstümmelten Leichen von Gustav und Eleanor Ernst erschien Malcolm um 8.15 Uhr zum Dienst, nachdem er sich zuvor mit Sergeant Brewmaster am Tatort getroffen hatte, um sich über den Stand der Ermittlungen informieren zu lassen. Zu seiner Enttäuschung waren seit dem Vortag keine neuen Hinweise aufgetaucht. Das Ergebnis einer Befragung aller Nachbarn, ob sich in letzter Zeit in Bay Point unbekannte Personen herumgetrieben hatten, faßte Brewmaster mit einem einzigen Wort zusammen: »Nada.«

Im vierten Stock stand Lieutenant Newbold neben Ainslies Schreibtisch. Er nickte zu seinem Dienstzimmer hinüber. »Dort drinnen wartet jemand auf Sie, Malcolm. Beeilen Sie sich!«

Sekunden später stand Ainslie an der Tür des Dienstzimmers seines Chefs und sah Cynthia Ernst an Newbolds Schreibtisch sitzen.

Sie trug eine gutsitzende Polizeiuniform und sah blendend aus. Eigentlich verrückt, sagte Ainslie sich, daß strenggeschnittene Männerkleidung auf dem Körper einer Frau so sexy wirken konnte. Die maßgeschneiderte Uniformjacke mit geraden Schultern und den goldenen Eichenblättern, die ihren Majorsrang bezeichneten, schien die vollkommenen Proportionen ihrer Figur noch zu unterstreichen. Ihr dunkelbraunes kurzes Haar, das vorschriftsmäßig drei Zentimeter oberhalb des Kragens endete, umrahmte ein schmales Gesicht mit makellos hellem Teint und smaragdgrünen Augen, deren Blick durchdringend war. Ainslie nahm den zarten Duft eines vertrauten Parfüms wahr und wurde plötzlich von Erinnerungen überwältigt.

Cynthia, die ein vor ihr liegendes einzelnes Blatt Papier überflogen hatte, sah jetzt mit ausdrucksloser Miene auf.

»Kommen Sie rein«, sagte sie. »Machen Sie die Tür zu.«

Ainslie trat näher und stellte dabei fest, daß ihre Augen gerötet waren. Offenbar hatte sie geweint.

Vor dem Schreibtisch stehend begann er: »Ich möchte Ihnen mein tiefempfundenes Beileid... «

»Danke«, unterbrach Major Ernst ihn rasch. Dann fuhr sie in geschäftsmäßigem Ton fort: »Ich bin hier, weil ich Ihnen ein paar Fragen zu stellen habe, Sergeant.«

Er paßte sich ihrem Tonfall an. »Ich werde versuchen, sie zu beantworten.«

Obwohl Cynthia Ernst ihm jetzt die kalte Schulter zeigte, erregten ihr Anblick und ihre Stimme ihn noch so wie früher, als sie seine Geliebte gewesen war. Aber dieses erotische, aufregende, provokante Zwischenspiel schien jetzt lange zurückzuliegen.

Ihre Affäre hatte vor fünf Jahren begonnen, als sie beide Detectives im Morddezernat gewesen waren. Als Dreiunddreißigjährige - drei Jahre jünger als Malcolm - war Cynthia schön und begehrenswert gewesen. Jetzt erschien sie ihm noch reizvoller. Und auf seltsame Weise machte Cynthias Kälte, mit der sie ihm begegnete, seit sie sich nach ihrer einjährigen Beziehung getrennt hatten, sie noch anziehender als früher. Cynthias erotische Ausstrahlung war so stark, daß Ainslie selbst in dieser gänzlich unromantischen Umgebung eine beginnende Erektion spürte.

Sie deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und sagte, ohne zu lächeln: »Sie können Platz nehmen.«

Ainslie gestattete sich ein ganz schwaches Lächeln. »Danke, Major.«

Als er sich setzte, war ihm bewußt, daß Cynthia ihre Grenzen im Verhältnis zu ihm sehr klar abgesteckt hatte - auf die Frage unterschiedlicher Dienstgrade reduziert, wobei ihrer jetzt viel höher als seiner war. Nun, das war in Ordnung. Es konnte nie schaden, genau zu wissen, wo man stand. Trotzdem bedauerte er, daß sie ihm keine Gelegenheit gegeben hatte, ihr sein Beileid auszudrücken. Aber Cynthia sah wieder auf das Blatt Papier, das sie gelesen hatte; sie ließ sich Zeit damit, bevor sie es weglegte und ihn ansah.

»Wie ich höre, leiten Sie die Ermittlungen wegen des Mordes an meinen Eltern.«

»Ja, das stimmt.« Er wollte ihr die Bildung der Sonderkommission und die Gründe dafür erklären, aber sie schnitt ihm das Wort ab.

»Das weiß ich alles.«

Ainslie wartete schweigend ab, worauf Cynthia hinauswollte. Eines stand für ihn fest: ihre Trauer war tief und echt. Das verrieten ihre geröteten Augen, und er wußte aus persönlicher Kenntnis, daß die Beziehung zwischen Gustav und Eleanor Ernst und Cynthia, ihrem einzigen Kind, ungewöhnlich eng gewesen war.

Unter anderen Umständen hätte er sie tröstend in die Arme genommen oder auch nur ihre Hand berührt, aber jetzt hütete er sich davor, so etwas zu tun. Abgesehen davon, daß sie seit vier Jahren ihre eigenen Wege gegangen waren, wußte er auch, daß Cynthia sofort ihren undurchdringlichen Schutzschild hervorholen würde, den sie so häufig benutzte, um private Dinge abzublocken, während sie der unduldsame, auf Leistung fixierte Profi wurde, den er so gut gekannt hatte.

In ihrer Zeit als Ainslies Kollegin hatte Cynthia jedoch auch weniger erfreuliche Charakterzüge erkennen lassen. Ihre kompromißlose Geradlinigkeit ließ sie subtile Methoden verachten, obwohl Subtilität ein nützliches Ermittlungsinstrument sein konnte. Sie war bestrebt, Ermittlungen möglichst abzukürzen, auch wenn dadurch die Grenze zwischen legal und illegal überschritten wurde - etwa durch Absprachen mit Kriminellen oder untergeschobenes Beweismaterial, um eine Straftat zu »beweisen«. Als ihr Vorgesetzter hatte Ainslie Cynthias Methoden manchmal beanstandet, obwohl niemand ihre Erfolge kritisieren konnte, die damals auch ein gutes Licht auf ihn geworfen hatten.

Dann hatte es die völlig unprofessionelle, zärtliche, hingebungsvolle, wild sinnliche Cynthia gegeben - eine Seite ihrer Persönlichkeit, die er wohl niemals wieder erleben würde. Er schob diesen Gedanken beiseite.

Sie beugte sich über den Schreibtisch und sagte: »Kommen Sie zur Sache. Ich will hören, was Sie wirklich unternehmen, und erwarte, daß Sie nichts zurückhalten.«

Diese Szene, dachte Ainslie, war eine Wiederholung vieler Dinge, die sich früher ereignet hatten.

Cynthia Ernst war mit siebenundzwanzig Jahren ins Miami Police Department eingetreten. Sie hatte rasch Karriere gemacht weil ihr Vater City Commissioner war, behaupteten böse Zungen. Jedenfalls hatte ihr das ebensowenig geschadet wie die Tatsache, daß Minderheiten- und Frauenrechte neue Prioritäten und Möglichkeiten schufen. Aber wie alle, die sie besser kannten, zugeben mußten, basierte Cynthias Erfolg in Wahrheit auf angeborenen Fähigkeiten, Ehrgeiz und der Bereitschaft zu harter Arbeit, ohne dabei auf die Uhr zu sehen.

Gleich von Anfang an, schon bei dem zehnwöchigen Pflichtlehrgang an der Polizeiakademie, hatte Cynthia sich mit ihrem ausgezeichneten Gedächtnis und ihrer geistigen Beweglichkeit im Umgang mit Problemen hervorgetan. Auch bei der Schießausbildung hatte sie die Trainer durch glänzende Leistungen verblüfft. Nach vier Wochen konnte sie ihre Waffe blitzschnell zerlegen und wieder zusammensetzen, schoß in allen Lagen wie eine Scharfschützin und erzielte nie weniger als zweihundertachtundneunzig von dreihundert möglichen Ringen.

Nach der Ausbildung erwies Cynthia sich als höchst kompetente Polizeibeamtin, an der Vorgesetzte ihre Einsatzbereitschaft, ihre Intelligenz und ihre Fähigkeit zu raschen Entschlüssen schätzten. Diesen Eigenschaften und ihrem Talent, nur angenehm aufzufallen, hatte Cynthia es zu verdanken, daß sie bereits nach nur zwei Jahren im uniformierten Streifendienst zur Mordkommission versetzt wurde.

In der Mordkommission war sie weiter erfolgreich, und dort begegnete sie Malcolm Ainslie, damals ebenfalls noch Detective, der dabei war, seinen guten Ruf als hervorragender Ermittler zu begründen.

Cynthia wurde Ainslies Ermittlerteam zugeteilt, das damals von Detective-Sergeant Felix Foster, einem erfahrenen Kriminalbeamten, geleitet wurde. Nur wenig später wurde Foster zum Lieutenant befördert und in eine andere Abteilung versetzt. Als frischgebackener Sergeant trat Ainslie an seine Stelle.

Aber schon vorher hatten Cynthia und er zusammengearbeitet und fühlten sich zueinander hingezogen - eine gegenseitige Anziehung, die sich nur für kurze Zeit unterdrücken ließ.

Cynthia leitete die Ermittlungen in einem Dreifachmordfall und wurde dabei gelegentlich von Malcolm unterstützt. Um vielversprechenden Hinweisen nachzugehen, flogen die beiden für zwei Tage nach Atlanta. Die Hinweise erwiesen sich tatsächlich als lohnend, und am Abend des ersten anstrengenden, aber erfolgreichen Tages quartierten die beiden sich in einem Motel am Stadtrand ein.

Beim Abendessen in einer kleinen, aber überraschend guten Trattoria sah Malcolm über den Tisch hinweg Cynthia an und fragte mit instinktivem Gespür für den richtigen Augenblick: »Bist du sehr müde?«

»Verdammt müde«, antwortete sie. Dann griff sie nach seiner Hand. »Aber nicht zu müde für das, was wir beide am meisten wollen - und ich meine nicht die Nachspeise.«

Als sie in ihr Motel zurückfuhren, lehnte Cynthia sich zu Malcolm hinüber und kitzelte ihn mit der Zungenspitze am Ohr. »Ich weiß nicht, ob ich so lange warten kann«, gurrte sie dabei. »Kannst du's?« Dann reizte sie ihn mit der Hand, bis er stöhnend in Schlangenlinien die Straße entlangfuhr.

Vor seiner Zimmertür zog er Cynthia an sich und küßte sie zart. »Ich nehme an, daß du mit reinkommen willst.«

»Genauso dringend, wie du willst, daß ich's tue«, antwortete sie neckend.

Das hatte Malcolm hören wollen. Er sperrte auf und schob Cynthia vor sich her. Als die Tür hinter ihnen zufiel, wurde das Zimmer durch von außen hereinfallendes Licht nur schwach erhellt. Malcolm drängte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen Cynthia, die an der Wand neben der Tür stand. Er spürte, wie ihr Atem schneller ging, ihr Körper vor Lust pulsierte. Er atmete den Duft ihres Haars ein und küßte ihren Nacken, während seine rechte Hand über ihre Hüften glitt und in ihrem Slip verschwand.

»O Gott«, flüsterte Cynthia, »ich will dich jetzt!«

»Pst«, sagte Malcolm, dessen Finger feucht und aufreizend war. »Nicht reden. Kein Wort.«

Daraufhin drehte sie sich um - schnell und überraschend -, so daß sie ihm mit dem Rücken zur Wand gegenüberstand. »Hol dich der Teufel, Sergeant«, sagte sie atemlos, bevor sie ihn leidenschaftlich küßte.

Während sie in fliegender Eile ihre Kleidung abstreiften, wurden ihre Küsse drängender. »Wie schön du bist!« flüsterte Malcolm mehrmals. »Gott, wie schön du bist!«

Plötzlich stieß Cynthia ihn rückwärts aufs Bett und schob sich über ihn. »Ich brauch' dich jetzt, Liebster. Laß mich keine Sekunde länger warten.«

Danach ruhten sie sich aus, liebten sich wieder und machten so die ganze Nacht weiter. Obwohl in seinem Kopf ziemliches Chaos herrschte, fiel Malcolm auf, daß Cynthia im Bett die Initiative ergriffen und ihm - ganz überraschend - das Gefühl vermittelt hatte, beherrscht und vereinnahmt zu werden; aber das störte ihn nicht wirklich.

Als Detective-Sergeant hatte Ainslie es in den folgenden Monaten in der Hand, den Dienstplan so zu gestalten, daß Cynthia und er häufig zusammen waren - nicht nur in Miami, sondern gelegentlich auch mit Übernachtungen an anderen Orten. So blieben sie weiter ein heimliches Liebespaar.

Es gab viele Augenblicke, in denen Ainslie sich mit einem Anflug von Schuldbewußtsein an seine Ehe mit Karen erinnerte. Aber Cynthias unersättlicher sexueller Hunger und die Befriedigung, die sie ihm verschaffte, erschienen wichtiger als alles andere.

Wie in Atlanta begann jedes ihrer heimlichen Treffen mit einem endlos langen Kuß, während sie einander auszogen. Dabei entdeckte Malcolm eines Tages Cynthias zweite Pistole in einem Knöchelhalfter unter der langen Hose, die sie wie die meisten Kriminalbeamtinnen im Dienst trug. Ihre normale Dienstwaffe war eine Glock, eine 9mm-Pistole, deren Magazin fünfzehn Schuß Hohlspitzenmunition faßte. Aber diese Waffe, eine winzige verchromte Smith & Wesson, hatte Cynthia sich selbst gekauft.

»Die ist für jeden Angreifer außer dir, Darling«, murmelte sie. Dann steckte sie ihm ihre Zungenspitze ins Ohr. »Im Augenblick ist deine Waffe die einzige, die mich interessiert.«

Eine zusätzliche Pistole - bei der Polizei als »Wegwerfwaffe« bezeichnet - durften Polizeibeamte tragen, wenn sie registriert war und ihr Besitzer sich auf dem Schießstand mit ihr qualifiziert hatte. In Cynthias Fall waren beide Voraussetzungen erfüllt.

Tatsächlich sollte ihre kleine Smith & Wesson sich schon bald auf eine Art nützlich erweisen, an die Malcolm Ainslie sich dankbar erinnerte.

Detective Cynthia Ernst leitete unter Aufsicht von Sergeant Ainslie die Ermittlungen in einem Mordfall, in dem ein Bankangestellter in Miami verdächtigt wurde, er habe die Tat beobachtet, sich aber nicht als Zeuge zur Verfügung gestellt. Cynthia und Ainslie fuhren zu der Großbankfiliale in der Innenstadt, um den potentiellen Zeugen zu befragen. Beim Hineingehen sahen sie, daß dort gerade ein Bankraub mit Geiselnahme stattfand.

Es war kurz vor Mittag; die Schalterhalle war voller Menschen.

Vor kaum drei Minuten hatte der Bankräuber, ein mit einer MP Uzi bewaffneter großer, muskulöser Weißer, einer Kassiererin befohlen, ihren gesamten Bargeldbestand in die Baumwolltasche zu packen, die er ihr über den Schalter zuschob. Nur wenige Leute hatten davon etwas mitbekommen, bis ein Wachmann den Bankräuber bemerkte, seinen Revolver zog und auf ihn zulief. »Sie an der Kasse!« rief er laut. »Weg mit der Waffe!«

Statt zu gehorchen, warf der Bankräuber sich herum und gab einen Feuerstoß aus seiner Uzi ab. Der Wachmann brach zusammen. In der entstehenden Panik brüllte der Bewaffnete: »Dies ist ein Überfall! Niemand bewegt sich, dann passiert keinem was!« Dann griff er über den Schalter, bekam die Kassiererin zu fassen, zerrte sie zu sich heran und klemmte sich ihren Kopf unter den Arm.

In der atemlosen Stille, die nach diesem Ausbruch eintrat, betraten Cynthia und Ainslie die Bank.

Ainslie griff sofort nach dem Schulterhalfter unter seiner Jacke und zog seine 9mm-Glock. Er hielt sie mit beiden Händen umklammert, zielte auf den Bankräuber und rief laut: »Halt, Polizei! Lassen Sie die Frau los! Weg mit der Waffe und Hände hoch, oder ich schieße!«

Gleichzeitig setzte Cynthia sich unauffällig von Ainslie ab, ohne den Mann durch hastige Bewegungen auf sich aufmerksam zu machen. Ihre Hände umklammerten eine kleine, unauffällige Handtasche.

Der Bankräuber hielt die Kassiererin noch fester gepackt und zielte mit der MP auf ihren Kopf. »Weg mit deiner Waffe, Drecksack, sonst erledige ich sie zuerst«, knurrte er Ainslie an. »Los, mach schon! Weg damit! Ich zähl' bis zehn. Eins, zwei... «

Die Kassiererin flehte mit schriller, erstickter Stimme: »Bitte tun Sie, was er sagt! Ich will nicht...« Ihre Stimme erstarb, als der Mann ihr die Kehle zudrückte.

Der Bankräuber zählte weiter: »Drei... vier...«

»Seien Sie vernünftig!« rief Ainslie. »Legen Sie die verdammte Waffe weg! Geben Sie auf!«

»Niemals! Fünf... sechs... Weg mit deiner Waffe, Scheißkerl, sonst knall' ich diese Schlampe bei zehn ab!«

Cynthia, die abseits stand und logisch kühl überlegte, schätzte ihr Schußfeld ab. Sie wußte, daß Ainslie erraten haben mußte, was sie plante, und jetzt mit geringen Erfolgschancen versuchte, Zeit zu gewinnen. Der Geiselnehmer wußte, daß seine Lage aussichtslos war; er würde nicht flüchten können, deshalb war es ihm egal, ob...

Der Mann zählte weiter: »Sieben...«

Ainslie behielt seine Schußposition stur bei. Cynthia wußte, daß er sich jetzt ganz auf sie verließ. In der Schalterhalle herrschte atemlose, gespannte Stille. Natürlich war inzwischen längst stummer Alarm ausgelöst worden. Aber es würde einige Minuten dauern, bis weitere Polizisten eintrafen - und was hätten sie dann tun sollen?

Unmittelbar hinter dem Geiselnehmer war niemand zu sehen.

Er stand Cynthia jetzt fast Auge in Auge gegenüber, ohne jedoch auf sie zu achten, weil er sich völlig auf Ainslie konzentrierte. Seine MP war weiter auf den Kopf der Kassiererin gerichtet; das war eine verdammt gefährliche Situation, aber Cynthia blieb keine andere Wahl. Sie wußte, daß sie nur einen Schuß hatte, der sofort tödlich sein mußte...

»Acht... «

Mit einer schnellen Bewegung öffnete Cynthia den Aufreißsaum ihrer speziell angefertigten Handtasche - ein wirkungsvoller Ersatz für ein Knöchelhalfter. Sie ließ die Ledertasche achtlos fallen, hielt jetzt ihre kleine Pistole in der Hand und riß die chromblitzende Smith & Wesson hoch.

»Neun... «

Sie zielte rasch, hielt den Atem an und drückte ab.

Der scharfe Schußknall ließ alle zusammenzucken. Cynthia ignorierte die Leute, die sie anstarrten; sie hatte nur Augen für den Mann, der jetzt zusammenbrach, während aus einer roten Schußwunde fast genau in der Stirnmitte langsam Blut zu quellen begann.

Ainslie, dessen Waffe auf den Bankräuber gerichtet blieb, ging auf ihn zu, betrachtete die leblose Gestalt und steckte dann seine Pistole weg. Als Cynthia herankam, sagte er grinsend: »Du hast dir verdammt viel Zeit gelassen. Aber trotzdem vielen Dank.«

In der Schalterhalle wurde aufgeregtes Stimmengewirr laut; als die Menschen erkannten, daß die Gefahr vorüber war, brandete Beifall auf, der rasch in spontane Hochrufe auf Cynthia überging. Sie lehnte sich lächelnd an Malcolm, seufzte erleichtert und flüsterte ihm zu: »Ich glaube, dafür schuldest du mir mindestens eine Woche im Bett.«

Ainslie nickte. »Aber wir müssen vorsichtig sein. Du wirst jetzt berühmt.« Und das war sie in den Tagen danach als eine von den Medien groß herausgestellte Heldin tatsächlich.

Erstaunlicherweise liebte Malcolm Ainslie seine Frau Karen in dieser ganzen Zeit mit Cynthia nicht weniger. Es war, als habe er zwei Privatleben: sein Eheleben, das Sicherheit und Beständigkeit darstellte, und ein wildes Abenteuerleben, das unweigerlich irgendwann enden würde. Ainslie dachte nie ernstlich daran, Karen und seinen dreijährigen Sohn Jason zu verlassen.

In dieser Zeit gab es Augenblicke, in denen Ainslie sich fragte, ob Karen etwas von seinem Verhältnis mit Cynthia ahnte oder sogar davon wußte. Irgendein Wort, eine Geste von ihr konnte bewirken, daß er glaubte, sie müsse zumindest einen Verdacht hegen.

Im Verlauf von »Cynthias Jahr« zeigten sich einige Facetten ihres Charakters, die Ainslie unangenehm berührten, ihm manchmal sogar beruflich Unbehagen bereiteten. Sie neigte zu plötzlichem Stimmungswechsel - von heiterer, liebevoller Wärme zu abrupter, eisiger Kälte. In solchen Augenblicken fragte Ainslie sich, was um Himmels willen passiert sein mochte; nach mehreren Erlebnissen dieser Art erkannte er jedoch, daß das nur Cynthias Art war - ein Aspekt ihres Charakters, der immer häufiger und deutlicher hervortrat.

Trotzdem konnte er sich mit solchen Stimmungsschwankungen eher abfinden als mit den beruflichen Bedenken, die ihr Verhalten in ihm weckte.

In seiner Laufbahn als Polizeibeamter hatte Ainslie stets an seinen ethischen Grundsätzen festgehalten - auch im Umgang mit völlig amoralischen Gewohnheitsverbrechern. Manchmal waren gewisse Zugeständnisse denkbar, um Informationen zu erhalten, aber damit war für ihn das Limit schon erreicht. Auf der anderen Seite gab es Kollegen, die mit Straftätern illegale Absprachen trafen, bei ihren Zeugenaussagen logen oder Verdächtigen belastendes Material unterschoben, um eine anders nicht mögliche Verurteilung zu erwirken. Ainslie lehnte solche Winkelzüge für sich selbst und seine Untergebenen strikt ab.

Cynthia schien keine derartigen Skrupel zu haben.

Als Cynthias Vorgesetzter hatte Ainslie den Verdacht, manche ihrer Ermittlungserfolge könnten auf moralisch fragwürdige Weise zustande gekommen sein. Aber er hatte selbst keine Kenntnis davon, und seine Fragen nach ihren angeblich oft rüden Methoden bewirkten nur, daß Cynthia sie nachdrücklich, einmal sogar empört leugnete. Auf einen Fall wurde er jedoch so aufmerksam gemacht, daß er ihn nicht übersehen konnte.

Dieser Fall betraf einen Dieb und Betrüger namens Val Castellon, der erst vor kurzem auf Bewährung aus der Haft entlassen worden war. Cynthia leitete die Ermittlung wegen eines Mordes, und obwohl Castellon nicht als Täter verdächtigt wurde, sollte er Auskunft über einen ehemaligen Mithäftling geben, der als Täter in Frage kam. Bei seiner ersten Vernehmung bestritt Castellon, solche Informationen zu besitzen, und Ainslie neigte dazu, ihm zu glauben. Cynthia war jedoch anderer Meinung.

Bei einer weiteren Vernehmung, die Cynthia allein durchführte, drohte sie Castellon, falls er sich weigerte, die gewünschte Aussage zu machen, werde sie dafür sorgen, daß er mit Drogen in der Tasche aufgegriffen werde. Für Castellon lagen die Folgen auf der Hand: Widerruf seiner Entlassung auf Bewährung, Fortdauer der Haft und erneute Verurteilung wegen Verstoßes gegen seine Bewährungsauflagen. Einem Verdächtigen Drogen in die Tasche zu schmuggeln und sie dann angeblich bei ihm zu finden, war ein simpler Polizeitrick, der nur allzu häufig angewandt wurde.

Ainslie erfuhr von Cynthias Erpressungsversuch durch Sergeant Hank Brewmaster, der diese Geschichte von einem seiner Spitzel gehört hatte, der mit Castellon befreundet war. Als er Cynthia fragte, ob das wahr sei, gestand sie ihre allerdings noch nicht wahrgemachte Drohung ein.

»Und dazu kommt's auch nicht«, erklärte er ihr. »Ich wäre dafür verantwortlich, und ich lasse so etwas nicht zu.«

»Unsinn, Malcolm!« sagte Cynthia. »Der Kerl landet sowieso wieder hinter Gittern. Ich beschleunige diesen Vorgang nur ein bißchen.«

»Begreifst du das denn nicht?« fragte er ungläubig. »Die Gesetze, denen wir Geltung verschaffen müssen, sind auch von uns einzuhalten.«

»Und du bist muffig wie dieses alte Kissen.« In dem Motelzimmer, das sie sich an diesem verregneten Nachmittag genommen hatten, warf Cynthia vom Bett aus eines nach ihm. Gleichzeitig ließ sie sich zurücksinken, spreizte aufreizend ihre Beine und fragte: »Ist deine Begierde etwa legal? Schließlich sind wir beide im Dienst.«

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Er trat ans Bett, ließ seine Jacke von den Schultern gleiten und riß sich die Krawatte vom Hals. Cynthia drängte plötzlich: »Schnell, beeil dich! Steck deinen herrlich großen illegalen Schwanz in mich rein!«

Wie schon so oft, fühlte Ainslie sich willenlos, als er mit ihr verschmolz, und zugleich verlegen und von Cynthias derber Ausdrucksweise sogar abgestoßen. Aber auch das gehörte zu ihrer sexuellen Aggressivität, die ihre heimlichen Zusammenkünfte von Mal zu Mal aufregender machte.

Unterdessen war nicht mehr von Val Castellon die Rede, obwohl Ainslie dieses Thema später erneut anschneiden wollte, was er allerdings nie tat. Er erfuhr auch nie, wie die fehlenden Informationen letztlich doch beschafft worden waren, sondern nur, daß Cynthia - und damit auch er selbst - einen weiteren Triumph als Ermittlerin verzeichnen konnte.

Ainslie überzeugte sich jedoch davon, daß Castellon nicht wegen Drogenbesitzes angeklagt und seine Entlassung auf Bewährung nicht widerrufen wurde. Irgendwie schien Cynthia sich seine Warnung also doch zu Herzen genommen zu haben.

Auch etwas anderes bereitete Ainslie Unbehagen. Im Gegensatz zu den meisten Polizeibeamten schien Cynthia sich in Gesellschaft von Kriminellen wohl zu fühlen und verkehrte in Bars unbefangen, geradezu freundschaftlich mit ihnen. Auch ihre Einstellung gegenüber Gesetzesbrechern unterschied sich von der Ainslies. Während er seine Arbeit - vor allem die Aufklärung von Morden - für moralisch hochwertig hielt, war Cynthia anderer Meinung und forderte ihn einmal auf: »Sieh der Realität doch ins Auge, Malcolm! Hier konkurrieren Straftäter, Polizei und Anwälte. Wer zuletzt gewinnt, hängt davon ab, wie clever der Anwalt und wie reich sein Mandant ist. In diesem Spiel sind deine sogenannten moralischen Prinzipien chancenlos.«

Ainslie war keineswegs beeindruckt. Ausgesprochen unglücklich war er, als er später erfuhr, wer Cynthias regelmäßiger Begleiter bei ihren Bar- und Restaurantbesuchen war: Patrick Jensen, ein erfolgreicher Romanautor und Lebemann aus Miami, der jedoch einen denkbar schlechten Ruf hatte - vor allem bei der Polizei.

Jensen, ein ehemaliger Fernsehjournalist, hatte zahlreiche Kriminalromane geschrieben, die weltweit zu Bestsellern wurden, und damit bis zu seinem neununddreißigsten Lebensjahr angeblich zwölf Millionen Dollar verdient. Manche Leute behaupteten, der Erfolg sei ihm zu Kopf gestiegen, und Jensen habe sich in einen frechen, arroganten, oft gewalttätigen Schürzenjäger verwandelt. Seine zweite Frau Naomi, von der er längst wieder geschieden war, hatte ihn mehrfach angezeigt, weil er sie verprügelt hatte, aber alle Anzeigen wieder zurückgezogen, bevor Anklage erhoben werden konnte. Nach der Scheidung hatte Jensen mehrmals versucht, sich wieder mit ihr zu versöhnen, aber seine Exfrau hatte sich nicht darauf eingelassen.

Dann wurde Naomi Jensen ermordet aufgefunden - mit einem Geschoß Kaliber 38 in der Kehle. Neben ihr lag ihr Liebhaber, der junge Musiker Kilburn Holmes; er war mit derselben Waffe erschossen worden. Nach Zeugenaussagen war es am Morgen vor der Tat vor Naomis Haus zu einem erbitterten Streit zwischen den geschiedenen Ehepartnern gekommen, bei dem Naomi verlangt hatte, Jensen solle sie in Ruhe lassen, und angekündigt hatte, sie werde bald wieder heiraten.

Patrick Jensen wurde natürlich verdächtigt, und die Ermittlungen der Mordkommission ergaben, daß er Gelegenheit zur Tat gehabt und kein Alibi hatte. Ein in der Nähe der Ermordeten gefundenes Taschentuch war mit anderen aus Jensens Besitz identisch; daß es wirklich ihm gehörte, ließ sich jedoch nicht beweisen. Aber ein winziges Stück Papier in Holmes' Hand paßte zu einem anderen Stück Papier, das in Jensens Garage sichergestellt wurde. Und dann entdeckten die Ermittler, daß Jensen zwei Wochen vor der Tat einen Revolver Smith & Wesson Kaliber 38 gekauft hatte. Aber der Revolver war angeblich verlorengegangen, und die Tatwaffe blieb verschwunden.

Trotz intensivster Bemühungen fand Sergeant Pablo Greenes Ermittlerteam kein weiteres Belastungsmaterial, und das vorliegende reichte für eine Anklageerhebung nicht aus.

Das wußte auch Patrick Jensen.

Detective Charlie Thurston, der die Ermittlungen leitete, berichtete den Sergeants Greene und Ainslie: »Ich bin heute bei diesem arroganten Scheißer Jensen gewesen, um ihm weitere Fragen zu stellen, aber der Dreckskerl hat nur gelacht und mich aufgefordert, ich solle verschwinden.« Thurston, ein erfahrener Kriminalbeamter, war sonst zurückhaltend und geduldig, aber nach dieser Abfuhr kochte er noch immer vor Wut.

»Der Schweinehund weiß, daß wir wissen, daß er's gewesen ist«, fuhr er fort, »und sagt praktisch: >Na wenn schon, beweisen könnt ihr's mir nie!<«

»Soll er nur lachen«, sagte Greene. »Vielleicht lachen wir zuletzt.«

Aber Thurston schüttelte den Kopf. »Ich glaub's nicht. Er schreibt bestimmt ein Buch darüber und kassiert dafür wieder 'ne Million.«

In gewisser Beziehung behielt Thurston recht. Jensen konnte nicht nachgewiesen werden, daß er Naomi und ihren Liebhaber ermordet hatte, und er schrieb einen Kriminalroman, in dem die Beamten einer Mordkommission als unfähige Tölpel hingestellt wurden. Aber das Buch wurde kein Erfolg, und als auch das nächste beim Publikum durchfiel, schienen Patrick Jensens Tage als Bestsellerautor gezählt zu sein. Gleichzeitig tauchten Gerüchte auf, Jensen habe durch riskante Geldanlagen den größten Teil seiner Millionen verloren und sei auf der Suche nach anderen Einnahmequellen. Ein weiteres Gerücht besagte, Patrick Jensen habe seit langem ein Verhältnis mit Detective Cynthia Ernst.

Ainslie schenkte dem zweiten Gerücht keinen Glauben. Erstens konnte er sich nicht vorstellen, daß Cynthia angesichts der Tatsache, daß Patrick Jensen als Mörder verdächtigt wurde, so töricht sein würde, und zweitens fand er es unvorstellbar, daß Cynthia gleichzeitig zwei Affären haben könnte, zumal ihre intensive Beziehung sie völlig in Anspruch nahm.

Trotzdem sprach er sie auf Patrick Jensen an, als er glaubte, seinen Namen wie beiläufig erwähnen zu können. Aber Cynthia ließ sich wie üblich nicht täuschen.

»Bist du eifersüchtig?« fragte sie.

»Auf Patrick Jensen? Darauf kannst du lange warten!« Er zögerte, bevor er hinzufügte: »Müßte ich's denn sein?«

»Patrick bedeutet mir nichts«, versicherte sie ihm. »Dich will ich, Malcolm - und ich will dich für mich allein haben. Ganz für mich allein! Ich hab' keine Lust mehr, dich mit jemandem teilen zu müssen.« Die beiden saßen in einem neutralen Dienstwagen, den Cynthia fuhr. Ihre letzten Worte klangen wie ein Befehl.

Ainslie war so verblüfft, daß er impulsiv fragte: »Willst du damit sagen, wir sollten heiraten?«

»Malcolm, darüber reden wir, wenn du frei bist. Dann überleg' ich's mir.«

Typisch Cynthia, dachte er, denn im vergangenen Jahr hatte er sie gründlich kennengelernt. Wäre er frei gewesen, hätte sie ihn wahrscheinlich benutzt, bis zum letzten ausgepreßt und dann weggeworfen. Für Cynthia gab es keine auf Dauer angelegte Beziehung; das hatte sie von Anfang an unmißverständlich klargemacht.

Nun war es soweit. Ainslie wußte, daß in diesem entscheidenden Augenblick eine Auseinandersetzung unvermeidlich war. Er wußte, daß seine Antwort Cynthia nicht gefallen würde, und ahnte, daß sich ihr Zorn wie ein Vulkan entladen würde. Trotzdem hatte er nicht vor, sich von Karen zu trennen, um vielleicht Cynthia heiraten zu können.

Sie waren auf einer ruhigen Wohnstraße unterwegs. Als ahne Cynthia, was kommen würde, hielt sie am Bordstein an.

Sie sah zu ihm hinüber. »Also?«

Er griff nach ihrer Hand und sagte zärtlich: »Mein Liebling, was wir erlebt haben, ist zauberhaft, einfach herrlich gewesen, und ich werde dir dafür immer dankbar sein. Aber ich muß dir etwas sagen... Ich kann nicht so weitermachen, wir müssen uns trennen.«

Er hatte einen wütenden Ausbruch erwartet. Aber der blieb aus. Statt dessen lachte sie. »Das soll wohl ein Witz sein?«

»Nein«, antwortete er nachdrücklich.

Sie saß eine Zeitlang stumm neben ihm und starrte aus ihrem Seitenfenster. Dann sagte sie mit eisiger Ruhe, ohne zu ihm hinüberzusehen: »Das wirst du bereuen, Malcolm, das verspreche ich dir - du wirst's für den Rest deines jämmerlichen Lebens bereuen.«

Er seufzte. »Vielleicht hast du recht. Das muß ich leider riskieren.«

Plötzlich starrte sie ihn mit vor Wut funkelnden Augen, in denen Tränen standen, an. Ihre geballten Fäuste zitterten. »Du Schwein!« kreischte sie.

Danach sahen sie sich nur noch selten. Das lag auch daran, daß Cynthia wenige Tage später zum Sergeant befördert wurde. Sie hatte vor einigen Wochen die Prüfung für den höheren Dienst abgelegt und von sechshundert Kandidaten das drittbeste Ergebnis erzielt.

Nach ihrer Beförderung wurde sie aus der Mordkommission als Teamleiterin zum Sittendezernat versetzt. Dort leitete sie ein Team aus fünf Kriminalbeamten, das Vergewaltigungen, Vergewaltigungsversuche, sexuelle Belästigungen und Belästigungen durch Spanner aufzuklären hatte; das war ein weites Feld, auf dem Cynthia überragend erfolgreich war. Wie in der Mordkommission entwickelte sie ein besonderes Talent dafür, Ermittlungen mit Hilfe eines Netzwerks aus Kontaktleuten und Spitzeln voranzutreiben. Als geborene Führungspersönlichkeit schonte sie weder ihre Leute noch sich selbst und konnte mit der Verhaftung eines wegen fünfzehn Vergewaltigungen gesuchten Triebtäters, der Miami zwei Jahre lang terrorisiert hatte, frühzeitig einen großen Erfolg verbuchen.

Auch aus diesem Grund und wegen einer glanzvoll bestandenen weiteren Laufbahnprüfung wurde Cynthia zwei Jahre später zum Lieutenant befördert und wechselte als Stellvertreterin des Leiters in die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit über. In dieser Funktion verfaßte sie Pressemitteilungen, nahm an Bürgerversammlungen teil, hielt Vorträge vor kommunalen Vereinigungen und verbreitete insgesamt ein überzeugend positives Image des Miami Police Departments.

Das alles machte Polizeipräsident Farrell Ketledge auf sie aufmerksam, und als Cynthias Vorgesetzter unerwartet starb, ernannte der Chief sie zu seinem Nachfolger. Und da gute Öffentlichkeitsarbeit zunehmend wichtiger wurde, beschloß Chief Ketledge, sie solle in Zukunft von einem Polizeimajor geleitet werden. So erreichte Cynthia diesen hohen Dienstposten, ohne jemals Captain gewesen zu sein.

Unterdessen war Ainslie noch immer Sergeant, was teilweise auch auf das Karrierehindernis zurückzuführen war, daß er zu einer Zeit, in der Frauen und Angehörige von Minderheiten bevorzugt befördert wurden, ein Mann und ein Weißer war. Aber er hatte die Laufbahnprüfung zum Lieutenant mit Auszeichnung bestanden und rechnete damit, demnächst befördert zu werden. Aus praktischer Sicht würde sein Jahresgehalt von zweiundfünfzigtausend Dollar, das er als Sergeant bezog, dadurch um willkommene zehntausendvierhundert Dollar steigen.

Ließ der finanzielle Druck etwas nach, konnten Karen und er mehr reisen, öfter Jazz- und Kammerkonzerte besuchen, häufiger zum Essen ausgehen und ganz allgemein ihre Lebensqualität verbessern. Seit Ainslie sein Verhältnis mit Cynthia beendet hatte, war er entschlossener denn je, ein treusorgender Ehemann zu sein.

Dann bekam er einen Anruf von Captain Ralph Leon aus der Personalabteilung. Ainslie und Leon kannten sich von der Polizeiakademie her, wo sie gemeinsam gelernt hatten und gute Freunde geworden waren. Leon war ein Schwarzer und gut qualifiziert - daher hatte die Minderheitenförderung seinen Aufstieg nicht beeinträchtigen können.

Am Telefon hatte Leon nur gesagt: »Malcolm, wir müssen uns auf einen Kaffee treffen.« Er nannte einen Tag, eine Uhrzeit und als Treffpunkt ein Cafe in Little Havana - weit vom Polizeipräsidium entfernt.

Vor dem Cafe lächelten sie sich zu und begrüßten sich mit kräftigem Händedruck. Leon, der statt seiner gewohnten Uniform ein Sportsakko und eine Gabardinehose trug, öffnete die Tür und ging zu einer ruhigen Sitznische voraus. Er war ein schlanker Mann, gewissenhaft und methodisch, und wählte seine Worte sorgfältig, bevor er zu sprechen begann. »Malcolm, dieses Gespräch hat nie stattgefunden.«

Sein Blick stellte eine Frage, die Ainslie mit einem Nicken beantwortete. »Okay, ich verstehe.«

»In der Personalabteilung hört man vieles, was...« Leon machte eine Pause. »Hol's der Teufel, Malcolm, ich will dir reinen Wein einschenken. Bleibst du Cop in Miami, wirst du dein Leben lang nicht mehr befördert. Du wirst niemals Lieutenant oder erreichst irgendeinen Dienstgrad, der höher als dein jetziger ist. Das ist unfair, und ich find's empörend, aber aus alter Freundschaft wollte ich's dich wissen lassen.«

Ainslie, der wie vor den Kopf geschlagen war, saß schweigend da.

Leons Stimme klang emotionaler. »Schuld daran ist Major Ernst. Sie macht dich überall schlecht, blockiert deine Beförderung. Ich weiß nicht, warum, Malcolm; vielleicht weißt du mehr. Aber wenn du's weißt, behalt's bitte für dich.«

»Mit welcher Begründung blockiert sie meine Beförderung? Meine Personalakte ist einwandfrei, meine Beurteilungen sind immer sehr gut gewesen.«

»Ihre Gründe sind trivial, das weiß jeder. Aber als Major - vor allem in ihrer Stellung - hat sie viel Einfluß, und wer in unserem Laden einen mächtigen Feind hat, zieht immer den kürzeren. Du weißt ja, wie das ist.«

Das wußte Ainslie, aber aus Neugier fragte er doch: »Was wirft man mir vor?«

»Pflichtversäumnisse, Faulheit, schlampige Arbeit.«

Unter anderen Umständen hätte Ainslie vermutlich gelacht.

»Sie muß sämtliche gottverdammten Akten durchforstet haben«, berichtete Leon. Er erwähnte einige Punkte. Beispielsweise auch die Tatsache, daß Ainslie einmal einen angesetzten Verhandlungstermin versäumt hatte.

»Daran erinnere ich mich noch gut. Auf der Fahrt zum Gericht ist über Funk ein Mord auf dem Freeway gemeldet worden. Wir haben den Täter verfolgt und geschnappt; er ist später verurteilt worden. Am selben Tag habe ich den Richter aufgesucht, ihm die Umstände geschildert und mich für mein Nichterscheinen entschuldigt. Er ist so nett gewesen, die Verhandlung neu anzusetzen.«

»Leider ist im Protokoll nur dein Fehlen vermerkt. Das habe ich kontrolliert.« Leon zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Hemdtasche. »Du bist mehrmals zu spät zum Dienst gekommen, hast Besprechungen versäumt.«

»Jesus, das passiert doch jedem mal! Bei uns gibt's keinen, der das nicht kennt - ein Notruf, auf den man reagiert, während das Büro warten muß. Ich kann mich nicht mal an einzelne Fälle erinnern.«

»Ernst hat sich daran erinnert und die entsprechenden Unterlagen gefunden.« Leon sah auf seinen Zettel. »Ich hab' dir gesagt, daß ihre Gründe trivial sind. Willst du noch mehr hören?«

Ainslie schüttelte den Kopf. Beweglichkeit, schnelle Entscheidungen und flexible Reaktionen auf das Unerwartete gehörten zum Dienstalltag der Polizei, vor allem der Mordkommission. Vom Verwaltungsstandpunkt aus waren die Ergebnisse nicht immer vorschriftsmäßig, aber das gehörte zu diesem Job. Das wußte jeder, natürlich auch Cynthia.

Aber auch Ainslie wußte etwas - nämlich daß er nichts dagegen unternehmen konnte. Cynthia hatte den Dienstgrad und vor allem den nötigen Einfluß; sie hielt alle Trümpfe in der Hand. Er erinnerte sich an ihre Drohung beim Abschied. Nun, sie hatte ihr Versprechen gehalten.

»Verdammt«, murmelte Ainslie und starrte trübsinnig auf die Straße hinaus.

»Tut mir leid, Malcolm. Das ist wirklich Pech.«

Ainslie nickte. »Ich bin dir dankbar, daß du's mir erzählt hast, Ralph. Von diesem Gespräch erfährt niemand etwas.«

Leon betrachtete die karierte Tischdecke. »Das kommt mir jetzt nicht mehr so wichtig vor.« Er hob den Kopf. »Bleibst du trotzdem dabei?«

»Ich denke schon.« Vor allem wegen der fehlenden Alternativen, sagte er sich.

Und letztlich blieb er auch dabei.

Nach diesem Gespräch mit Ralph Leon fiel Ainslie eine andere Unterhaltung ein: Er erinnerte sich an ein kurzes, unerwartetes Gespräch, das Mrs. Eleanor Ernst, Cynthias Mutter, vor einigen Monaten mit ihm geführt hatte.

Im allgemeinen verkehren Polizeisergeants nicht in Kreisen, in denen sie den Spitzen der Stadtverwaltung oder ihren Ehepartnern begegnen; zu dieser Begegnung kam es jedoch, als ein Vorgesetzter Ainslies, der in den Ruhestand trat, ein Abschiedsessen gab, an dem auch Commissioner Ernst mit seiner Frau teilnahm. Ainslie kannte Mrs. Ernst vom Sehen; sie war ihm immer als sehr zurückhaltend erschienen - sehr elegant, aber etwas schüchtern. Deshalb war er überrascht, als sie beim Stehempfang vor dem Dinner mit einem Weinglas in der Hand auf ihn zukam.

Sie fragte mit leiser Stimme: »Sie sind Sergeant Ainslie, nicht wahr?«

»Ja, der bin ich, Ma'am.«

»Soviel ich weiß, sind Sie und meine Tochter nicht mehr -wie soll ich's ausdrücken? - miteinander befreundet. Ist das richtig?« Als sie sah, daß Ainslie zögerte, fügte sie hinzu: »Oh, keine Angst, ich erzähle nichts weiter. Aber Cynthia ist manchmal nicht sehr verschwiegen.«

Er wußte nicht recht, was er sagen sollte. »Ich sehe Cynthia praktisch gar nicht mehr.«

»Aus dem Mund einer Mutter mag das ungewöhnlich klingen, Sergeant, aber es hat mir leid getan, das zu hören. Ich glaube, Sie haben einen guten Einfluß auf Cynthia gehabt. Sagen Sie, haben Sie sich freundschaftlich oder anders getrennt?«

»Anders.«

»Schade.« Mrs. Ernst sprach noch leiser. »Ich sollte das vermutlich nicht sagen, aber ich möchte Ihnen etwas erzählen, Sergeant Ainslie. Glaubt Cynthia, ihr sei Unrecht geschehen, vergißt sie niemals, verzeiht niemals. Nur eine Warnung, die Sie beherzigen sollten. Guten Abend.«

Mrs. Ernst verschwand mit ihrem Weinglas in der Hand zwischen den anderen Gästen.

Nun hatten Eleanor Ernsts prophetische Worte ihre Bestätigung gefunden. Captain Ralph Leon war der Unglücksbote gewesen, und Ainslie würde - anscheinend für immer - Cynthias Preis bezahlen müssen.

Nach so langer Zeit, so vielen Ereignissen, so vielen Intrigen und so vielen Veränderungen für sie beide saßen Malcolm Ainslie und Cynthia Ernst sich jetzt in Lieutenant Newbolds Büro gegenüber.

»Kommen Sie zur Sache«, hatte Cynthia in bezug auf die Ermordung ihrer Eltern verlangt. »Ich will hören, was Sie wirklich tun, und erwarte, daß Sie nichts zurückhalten.«

»Wir haben eine Liste der Verdächtigen zusammengestellt, die überwacht werden sollen. Ich sorge dafür, daß Ihnen ein Exemplar... «

»Ich habe sie bereits.« Cynthias Hand berührte einen vor ihr auf dem Schreibtisch liegenden Ordner. »Steht auf dieser Liste ein Hauptverdächtiger?«

»Robinson könnte in Frage kommen. Verschiedene Aspekte scheinen zu passen, aber für einen konkreten Verdacht ist's noch zu früh. Die Überwachung müßte uns weitere Hinweise liefern.«

»Sind Sie der Überzeugung, daß diese Morde von einem einzigen Täter verübt worden sind?«

»Davon sind eigentlich alle überzeugt.« Ainslie hielt seine eigenen Zweifel für zu unwichtig, um sie zu erwähnen.

Weitere Fragen folgten, und Ainslie bemühte sich, so gut es eben ging, Cynthia trotz ihrer Unnahbarkeit durch seine Antworten sein Mitgefühl auszudrücken. Gleichzeitig war er sehr auf der Hut. Daran war Cynthia schuld, denn er wußte aus leidvoller Erfahrung, daß sie jegliche Informationen so verwendete, wie es ihr gerade paßte.

Gegen Ende dieser Befragung sagte sie: »Wie ich höre, haben Sie mehrere an den Tatorten aufgefundene Gegenstände mit Bibelzitaten in Verbindung gebracht.«

»Ja, überwiegend aus der Offenbarung.«

»Überwiegend?«

»Exakte Hinweise gibt es nicht. Es ist schwierig, sich in die Überlegungen eines Täters hineinzuversetzen, die widersprüchlich sein können. Aber diese Hinweise haben uns auf die Spur der Leute gebracht, die wir jetzt überwachen.«

»Ich wünsche, daß Sie mich über alle neuen Entwicklungen auf dem laufenden halten. Sie erstatten mir täglich telefonisch Bericht.«

»Entschuldigung, Major, aber das müßten Sie erst mit Lieutenant Newbold klären.«

»Das habe ich bereits getan. Er hat meine Anweisungen. Sie haben jetzt Ihre. Halten Sie sich bitte daran.«

Nun, sagte er sich, mit ihrem Dienstgrad kann Major Cynthia Ernst solche Anweisungen geben, auch wenn sie sich damit strenggenommen außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs bewegt.

Aber daraus folgt noch längst nicht, daß sie absolut lückenlos informiert werden muß, nicht einmal über die Morde an ihren Eltern.

Ainslie stand auf, trat näher an den Schreibtisch und sah auf Cynthia herab. »Major, ich werde mein Bestes tun, um Sie auf dem laufenden zu halten, aber als Leiter der Sonderkommission habe ich vor allem die Pflicht, diese Mordserie aufzuklären.« Er wartete, bis sie zu ihm aufsah, bevor er hinzufügte: »Nichts ist mir wichtiger als dieser Auftrag.«

Sie schien etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber doch. Ainslie trat wieder einen Schritt zurück. Ja, Cynthia stand im Dienstgrad hoch über ihm und konnte ihm dienstlich praktisch alles befehlen. Aber auf persönlicher Ebene, das hatte er sich fest vorgenommen, würde er sich nicht von ihr herumkommandieren lassen. Niemals.

Tatsache war, daß er Cynthia nicht traute und sie eigentlich kaum noch mochte. Er ahnte die Existenz von Dingen, die sie nicht preisgab, hatte aber keine Vorstellung davon, worum es sich dabei handelte und wie sie mit seinen Ermittlungen in bezug auf die Serienmorde zusammenhängen könnten. Aus zuverlässiger Quelle in ihrer Abteilung wußte er, daß Cynthia wie früher mit zweifelhaften Methoden arbeitete und mit dubiosen Gestalten verkehrte, vor allem mit dem Schriftsteller Patrick Jensen.

Jensen wurde weiterhin von der Miami Police überwacht. Gerüchte wollten von einer Verbindung zwischen Jensen und einer Drogenhändlerbande wissen, gegen die im Zusammenhang mit dem sogenannten Rollstuhlmord ermittelt wurde. Der Ermordete, ein Querschnittsgelähmter, dem die Polizei wertvolle Hinweise verdankte, war eines Nachts gefesselt und geknebelt in das einsame Wattengebiet südlich von Homestead geschoben worden. Sein Rollstuhl war mit Ketten und Gewichten auf dem Meeresboden verankert worden, so daß der Mann bei hereinkommender Flut ertrunken war.

Das alles hatte natürlich nichts mit Major Cynthia Ernst zu tun...

Sie nickte leicht. »Das war's vorerst, Sergeant. Sie können gehen.«

8

»Von allen Einsätzen für uns Cops«, meinte Detective Charlie Thurston, »sind Observationen garantiert die beschissensten.«

»Ich steh' auch nicht drauf«, bestätigte Bradford Andrews. »Und dieser verdammte Regen macht's nicht besser.«

Thurston von der Mordkommission und Andrews aus dem Raubdezernat saßen zur Tarnung in einem Servicewagen des Stromkonzerns Florida Power & Light. Sie hatten den Auftrag, Carlos Quinones zu überwachen - einen der insgesamt sechs wegen der Serienmorde verdächtigten Männer, deren Namen der Computer ausgespuckt hatte.

Die Polizei besaß zahlreiche Fahrzeuge für Überwachungszwecke. Dazu gehörten Taxis, Servicewagen von Telefongesellschaften, Werkstattfahrzeuge von Gas-, Wasser-und Stromversorgern, Lieferwagen und sogar Paketwagen. Manche hatte sie den jeweiligen Betreibern abgekauft oder von ihnen gespendet bekommen. Andere Fahrzeuge, die bei Razzien gegen Drogenhändler beschlagnahmt worden waren, hatten Gerichte ihr zugesprochen. Der bei Überwachungen wie im Fall Quinones eingesetzte Fahrzeugtyp wechselte täglich.

Die beiden Kriminalbeamten, beide Anfang Dreißig, parkten seit fast drei Stunden vor Quinones' Apartment in einem heruntergekommenen Wohnblock in dem inoffiziell als Liberty City bekannten Stadtteil.

Es war schon fast neunzehn Uhr, und Brad Andrews gähnte vor Langeweile. Andrews hatte eine Vorliebe für Action, aber Observationen boten häufig genau das Gegenteil. Man mußte stundenlang in geparkten Wagen herumhocken und aus dem Fenster starren, ohne daß etwas passierte. Auch bei gutem Wetter war es schwer, sich auf den Auftrag zu konzentrieren, ohne in Gedanken bei anderen Dingen zu sein: was es heute zum Abendessen geben würde, Sport, Sex, eine überfällige Hypothekenzahlung...

Starker Regen, der vor einer Stunde eingesetzt hatte, erschwerte es den Kriminalbeamten, deutlich zu sehen, was draußen vor sich ging, aber das Einschalten der Scheibenwischer hätte nur verraten, daß hier jemand beobachtet wurde. Auch das monotone Geräusch der Regentropfen auf dem Wagendach war nicht gerade motivierend; es war ein einschläferndes Trommeln, das die Männer sanft einlullte.

»Wach auf, Mann!« sagte Thurston warnend, als er Andrews' Gähnen sah.

»Ich versuch's schon«, sagte Brad Andrews und setzte sich auf. Als erfahrener Kriminalbeamter gehörte er zu den Leuten, die das Raubdezernat für Observationen abgestellt hatte. Um sein Familienleben etwas zu stabilisieren, hatte Andrews, der früher bei der Mordkommission gewesen war, sich zum Raubdezernat versetzen lassen, wo weniger Überstunden anfielen. Jetzt arbeitete er vorübergehend wieder mit den alten Kollegen zusammen.

Die Sonderkommission bestand aus vierundzwanzig Personen: den Sergeants Ainslie und Greene, ihren beiden Teams aus je vier Kriminalbeamten und zwölf weiteren Beamten aus dem Raubdezernat. Dazu kamen zwei Ermittler der Staatsanwaltschaft, die sich ebenfalls an Observationen beteiligten.

»Hey, da ist unser Mann!« sagte Andrews. »Kaum zu glauben, aber er kämmt sich schon wieder.«

Quinones, ein stämmiger Hispanic mit dunklem Teint, hatte ein breites Grinsen und dichtes, gewelltes Haar, das er sich in den zweieinhalb Tagen, in denen Thurston und Andrews ihn nun schon beobachteten, mindestens drei Dutzend Male gekämmt haben mußte. Sein Strafregister enthielt zahlreiche Vorstrafen wegen Körperverletzung, Vergewaltigung und Raubüberfällen mit Gewaltanwendung.

Jetzt stieg er mit einem vollbärtigen Unbekannten in seinen verbeulten gelben 78er Chevrolet und fuhr davon. Die beiden Kriminalbeamten folgten ihnen mit ihrem Werkstattwagen der Florida P & L, in dem Andrews am Steuer saß.

Quinones fuhr ohne Umweg zum Highway 836, einer verkehrsreichen Schnellstraße. Auf dem nach Westen in Richtung Miami International Airport führenden Streckenteil rammte er nacheinander mehrere Wagen vo n hinten - offenbar mit der Absicht, ihre Fahrer zum Anhalten zu provozieren, um sie dann auszurauben.

»Scheiße!« sagte Thurston unwillig, während sie das beobachteten. »Am liebsten würd' ich die beiden Dreckskerle verhaften.«

Andrews nickte. »Yeah, vielleicht müssen wir das sowieso noch.«

Die beiden Kriminalbeamten steckten in einem Dilemma. Sie sollten Quinones als möglichen Serienmörder beschatten, aber falls eines der gerammten Autos stehenblieb, waren sie verpflichtet, zum Schutz der Insassen einzugreifen. Allerdings hielt keiner der Fahrer an - zweifellos wegen der vielen von der Polizei und den Medien verbreiteten Warnungen vor genau dieser Gefahr.

Zur Erleichterung der Kriminalbeamten hörten diese Rammversuche nach einiger Zeit wieder auf, als habe Quinones sein Vorhaben aufgegeben.

Der gelbe Chevy fuhr an der Northwest 57th Avenue von der Schnellstraße ab, bog in den Westen von Little Havana ab und hielt vor einem 7-Eleven Store, wo der Vollbärtige ausstieg. Danach fuhr Quinones allein zum Miami- Dade Community College zwischen Southwest 107th Avenue und 104th Street weiter. Das war eine lange, eintönige Fahrt, die fast eine Stunde dauerte, und Andrews, der weiter am Steuer ihres getarnten Wagens saß, blieb so weit zurück, wie es möglich war, ohne den Chevy aus den Augen zu verlieren.

Inzwischen war es 20.30 Uhr. Quinones stand in Sichtweite der junge n Männer und Frauen, die aus Abendvorlesungen kamen oder zu welchen gingen, auf dem Collegeparkplatz. Die Kriminalbeamten beobachteten, wie einige Studentinnen sich abrupt umdrehten, als sie an dem gelben Chevy vorbeikamen.

Quinones hatte ihnen offenbar etwas zugerufen, aber keine der Frauen blieb stehen.

Thurston beugte sich nach vorn und murmelte: »Dieser Kerl hat Vorstrafen wegen Körperverletzung und Vergewaltigung. Ob er hier... «

Während er das sagte, stieg Quinones aus und folgte einer jungen Blondine in einen anderen Teil des Parkplatzes.

»Los, hinterher!« Thurston und Andrews sprangen aus ihrem Wagen.

Quinones war bis auf sieben, acht Meter an die junge Frau herangekommen, als sie ihren roten Honda erreichte, hineinsprang, den Motor anließ und davonfuhr. Quinones lief zu seinem eigenen Wagen zurück, ohne die Kriminalbeamten zu sehen, die ebenfalls zu ihrem Fahrzeug zurückrannten.

Als die Blondine mit ihrem Auto an Quinones Chevy vorbeikam, fuhr er ebenfalls an. Die Kriminalbeamten folgten jetzt beiden Wagen.

»Paß bloß auf, daß der Hundesohn uns nicht abhängt«, warnte Thurston seinen Kollegen. »Falls er unser Mann ist, darf er nicht wieder zuschlagen.«

Andrews nickte wortlos. Er blieb jetzt dichter hinter dem gelben Chevy, weil er vermutete, daß Quinones sich bestimmt auf den roten Honda vor ihm konzentrierte. Die drei Fahrzeuge waren bei schwachem Verkehr auf der Southwest 107th Avenue nach Norden unterwegs, als der Honda plötzlich ohne Blinker nach rechts auf die Southwest Eighth Street, den Tamiami Trail, abbog. Quinones, den dieses Abbiegemanöver überraschte, bremste scharf, rutschte weit in die Kreuzung hinein und nahm mit quietschenden Reifen die Verfolgung auf.

»Sie weiß, daß der Kerl sie verfolgt«, sagte Thurston.

Quinones wurde erneut aufgehalten, als ein anderer Wagen vor ihm auf die Eighth Street einbog. Er mußte bremsen, gab dann sofort wieder Gas und raste weiter. Andrews, der inzwischen ebenfalls abgebogen war, blieb hinter ihm.

Dann sahen die Kriminalbeamten die Blondine aus ihrem Honda steigen, der jetzt auf dem Parkplatz eines Apartmenthochhauses stand. Sie lief zum Haupteingang, dessen Tür sie mit ihrem Schlüssel öffnete. Im nächsten Augenblick trat sie in die Eingangshalle, und die Glastür fiel hinter ihr zu.

Fast gleichzeitig hielt Quinones' gelber Chevy in der Nähe des Hondas. Andrews bog auf den Parkplatz ab und hielt an einer Stelle, von der aus die Kriminalbeamten Quinones, der weiter in seinem Auto saß, und das Apartmentgebäude beobachten konnten. Nach einigen Minuten sahen sie in einer Wohnung in einem der unteren Stockwerke Licht aufflammen, das ihnen die Blondine an einem Fenster zeigte. Jedoch nur kurz, weil sie dabei war, die Vorhänge zu schließen.

»Sie weiß, daß er hier draußen lauert«, stellte Thurston fest.

»Yeah, und vielleicht hat er sie schon mal verfolgt. Vielleicht weiß er, in welchem Apartment sie wohnt.«

»Scheiße!« rief Thurston plötzlich. »Er ist weg!«

Während sie zu dem Fenster hinaufgesehen hatten, war Quinones ausgestiegen und hatte den Haupteingang erreicht, dessen Tür er jetzt hinter einem Hausbewohner passierte.

Die Kriminalbeamten sprangen aus dem Auto und spurteten zum Haupteingang. Andrews rüttelte an der Glastür, die aber nicht nachgab. In der Eingangshalle war niemand mehr zu sehen. Thurston drückte sofort auf sämtliche erreichbaren Klingelknöpfe. »Polizei!« rief er in den Türlautsprecher. »Wir verfolgen einen Verdächtigen! Machen Sie uns bitte auf!«

Die meisten Mieter würden mißtrauisch sein, das wußte er, aber vielleicht fand sich doch jemand, der...

Der Türöffner summte laut. »Sie ist offen!« rief Andrews von der Tür aus. Sie stürmten in die Eingangshalle.

»In welchem Stock wohnt sie?« fragte Andrews. »Ich tippe auf den zweiten.«

Thurston nickte. »Los, weiter!«

In der Eingangshalle gab es zwei Aufzüge, die beide unterwegs waren. Andrews drückte auf den Rufknopf. Im nächsten Augenblick öffnete sich der linke Aufzug, und eine alte Dame, die ihren Pekinesen an der Leine führte, trat langsam heraus. Als der Hund keine Lust verspürte, die Kabine zu verlassen, half Thurston nach, indem er ihn an der Leine herauszerrte. Bevor die alte Dame protestieren konnte, standen die beiden Kriminalbeamten schon im Aufzug. Andrews drückte auf den dritten Knopf und zugleich auf einen anderen, damit die Kabinentür sich schloß. Aber die Automatik ließ sich viel Zeit, bis die Schiebetür endlich zuging und die Männer vor Wut kochten.

Im zweiten Stock liefen sie sofort nach rechts, weil sie vermuteten, die Blondine dort an einem Fenster ihrer Wohnung gesehen zu haben. Aber auf dem Flur war es still, und sie sahen nirgends eine aufgebrochene Tür. Thurston klopfte an zwei Wohnungstüren, ohne daß jemand öffnete.

»Hier nicht!« sagte er keuchend. »Also im dritten Stock! Los, wir nehmen die Treppe!« Andrews blieb dicht hinter ihm, als er zum Notausgang am Ende des Korridors rannte. Sie hetzten die Betontreppe hinauf, öffneten die Tür und standen dann in einem identischen Flur, vor einer teilweise zersplitterten Wohnungstür. Im nächsten Augenblick hallte der Knall zweier Schüsse aus dem Apartment. Während die Kriminalbeamten stehenblieben und ihre Dienstwaffe zogen, hörten sie rasch nacheinander vier weitere Schüsse fallen.

Thurston schob sich, mit grimmiger Miene an die Korridorwand gepreßt, näher an die offene Wohnungstür heran. Er machte Andrews ein Zeichen, hinter ihm zu bleiben, und flüsterte: »Ich geh' zuerst rein. Du gibst mir Feuerschutz.«

Während sie sich vorsichtig weiter der Tür näherten, kamen aus der offenen Tür halblaute Geräusche: einige leichte Schritte, danach ein mehrmaliges undefinierbares dumpfes Poltern. Thurston, der seine Pistole schußbereit hielt, streckte langsam den Kopf durch die Tür. Sekunden später ließ er die Waffe sinken und betrat die kleine Diele.

Im Wohnzimmer lag Quinones, der bewußtlos zu sein schien, in einer Blutlache auf dem Bauch. Neben seiner ausgestreckten rechten Hand lag ein Messer mit blitzender Klinge - ein Klappmesser mit Perlmuttgriff, wie Thurston feststellte. Die Blondine, die aus der Nähe älter aussah, war benommen in einem Sessel zusammengesunken. Sie hielt eine zu Boden gerichtete Pistole in der Hand.

Thurston trat auf sie zu. »Ich bin Polizeibeamter«, sagte er. »Geben Sie mir die Waffe.« Er sah, daß die Pistole eine sechsschüssige Rohn Kaliber 22 war. Die Blondine hielt sie ihm bereitwillig hin. Um keine Fingerabdrücke zu verwischen, steckte Thurston einen Kugelschreiber aus seiner Hemdtasche durch den Abzugbügel und legte die Waffe vorläufig auf einem Beistelltisch ab.

Andrews, der neben Quinones kniete, hob den Kopf. »Er ist hinüber«, stellte er fest. Dann drehte er den Toten etwas zur Seite und fragte Thurston: »Hast du das gesehen, Charlie?« Er deutete auf Quinones offene Hose, aus der sein Glied heraushing.

»Nein, aber das wundert mich nicht.« Sittlichkeitsverbrecher entblößen sich oft, weil sie glauben, dieser Anblick errege Frauen. »Laß lieber einen Notarzt kommen, der uns bestätigt, daß er tot ist.«

Andrews sprach in sein Handfunkgerät. »Dispatcher, hier Neunzehneinundvierzig.«

»QSK.«

»Schicken Sie einen Notarzt zur siebenzwonulleins Tamiami Canal Road, Apartment dreizwodrei, wo ein möglicher Fünfundvierziger vorliegt. Außerdem brauchen wir zwei Mann, um Neugierige fernzuhalten, und ein Spurensicherungsteam.«

»QSL.«

Als nächstes sprach Thurston über Funk mit Sergeant Malcolm Ainslie und berichtete dem Leiter der Sonderkommission von diesem Vorfall.

»Ich bin in der Nähe«, sagte Ainslie. »Bin in zehn Minuten da.«

Andrews hatte inzwischen angefangen, sich Notizen zu machen und die vor ihnen sitzende Frau zu befragen.

»Sagen Sie mir bitte Ihren Namen, Miss?«

Sie schien sich von ihrem Schock erholt zu haben, obwohl ihre Hände noch immer zitterten. »Dulce Gomez.«

Sie sei ledig, sagte sie aus, sechsunddreißig und Mieterin dieser Wohnung. Sie lebe seit zehn Jahren in Miami. Sie war attraktiv, fand Andrews, aber wirkte irgendwie hart.

Gomez berichtete, sie arbeite als Servicetechnikerin bei Southern Bell. Am Miami-Dade Community College studiere sie in Abendkursen Telekommunikation. »Um später einen besseren Job zu kriegen.«

Thurston, der dazugekommen war, zeigte auf Quinones' Leiche. »Kennen Sie diesen Mann, Dulce? Haben Sie ihn schon mal gesehen, bevor er Sie heute verfolgt hat?«

Sie schüttelte sich. »Niemals!«

»Wir haben ihn beobachtet. Vielleicht hat er Sie verfolgt, ohne daß Sie's gemerkt haben.«

»Hmmm, ich hab' ein paarmal das Gefühl gehabt, als ob jemand...« Dann fiel ihr etwas ein. »Der Scheißer hat gewußt, wo ich wohne; er ist direkt raufgekommen.«

Andrews fragte weiter: »Und hat die Tür aufgebrochen?«

Sie nickte. »Er ist wie ein tollwütiger Hund hereingestürmt -mit raushängendem Pimmel und gezücktem Messer.«

»Und dann haben Sie ihn erschossen?« fragte Thurston.

»Nein. Ich hatte meine Pistole nicht zur Hand, also hab' ich mich mit Karate gewehrt. Er hat das Messer verloren.«

»Sie beherrschen Karate?«

»Schwarzer Gürtel. Nach Kopf- und Körpertreffern ist er zu Boden gegangen. Dann hab' ich die Pistole geholt und ihn erschossen.«

»Wo hat die Waffe gelegen?«

»Im Schlafzimmer, in meinem Nachttisch.«

Thurston starrte sie an. »Der Mann ist außer Gefecht gewesen - aber Sie haben trotzdem Ihre Pistole geholt und ihm alle sechs Kugeln verpaßt?«

Die Frau zögerte. »Na ja, ich wollte, daß der Scheißkerl liegenbleibt. Er hat sich mit dem Messer in der Hand auf dem Boden rumgewunden. Darum hat er von mir noch ein paar Tritte gegen den Kopf gekriegt.«

Das war die Erklärung für die Geräusche, die zuletzt aus der Wohnung gedrungen waren. »Aber nach sechs Schüssen hat er sich nicht mehr rumgewunden«, stellte Andrews fest.

Gomez zuckte mit den Schultern. »Das wohl nicht. Aber ich hab' trotzdem ziemlich Angst gehabt.«

Inzwischen war der Notarzt gekommen, der keine halbe Minute brauchte, um Quinones für tot zu erklären. Auf dem Flur hielten jetzt zwei uniformierte Polizisten Wache. Sie hatten das Apartment 323 mit gelbem POLICE-LINE-Band abgesperrt und taten ihr Bestes, um die aufgeregten Nachbarn zu beruhigen.

Auch Malcolm Ainslie war eingetroffen und hatte die letzten Antworten gehört. »Ich möchte etwas klarstellen, Ms. Gomez. Sie haben den Mann mit Karate außer Gefecht gesetzt, und er hat noch auf dem Boden gelegen, als Sie zurückgekommen sind und ihm sechs Kugeln verpaßt haben?«

»Das hab' ich schon gesagt.«

»Zeigen Sie mir bitte Ihren Waffenschein?«

Die Blondine wirkte erstmals unsicher. »Ich hab' keinen. Mein Freund hat mir die Pistole letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt. Ich hab' nicht gewußt, daß man für so kleine...«

»Wie heißt Ihr Freund, Dulce?« fragte Brad Andrews.

»Justo Ortega. Aber er ist nicht mehr mein Freund.«

Ainslie berührte Andrews' Arm. »Die Sache wird allmählich kompliziert. Ich glaube, Sie sollten die Lady über ihre Rechte belehren.«

»Daran hab' ich gerade gedacht, Sergeant.« Er wandte sich an die Blondine. »Dulce, ich bin verpflichtet, Sie über Ihre Rechte zu belehren. Sie haben das Recht...«

»Ich kenne meine Rechte genau«, unterbrach Gomez ihn gereizt. »Aber davon trifft nichts zu, weil der Scheißkerl bei mir eingedrungen ist und ich in Notwehr gehandelt habe.«

»Trotzdem muß ich Sie darüber belehren. Hören Sie mir also bitte zu.«

Als Andrews fertig war, fügte Ainslie hinzu: »Das tun wir im allgemeinen nicht, Ms. Gomez, aber ich möchte Ihnen dringend raten, jetzt Ihren Anwalt anzurufen.«

»Warum?«

»Ich sage nicht, daß das passieren muß, aber jemand könnte behaupten, Sie hätten diesen bereits kampfunfähig gemachten Mann nicht erschießen müssen... «

»Bockmist!« wehrte Gomez ab. Dann wurde sie nachdenklich. »Ich verstehe, was Sie meinen, obwohl...«

»Ich rate Ihnen nur, einen Anwalt hinzuzuziehen.«

»Hören Sie, ich arbeite für mein Geld, da kann ich keine großen Anwaltsrechnungen brauchen. Lassen Sie mich einen Augenblick in Ruhe, damit ich darüber nachdenken kann.«

Ainslie fragte Thurston leise: »Haben Sie einen Staatsanwalt angefordert?«

»Noch nicht.«

»Fordern Sie einen an. Wir brauchen in dieser Sache eine Entscheidung.«

Thurston nickte und griff nach seinem Funkgerät.

Die Spurensicherung traf ein. Während sie mit der Arbeit begannen und als erstes die bei Dulce Gomez sichergestellte Pistole in einem Klarsichtbeutel verstauten, zog Ainslie sich mit seinen beiden Kriminalbeamten in eine Ecke des Wohnzimmers zurück. Er deutete auf den toten Quinones, der jetzt mit einem Laken bedeckt war. »Was haltet ihr davon, die Blondine mitzunehmen, Jungs?«

»Persönlich würde ich mich ungern mit ihr anlegen«, sagte Thurston. »Die ist zäh wie Leder. Trotzdem fände ich's ungerecht, wenn sie wegen Mordes an Quinones angeklagt würde. Der Schweinehund hat's nicht anders verdient.«

Brad Andrews nickte. »Das finde ich auch.«

»Im Prinzip bin ich der gleichen Meinung«, stimmte Ainslie zu, »aber wir müssen bedenken, daß die Hände und Füße von Karatekämpfern juristisch als tödliche Waffe eingestuft werden. Daher könnte die Staatsanwaltschaft Anklage wegen fahrlässiger Tötung erheben. Aber das stellt sich gleich heraus.« Er nickte zur Wohnungstür hinüber, wo eine zierliche kleine Frau aufgetaucht war, die jetzt den Tatort inspizierte.

Die Frau in dem blauen Le inenkostüm mit knallgelber Bluse war Staatsanwältin Mattie Beason. Ainslie schätzte ihr engagiertes Eintreten für Polizeibeamte, die nach guter Ermittlungsarbeit vor Gericht aussagen mußten. Andererseits konnte sie im Vorfeld eines Prozesses grausam streng zu Kriminalbeamten sein, deren Beweismaterial schlampig zusammengestellt oder unvollständig war.

»Also, was haben wir hier?« fragte Beason.

Thurston berichtete, wie Andrews und er Quinones beschattet, wie der Verdächtige Dulce Gomez verfolgt, wie sie diese Wohnung gesucht und Quinones in Apartment 323 tot aufgefunden hatten.

»Hat ganz schön lange gedauert, bis ihr hier raufgekommen seid, was?« Mit ihrem berühmten Scharfblick hatte Beason sofort die schwache Stelle von Thurstons Bericht ausgemacht.

Er verzog das Gesicht. »Ja, das stimmt leider.«

»Wenigstens eine ehrliche Antwort. Und zu Ihrem Glück kommen Sie nicht vor Gericht.«

»Kommt überhaupt jemand vor Gericht?« fragte Andrews.

Die Staatsanwältin ignorierte seine Frage und sah zu Dulce Gomez hinüber, bevor sie sich an Ainslie wandte. »Sie haben sicher schon daran gedacht, daß die Hände und Füße von Karatekämpfern tödliche Waffen sein können.«

»Darüber haben wir diskutiert, als Sie gekommen sind.«

»Immer so gründlich, Malcolm!« Sie nickte Andrews zu. »Bevor ich Ihre Frage beantworte, Detective, müssen Sie mir eine andere beantworten. Was spricht Ihrer Ansicht nach für Ms. Gomez, wenn ich sie als Karatekämpferin wegen Totschlags anklage?«

»Okay, Counselor.« Andrews zählte die Punkte an den Fingern auf. »Sie hat einen Job und belegt Abendkurse, um voranzukommen - eine strebsame Bürgerin. Sie ist nichtsahnend von einem Ganoven verfolgt worden, der wegen Körperverletzung und Vergewaltigung vorbestraft war. Er ist hier eingedrungen und hat ihre Wohnungstür aufgebrochen; dann hat er sich entblößt und wollte sich mit einem Messer bewaffnet auf sie stürzen. Sie ist in Panik geraten und hat in berechtigter Notwehr etwas zuviel getan. Aber bei dieser Sachlage würde jedes Geschworenengericht sie sofort freisprechen.«

Die Staatsanwältin lächelte schwach. »Nicht schlecht, Detective. Vielleicht sollten Sie Jura studieren.« Sie wandte sich an Ainslie. »Sind Sie der gleichen Meinung?«

Er nickte. »Klingt vernünftig.«

»Das finde ich auch. Mit einem Wort, Malcolm: Abhaken! Und fürs Protokoll - entschuldbare Notwehrüberschreitung.«

Zu Carlos Quinones' Tod gab es ein kleines Nachspiel.

Die polizeiliche Durchsuchung seiner Sozialwohnung ergab, daß er nicht der Serienmörder gewesen sein konnte: Quinones war zum Zeitpunkt dreier Morde gar nicht in Miami gewesen; auch sonst wies nichts auf eine mögliche Täterschaft hin.

So war Quinones der erste, der von der Überwachungsliste gestrichen wurde.

Detective-Sergeant Teresa Dannelly und Detective Jose Garcia überwachten in der zweiten Woche den Haitianer Alec Polite, der in Little Haiti in der Northeast 65th Street wohnte.

Sergeant Dannelly, eine vom Raubdezernat abgestellte Kriminalbeamtin, war eine stattliche fünfunddreißigjährige Brünette mit zehn Dienstjahren. Ihr großer Busen hatte ihr den Spitznamen »Big Mamma« eingebracht, den sie sogar selbst benutzte. Dannelly und Jose »Pop« Garcia von der Mordkommission kannten sich seit acht Jahren und hatten schon oft zusammengearbeitet.

Alec Polite wurde auf seiner FIVO-Karte als Bibelzitierer mit Missionarseifer geschildert, der behauptete, mit Gott zu sprechen. Obwohl er nicht vorbestraft war, galt er als aggressiv und möglicherweise gewalttätig. In seinem einstöckigen Haus aus unverputzten Hohlblocksteinen lebten vier Familien mit sechs oder sieben Kindern.

Heute hatten Dannelly und Garcia erstmals Polite zu überwachen. Davor hatten sie Edelberto Montoya observiert, ohne etwas Verdächtiges feststellen zu können. Jetzt saßen sie in ihrem Fahrzeug in der Nähe von Polites Haus in der Northeast 65th Street. Zum Ärger der beiden Kriminalbeamten hatte ihr Wagen bereits die Aufmerksamkeit von Passanten erregt und Kinder angelockt, die sich in seiner Nähe herumtrieben.

Als »unauffälliges« Überwachungsfahrzeug hatten Dannelly und Garcia heute einen metallicblauen GM Lumina-Minivan mit luxuriöser Innenausstattung zugeteilt bekommen. Seine Scheiben waren dunkel getönt, so daß niemand von außen ins Wageninnere sehen konnte. Für Überwachungszwecke war ein so auffälliges Fahrzeug an sich nicht geeignet, aber an diesem Tag stand kein anderer Wagen zur Verfügung.

Der blaue Lumina erregte jetzt die Aufmerksamkeit zweier Männer, die aus dem zu beobachtenden Haus gekommen waren.

»Wir müssen abhauen«, sagte Garcia. »Diese Scheißkiste ist einfach zu auffällig.«

»Vielleicht läßt sich dagegen was machen.« Dannelly schaltete ihr Handfunkgerät ein, rief das Polizeipräsidium und gab ihre Dienstnummer an.

Eine Dispatcherin meldete sich. »QSK.«

»Schicken Sie einen Streifenwagen zu zwosechsfünf Northeast Sixtyfifth Street. Er soll ohne Blinklicht und Sirene kommen, aber die kleine Menschenansammlung vor dem Haus auflösen. Der in der Nähe geparkte blaue Lumina-Van ist dabei zu ignorieren.«

»QSL.« Wenig später meldete die Dispatcherin: »Ich schicke Wagen zweizwovier zu Ihrem Standort.«

Zwei Männer aus dem Haus versuchten, ins Innere des Vans zu sehen, konnten aber offenbar nichts erkennen. Nun gesellte sich ein großer, muskulöser Mann mit Stirnglatze zu ihnen. Nach einem Blick auf ein zur Identifizierung dienendes Foto sagte Dannelly: »Der mit der Stirnglatze ist unser Mann.«

»Blöd ist nur, daß er uns überwacht«, murmelte Garcia.

Der erste Mann versuchte, die Schiebetür des Vans zu öffnen. Als ihm das nicht gelang, zog er einen großen Schraubenzieher aus der Tasche. Im Wageninnern war undeutlich zu hören, wie er sagte: »Da is' keiner drin.« Die drei Männer verstellten die Autotür; die Kinder waren etwas zurückgewichen.

»Ich kann's nicht glauben!« flüsterte Garcia. »Die wollen die Tür aufbrechen.«

»Das gibt 'ne Überraschung«, sagte Dannelly mit der rechten Hand an ihrer Dienstwaffe.

Aber als der Mann mit dem Schraubenzieher sich durch einen raschen Blick in die Runde vergewissern wollte, daß sie nicht beobachtet wurden, sah er ein näher kommendes Polizeifahrzeug.

»Mein Streifenwagen!« sagte Dannelly triumphierend.

Die drei Männer wichen sofort zurück und verschwanden hastig. Der Neuankömmling, den Dannelly als Alec Polite identifiziert hatte, rutschte aus, als er um den Minivan herumging, und konnte sich gerade noch auf der Motorhaube abstützen. Dann verschwand auch er.

Der Streifenwagen hielt, und Fahrer und Beifahrer stiegen zu einem kurzen Rundgang aus. Wie immer in Little Haiti war die Straße beim Erscheinen der Polizei plötzlich wie leergefegt. Einer der Uniformierten sah kurz zu dem blauen Lumina hinüber, dann stiegen die beiden wieder ein und fuhren weg.

»Fahren wir auch?« fragte Garcia.

»Augenblick noch.« Diesmal benutzte Dannelly ihr Kombigerät, um zu telefonieren. Als Sergeant Ainslie sich meldete, sagte sie: »Teresa Dannelly. Ich habe eine Frage... «

»Schießen Sie los, Terry.«

»Ist am ersten Tatort - im Royal Colonial - nicht ein unidentifizierter Handflächenabdruck sichergestellt worden?«

»Yeah, und wir haben bisher noch keinen gefunden, der dazu paßt.«

»Wir haben einen Abdruck von Alec Polite. Er ist auf unserem Van, und ich fürchte, daß es hier bald regnen wird. Können Sie dafür sorgen, daß er überprüft wird, wenn wir schnell irgendwo hinfahren?«

»Klar kann ich das«, antwortete Ainslie. »Fahrt zum Parkplatz für sichergestellte Wagen und stellt den Van unter dem Dach ab. Ich schicke einen von der Spurensicherung los, der sich dort mit euch trifft.«

»QSL. Danke, Malcolm.« Sie nickte Jose Garcia zu, der wieder am Steuer saß. »Los, wir hauen ab!«

Eine Stunde später wurde Malcolm Ainslie angerufen.

»Hier ist Sylvia Waiden. Ich habe den Abdruck von Sergeant Dannellys Van mit unserem Teilabdruck aus dem Royal Colonial verglichen. Die beiden sind sich nicht im geringsten ähnlich. Sorry.«

»Schon in Ordnung«, sagte Ainslie. »Jeder Verdächtige weniger kann uns nur recht sein.«

Die Kriminalbeamten Hector Fleites und Ogden Jolly erwartete ein Erlebnis ganz anderer Art. Beide waren vom Raubdezernat abkommandiert. Fleites, jung und ehrgeizig, wollte einen privaten Sicherheitsdienst gründen, sobald er ein paar Jahre Erfahrung im Polizeidienst gesammelt hatte. Jolly war kompetent, aber gelassener und humorvoller als Fleites.

Die beiden hatten James Calhoun zu überwachen, der seinen Spitznamen »Little Jesus« dem auf seiner Brust eintätowierten Kreuz und seiner Behauptung verdankte, der wiedergekehrte Jesus zu sein, der bald gen Himmel auffahren werde.

»Inzwischen ist er hier unten fleißig gewesen«, hatte Detective Jolly gescherzt. Calhoun war wegen Totschlag, Raubüberfall und bewaffnetem Einbruch vorbestraft und hatte zweimal gesessen. Jetzt war er auf Bewährung entlassen und wohnte in den Brownsville Projects - ein weiterer inoffizieller Name für eine vor allem von Hispanics und Schwarzen bewohnte Siedlung hinter dem Northside Shopping Center. Von dort aus waren Fleites und Jolly in einem Werkstattwagen der Southern Bell hinter ihm her zu der beliebten Disko Kampala Stereophonie gefahren.

Dies war nun schon der dritte Abend, an dem Calhoun sich im Kampala vollaufen ließ. Um einundzwanzig Uhr hatten die Kriminalbeamten die mitgebrachten Sandwiches mit mehreren Bechern Kaffee hinuntergespült, waren müde und fingen an, sich zu langweilen.

Dann sahen sie mehrere Nutten, die wie zufällig die Straße entlangschlenderten und sich herausfordernd umsahen, bevor sie das Kampala betraten. Diese Frauen kannten die beiden Kriminalbeamten aus der Zeit, als sie noch Streifenpolizisten gewesen waren. Und der Cadillac, der jetzt in der Nähe auf einem schwachbeleuchteten Parkplatz stand, gehörte bestimmt einem Zuhälter, der seine Pferdchen im Auge behielt, während er sie anschaffen ließ.

Die potentiellen Freier waren offenbar verständigt worden, denn bald fuhr ein Auto nach dem anderen vor. Ihre Fahrer betraten die Disko, kamen dann mit einer der Nutten heraus und verzogen sich mit ihr in den nächsten dunklen Winkel, wo ihre Schatten miteinander verschmolzen - allerdings nicht lange. Mit einem Luxuspuff war dieses Unternehmen nicht zu vergleichen.

»Scheiße!« sagte Fleites. »Erkennen uns die Weiber, gehen sie rein und verpfeifen uns.«

»Lehn dich ganz zurück«, riet Jolly ihm. »Dann sieht uns niemand.«

»Muß unbedingt mal raus«, murmelte Fleites. »Zuviel Kaffee, kann's nicht länger halten.« Er wartete einen Augenblick ab, in dem keine Paare zu sehen waren, stieg aus dem Wagen und verschwand in einem unbeleuchteten Durchgang zwischen zwei Häusern. Als er fertig war, zog er seinen Reißverschluß hoch und wollte zurückgehen, als er eine Nutte, die ihn erkennen würde, mit ihrem Freier auf sich zukommen sah. Er machte sofort kehrt, aber der Durchgang endete schon nach wenigen Metern als Sackgasse vor einer hohen Mauer.

Obwohl es hier ziemlich dunkel war, sah er an der Mauer einen Müllcontainer stehen. Fleites steuerte sofort darauf zu, zog sich hoch und wälzte sich über den Rand. Im nächsten Augenblick mußte er angewidert feststellen, daß der offene Abfallbehälter halb mit einer klebrigen, übelriechenden Masse gefüllt war. Während draußen das Paar neben dem Müllcontainer stehenblieb, versuchte Fleites, nasse Kartoffelschalen, Hühnerknochen, Bananenschalen, faule Tomaten und eine ranzige, schmierige undefinierbare Substanz von sich abzukratzen.

Im Gegensatz zu den anderen Paaren ließ dieses hier sich viel Zeit, bis es nach ungefähr zwanzig Minuten endlich verschwand. Jolly sah auf, als Fleites die Autotür öffnete und wieder einstieg, und hielt sich die Nase zu. »Jesus, Mann - du stinkst!« Er musterte seinen Kollegen genauer, sah lauter Küchenabfälle an ihm kleben und brach in schallendes Gelächter aus.

Hector Fleites nickte unglücklich - wegen seines Zustands und weil er wußte, daß zwei Dinge sich nicht ändern ließen. Erstens würde er noch sechs Stunden Überwachungseinsatz ertragen müssen. Und zweitens würde Ogden Jolly den Kollegen bis in alle Ewigkeit die Story erzählen, wie Fleites einmal wirklich abgetaucht war.

Am Montag der dritten Überwachungswoche kamen die Detectives Ruby Bowe und Bernard Quinn mit Malcolm Ainslie zu einer Besprechung zusammen. Bowe und Quinn hatten gemeinsam mit zwei Kollegen aus dem Raubdezernat Earl Robinson beschattet.

Earl Robinson war von Anfang an der Hauptverdächtige gewesen. Auf seiner FIVO-Karte wurde er als »sehr aggressiv« bezeichnet. Er war ein ehemaliger Profiboxer, der an Straßenecken predigte - immer aus der Offenbarung - und der rächende Engel Gottes zu sein behauptete. Er hieß der »Rächer« und war vorbestraft wegen fahrlässiger Tötung, bewaffneten Raubüberfalls und Körperverletzung mit einem Messer.

Deshalb war Ainslie überrascht, als Ruby Bowe ihm erklärte: »Wir vier sind alle dafür, Robinson von unserer Liste zu streichen. Unserer Überzeugung nach ist er harmlos. In seiner Freizeit arbeitet er als freiwilliger Helfer im Camillus House, einem Obdachlosenheim.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Bernard Quinn.

Nach Bowes Darstellung war Robinson straffrei geblieben, seit er vor einem Jahr Gott gefunden hatte. Seit damals war er ein friedlicher Bürger, arbeitete regelmäßig und betreute in seiner Freizeit Obdachlose.

»Die meisten >Bekehrungen< dieser Art sind ein Schwindel«, fügte Quinn hinzu. »Aber seine ist echt, glaube ich.«

»Wir haben mit David Daxman, dem Heimleiter, gesprochen«, berichtete Ruby Bowe.

»Den kenne ich«, sagte Ainslie. »Ein guter Mann.«

»Daxman bestätigt, daß Robinson, den er seit Jahren kennt, sich völlig verändert hat.« Ruby warf einen Blick in ihr Notizbuch. »>Ein sanfter Mensch, der anderen helfen will< - so beschreibt er ihn. Er sagt, daß Robinson bei den Obdachlosen sehr beliebt ist.«

»Okay, Robinson brauchen wir nicht weiter zu observieren«, entschied Ainslie. »Streicht ihn von unserer Liste.« Er lehnte sich in seinen Schreibtischstuhl zurück und seufzte.

9

Zwei Tage nach der feierlichen Beisetzung des Ehepaars Ernst erschien eine Bekanntmachung der Miami City Commission, die seit Gustav Ernsts Tod aus dem Oberbürgermeister, dem Bürgermeister, dem Stadtmanager und zwei Referenten bestand. Satzungsgemäß hatte die Kommission nach dem Tod eines City Commissioners innerhalb von zehn Tagen einen Nachfolger zu wählen, der den Rest seiner Amtszeit übernehmen würde. In diesem Fall waren das zwei Jahre - die Hälfte von Gustav Ernsts Wahlperiode.

Weiterhin wurde bekanntgegeben, die Kommission habe sich einstimmig für Cynthia Ernst, die Tochter des Verstorbenen, als seine Nachfolgerin entschieden. Major Ernst habe die Nominierung angenommen und scheide mit sofortiger Wirkung aus dem Miami Police Department aus.

Nach Ablauf der Amtszeit ihres Vaters würde Ms. Ernst sich natürlich - falls sie weitermachen wollte - zur Wahl stellen müssen. Aber wie Bernard Quinn sagte, als in der Mordkommission darüber diskutiert wurde: »Natürlich kandidiert sie. Und wie sollte sie verlieren können?«

Ainslie betrachtete Cynthias Rollenwechsel mit gemischten Gefühlen. Einerseits war er erleichtert, daß sie keinen Polizeidienstgrad mehr besaß, mit dem sie ihm Befehle erteilen und Berichte über die Mordserie von ihm anfordern konnte. Andererseits sagte sein Instinkt ihm, daß ihr Einfluß im Police Department nun gewaltig zunehmen würde.

In der darauffolgenden Woche entstanden gewisse Zweifel daran, ob Elroy Doil weiter als verdächtig gelten müsse. Die Detectives Dan Zagaki und Luis Linares konnten bestätigen, was auf seiner FIVO-Karte stand: Doil arbeitete ziemlich regelmäßig als Fernfahrer; deshalb wurde es immer unwahrscheinlicher, daß er der Serienmörder war. Zagaki hatte sogar vorgeschlagen, die Überwachung Doils einzustellen, aber damit war Ainslie nicht einverstanden gewesen.

Außerdem gab es noch James Calhoun und Edelberto Montoya, die weiter observiert wurden, obwohl der Verdacht gegen sie sich bisher nicht konkretisiert hatte. Bei den zunehmend gelangweilten Kriminalbeamten rief die Überwachungsaktion erhebliche Zweifel hervor, die Ainslie insgeheim teilte. War die Computersuche nach Verdächtigen, die ihm ursprünglich als glänzende Idee erschienen war, in Wirklichkeit nur Zeitverschwendung gewesen? Darüber sprach er mit Lieutenant Newbold, wobei er hinzufügte: »Es wäre leicht, jetzt aufzugeben möglicherweise zu leicht. Ich denke, wir sollten noch eine Woche weitermachen und die Sache dann abblasen, wenn sich bis dahin nichts Neues ergibt.«

Der Lieutenant kippte seinen Schreibtischstuhl gefährlich weit nach hinten, wie er's oft tat. »Ich stehe hinter Ihnen, Malcolm, weil ich auf Ihr Urteil vertraue. Sie wissen, daß ich Sie unterstütze, wenn Sie finden, wir sollten weitermachen. Aber das Raubdezernat setzt mich unter Druck, weil in der Vorweihnachtszeit seine Leute zurückhaben will.«

Zuletzt einigten Ainslie und Newbold sich auf einen Kompromiß: Die dritte Observationswoche würde weitergehen, aber da inzwischen drei Verdächtige ausgeschieden waren, konnten zwei Detectives und die beiden Sergeants ins Raubdezernat zurückkehren. Nach dieser dritten Woche sollte Ainslie entscheiden, ob eine vierte erforderlich war, und Newbold würde seine Entscheidung mittragen.

Diese Vereinbarung hatte zwei weitere Tage Bestand. Dann passierte etwas, das alle Planungen über den Haufen warf.

Der Vorfall ereignete sich am Donnerstag kurz vor Mittag.

An der Kreuzung Coral Way und 32nd Avenue hielt ein Geldtransporter der Firma Wells Fargo auf dem Parkplatz einer Filiale der Barnett Bank, um Bargeld anzuliefern. Als einer der beiden Transportbegleiter vom Wageninnern aus die Seitentür öffnete, sah er sich drei Männern - einem Schwarzen und zwei Hispanics - gegenüber, die mit Schnellfeuergewehren bewaffnet waren.

In diesem Augenblick bog ein Streifenwagen der Miami Police um die Ecke und fuhr direkt auf den Tatort zu. Die Geldräuber sahen die Polizei zuerst und eröffneten das Feuer, bevor die Polizeibeamten begriffen, daß hier ein Raubüberfall stattfand. Ein Polizist starb sofort im Kugelhagel; der andere, der seinen Revolver noch nicht ganz gezogen hatte, wurde verletzt, als er aussteigen wollte. Die Männer erschossen den Transportbegleiter und entrissen ihm den Geldsack, den er gehalten hatte. Sie rannten damit zu ihrem Fluchtfahrzeug und rasten davon. Der ganze Überfall hatte weniger als eine Minute gedauert.

Als die Geldräuber flüchteten, lief ein Augenzeuge namens Tomas Ramirez - ein großer, athletischer Neunzehnjähriger zu dem nun bewußtlosen Polizeibeamten. Ramirez sah, daß der Verletzte ein Funkgerät am Gürtel trug, schnappte es sich und drückte auf die seitlich angebrachte Sprechtaste.

»Hallo, hallo! Hier ist Tom Ramirez. Hört mich jemand?«

»Ja, ich höre Sie«, antwortete eine Dispatcherin mit ruhiger Stimme. »Wo haben Sie das Polizeifunkgerät her? Ist alles in Ordnung?«

»Nein, um Himmels willen, nein! Hier vor der Bank ist ein Überfall, eine Schießerei passiert. Zwei Polizisten sind angeschossen. Schicken Sie bitte Hilfe!«

»Okay, Sir. Nicht auf die Taste drücken, solange ich spreche. Wo sind Sie? Sagen Sie mir bitte Ihren Standort.« Während die Dispatcherin sprach, schrieb sie bereits eine Alarmmeldung, die automatisch auf den Bildschirmen sechs weiterer Dispatcher erschien.

»Ah, ich bin an der Kreuzung Coral Way und Thirtysecond Avenue auf dem Parkplatz der Barnett Bank. Der eine Polizist und der Wachmann aus dem Geldtransporter sehen tot aus. Der andere Polizist stirbt, glaub' ich. Beeilen Sie sich bitte!«

Andere Dispatcher, auf deren Bildschirmen die Alarmmeldung erschien, forderten bereits Hilfe an.

Die erste Dispatcherin antwortete: »Sir, wir sind unterwegs. Sind die Täter geflüchtet?«

»Ja, sie sind mit ihrem Wagen weggefahren - einem grauen Buick Century. Sie sind zu dritt gewesen. Alle drei sind bewaffnet. Sie haben die Polizisten schwer getroffen. Die beiden sind tot, glaub' ich.«

»Okay, Sir. Versuchen Sie, Ruhe zu bewahren. Wir brauchen Ihre Hilfe.«

Ein weiterer Dispatcher gab über Funk Alarm: »Achtung, an alle Fahrzeuge! Ein Dreizwoneun an der Kreuzung Coral Way und Thirtysecond Avenue, Barnett Bank. Vermutlich zwei unserer Leute verletzt oder tot. Die Täter sind mit einem grauen Buick Century geflüchtet.«

»Drei« bezeichnete einen Notfall, während »zwoneun« der Code für einen Raubüberfall war.

Aus allen Stadtteilen rasten jetzt Streifenwagen zur Barnett Bank am Coral Way.

Inzwischen hatte ein weiterer Dispatcher mehrere Notarztwagen angefordert.

Die erste Dispatcherin: »Mr. Ramirez, sind Sie noch da?«

»Ja. Ich kann jetzt Sirenen hören. Gott sei Dank, daß jemand kommt.«

»Mr. Ramirez, können Sie mir etwas über die Täter sagen?«

»Ich hab' mir das Kennzeichen gemerkt. NZD sechszwoeins, ein Nummernschild aus Florida.«

»Ausgezeichnet, Sir.« Die Dispatcherin tippte die Angaben ein, damit sie sofort an alle Fahrzeuge weitergegeben werden konnten.

»Mr. Ramirez, können Sie die Täter beschreiben?«

»Ich hab' sie ziemlich gut gesehen. Ja, ich kann sie beschreiben.«

»Sehr gut, Sir. Bleiben Sie bitte dort, bis ein Fahrzeug kommt, und geben Sie unseren Beamten diese Informationen.«

»Ich sehe schon die ersten kommen. Gott sei Dank!«

Lieutenant Leo Newbold, der sein Funkgerät im Auto auf Kanal drei eingestellt hatte, hörte Ramirez' Hilferuf. Er schaltete sofort auf den Überwachungskanal um und rief Ainslie, der sich ebenfalls aus seinem Dienstwagen meldete.

»QSK, Lieutenant.«

»Malcolm, lassen Sie die Überwachungen sofort einstellen. Schicken Sie alle Ihre Leute zur Kreuzung Coral Way und Thirtysecond Avenue. Bei einem Überfall auf einen Geldtransporter sind zwei Cops und ein Wachmann angeschossen worden; ein Cop und der Wachmann sollen tot sein. Ich möchte, daß Sie den Fall übernehmen. Wer die Ermittlungen leiten soll, bestimmen Sie selbst.«

Verdammt! dachte Ainslie, dem sofort klar war, daß dieser unerwartete Notfall das Ende des Überwachungsprogramms bedeutete. Ins Mikrofon sagte er: »Okay, Lieutenant. Ich verständige meine Leute.«

Da die Überwachungsteams auf diesem Kanal empfangsbereit waren, mußten sie das Gespräch mitgehört haben, aber Ainslie funkte trotzdem: »An alle, hier dreizehnzehn. Habt ihr das mitbekommen?«

»Dreizehnzehn, hier dreizehnelf, verstanden.« Von seinen

übrigen Teams kamen ähnliche Bestätigungen.

»Dann fahrt zur Kreuzung Coral Way und Thirtysecond, Leute. Wir treffen uns dort.«

Ainslie schaltete auf einen anderen Kanal um. »Dispatcher, hier dreizehnzehn. Irgend jemand am Tatort soll auf Tac One umschalten und mich rufen.« Tac One war der Kanal der Mordkommission.

Vom Tatort aus meldete sich eine vertraut klingende Stimme: »Dreizehnzehn, hier einssiebennull. QSK.«

»Sind Sie's, Bart?« fragte Ainslie. Bartolo Esposito war ein uniformierter Sergeant, aber im Funk wurden keine Nachnamen genannt - vor allem der immer mithö renden Reporter wegen.

»Genau, Malcolm. Hier sieht's schlimm aus. Was sollen wir tun, bis Sie kommen?«

»Den Tatort möglichst weiträumig absperren und alle Unbefugten von ihm fernhalten.«

»Ich lasse ihn gerade räumen - bis auf Notärzte und Sanitäter. Sie versuchen, den Zustand des Verletzten zu stabilisieren, damit er abtransportiert werden kann.«

»Danke, Bart. Ich bin bald da.«

Ainslie schaltete auf Kanal drei zurück und forderte ein Team zur Spurensicherung an.

»Schon veranlaßt, dreizehnzehn«, antwortete die Dispatcherin.

Auf einem anderen Kanal forderte Ainslie einen Staatsanwalt an.

Auf dem Parkplatz der Barnett Bank übertrug er Detective Ruby Bowe die Leitung der Ermittlungen. Sie begann sofort mit der Befragung von Tatzeugen, darunter Tomas Ramirez, der die drei bewaffneten Männer überraschend gut beschreiben konnte. Obwohl eine Beschreibung des Fluchtfahrzeugs und sogar sein Kennzeichen frühzeitig verbreitet worden waren, hatte es niemand gesehen. Das legte den Schluß nahe, die Täter seien in einem vorbereiteten Versteck untergetaucht - wahrscheinlich irgendwo in der Nähe.

Wenige Minuten nach Lieutenant Newbold traf auch Lieutenant Daniel Huerta, der Leiter des Raubdezernats, am Tatort ein. »Ich weiß, daß ihr jetzt hier zuständig seid, Leo«, erklärte er seinem Kollegen, »aber ich brauche meine Leute sofort wieder selbst.«

»Klar«, sagte Newbold nur.

Sie waren sich darüber einig, das Raubdezernat werde voraussichtlich bei der Identifizierung der Täter helfen können, die vermutlich einschlägig vorbestraft waren.

Als allen Spuren nachgegangen wurde, kamen weitere Informationen und Hinweise zusammen. Entscheidend wichtig war die eindeutige Identifizierung der drei Killer durch mehrere Tatzeugen anhand vorgelegter Verbrecheralben. Da der schwerverletzte Polizeibeamte inzwischen gestorben war, würde die Anklage jetzt auf Mord in drei Fällen lauten.

Hinweise aus der Bevölkerung auf mögliche Verstecke lösten Razzien aus, die erfolglos blieben - bis zwei der Täter gesehen wurden, als sie in Deep Grove, einem etwas heruntergekommenen Randbezirk von Coconut Grove, ein baufälliges Apartmentgebäude betraten. Anwohner, die sie beobachtet hatten, verständigten die Polizei.

Am dritten Tag nach dem Überfall auf den Geldtransporter stürmte ein SWAT-Team kurz vor Tagesanbruch die Wohnung, in der alle drei Täter schliefen. Die schwerbewaffneten Männer wurden im Schlaf überrascht, ohne Gegenwehr festgenommen und in Handschellen abgeführt. Das geraubte Geld wurde sichergestellt und der zur Flucht benutzte Buick Century zwei Straßen weiter aufgefunden.

Malcolm Ainslie wußte jetzt, daß die Überwachung nicht wieder aufgenommen werden konnte, was angesichts der bisher enttäuschenden Ergebnisse vielleicht sogar gut war. Statt dessen konzentrierte er sich darauf, alle Serienmorde nochmals unter die Lupe zu nehmen. Aber zu seiner Enttäuschung ergaben sich dabei keine neuen Hinweise oder Ideen.

Dann passierte das Unerwartete.

Drei Tage nach der Verhaftung der Geldräuber, als in der Mordkommission längst wieder die gewohnte Routine eingekehrt war, bekam Ainslie einen Anruf von Dr. Sanchez, der Gerichtsmedizinerin im Dade County.

»Malcolm, ich hatte Ihnen neulich versprochen, unsere alten Autopsieberichte nach unaufgeklärten Mordfällen mit ähnlichen Stichwunden durchzusehen«, sagte sie. »Nun, das habe ich getan, aber es hat leider länger gedauert, weil ich einen Haufen Akten sichten mußte, die wir nicht im Computer haben... «

»Schon gut«, unterbrach Ainslie sie. »Haben Sie etwas gefunden?«

»Ja, ich glaube schon. Der Bericht gehört zu einer umfangreichen Akte, mit der ich einen Boten zu Ihnen geschickt habe. Es geht dabei um einen schon siebzehn Jahre zurückliegenden Doppelmord an einem alten Ehepaar - Clarence und Florentina Esperanza.«

»Sind irgendwelche Tatverdächtigen benannt?«

»Nur einer. Aber mehr möchte ich Ihnen jetzt nicht sagen, weil Sie diese Akte selbst lesen müssen. Rufen Sie mich an, wenn Sie damit fertig sind.«

Wenig später brachte ein Bote die Akte. Wie Sanchez angedeutet hatte, enthielt sie eine Menge Papier. Ohne sich allzuviel davon zu erwarten, schlug Ainslie den schon verblaßten Aktendeckel auf und begann zu lesen.

Die Esperanzas, beide Anfang Siebzig, lebten im Happy Haven Trailer Park, einer Wohnwagensiedlung in West Dade. Als ein Nachbar ihre Leichen entdeckte, saßen sie sich gefesselt und geknebelt gegenüber. Beide wiesen Verletzungen durch brutale Schläge und tiefe Messerstiche auf. Wie der Autopsiebericht zeigte, waren die Esperanzas verblutet.

Ainslie überflog die Laborbefunde und las den in Fotokopie beigefügten polizeilichen Ermittlungsbericht, aus dem hervorging, daß die Esperanzas gutsituiert, aber nicht reich gewesen waren. Laut Aussage ihres in der Nähe wohnenden Neffen hatten sie dreitausend Dollar auf der Bank und für alle Fälle immer ein paar hundert Dollar Bargeld in Reserve. Nach ihrer Ermordung war im Wohnwagen jedoch kein Geld aufgefunden worden.

Ganz hinten in der Akte stieß Ainslie auf den vertrauten Vordruck 301 für Ermittlungsberichte in Mordfällen. Er betraf einen jugendlichen Verdächtigen, der in der Mordsache Esperanza vernommen und dann wegen Mangels an Beweisen freigelassen worden war.

Der Name auf dem Vordruck 301 sprang ihn förmlich an: Elroy Doil.

10

Wie in Florida gesetzlich vorgeschrieben, war Elroy Doils Jugendstrafakte an seinem achtzehnten Geburtstag unter Verschluß genommen worden. Seit damals konnten Ermittler sie nur aufgrund einer richterlichen Anordnung einsehen, die selten gewährt wurde. In den meisten anderen Bundesstaaten existierten ähnliche Gesetze. Wie viele seiner Kollegen hielt Malcolm Ainslie diese Bestimmung für einen juristischen Anachronismus: völlig überholt und einseitig zum Nachteil gesetzestreuer Bürger. Als er am Morgen nach der Entdeckung des Namens Elroy Doil auf einem alten Vordruck 301 in Lieutenant Newbolds Büro kam, breitete er seine mitgebrachten Unterlagen mit kaum unterdrücktem Zorn auf dem Schreibtisch des Lieutenants aus.

»Das ist Wahnsinn! Hier drin stehen Sachen, die wir schon letztes Jahr hätten wissen müssen!«

Vor einer Stunde hatte er im Archiv die alte Ermittlungsakte Esperanza ausgegraben. Sie war nicht vollständig, weil das Verbrechen außerhalb Miamis im Bezirk Metro-Dade verübt worden war. Aber die Ermittlungen waren grenzüberschreitend geführt worden, und die Mordkommission in Miami hatte eine eigene Akte Esperanza angelegt. Darin hatte Ainslie Hinweise auf die Vernehmung Doils gefunden, auf die Sandra Sanchez ihn aufmerksam gemacht hatte. Aber ohne ihren Tip hätte es keinen Grund gegeben, diese längst archivierte Akte auszugraben.

»Doil ist natürlich nie verhaftet oder angeklagt worden«, stellte Newbold fest.

»Weil seine Mutter clever genug gewesen ist, Elroy keine Fingerabdrücke abnehmen zu lassen. In der Nähe des Tatorts ist ein Bowiemesser mit Blutspuren beider Opfer und Fingerabdrücken gefunden worden. Die Kollegen in Metro-Dade wollten die Abdrücke mit denen Doils vergleichen und sind sich ziemlich sicher gewesen, daß sie übereinstimmen würden. Aber weil die Beweise nicht für eine Verhaftung ausgereicht haben und Elroy noch Jugendlicher war, ist's nie dazu gekommen.«

»Erstaunliche Zufälle«, bestätigte Newbold.

»Zufälle? Die Tatmethode im Fall Esperanza entspricht genau den jetzigen Morden. Hätten wir Doils Jugendstrafakte gehabt, wäre uns die Übereinstimmung aufgefallen, und wir hätten ihn längst aus dem Verkehr gezogen.« Ainslie beugte sich nach vorn und starrte seinen Vorgesetzten an. »Ist Ihnen klar, wie viele Menschenleben wir hätten retten können?«

Newbold schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte.

»Hey, Sergeant, das sind nicht meine Gesetze! Machen Sie mir gefälligst keine Vorwürfe!«

Ainslie ließ sich seufzend in den Besuchersessel sinken. »Entschuldigung, Leo. Aber unser ganzes Jugendstrafrecht ist wirklich verrückt. Es gibt einfach keine Jugendkriminalität mehr, sondern nur noch ganz gewöhnliche Verbrechen - das wissen Sie so gut wie ich. Und trotzdem legt uns dieses lächerliche, veraltete System, das bereits vor Jahren hätte abgeschafft werden müssen, weiterhin Beschränkungen auf.«

»Schlagen Sie vor, Jugendstrafakten überhaupt nicht mehr zu schließen?«

»Genau! Jede Straftat muß registriert werden, in den Akten bleiben und bei späteren Ermittlungen herangezogen werden können. Paßt Eltern und Bürgerrechtlern das nicht, sollen sie sich zum Teufel scheren! Wer Straftaten verübt, findet sie in seiner Akte wieder. Das ist der Preis dafür, der unabhängig vom Lebensalter zu zahlen ist - der zu zahlen sein sollte.«

»Was haben Sie als nächstes vor?« fragte Newbold. »Beantragen Sie eine richterliche Anordnung, um Doils Jugendstrafakte einsehen zu dürfen?«

»Daran arbeite ich bereits. Ich habe Curzon Knowles angerufen; er setzt die eidesstattliche Erklärung auf. Damit gehe ich zu Richter Powell. Wir wollen diese Sache vorerst für uns behalten, und er stellt keine überflüssigen Fragen.«

»Ihr alter Freund Phelan Powell?« Newbold lächelte. »Seine Ehren ist Ihnen schon oft gefällig gewesen. Würde ich Sie fragen, womit Sie ihn in der Hand haben, würden Sie's mir natürlich nicht verraten.«

»Ich bin sein unehelicher Sohn«, behauptete Ainslie, ohne eine Miene zu verziehen.

Newbold lachte. »Wie alt wäre er dann gewesen, als er Ihre Mutter geschwängert hat? Zwölf? Also ist's irgendwas anderes, aber das ist in Ordnung. In unserem Beruf sammelt jeder seine Guthaben und Schulden an.«

Damit hatte der Lieutenant natürlich recht.

Vor vielen Jahren, als Detective Ainslie zur Kriminalpolizei gegangen war, sahen sein Partner Ian Deane und er eines Nachts in einer dunklen Sackgasse einen blauen Cadillac stehen. Als sie hinter dem Wagen hielten, stieg auf der Fahrerseite ein nur teilweise bekleideter Weißer aus, der hastig seine Hose hochzog; und auf der rechten Seite tauchte eine spärlich bekleidete junge Schwarze auf. Die Kriminalbeamten erkannten beide. Die Frau war eine Prostituierte namens Wanda; der Mann war Bezirksrichter Phelan Powell, vor dem sie beide schon oft als Zeugen ausgesagt hatten. Powell, ein großer, athletisch gebauter Mann wirkte, anders als sonst, alles andere als gebieterisch.

Wanda und er hielten sich eine Hand über die Augen, blinzelten ins Schweinwerferlicht und bemühten sich verzweifelt, die Neuankömmlinge zu erkennen.

Als Ainslie und Deane ins Scheinwerferlicht traten, sagte Wanda resigniert: »O Scheiße!« Im Gegensatz zu ihr wirkte der Richter leicht benommen. Aber dann begriff er allmählich den Ernst der Lage.

»O Gott! Polizei!« Seine Stimme war vor Verzweiflung heiser. »Ich flehe Sie an... Bitte, bitte übersehen Sie diesen Vorfall! Ich bin ein Idiot gewesen... habe einer plötzlichen Versuchung nachgegeben. Das ist sonst nicht meine Art, aber wenn Sie mich anzeigen, bin ich kompromittiert, erledigt!« Er machte eine Pause, und die drei Männer wechselten verlegene Blicke. »Officers, bitte lassen Sie mich dieses eine Mal laufen! Das vergesse ich Ihnen nie... und was ich für Sie tun kann, das tue ich.«

Ainslie überlegte flüchtig, wie der Richter wohl auf sein eigenes Ansinnen reagieren würde.

Hätten die beiden Kriminalbeamten Powell angezeigt, hätte er sich wegen »Ansprechens einer Prostituierten« und »Herumtreiberei« verantworten müssen. Beides waren leichte Vergehen, die bei Ersttätern schlimmstenfalls mit einer Geldstrafe belegt wurden; das Verfahren hätte sogar eingestellt werden können. Aber Richter Powells Laufbahn wäre damit abrupt beendet gewesen.

Ainslie, der Dienstältere der beiden, zögerte unschlüssig. Er wußte, daß die Justiz blind zu sein hatte, daß sie keine Unterschiede machen durfte. Andererseits...

Ohne den Fall weiter zu analysieren oder bewußt eine Entscheidung zu treffen, sagte Ainslie zu Deane: »Wir sind über Funk gerufen worden, glaube ich. Komm, wir müssen zum Wagen zurück.«

Dann fuhren die Kriminalbeamten weg.

In den folgenden Jahren wurde dieser Vorfall nie mehr erwähnt - weder von Malcolm Ainslie noch von Richter Powell. Ainslie erzählte niemandem davon, und Detective Ian Deane kam wenig später bei einer Schießerei während einer Drogenrazzia in Overtown ums Leben.

Aber der Richter hielt Wort. Erschien Ainslie als Polizeibeamter, der die Verhaftung vorgenommen hatte, oder als Zeuge vor ihm, wurde er immer höflich und rücksichtsvoll behandelt. Gelegentlich war Ainslie auch zu Richter Powell gegangen, um aus Ermittlungsgründen eine rasche richterliche Entscheidung zu erwirken, und hatte sie jedesmal erhalten - wie hoffentlich auch diesmal.

Aber bevor Ainslie losfuhr, telefonierte er mit dem Büro des Richters. Phelan Powell hatte im Lauf der Jahre Karriere gemacht und gehörte jetzt dem Berufungsgericht des Dritten Bezirks an. Ainslie erklärte einer Sekretärin, worum es ging, und erfuhr nach kurzem Warten: »Der Richter beginnt eben eine Verhandlung. Aber wenn Sie ins Gerichtsgebäude kommen, ordnet er eine Verhandlungspause an und empfängt Sie im Richterzimmer.«

Unterwegs fuhr Ainslie bei der Staatsanwaltschaft vorbei, um den von Curzon Knowles vorbereiteten Antrag abzuholen. Erst durch Richter Powells Unterschrift wurde er der Schlüssel zu Elroy Doils Jugendstrafakte. Dieses Verfahren war mühsam und zeitraubend - ein weiterer Grund dafür, daß es nur selten angewandt wurde.

Der Gerichtsdiener hatte offenbar Anweisung, auf sein Kommen zu achten, denn sobald Ainslie den Gerichtssaal betrat, wurde er zu einem Sitz in der ersten Reihe geleitet. Richter Powell sah auf, nickte kaum merklich und kündigte wenig später an: »Wir machen jetzt eine Viertelstunde Pause. Ich habe etwas Dringendes zu erledigen.«

Im Saal standen alle auf, und der Richter zog sich durch die Tür hinter seinem Tisch zurück. Dann kam der Gerichtsdiener und begleitete Ainslie ins Richterzimmer.

Richter Powell, der bereits am Schreibtisch saß, sah ihm lächelnd entgegen. »Herein mit Ihnen! Ich freue mich, Sie zu sehen, Sergeant.« Er bot Ainslie mit einer Handbewegung einen Sessel an. »Lassen Sie mich raten. Die Mordkommission ist nach wie vor im Geschäft.«

»Bis in alle Ewigkeit... danach sieht's jedenfalls aus, Euer Ehren.« Ainslie schilderte Phelan Powell, was ihn hergeführt hatte. Der Richter war noch immer eine imposante Erscheinung, obwohl er im Lauf der Jahre erheblich zugenommen hatte und fast weißhaarig geworden war.

Powell nickte, nachdem Ainslie sein Anliegen vorgetragen hatte. »Okay, Sergeant, ich bin Ihnen gern behilflich. Aber damit alles seine Richtigkeit hat, muß ich Sie fragen, warum Sie Zugang zu dieser Jugendstrafakte beantragen.«

»Sie ist vor zwölf Jahren versiegelt worden, Euer Ehren. Mr. Doil wird jetzt verdächtigt, ein schweres Verbrechen begangen zu haben, und wir glauben, daß bestimmte Informationen aus seiner Jugendzeit unsere Ermittlungen erleichtern könnten.«

»Gut, das genügt mir. Sie sollen Zugang erhalten. Wie ich sehe, haben Sie die Papiere mitgebracht.«

Jeder andere Richter, das wußte Ainslie, hätte seine Antwort auf die vorige Frage als ungenügend abgetan. Und er hätte weitergefragt - eindringlich, vielleicht sogar feindselig. Richter liebten ihre Vorrechte; viele bestanden auf einem regelrechten Wortgefecht, bevor sie irgend etwas genehmigten. Aber Ainslie wollte, daß möglichst wenig Leute erfuhren, daß Elroy Doil jetzt ihr Hauptverdächtiger war. Daß er keine weiteren Erklärungen hatte abgeben müssen, erhöhte die Chancen, daß nicht viel über die Öffnung von Doils Jugendstrafakte gesprochen und spekuliert wurde.

»Scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte Richter Powell. »Eigentlich müßte ich Sie jetzt vereidigen, aber da wir uns schon so lange kennen, will ich darauf verzichten. Sie kennen die Eidesformel, und ich habe Sie vereidigt. Okay?«

»Ich bin vorschriftsmäßig vereidigt, Euer Ehren.«

Powell unterschrieb und gab ihm die Papiere zurück.

»Ich würde mich gern etwas länger mit Ihnen unterhalten«, sagte der Richter, »aber im Saal warten sie auf mich, und die Anwälte stehen immer unter Zeitdruck. Sie wissen ja, wie das ist.«

»Ja, Richter. Und vielen Dank.«

Sie schüttelten sich die Hand. An der Saaltür blieb Powell noch einmal stehen.

»Sollten Sie wieder mal Hilfe brauchen, können Sie jederzeit zu mir kommen. Sie wissen, daß das mein Ernst ist, jederzeit.«

Als Richter Powell in den Saal zurückkehrte, hörte Ainslie den Gerichtsdiener rufen: »Alles aufstehen!«

Alle Strafakten wurden im Metro-Dade Police Department Building westlich des Flughafens Miami International aufbewahrt. Nachdem Ainslie dort weitere Vordrucke ausgefüllt und unterschrieben hatte, kam Elroy Doils Jugendstrafakte aus dem Archiv und wurde in seiner Gegenwart geöffnet. Dann konnte er sie in einem zur Verfügung gestellten Raum einsehen. Er durfte auch beliebig viele Fotokopien daraus machen, aber nichts aus der Akte mitnehmen.

Die Akte war umfangreicher als erwartet. Als er sie studierte, wurde rasch klar, daß Doil wesentlich öfter mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, als selbst Ainslie vermutet hatte.

Er zählte zweiunddreißig Festnahmen (bei Jugendlichen wurde das Wort Verhaftung nicht benutzt), die zu zwanzig Verurteilungen wegen geringfügiger Vergehen geführt hatten, zweifellos nur ein Bruchteil der Straftaten, die Doil in seinem jungen Leben verübt hatte.

Die Eintragungen begannen mit einem Ladendiebstahl, nachdem Elroy im Alter von zehn Jahren eine Timex-Armbanduhr gestohlen hatte. Mit elf Jahren bettelte er auf Anweisung seiner Mutter an einer Straßenecke um Geld und wurde von der Polizei aufgegriffen und nach Hause gebracht. Mit zwölf griff er eine Lehrerin an, deren aufgeplatzte Lippe genäht werden mußte. Nach einer polizeilichen Vernehmung wurde Elroy der Obhut seiner Mutter Beulah Doil übergeben -ein bei jugendlichen Straftätern üblicher Vorgang, der sich über Jahre hinweg wiederholen sollte. Einige Monate später wurde Elroy als Mitglied einer auf Handtaschenraub spezialisierten Jugendbande festgenommen und wieder seiner Mutter übergeben. Als Dreizehnjähriger verletzte er bei einem weiteren Handtaschenraub eine ältere Frau - und kam erneut frei.

Ainslie schüttelte den Kopf. Doils Strafakte bewies wieder einmal, daß Jugendkriminalität von Polizei und Justiz einfach nicht ernstgenommen wurde. Wie er aus eigener Erfahrung wußte, konnte ein Jugendlicher, den ein Polizeibeamter um neun Uhr »festnahm«, wieder auf der Straße sein, bevor dieser Beamte um drei Uhr Dienstschluß hatte. In der Zwischenzeit waren die Eltern ins Polizeipräsidium bestellt und der Jugendliche in ihre Obhut übergeben worden - Fall erledigt.

Selbst wenn Jugendliche vor Gericht kamen, waren die Strafen mild - meistens ein paar Tage Arrest in der Youth Hall, einem nicht unangenehmen Aufenthaltsort, wo die Kids verhältnismäßig bequem untergebracht waren und sich die Zeit mit Videospielen und vor dem Fernseher vertrieben.

Nach Ansicht vieler züchtete dieses System Gewohnheitsverbrecher heran, die als Jugendliche die Überzeugung gewannen, es sei unglaublich leicht, mit Straftaten davonzukommen. Sogar die straffälligen Jugendlichen zugewiesenen Berater teilten diese pessimistische Auffassung und brachten sie auch in ihren Berichten zum Ausdruck.

War ein Jugendlicher zum zweitenmal festgenommen worden, wurde ihm ein Berater zur Seite gestellt. Das waren überlastete, unterbezahlte Leute, die nur wenig oder gar keine Spezialausbildung hatten und kein Collegestudium nachweisen mußten. Jeder dieser Berater, der unrealistisch viele Fälle zu betreuen hatte, sollte den Jugendlichen und ihren Eltern mit Ratschlägen beistehen - auch wenn sein Rat meist ignoriert wurde.

In seiner Zeit als straffälliger Jugendlicher hatte Elroy Doil anscheinend immer den gleichen Berater - einen gewissen Herbert Eiders - gehabt. Die Akte enthielt mehrere Kurzbeurteilungen des Jugendlichen, die Ainslie zeigten, daß Eiders unter schwierigen Bedingungen sein Bestes getan hatte. Eine dieser Beurteilungen schilderte den Dreizehnjährigen als »für sein Alter recht groß und sehr kräftig« und warnte vor seinem »ausgeprägten Hang zu Gewalttätigkeiten«. Im selben Bericht klagte Eiders auch über Mrs. Doils »Gleichgültigkeit«, wenn er versuchte, sie auf dieses Problem anzusprechen.

In einer weiteren von Eiders verfaßten Beurteilung wurde erwähnt, Elroy Doil habe ab seinem zwölften Lebensjahr an der Operation Guidance, einem städtischen Programm für unterprivilegierte Jugendliche, teilgenommen. Dieses Programm wurde von Pater Kevin O'Brien von der Gesu Church in Miami geleitet; es bestand aus sonntäglichen Treffen auf dem Kirchengelände mit gemeinsamen Mahlzeiten, Sport und Bibelstudium. Eiders äußerte sich hoffnungsvoll über Elroys »wachsendes Interesse für Religion und die Bibel«.

Eineinhalb Jahre später hielt ein weiterer Bericht jedoch die enttäuschende Tatsache fest, auch sein Glaubenseifer, den Pater O'Brien als »irrig und sprunghaft« bezeichnete, halte Doil keineswegs von weiteren Straftaten ab.

Ainslie notierte sich Pater O'Briens Adresse und Telefonnummer.

Bis zu Doils Volljährigkeit wies seine Strafakte zahlreiche weitere Vergehen auf, die jedoch nie dazu geführt hatten, daß ihm die Fingerabdrücke abgenommen worden waren. Bei Jugendlichen setzte das eine Verhaftung wegen eines Kapitalverbrechens oder das Einverständnis eines Erziehungsberechtigten voraus, das Beulah Doil stets verweigert hatte, wie die Protokolle zeigten.

Doils fehlende Fingerabdrücke hatten die Ermittler behindert, als er in dem Fall, mit dem seine Akte schloß, in den dringenden Verdacht geraten war, Clarence und Florentina Esperanza ermordet zu haben. Ohne Fingerabdrücke oder sonstige Beweise war es nicht möglich gewesen, Anklage gegen Elroy Doil zu erheben.

Wie frustriert seine hiesigen Kollegen damals gewesen sein mußten, konnte Ainslie sich gut vorstellen, als er die Akte Doil zuklappte und sich auf den Weg zum nächsten Kopiergerät machte.

Vom Metro-Dade Police Department aus rief Ainslie die Nummer Pater O'Briens an, der selbst am Apparat war. Der Geistliche bestätigte, er erinnere sich noch gut an Elroy Doil und sei bereit, über ihn zu reden. Wenn der Sergeant gleich zur Gesu Church fahren wolle, stehe er ihm in seinem Büro für ein Gespräch zur Verfügung.

Pater Kevin O'Brien, ein lebhafter Ire, jetzt ein Sechziger mit beginnender Glatze, bot seinem Besucher mit einer einladenden Handbewegung den Stuhl vor seinem Schreibtisch an.

Ainslie nahm Platz, bedankte sich dafür, daß der Geistliche sich Zeit für ihn nahm, schilderte ihm kurz, weshalb er sich für Doil interessierte, und fügte hinzu: »Ich bin nicht hier, um Beweise zu finden, Pater. Ich habe mich nur gefragt, ob Sie mir ein bißchen etwas über ihn erzählen könnten.«

O'Brien nickte nachdenklich. »Ich erinnere mich an Elroy, als hätte ich ihn erst gestern gesehen. Ursprünglich hat er an unserem Programm teilgenommen, weil er die Mahlzeiten brauchte, vermute ich. Aber nach einigen Wochen hat ihn die Bibel förmlich hypnotisiert - viel mehr als die übrigen Jugendlichen.«

»Ist er intelligent?«

»Sogar sehr. Und ein eifriger Leser, was mich wegen seiner marginalen Schulbildung überrascht hat. Ich weiß noch gut, wie fasziniert er von Gewalt und Verbrechen gewesen ist - erst in der Zeitung, dann in der Bibel.« O'Brien lächelte. »Das Alte Testament mit seinen >heiligen Kriegenc, dem Zorn Gottes, Verfolgungen, Rache und Morden hatte es ihm angetan. Sie wissen, welche Stellen ich meine, Sergeant?«

Ainslie nickte. »Ja, die kenne ich.« Tatsächlich hätte er aus dem Gedächtnis die Stellen nennen können, die Doil interessiert haben mußten.

»Ich habe große Hoffnungen in den Jungen gesetzt«, fuhr O'Brien fort, »und anfangs geglaubt, wir verstünden uns gut. Aber das hat sich als Irrtum erwiesen. Bei unseren Gesprächen über die Bibel hat er nur das gelten lassen, was zu seinen Vorstellungen paßte. Er wollte ein Rächer im Auftrag Gottes werden - bestimmt auch, um vermeintliche Ungerechtigkeiten in seinem Leben zu vergelten. Ich habe versucht, ihm die Augen für Gottes Liebe und Barmherzigkeit zu öffnen, aber seine Ideen sind ständig wirrer geworden. Ich wollte, ich hätte mehr erreicht.«

»Ich denke, Sie haben getan, was Sie konnten, Pater«, sagte Ainslie. »Glauben Sie, daß Doil irgendwie geistig gestört ist? Halten Sie ihn für unzurechnungsfähig?«

»Das will ich nicht behaupten.« Der Geistliche überlegte. »Eines weiß ich bestimmt: Elroy ist ein pathologischer Lügner. Er hat auch gelogen, wenn er nicht hätte lügen müssen. Und er hat mich sogar in Fällen belogen, in denen er wissen mußte, daß ich die Wahrheit kannte. Man hätte glauben können, Elroy habe eine grundsätzliche Aversion gegen die Wahrheit in jeglicher, selbst in harmloser Form.«

O'Brien fügte hinzu: »Das ist so ziemlich alles, was ich Ihnen über Elroy erzählen kann. Er ist einfach ein Junge auf dem falschen Weg gewesen, und aus der Tatsache, daß Sie mich aufgesucht haben, schließe ich, daß er seinen Kurs nicht geändert hat.«

»Anscheinend nicht«, bestätigte Ainslie. »Noch eine letzte Frage, Pater. Haben Sie jemals den Verdacht gehabt, Doil trage eine Schußwaffe? Oder irgendeine Waffe?«

»Ja«, sagte O'Brien sofort. »Daran erinnere ich mich gut. Die meisten Jugendlichen haben ständig über Schußwaffen geredet, obwohl ich ihnen verboten hatte, welche in die Kirche mitzubringen. Aber Elroy hat Schußwaffen abgelehnt, hat nichts von ihnen wissen wollen. Die anderen haben erzählt, er trage ein Messer bei sich - ein großes Messer, mit dem er vor seinen Freunden angegeben hat.«

»Haben Sie dieses Messer jemals gesehen?«

»Natürlich nicht. Sonst hätte ich's konfisziert.« Ainslie schüttelte O'Brien zum Abschied die Hand und sagte: »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Pater. Elroy Doil bleibt ein Rätsel, aber Sie haben mir geholfen, ihn etwas besser kennenzulernen.«

Ainslie kam am frühen Nachmittag in die Dienststelle zurück und setzte für sechzehn Uhr eine Besprechung mit ausgewählten Mitgliedern der Sonderkommission an. Auf der Liste, die er einer Sekretärin gab, standen die Sergeants Pablo Greene und Hank Brewmaster sowie die Detectives Bernard Quinn, Ruby Bowe, Esteban Kralik, Jose Garcia, Dion Jacobo, Charlie Thurston, Seth Wightman, Gus Janek und Luis Linares. Sie alle waren an der Überwachungsaktion beteiligt gewesen.

Detective Dan Zagaki, der ebenfalls dabei war, stand nicht auf der Liste. Als der junge Kriminalbeamte nachmittags in der Dienststelle erschien, ging Ainslie mit ihm zu einem privaten Gespräch in ein freies Büro. Zagaki fühlte sich sichtlich unbehaglich, als er Platz nahm.

Zagaki war erst vor einem Vierteljahr zur Mordkommission versetzt worden, nachdem er zwei Jahre Streifendienst gemacht und immer sehr gute Beurteilungen erhalten hatte. Er stammte aus einer alten Offiziersfamilie: Sein Vater war General in der U.S. Army, sein älterer Bruder Oberstleutnant im Marine Corps. In der Mordkommission hatte Zagaki stets Diensteifer und Einsatzbereitschaft bewiesen - vielleicht von beidem zuviel, überlegte Ainslie sich jetzt.

»Während Ihrer Überwachungstätigkeit«, sagte Ainslie, »haben Sie mir gemeldet, Elroy Doil sei wahrscheinlich nicht unser Mörder. Sie haben empfohlen, ihn nicht weiter zu observieren. Stimmt das?«

»Ja, das stimmt, Sergeant. Aber mein Partner Luis Linares ist der gleichen Meinung gewesen.«

»Nicht ganz. Als ich mit Linares gesprochen habe, hat er gesagt, auch er halte Doil für einen unwahrscheinlichen Kandidaten. Aber er hat nicht dafür plädiert, seine Überwachung einzustellen. >Soweit würde ich nicht gehenc, hat er mir erklärt.«

Zagaki war sichtlich geknickt. »Ich hab' mich getäuscht, was? Das wollen Sie mir doch sagen, oder?«

Ainslies Tonfall wurde schärfer. »Ja, Sie haben sich getäuscht, sogar gefährlich getäuscht. Empfehlungen von Detectives werden ernstgenommen, obwohl ich Ihre zum Glück nicht beachtet habe. Hier, lesen Sie selbst!« Er legte Zagaki mehrere Fotokopien hin: den Vordruck 301, auf den Sandra Sanchez gestoßen war, eine Zusammenfassung der Ermittlungen im Mordfall Esperanza, in dem Elroy Doil vor siebzehn Jahren als Hauptverdächtiger benannt worden war, und drei Seiten aus Doils Jugendstrafakte.

Als der junge Detective wieder aufsah, machte er ein zerknirschtes Gesicht. »Mann, da hab' ich echt danebengelegen! Was haben Sie mit mir vor, Sergeant - fliege ich raus?«

Ainslie schüttelte den Kopf. »Nein, die Sache bleibt unter uns.

Aber wenn Sie ihren Dienst weiter in der Mordkommission machen wollen, müssen Sie daraus eine Lehre ziehen. Lassen Sie sich bei solchen Entscheidungen Zeit; urteilen Sie nicht nur nach äußeren Eindrücken. Seien Sie immer skeptisch. Denken Sie daran, daß im richtigen Leben selten etwas so ist, wie's auf den ersten Blick aussieht.«

»Ich werd's mir merken, Sergeant. Und vielen Dank dafür, daß die Sache unter uns bleibt.«

Ainslie nickte. »Noch etwas, das Sie wissen sollten: Ich habe für heute nachmittag eine Besprechung über Elroy Doils weitere Beobachtung angesetzt. Sie werden wahrscheinlich davon hören, aber ich habe Sie von der Liste gestrichen.«

Zagaki war sichtlich niedergeschlagen. »Sergeant, mir ist klar, daß ich das verdient habe. Aber kann ich Sie nicht irgendwie dazu überreden, mir noch eine Chance zu geben? Diesmal mache ich keinen Scheiß, das verspreche ich Ihnen.«

Ainslie zögerte. Sein Instinkt riet ihm, bei seiner Entscheidung zu bleiben. Er traute Zagaki einfach nicht so recht. Dann erinnerte er sich daran, wie er früher selbst Anfängerfehler gemacht und darauf gehofft hatte, seine Vorgesetzten würden Verständnis dafür aufbringen.

»Also gut«, sagte er. »Seien Sie um sechzehn Uhr da.«

11

»Über den Hauptverdächtigen sind wir uns vermutlich alle einig«, sagte Ainslie.

Die in Newbolds Dienstzimmer zusammengedrängten zwölf anderen Mitglieder der Sonderkommission murmelten zustimmend. Der Lieutenant stand ganz hinten in der Nähe der Tür; er hatte Ainslie seinen Schreibtisch überlassen.

Die drei Sergeants und zehn Detectives der Sonderkommission saßen auf Stühlen, hockten auf Tischkanten und Fensterbänken oder lehnten einfach an der Wand. Im Verlauf der Besprechung spürte Ainslie, wie die allgemeine Spannung wuchs, als er vortrug, was Sandra Sanchez entdeckt hatte, und wichtige Einzelheiten aus Elroy Doils Jugendstrafakte vorlas.

»Vor allem müssen wir Doil sofort wieder überwachen«, erklärte Ainslie seinen Leuten. »Pablo und Hank, ihr stellt einen Dienstplan auf. Ich schlage vor, daß ihr die ersten achtundvierzig Stunden gleich einteilt, damit jeder Bescheid weiß, bevor wir nachher auseinandergehen. Mich dürft ihr natürlich nicht vergessen. Spannt mich mit Zagaki zusammen.«

Brewmaster nickte. »Wird gemacht, Malcolm.«

»Bei dieser Observation kommt's auf zwei Dinge an«, fuhr Ainslie fort. »Erstens müssen wir verdammt aufpassen, damit Doil nicht merkt, daß er beschattet wird. Und zweitens müssen wir dicht an ihm dranbleiben, damit er uns nicht entwischt. Das ist ein schwieriger Balanceakt, aber wir wissen alle, was hier auf dem Spiel steht.

Oh, noch etwas«, sagte Ainslie zu den beiden Sergeants. »Setzt Detective Bowe nicht auf den Dienstplan. Für sie habe ich einen anderen Auftrag.«

Er wandte sich an Ruby Bowe. »Ich möchte, daß Sie Informationen über Elroy Doils Arbeitsverhältnisse einholen, Ruby. Wir wissen, daß er als Lastwagenfahrer bei verschiedenen Firmen arbeitet. Stellen Sie fest, um welche Firmen es sich handelt und was er an den Tagen der jeweiligen Morde gemacht hat. Aber Sie müssen behutsam vorgehen, damit ihm nicht irgend jemand steckt, daß wir uns nach ihm erkundigt haben.«

»Dafür brauche ich alles, was wir über Doil wissen«, sagte Ruby, »auch die Berichte über die bisherige Überwachung.«

»Ich lasse Ihnen anschließend alles kopieren«, versprach Ainslie. Sein Blick glitt über die versammelten Kriminalbeamten. »Noch Diskussionsbeiträge? Noch Fragen?«

Als sich niemand meldete, sagte er: »Gut, dann an die Arbeit.«

Die Überwachung Elroy Doils dauerte drei Wochen und zwei Tage. Für die Kriminalbeamten war die Tag und Nacht andauernde Observation wie üblich größtenteils eintönig und sogar langweilig. Aber es gab auch spannende Augenblicke, wenn es darauf ankam, nicht entdeckt zu werden. Und ausgerechnet in diese Zeit fiel die längste Schlechtwetterperiode des Jahres. Stürmische Winde und häufige Regenfälle machten die Beschattung Doils, der häufig mit Lastwagen unterwegs war, ungewöhnlich schwierig. Blieb das Überwachungsfahrzeug zu lange dicht hinter ihm, konnte Doil es im Rückspiegel bemerken. Andererseits bestand Gefahr, daß er seine Verfolger abhängte, wenn sie den Abstand bei starkem Regen mit schlechter Sicht allzugroß werden ließen.

Gelöst wurde dieses Problem zumindest teilweise durch den Einsatz zweier, manchmal sogar dreier Überwachungsfahrzeuge, die Funkverbindung miteinander hatten. Nachdem ein Wagen eine Zeitlang hinter Doil geblieben war, ließ er sich zurückfallen und wurde von dem anderen Fahrzeug abgelöst. Das verhinderte, daß Doil mißtrauisch wurde.

Die Kombination aus drei Fahrzeugen - im allgemeinen ein Lieferwagen und zwei unauffällige Personenwagen - wurde eingesetzt, wenn Doil wieder einmal mit einem Lastwagen im Fernverkehr unterwegs war. Bei einer Fahrt nach Orlando verloren die sechs Kriminalbeamten - je zwei in drei Wagen -Doil an der Stadtgrenze bei strömendem Regen aus den Augen. Die Beamten fuhren kreuz und quer durch Orlando und verfluchten die schlechte Sicht. Charlie Thurston und Luis Linares, die mit einem Postauto unterwegs waren, entdeckten den Gesuchten zuletzt in einer Pizzabar. Sein Lastwagen war in der Nähe geparkt.

Nachdem Thurston die anderen über Funk benachrichtigt hatte, knurrte Linares: »Verdammt, die Überwachung bringt nichts! Die kann jahrelang so weitergehen.«

»Ich mach' dir 'nen Vorschlag, Luis«, antwortete Thurston. »Du gehst einfach zu ihm hin und erzählst ihm das. Du sagst: >Hey, Blödmann, wir haben diesen Scheiß satt. Zieh schon los und leg die nächsten Leute um.<«

»Witzig, witzig«, wehrte Linares ab. »Du solltest im ausgeschalteten Fernsehen auftreten.«

War Elroy Doil nicht mit einem Lastwagen unterwegs, fand die Überwachung hauptsächlich in der Nähe seiner Unterkunft statt, was ebenfalls Probleme aufwarf.

Gemeinsam mit seiner Mutter Beulah hatte Doil in Wynwood an den Bahngleisen in einer Holzhütte auf dem Grundstück 23 Northeast 35th Terrace gehaust. Jetzt bewohnte er die baufällige Zweizimmerhütte allein und hatte davor einen klapprigen Pickup stehen, mit dem er herumfuhr.

Da ein unbekanntes Fahrzeug auffallen konnte, wenn es zu lange in der Nähe geparkt stand, wechselten die Überwachungswagen häufig - nach Einbruch der Dunkelheit und bei schlechtem Wetter jedoch seltener. Alle hatten getönte Scheiben, so daß die Detectives nicht befürchten mußten, sie könnten gesehen werden.

An manchen Abenden verbrachten die Überwachungsteams lange Stunden vor Doils Stammlokalen. Das eine war das Pussycat Theatre, eine Bar mit Stripteasevorführungen, das andere der Harlem Niteclub. Beide waren der Polizei gut als Stammlokale von Drogendealern und Prostituierten bekannt.

»Jesus!« sagte Dion Jacobo nach der dritten Regennacht in einem gegenüber dem Pussycat geparkten Überwachungsfahrzeug. »Kann der Kerl nicht wenigstens einmal ins Kino gehen? Dann könnte einer von uns ein paar Reihen hinter ihm sitzen.« Die Detectives folgten Doil nie in Bars oder an sonstige beleuchtete Orte, denn sie mußten damit rechnen, daß ihre Gesichter bekannt waren.

Selbst nach fast drei Wochen ununterbrochener Überwachung hatte keiner der Detectives etwas Verdächtiges oder auch nur Ungewöhnliches feststellen können. Ainslie, der die wachsende Frustration seiner gelangweilten Leute spürte, versuchte immer wieder, sie mit neuen Informationen aufzumuntern, die hauptsächlich von Detective Ruby Bowe stammten.

Bowe begann ihre Nachforschungen beim Social Security Office in Miami, wo sie Elroy Doils Sozialversicherungsunterlagen einsehen konnte. Sie beschränkte sich auf die beiden letzten Jahre und stellte fest, daß Doil bei fünf Firmen in Miami und Umgebung gearbeitet hatte: Overland Trucking, Prieto Fast Delivery, Superfine Transport, Porky's Trucking und Suarez Motors & Equipment. Doil, der seine Arbeitgeber häufig wechselte, hatte bei jedem mehrmals für kurze Zeit gearbeitet. Bowe suchte diese Firmen nacheinander auf.

Als besonders hilfsbereit erwies sich Alvin Travino, der Chef der Spedition Overland Trucking. Mr. Alvino, ein kleiner, weißhaariger Mann Ende Sechzig, entschuldigte sich mehrmals für seine »schlampige Buchführung«, die in Wirklichkeit tadellos war. Er hatte keine Mühe, alle Fahrten Elroy Doils in den vergangenen zwei Jahren mit Datum, Zeit, Strecke und Spesenabrechnung zu belegen. Damit Ruby Bowe sich nicht mühsam Notizen machen mußte, ließ er ihr die Unterlagen von seiner Sekretärin kopieren.

Travino sprach bereitwillig über Elroy Doil. »Soviel ich weiß, hat er früher Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt, aber das hat mich nicht gestört, solange er hier keine Dummheiten machte - und das hat er nie getan. Okay, es hat ein paar Vorfälle gegeben, aber die haben sich nie auf seine Arbeit ausgewirkt. Entscheidend war immer, daß er ein verdammt guter Fahrer ist. Er rangiert mit seinem Sattelschlepper zügig wie kein anderer, was wirklich nicht einfach ist. Und er ist ein sicherer Fahrer. Hat nie einen Unfall gebaut, hat nie ein Fahrzeug beschädigt zurückgebracht.«

»Diese >Vorfälle<, die Sie erwähnt haben«, sagte die Kriminalbeamtin. »Worum ist es dabei gegangen?«

Alvin Travino schmunzelte. »Lauter verrückte Sachen; mir tut's fast leid, daß ich sie erwähnt habe. Nun, manchmal haben wir in den Fahrerkabinen seiner Wagen nach der Rückgabe seltsame Dinge entdeckt - zum Beispiel sechs oder sieben tote Vögel, einmal einen Hund, ein andermal zwei tote Katzen.«

Ruby machte große Augen. »Wow, das ist seltsam! Haben Sie Doil darauf angesprochen?«

»Nun...« Der kleine Spediteur zögerte. »Einmal haben wir deswegen richtig Streit bekommen.«

»Wirklich? Was ist passiert?«

»Anfangs habe ich vermutet, die toten Tiere hätten irgendeine religiöse Bedeutung. Sie wissen schon - wie Ziegen bei Haitianern. Aber dann hab' ich mir überlegt, daß ich solchen Scheiß nicht in meinen Fahrzeugen haben will, und Elroy entsprechend belehrt.«

»Und?«

Travino seufzte. »Mir wär's lieber, ich bräuchte Ihnen das nicht zu erzählen, denn ich kann mir denken, worauf Sie hinauswollen. Tatsächlich hat der Hundesohn einen Wutanfall gekriegt. Ist rot angelaufen, hat sein riesiges Messer gezogen und hat mich wüst beschimpft. Ich hab' richtig Angst vor ihm gehabt, das gebe ich ehrlich zu.«

»Wissen Sie noch, wie das Messer ausgesehen hat?« fragte Ruby weiter.

Der Spediteur nickte. »Lang, scharf, mit leicht gekrümmter Klinge.«

»Hat er Sie angegriffen?«

»Nein. Ich habe mich nicht einschüchtern lassen, sondern ihm ins Gesicht gesehen und ihm gesagt, daß er entlassen ist. >Verschwinde und laß dich hier nie wieder blicken<, hab' ich gesagt. Er hat sein Messer weggesteckt und ist gegangen.«

»Aber er ist zurückgekommen!«

»Richtig. Nach zwei, drei Wochen hat er angerufen und gesagt, er möchte wieder als Aushilfsfahrer arbeiten. Ich habe ihn weiterbeschäftigt. Danach hat's nie mehr Schwierigkeiten gegeben. Er ist wie gesagt ein guter Fahrer.«

Die Sekretärin kam mit einem Stoß Fotokopien aus Fahrtenbüchern zurück. Travino blätterte sie durch, bevor er sie Detective Bowe gab.

»Sie haben mir wirklich weitergeholfen«, sagte sie. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Doil nicht erzählen würden, daß ich bei Ihnen gewesen bin.«

Travino schmunzelte erneut. »Nein, nein, ich halte dicht. Sonst zieht er vielleicht wieder sein Messer.«

Bei der Spedition Superfine Transport sprach Ruby Bowe nicht nur mit dem Geschäftsführer, sondern auch mit zwei Angestellten, die Elroy Doil kannten. Wie bei den übrigen Firmen erhielt sie bereitwillig alle gewünschten Auskünfte, weil niemand Scherereien mit der Polizei wollte.

Der Disponent Lloyd Swayze, ein aufgeweckter, redegewandter Schwarzer, brachte die allgemeine Meinung über Doil auf den Punkt: »Der Kerl ist ein Einzelgänger. Er will gar keine Freunde haben. Aber läßt man ihn in Ruhe seine Arbeit tun und darauf versteht er sich -, ist alles in Ordnung. Allerdings ist er verdammt cholerisch; das hab' ich einmal erlebt, als ein anderer Fahrer ihn aufziehen wollte. Glauben Sie mir, Doil hätte ihn am liebsten umgebracht.«

»Hat's eine Schlägerei gegeben?«

»Es hätte eine gegeben, aber wir dulden so was nicht. Ich habe den anderen Mann weggeschickt und Doil erklärt, daß er sich seine Papiere holen kann, wenn er sich nicht gleich abregt. Ich hab' schon gedacht, er würde mich angreifen, aber dann hat er sich die Sache doch anders überlegt. Jedenfalls kann der Kerl echt gefährlich sein, falls Sie darauf hinauswollen.«

»Danke«, sagte Bowe. »Sie haben mir eine Frage erspart.«

Mick Lebo, ein stämmiger, rauhbeiniger Fahrer, bestätigte, was Swayze über Doil gesagt hatte, und fügte hinzu: »Der Kerl ist 'ne Ratte. Ich würd' ihm keine gottverdammte Sekunde lang trauen.«

»Gibt's hier einen anderen Fahrer, mit dem Doil geredet, dem er sich vielleicht anvertraut hat?« fragte Bowe. Das war eine Standardfrage, weil viele Mörder gefaßt wurden, nachdem sie mit vermeintlichen Freunden, die sie später anzeigten oder als Zeugen gegen sie aussagten, über ihre Verbrechen gesprochen hatten.

»Der Dreckskerl redet nie!« sagte Lebo verächtlich. »Mit keinem von uns. Steht man beim Pissen neben ihm, würd' er einem nicht mal zunicken - aber einem auf den Fuß pissen, das tät' er vielleicht.« Lebo lachte schallend über seinen eigenen Witz und stieß Ruby mit dem Ellbogen an.

Auch die Spedition Overland Trucking verließ Detective Ruby Bowe mit Fotokopien der Fahrtenbücher Elroy Doils aus den vergangenen zwei Jahren und der Zusage ihrer Informanten, ihr Gespräch vertraulich zu behandeln.

Im Gegensatz zu den anderen Firmen auf der Liste war Suarez Motors & Equipment keine Spedition, sondern reparierte Personenwagen und Kleinlaster und verkaufte Ersatzteile. Elroy Doil hatte dort gelegentlich als Mechaniker gearbeitet. Aber vor ungefähr einem Monat hatte er plötzlich gekündigt und war nicht einmal zurückgekommen, um sich bei Pedro Suarez, dem jungen Firmeninhaber, den letzten Lohnscheck abzuholen. Bowe bat um eine Fotokopie, als er ihr den Scheck zeigte.

»Ist er ein guter Mechaniker?« fragte sie Suarez.

»Er arbeitet gut und schnell - aber er ist ein unverbesserlicher Unruhestifter. Fängt mit jedem Streit an. Ich wollte ihn rausschmeißen, aber er hat selbst gekündigt.«

»Halten Sie Elroy Doil für clever?«

»Yeah. Er ist clever, weil er schnell lernt. Man braucht ihm bloß was zu erklären oder zu zeigen, dann hat er's schon begriffen. Aber er kann sich nicht beherrschen.«

Suarez erläuterte Bowe, seine Firma sei nicht nur ein Reparaturbetrieb, sondern auch im Großhandel mit Ersatzteilen tätig. Als sie danach fragte, erfuhr sie, bei Suarez Motors gebe es für Lieferungen an Wiederverkäufer zwei Kastenwagen.

»Hat Doil jemals Teile ausgefahren?« fragte sie weiter.

»Klar, wenn einer unserer Fahrer verhindert war.«

»Haben Sie Aufzeichnungen darüber?«

Suarez verzog das Gesicht. »Ich hab' schon befürchtet, daß Sie danach fragen würden. Bestimmt haben wir welche, aber die müßten erst ausgegraben werden.«

Er führte Bowe in den kleinen, staubigen Abstellraum hinter seinem Büro mit überquellenden Regalen, einem halben Dutzend Aktenschränken und einem Kopiergerät. Suarez zeigte auf einen der Aktenschränke. »Sie interessieren sich für die beiden letzten Jahre? Dort finden Sie alles. Aber Sie müssen die Unterlagen selbst durchsehen, fürchte ich.«

»Das macht nichts. Darf ich den Fotokopierer benutzen?«

»Bedienen Sie sich.« Suarez grinste. »Soll ich Doil reinbringen, falls er vorbeikommt, um seinen Scheck abzuholen?«

»Bitte nicht.« Bowe wiederholte rasch, dieser Besuch müsse unbedingt vertraulich bleiben.

Ihre Suche, bei der sie Kundenrechnungen, Lieferscheine, Fahrtenbücher und Lohnlisten miteinander vergleichen mußte, dauerte bis zum Spätnachmittag. Aber als sie ging, hatte sie Elroy Doils Tätigkeit bei Suarez Motors & Equipment gründlich recherchiert.

Die Speditionen Prieto Fast Delivery und Porky's Trucking waren ähnlich kooperativ, und die vier Besuche gaben Aufschluß über weitere Facetten von Doils Charakter, darunter die Tatsache, daß er regelmäßige Arbeit verabscheute. Hatte er das Bedürfnis, mal wieder zu arbeiten - vermutlich aus Geldmangel -, rief er eine der fünf Firmen an und wurde bei Bedarf als Aushilfsfahrer eingestellt. Er war offenbar clever genug, um dort nicht zu klauen oder zu betrügen, konnte seine Aggressivität aber nie ganz zügeln.

Für Ruby Bowe bestand der nächste Schritt darin, die gesammelten Informationen mit den Daten der einzelnen Morde zu vergleichen.

An ihrem Schreibtisch nahm Bowe sich als erstes die Morde außerhalb Miamis vor. Am 12. März waren Hal und Mabel Larsen in Clearwater - etwa vierhundert Kilometer nordwestlich von Miami - ermordet worden. An diesem Tag hatte Elroy Doil einen Sattelschlepper der Overland Trucking mit einer Ladung Möbel von Miami nach Clearwater gefahren, wo er laut Fahrtenbuch und Spesenabrechnung am Spätnachmittag angekommen war und im Motel Home Away From Home übernachtet hatte. Bowe, die eine heiße Spur witterte, rief das Motel an und erfuhr, daß es vier Blocks von der Adresse der Mordopfer entfernt war. Doil war am nächsten Tag mit einer Ladung Plastikröhren nach Miami zurückgefahren.

Außerdem war Doil erst zwei Wochen zuvor mit einem Overland-Fahrzeug in Clearwater gewesen und hatte im selben Motel übernachtet. Beim ersten Trip, überlegte Bowe, konnte er seinen Opfern nachspioniert haben, um sie dann beim zweiten zu ermorden.

Der nächste Fall war der Doppelmord in Fort Lauderdale, wo Irving und Rachel Hennenfeld am 23. Mai tot aufgefunden worden waren, die man vermutlich bereits am 19. Mai ermordet hatte.

Im Mai war Doil zweimal in Fort Lauderdale gewesen, diesmal für Porky's Trucking - erst am 2. Mai, dann nochmals am 19. Mai. Der Fahrtenbucheintrag für die zweite Fahrt bewies, daß er um 15.30 Uhr in Miami abgefahren war, in Fort Lauderdale drei Sendungen ausgeliefert hatte und kurz vor Mitternacht zurückgekommen war. Da die Entfernung zwischen den beiden Städten nur vierzig Kilometer betrug, war eine achteinhalbstündige Abwesenheit nicht recht erklärlich. Für die erste Fahrt am 2. Mai mit vier Auslieferungen in Fort Lauderdale hatte er nur fünf Stunden gebraucht. Offenbar, überlegte Bowe, dauerte die Suche nach geeigneten Opfern weniger lange als ihre grausige Ermordung.

Obwohl es bei den drei Doppelmorden in Miami keine so genauen Übereinstimmungen gab, wies jeder mögliche Zusammenhänge auf, die zu auffällig waren, um ignoriert zu werden.

Am Vormittag vor dem Mord an dem Ehepaar Homer und Blanche Frost im Hotel Royal Colonial hatte Doil in Coral Gables im Auftrag von Prieto Fast Delivery acht Sendungen ausgeliefert und vier abgeholt. Zwei Sendungen waren für Geschäfte in der Southwest 27th Avenue bestimmt gewesen, wo auch die Filiale der First Union Bank lag, in der die Frosts an diesem Vormittag Reiseschecks im Wert von achthundert Dollar eingelöst hatten.

Es war durchaus möglich, dachte Bowe - sogar wahrscheinlich -, daß Elroy Doil das ältere Ehepaar beobachtet hatte, vielleicht sogar in der Bank, und ihm ins Hotel gefolgt war. Dann wäre es kinderleicht gewesen, als angeblicher Hotelgast mit den Frosts in ihre Etage hinaufzufahren, sich ihre Zimmernummer zu merken und nachts wiederzukommen. Natürlich waren das alles Vermutungen, aber in Kombination mit den früheren Doppelmorden und den auffälligen Übereinstimmungen waren sie zu plausibel, um ignoriert zu werden.

Als nächstes kamen die beiden weiteren in Miami verübten Doppelmorde an Lazaro und Luisa Urbina in der Wohnanlage Pine Terrace und an Commissioner Gustav Ernst und seiner Frau Eleanor in ihrer Villa in Bay Point. In beiden Fällen zeigten die Unterlagen der Firmen Suarez Motors & Equipment und Prieto Fast Delivery, daß Doil Sendungen in der Nähe der Tatorte ausgeliefert hatte.

Die von Bowe bei Suarez Motors kopierten Unterlagen zeigten, daß Doil in den drei Wochen vor der Ermordung der Urbinas an zwei verschiedenen Tagen in der Nähe ihrer Wohnung gewesen war. Was das eingezäunte und ständig bewachte Villenviertel Bay Point betraf, hatte er dort nur zweimal Sendungen ausgeliefert - nicht bei den Ernsts, sondern in anderen Häusern. Und das letzte Mal war er fast fünf Wochen vor der Ermordung der Ernsts dortgewesen. Aber bei den beiden Zustellungen in Bay Point konnte Doil die Besucherkontrollen beobachtet und festgestellt haben, wie sie sich mit gefälschten Lieferpapieren überlisten ließen.

Bowe fiel noch etwas auf: Die Fotokopie des Lohnschecks, den Elroy Doil nicht bei Suarez Motors abgeholt hatte, zeigte, daß er einen Tag nach der Ermordung von Gustav und Eleanor Ernst plötzlich gekündigt hatte.

Hatte Doil dies getan, fragte Bowe sich, weil er fürchtete, inzwischen als Serienmörder verdächtigt zu werden, und daher untertauchen wollte?

Sobald Detective Bowe die Ergebnisse ihrer Nachforschungen ausgewertet hatte, trug sie das Resultat erwartungsvoll Sergeant Ainslie vor. Er fand ihre Mitteilung so ermutigend, daß er die meisten Informationen an die Kriminalbeamten seiner Sonderkommission weitergab und hinzufügte: »Doil ist unser Mann, das steht fest. Seid also geduldig und bleibt trotz des Hundewetters dran. Irgendwann macht er einen Fehler - und dann sind wir da und schnappen ihn uns.«

Er hielt auch Staatsanwalt Curzon Knowles auf dem laufenden, aber der reagierte nicht gerade begeistert.

»Klar, Ruby hat sich als findig erwiesen, als sie dieses Zeug zusammengetragen hat. Und natürlich zeigt es, daß Doil Gelegenheit hatte, alle diese Leute zu ermorden, und es vermutlich auch getan hat. Aber das müssen wir ihm erst nachweisen, und der ganze Schmonzes enthält keinen einzigen brauchbaren Beweis. Sie haben nicht mal genug in der Hand, um einen Haftbefehl beantragen zu können.«

»Das weiß ich, Counselor, aber ich wollte Sie nur auf dem laufenden halten. Einen positiven Aspekt hat die Sache allerdings. Unser Verdacht gegen Doil hat sich so verdichtet, daß wir keine Zeit mit anderen Leuten vergeuden müssen.«

»Ja, das sehe ich.«

»Deshalb bleiben wir dran«, sagte Ainslie. »Irgendwann vielleicht schon bald - geht er uns ins Netz. Das ist meine feste Überzeugung.«

Der Staatsanwalt schmunzelte. »Wie ich sehe, Malcolm, sind Sie im Grunde noch immer in der Glaubensbranche.«

12

Zu dem miserablen Wetter, das die mehr als dreiwöchige Überwachung Elroy Doils behinderte, kam eine Darmgrippewelle, die ganz Miami erfaßte. Auch das Police Department blieb nicht davon verschont; allein in Ainslies Sonderkommission fielen die Detectives Jose Garcia und Seth Wightman aus. Beide Männer wurden krankgeschrieben und heimgeschickt, was die ständige Überwachung Doils weiter erschwerte.

Deshalb hatten Malcolm Ainslie und Dan Zagaki jetzt eine Doppelschicht übernommen. Die beiden waren seit neun Stunden im Dienst, weitere fünfzehn lagen vor ihnen. Es war 16.20 Uhr, und sie saßen einen halben Straßenblock von Elroy Doils Holzhütte entfernt in einem auf der Northeast 35 Terrace geparkten Lieferwagen mit der Aufschrift Burdines Department Store.

Auch heute hatte es wieder fast den ganzen Tag geregnet. Jetzt wurde es bei wolkenverhangenem Himmel rasch dunkel.

Ab sieben Uhr morgens war Doil mit einem Sattelschlepper der Spedition Overland Trucking von Miami aus unterwegs gewesen: erst nach West Palm Beach, dann weiter nach Boca Raton und gegen fünfzehn Uhr nach Miami zurück - insgesamt rund zweihundertdreißig Kilometer bei scheußlichem Regenwetter. Drei Observierungsteams, darunter auch Ainslie und Zagaki, hatten ihn unterwegs beschattet. Tagsüber hatte sich nichts Außergewöhnliches ereignet - bis auf die Tatsache, die Zagaki auf der Fahrt festgestellt hatte: »Doil verhält sich heute irgendwie anders, Sergeant. Ich weiß nicht, was er hat...«

»Er ist angespannt«, stimmte Ainslie ihm zu. »Man merkt's an seiner Fahrweise, und wenn er irgendwo hält, wirkt er ruhelos, als müsse er ständig in Bewegung bleiben.«

»Hat das etwas zu bedeuten, Sergeant?«

Ainslie zuckte mit den Schultern. »Könnte von Drogen kommen, obwohl Doil anscheinend nie welche genommen hat. Vielleicht ist er nervös. Das weiß nur er.«

»Vielleicht kriegen wir's noch raus.«

»Vielleicht.« Ainslie beließ es dabei, spürte aber selbst eine gewisse Anspannung und das vertraute Gefühl, daß die Dinge sich auf eine Entscheidung zubewegten.

Nachdem sie Doil auf der Heimfahrt vom Firmengelände der Overland Trucking beschattet hatten, warteten Ainslie und Zagaki darauf, was als nächstes passieren würde.

»Was dagegen, wenn ich ein Nickerchen mache, Sergeant?« fragte Zagaki.

»Nein, nur zu.« Es war vernünftig, während einer langen Doppelschicht jede Möglichkeit zu einer Ruhepause zu nutzen, zumal Doil nach seiner achtstündigen Fahrt zu Hause war und vermutlich schlief.

»Danke, Sergeant«, sagte Zagaki, als er sich zurücklehnte und die Augen schloß.

Ainslie hatte jedoch nicht vor, in dieser Nacht zu schlafen. Er traute dem jungen Kriminalbeamten noch immer nicht recht und hatte sich vor allem deshalb mit Zagaki zusammenspannen lassen, um ihn während der Überwachung im Auge behalten zu können. Fairerweise mußte er allerdings zugeben, daß Zagakis Leistung bisher tadellos gewesen war. Er hatte klaglos alles ausgeführt, was Ainslie ihm aufgetragen hatte, und war vor allem viel gefahren. Aber trotzdem...

Zagakis Verhalten verunsicherte ihn, und obwohl er Mühe gehabt hätte, fundierte Kritik vorzubringen, sagte Ainslies Instinkt ihm, daß sich hinter Zagakis übertrieben respektvoller Art, seinem ständigen »Sergeant«, unaufrichtige Schmeichelei verbarg.

Oder bin ich selbst übertrieben kritisch? fragte Ainslie sich.

»Dreizehnzehn, hier dreizehnhundert.« Dieser knappe Anruf kam aus seinem Handfunkgerät.

Das war Lieutenant Leo Newbold.

»Dreizehnzehn«, antwortete Ainslie. »QSK.«

Um auszuhelfen, während die Sonderkommission personell unterbesetzt war, hatte Newbold gemeinsam mit Dion Jacobo mehrere Schichten übernommen. Um Ainslie und Zagaki notfalls unterstützen zu können, saßen die beiden jetzt einige Wohnblocks entfernt in einem acht Jahre alten Ford mit eingebeulten Kotflügeln, abblätterndem Lack und einem Motor mit Turbolader, mit dem die Klapperkiste es mit jedem Sportwagen aufnehmen konnte.

»Ist bei euch irgendwas los?« fragte Newbold.

»Negativ«, antwortete Ainslie. »Unser Mann ist...« Aber er brachte den Satz nicht zu Ende. »Augenblick! Er kommt gerade aus dem Haus, geht zu seinem Pickup.« Er rüttelte Zagaki wach, der die Augen öffnete, sich aufsetzte und den Motor ihres Lieferwagens anließ.

Draußen schlurfte Doil mit gesenktem Kopf und tief in den Taschen seiner Jeans vergrabenen Händen zu seinem Pickup.

Kurze Zeit später berichtete Ainslie: »Er sitzt im Wagen, fährt an, fährt rasch weg. Wir folgen ihm.«

Daß Doil wegfuhr, kam unerwartet. Aber Zagaki ließ ihren Lieferwagen bereits anrollen, lenkte ihn auf die Straße hinaus und behielt den klapprigen Pickup im Auge.

»Wir fahren auch«, bestätigte Newbold. »Wir bleiben hinter euch. Haltet uns auf dem laufenden, wohin er fährt.«

»Er hat die North Miami Avenue erreicht«, meldete Ainslie, »biegt jetzt nach Süden ab.« Wenig später folgte die Meldung: »Er überquert die Twentyninth Street.«

Aus dem Lautsprecher drang Newbolds Stimme: »Wir sind parallel zu euch auf der Second Avenue. Meldet weiter, welche Straßen er überquert. Wir können jederzeit rüberwechseln und euch ablösen.«

Daß zwei Überwachungsfahrzeuge Parallelstraßen benutzten und zwischendurch immer wieder die Position wechselten, war eine bewährte, aber manchmal etwas riskante Taktik.

Bei stärker werdendem Regen frischte jetzt auch der Wind auf.

»Sie entscheiden, was zu tun ist, Malcolm«, sagte Newbold über Funk. »Aber meinen Sie nicht, daß wir ein drittes Team anfordern sollten?«

»Noch nicht«, antwortete Ainslie. »Ich glaube nicht, daß er die Stadt verläßt... Er fährt gerade über die Eleventh Street; wir sind einen Block hinter ihm. Ich schlage vor, an der Flagler Street zu wechseln.«

»QSL.«

Wieder Ainslie: »Wir sind kurz vor der Flagler Street. Er fährt weiter nach Süden. Übernehmen Sie ihn, Lieutenant. Wir bleiben zurück.«

»Wir fahren auf der Flagler Street nach Westen«, berichtete Newbold, »biegen nach Süden auf die Miami Avenue ab... Ja, wir sehen ihn. Er ist hinter uns... hat uns jetzt überholt... zwei Fahrzeuge zwischen uns; diesen Abstand behalten wir bei.« Einige Minuten später meldete sich Newbold: »Er überquert gerade den Tamiami Trail, scheint zu wissen, wohin er will, wahrscheinlich nach Westen. Ich schlage vor, am Bayshore Drive erneut zu wechseln.«

»QSL. Wir schließen zu Ihnen auf.«

So waren Ainslie und Zagaki im vorderen Überwachungsfahrzeug, als Elroy Doils Pickup auf dem vielbefahrenen Bayshore Drive eine kurze Strecke nach Westen fuhr, am Mercy Hospital langsamer wurde und dann nach rechts in das Villenviertel Bay Heights abbog.

Ainslie berichtete: »Unser Mann ist vom Bayshore Drive abgebogen, fährt auf der Halissee Street nach Norden, Verkehr sehr schwach.« Zagaki wies er an: »Halten Sie reichlich Abstand, aber passen Sie auf, damit er uns nicht abhängt.« Die Sichtverhältnisse hatten sich weiter verschlechtert. Der Regen hatte zwar nachgelassen, aber dafür war es inzwischen fast dunkel.

Wie die meisten Wohnstraßen in Bay Heights war die Halissee Street eine Straße mit großen, eleganten Villen auf parkartigen Grundstücken mit dichtem Baumbestand. Vor ihnen erschien eine Querstraße; Ainslie wußte, daß das die Tigertail Avenue mit ähnlichen Villen war. Aber bevor der Pickup diese Straße erreichte, hielt er plötzlich am rechten Straßenrand unter einem großen überhängenden Feigenbaum an. Die Scheinwerfer des Pickups erloschen, als Zagaki den Lieferwagen zum Stehen brachte und ebenfalls die Scheinwerfer ausschaltete. Sie standen etwa hundert Meter hinter dem Pickup und hatten mehrere geparkte Wagen zwischen Doil und sich. Aber sie saßen so hoch, daß sie im Licht einer Straßenlampe über die Autodächer hinweg Elroy Doils Kopf und Schultern in seinem Pickup sehen konnten.

»Unser Mann parkt auf der Halissee Street vor der Tigertail Avenue«, berichtete Ainslie. »Er sitzt weiter in seinem Wagen. Bisher ist nicht zu erkennen, ob er aussteigen wird.«

Newbold antwortete: »Sind eine Querstraße hinter euch. Wir parken ebenfalls.«

Sie warteten.

Zehn Minuten vergingen, ohne daß Doil sich bewegte.

»Er wirkt nicht mehr so ruhelos, Sergeant«, stellte Zagaki fest.

Wieder einige Minuten später fragte Newbold über Funk an: »Gibt's was Neues?«

»Negativ. Der Pickup steht, unser Mann sitzt darin.«

»Bei mir ist eine Nachricht eingegangen, Malcolm. Ich muß mit Ihnen reden. Können Sie zu Fuß herkommen? Notfalls können wir Sie schnell wieder zurückbringen.«

Ainslie zögerte. Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken, Zagaki allein zurückzulassen, damit er Doil überwachte. Er wäre lieber dageblieben, aber er wußte, daß der Lieutenant etwas Wichtiges zu besprechen haben mußte.

»Gut, ich komme jetzt«, antwortete er. Zu Detective Zagaki sagte er: »Ich bin so schnell wie möglich zurück. Sie lassen Doil nicht aus den Augen und rufen mich über Funk, falls er aussteigt, wegfährt oder sonst irgendwas macht. Sollte er aussteigen oder wegfahren, bleiben Sie dran - und halten Sie vor allem Verbindung mit mir.«

»Seien Sie unbesorgt, Sergeant«, sagte Zagaki eifrig, »ich lasse ihn keine Sekunde aus den Augen.«

Ainslie stieg aus dem Lieferwagen und stellte dabei fest, daß es zu regnen aufgehört hatte. Er ging im Dunkel die Straße entlang zurück.

Dan Zagaki beobachtete ihn im Rückspiegel und dachte dabei: Gott, was für ein verfluchter Langweiler du bist, Sergeant, komm bloß nicht so schnell zurück!

Zagaki hatte sich von Anfang an gewünscht, mit einem flotteren, interessanteren Kollegen Dienst tun zu können. Ainslie war seiner Ansicht nach ein übervorsichtiger, nicht sonderlich intelligenter Pedant. Hätte er wirklich Grips, wäre er längst Lieutenant, vielleicht schon Captain gewesen - beides Dienstgrade, die Zagaki anvisierte. Er wußte, daß er clever genug war, um die Spitzenposition erreichen zu können. Das bewies schon die Tatsache, wie schnell er's vom Streifenpolizisten zum Kriminalbeamten gebracht hatte. Wie beim Militär kam es bei der Polizei darauf an, ständig Beförderung, Beförderung, Beförderung, Beförderung zu denken. Karriere machte man nicht von selbst, sondern man mußte ihr nachhelfen - am besten dadurch, daß man bei Vorgesetzten häufig angenehm auffiel.

Diese Taktik hatte Dan Zagaki seinem Vater abgeschaut, der in der U.S. Army ein ums andere Mal befördert worden war, und sie hatte auch bei seinem älteren Bruder Cedric funktioniert, der damit im Marine Corps Karriere gemacht hatte. Wie ihr Vater würde auch Cedric eines Tages General werden - das stand für ihn fest. Cedric hatte sich verächtlich darüber geäußert, daß Dan zur Miami Police, die er als eine »Scheißtruppe« bezeichnete, gegangen war. Der General hatte sich zurückhaltender ausgedrückt, aber Dan spürte, daß er über seine Entscheidung enttäuscht war. Nun, er würde es beiden zeigen!

Er grinste, als er daran dachte, wie geschickt er Ainslie in den vergangenen drei Wochen um den Bart gegangen war und ihn bei jeder passenden Gelegenheit mit »Sergeant« angesprochen hatte, ohne daß der Schwachkopf etwas gemerkt hatte. Es war ihm sogar gelungen, in der Sonderkommission zu bleiben, indem er den Reumütigen gespielt hatte. Und Ainslie hatte ihm das abgenommen. Trottel.

»Verdammt«, murmelte Zagaki, der noch immer am Steuer des Lieferwagens saß. »Ich muß schon wieder. Das wievielte Mal ist das heute?«

Wie viele hundert andere Einwohner Miamis, auch die krankgeschriebenen Detectives Wightman und Garcia, so litt auch Dan Zagaki unter der Darmgrippe. Gewiß, er hatte kein hohes Fieber, aber die sonstigen Symptome wie Magenschmerzen und Durchfall machten sich unangenehm bemerkbar. Im Gegensatz zu anderen hatte er seine Erkrankung jedoch verschwiegen, weil er entschlossen war, unbedingt durchzuhalten. Zagaki wollte sich nicht um die Riesenchance bringen, an der Lösung dieses Falls beteiligt zu sein. Bisher hatte sich sein Problem bei mehreren Stopps lösen lassen, aber jetzt mußte er irgendwo einen Ort finden - zum Beispiel die Buschgruppe im Garten rechts neben ihm -, wo er der Natur ihren Lauf lassen konnte.

Ein Blick nach vorn durch die Windschutzscheibe des Lieferwagens zeigte ihm weiterhin Doils Silhouette. Nachdem der Hundesohn so lange stillgesessen hatte, würde er nicht ausgerechnet in den wenigen Sekunden abhauen, die Zagaki jetzt brauchte, jetzt gleich!

Sollte er Ainslie über Funk verständigen? Unsinn! Dan Zagaki traf seine Entscheidungen selbständig.

Er stieg rasch aus, drückte die Fahrertür hinter sich ins Schloß und verschwand in den Büschen. Sekunden später: Welche Erleichterung! Aber beeil dich! Du hast nicht ewig Zeit.

»Ich will's schnell machen, Malcolm«, sagte Leo Newbold. Ainslie hatte eben das zweite Überwachungsfahrzeug erreicht und war hinten eingestiegen. »Vorhin haben mich die Kollegen von der Mordkommission in Philadelphia angerufen. Wir haben einen gewissen Dudley Rickins in ganz Amerika zur Verhaftung ausgeschrieben. Richtig?«

»Ja, Sir, das habe ich genehmigt. Bernie Quinn bearbeitet den Fall, und Rickins ist dringend tatverdächtig. Mit seiner Vernehmung könnten wir die Ermittlungen vermutlich abschließen.«

»Nun, sie haben Rickins in Philadelphia verhaftet und können ihn zweiundsiebzig Stunden lang festhalten, aber irgendein Trottel hat uns nicht rechtzeitig benachrichtigt. Jetzt müssen sie ihn in zwölf Stunden laufenlassen. Ich weiß, daß Sie alle Ihre Leute brauchen... «

»Trotzdem sollte Bernie sofort hinfliegen.«

Newbold seufzte. »Das denke ich auch.«

Wie sie beide wußten, konnten sie einen weiteren Mann nur schlecht entbehren, aber sie würden irgendwie auch ohne ihn auskommen müssen.

»Okay, Malcolm, ich lasse Bernie benachrichtigen, damit er gleich hinfliegt. Danke. Jetzt sehen Sie lieber zu, daß Sie auf Ihren Posten zurückkommen. Doil hat sich noch nicht vom Fleck gerührt?«

»Bisher nicht. Hätte er's getan, hätte Zagaki sich gemeldet.« Ainslie stieg aus und ging wieder nach vorn zu seinem Lieferwagen.

Verdammt, dachte Zagaki, als er seinen Reißverschluß hochzog, das hat gottverdammt zu lange gedauert! Er hastete zum Fahrzeug zurück.

In diesem Augenblick erschien auch Malcolm Ainslie.

»Wo zum Teufel sind Sie gewesen?« fragte Ainslie ungläubig.

»Na ja, Sergeant, ich hab' dringend...«

Ainslies Gesicht war weiß vor Zorn, als er ihn anknurrte: »Erzählen Sie mir keinen Scheiß! Denken Sie, ich lasse mich von Ihnen täuschen? Habe ich Ihnen nicht befohlen, Doil keine Sekunde aus den Augen zu lassen und sich über Funk zu melden, wenn irgendwas passiert?«

»Ja, Sergeant, aber... «

»Nichts aber! Ab morgen früh ist für Sie Schluß mit dieser Sonderkommission.«

»Sergeant, lassen Sie's mich doch erklären«, sagte Zagaki bittend. »Ich hab' dringend austreten müssen und ich...«

Ainslie hörte nicht zu, sondern sah an den geparkten Wagen vorbei nach vorn, wo der Pickup stand. Dann rief er entsetzt: »O Gott, er ist weg!«

Aus der Fahrerkabine des Pickups war Elroy Doils Silhouette verschwunden.

Zunächst herrschte völliges Durcheinander. Ainslie rannte nach vorn zu dem Pickup und sah sich in der Dunkelheit nach Doil um. Nirgends eine Spur von ihm - und auch keine anderen

Fußgänger in Sicht. Von Doils Fahrzeug aus lief er das kurze Stück zur Tigertail Avenue weiter. Aber die Wohnstraßen dieses Viertels waren nur schwach beleuchtet. Ainslie war sich darüber im klaren, daß Doil irgendwo ganz in der Nähe hinter Büschen und Bäumen versteckt lauern konnte.

Dan Zagaki kam keuchend heran: »Sergeant, ich bin... «

Ainslie fuhr herum: »Schnauze, verdammt noch mal!« fauchte er ihn wütend an. »Wie lange sind Sie nicht im Wagen gewesen?«

»Bloß ein bis zwei Minuten, Ehrenwort.«

»Lügen Sie nicht, Sie kleiner Hundesohn!« Ainslie packte den jungen Mann an seiner Jacke und schüttelte ihn kräftig. »Los, los, wie lange?« Er zog ihn zu sich heran, bis er Zagakis Gesicht dicht vor sich hatte. »Die ganze Zeit - solange ich weggewesen bin?«

Zagaki, der den Tränen nahe war, gestand ein: »Ja, ziemlich von Anfang an.«

Ainslie, der ihn angewidert wegstieß, rechnete sich aus, daß Doil mindestens zehn bis zwölf Minuten Vorsprung hatte. Selbst wenn er in der Nähe geblieben war, konnte er überall versteckt sein, und es war aussichtslos, ihn allein aufspüren zu wollen. Deshalb blieb ihm keine andere Wahl. Er griff nach seinem Funkgerät.

»Dispatcher, hier dreizehnzehn.«

Eine Frauenstimme antwortete ruhig: »Dreizehnzehn, QSK.«

»Schicken Sie mir mehrere Streifenwagen zur Tigertail Avenue...« Ainslie machte eine Pause, um die nächste Hausnummer abzulesen. »Nummer sechzehnelf. Wir haben einen Weißen, der unter Überwachung gestanden hat, aus den Augen verloren. Einsvierundneunzig groß, wiegt ungefähr hundertzwanzig Kilo, trägt ein rotes Hemd und eine dunkle Hose. Er ist bewaffnet und gefährlich.«

»QSL.«

Kurze Zeit später hörte Ainslie bereits die erste Sirene, als eine Streifenwagenbesatzung auf den rasch gesendeten Code 315 reagierte: 3 für »Notfall« und 15 für »Polizeibeamter braucht Hilfe«.

Newbold und Jacobo würden seinen Funkspruch mitgehört haben und schon zu ihm unterwegs sein. Vorerst konnte Ainslie nur warten.

Dann bekam er über sein Kombigerät einen Anruf des Wachleiters in der Nachrichtenzentrale. Der Sergeant sprach ruhig, aber schnell.

»Malcolm, ich hab' eben deinen Funkspruch mitgehört. Ich habe einen Jungen am Telefon, der meldet, daß ein großer Mann seine Großeltern in ihrem Haus überfallen hat und sie schlägt und mit einem Messer massakriert.«

»Das ist Doil, Harry! Gib mir schnell die Adresse.«

»Augenblick, die krieg' ich gerade. Der Junge muß ins Telefon flüstern.« Ainslie hörte, wie der Wachleiter dem Anrufer, den er »Ivan« nannte, geduldig Fragen stellte. »Er sagt, daß seine Großeltern Tempone heißen und in der Tigertail Avenue wohnen... Nummer sechzehndreiundvierzig! Ich habe einen Notarzt alarmiert, Malcolm, und ändere die dreifünfzehn in dreieinunddreißig um.« Das bedeutete »Notfall - Mord wird verübt«.

Ainslie hörte kaum noch hin. Er rannte bereits die Tigertail Avenue entlang. Dan Zagaki hielt mit ihm Schritt, aber Ainslie beachtete ihn nicht weiter.

Als sie herankamen, sahen sie die Hausnummer 1643 am Torpfosten einer großen zweigeschossigen Villa mit gepflasterter Auffahrt, Säulenvordach und schwerer geschnitzter Haustür. Ein Zaun aus Eisenstäben, hinter dem als Sichtschutz hohe Büsche gepflanzt waren, umgab das gesamte Grundstück. Ein zweiflügliges schmiedeeisernes Tor sicherte die Einfahrt, aber ein Flügel war nur angelehnt.

Als Ainslie und Zagaki das Gittertor erreichten, hielten dort zwei Streifenwagen mit Blinklichtern, verklingenden Sirenen und quietschenden Reifen. Vier uniformierte Polizisten sprangen mit gezogenen Waffen heraus. Zwei weitere Streifenwagen kamen aus beiden Richtungen die Tigertail Avenue entlanggerast.

Ainslie wies seine Polizeiplakette vor und beschrieb ihnen rasch den Gesuchten. »Wir glauben, daß er drinnen ist -vielleicht in diesem Augenblick mordet.« Er deutete auf zwei der Beamten. »Ihr beide kommt mit mir.« Zu den anderen sagte er: »Gendry, Sie übernehmen den Befehl und sperren die Tigertail Avenue weiträumig ab. Keiner darf rein oder raus, bevor Sie von mir hören.«

Plötzlich rief einer der Beamten: »Sergeant, dort drüben!« Er zeigte auf die Ostseite des Hauses, wo eine schemenhafte Gestalt einen Fußweg entlangschlich. Ein anderer Streifenpolizist richtete seine starke Stabtaschenlampe auf sie. Sie erhellte den Rücken eines großen Mannes, der ein rotes Hemd und eine dunkle Hose trug.

»Das ist er!« rief Ainslie. Die anderen folgten dichtauf, als er mit schußbereiter Pistole durchs Tor und über den Rasen stürmte. Doil hörte sie kommen und rannte davon. »Halt, stehenbleiben, Doil«, rief Ainslie, »sonst puste ich Ihnen Ihr verdammtes Gehirn weg!«

Der Mann blieb stehen, drehte sich um. »Fuck you!« knurrte Doil.

Als Ainslie näher herankam, sah er, daß Doil ein Messer in der rechten Hand hielt - und daß seine beiden Hände in Latexhandschuhen steckten.

»Lassen Sie das Messer fallen!« befahl Ainslie ihm scharf. Als Doil zögerte, fügte er hinzu: »Und runter mit den Handschuhen! Lassen Sie sie neben das Messer fallen.«

Doil gehorchte langsam. Dann blaffte Ainslie ihn an: »Hinlegen, Hundesohn, und Hände auf den Rücken! Los, Beeilung!«

Auch diesem Befehl gehorchte Doil, betont langsam, während Ainslie ihn weiter mit seiner Pistole in Schach hielt. Zagaki trat vor, packte Doils Handgelenke und legte ihm Handschellen an. In diesem Augenblick erhellte ein hinter ihnen aufflammendes Blitzlicht die Szene.

Ainslie warf sich instinktiv mit noch schußbereiter Waffe herum, aber dann hörte er eine Frauenstimme: »Sorry, Chief. Aber dafür werde ich von den Zeitungen bezahlt.«

»Verdammt«, murmelte Ainslie und ließ die Pistole sinken. Obwohl er wußte, daß Fotografen, Kamerateams und Reporter den Polizeifunk abhörten und rasch zur Stelle waren, wenn sie eine Story witterten, ärgerte er sich darüber, sie so rasch zu sehen. Er wandte sich an die Streifenpolizisten. »Sperrt die Umgebung des Hauses mit Band ab und sorgt dafür, daß niemand näher als zwanzig Meter herankommt.«

Prompt wurde das gelbe Kunststoffband mit dem Aufdruck POLICE LINE - DO NOT CROSS, das zur Ausrüstung aller Streifenwagen gehörte, um alle irgendwie geeigneten Gegenstände geschlungen - Bäume, Laternenpfähle, Zaunpfosten und die Außenspiegel zweier Streifenwagen -, so daß es eine visuelle Barriere zwischen den Kriminalbeamten und der rasch anwachsenden Menge aus Neugierigen und Reportern bildete.

Zagaki, der neben Elroy Doil kniete, rief laut: »Der Kerl ist über und über mit Blut verschmiert! Das Messer und die Handschuhe sind auch blutig.«

»Nein!« ächzte Ainslie, weil er instinktiv wußte, daß seine schlimmsten Befürchtungen eingetroffen waren. Er riß sich zusammen, um den neu hinzugekommenen Streifenpolizisten Anweisungen zu geben. »Zwei von euch ziehen diesen Kerl bis auf die Unterwäsche aus - auch Schuhe und Socken. Laßt seine Sachen nicht auf den Boden fallen, verwischt keine Blutspuren und steckt alles möglichst schnell in Plastikbeutel - vor allem sein Messer und die Handschuhe. Und bleibt wachsam; laßt ihn keine Sekunde aus den Augen. Der Kerl ist gewalttätig und gefährlich.«

Elroy Doil sollte ausgezogen werden, um die Blutspuren an seiner Kleidung im jetzigen Zustand zu konservieren. Zeigte ein DNA-Test, daß das Blut von seinen Opfern stammte, war eine Verurteilung so gut wie sicher.

Inzwischen waren auch Leo Newbold und Dion Jacobo eingetroffen. Der Lieutenant fragte Ainslie: »Sind Sie schon drinnen gewesen?«

»Nein, Sir. Bin gerade unterwegs.«

»Wir kommen mit, okay?«

»Natürlich.«

Ainslie nickte dem Streifenpolizisten zu, der als erster am Tatort gewesen war. »Sie kommen mit uns. Bleiben Sie in unserer Nähe, und fassen Sie nichts an, verstanden?« Zu Zagaki sagte er nur: »Sie bleiben hier und rühren sich nicht von der Stelle.«

Dann gingen die vier unter Ainslies Führung auf das Haus zu.

Eine Seitentür stand offen - vermutlich weil Doil auf diesem Weg das Haus verlassen hatte. Der Flur dahinter war nur schwach beleuchtet. Ainslie knipste das Licht an. Der Korridor führte in eine holzgetäfelte Eingangshalle mit einer elegant geschwungenen breiten Treppe. Auf der untersten Stufe saß ein kleiner Junge - Ainslie schätzte ihn auf zehn, höchstens zwölf Jahre -, der blicklos ins Leere starrte und heftig zitterte.

Ainslie kniete sich zu ihm nieder, legte einen Arm um seine Schultern und fragte freundlich: »Bist du Ivan?« Den anderen erklärte er: »Er hat neuneinseins angerufen.« Der Junge nickte kaum merklich.

»Kannst du uns sagen, wo... «

Der Junge schien noch kleiner zu werden, drehte sich aber um, sah die Treppe hinauf und zitterte dann noch mehr.

»Entschuldigung, Sergeant«, warf der Streifenpolizist ein, »er hat einen Schock. Die Anzeichen kenne ich. Wir sollten ihn ins Krankenhaus bringen.«

»Können Sie ihn raustragen?«

»Klar kann ich das.«

»Der Notarzt ist alarmiert«, erklärte Ainslie ihm. »Er ist bestimmt schon draußen. Wird der Junge ins Jackson Memorial gebracht, fahren Sie mit und melden sich von dort aus. Lassen Sie den Jungen unter keinen Umständen allein; wir brauchen seine Aussage noch. Ist das klar?«

»Alles klar, Sergeant.« Der Uniformierte hob den Kleinen mühelos hoch. »Komm, wir gehen, Ivan.« Beim Hinausgehen hörte Ainslie ihn tröstend sagen: »Das wird schon wieder, Sohn. Halt dich nur gut an mir fest.«

Ainslie, Newbold und Jacobo stiegen die Treppe hinauf. Im ersten Stock fanden sie eine offene Tür, aus der Licht drang. Die drei Männer traten über die Schwelle und blieben stehen, um den Tatort in Augenschein zu nehmen.

Dion Jacobo, der als Veteran schon viele Mordopfer gesehen hatte, stieß einen erstickten Laut aus, bevor er stöhnend die Worte herauswürgte: »O mein Gott! O mein Gott!«

Wie Ainslie befürchtet hatte, als er Doils blutbefleckte Kleidung sah, standen sie vor einer Wiederholung der früheren Doppelmorde, diesmal an einem älteren schwarzen Ehepaar. Der einzige Unterschied bestand darin, daß Doil offenbar hastiger und weniger präzise vorgegangen war - vermutlich hatte er die rasch näher kommenden Polizeisirenen gehört.

Die beiden Toten saßen sich gefesselt und geknebelt gegenüber; sie waren durch Schläge auf Kopf und Oberkörper brutal mißhandelt worden. Ein Arm der Frau war verdreht und gebrochen, das rechte Auge des Mannes ausgestochen. Im Vergleich zu den früheren Morden waren die Stichwunden offenbar willkürlicher und tiefer. Alles schien in höchster Eile geschehen zu sein, als habe der Killer geahnt, daß ihm diesmal nicht viel Zeit bleiben würde.

Ainslie stand wie versteinert da, bemühte sich, seine abgrundtiefe Verzweiflung unter Kontrolle zu halten, und war sich bewußt, daß er diese Szene und sein eigenes Schuldbewußtsein niemals würde vergessen können. Nachdem er fast eine Minute bewegungslos dagestanden hatte, holte Leo Newbolds Stimme ihn in die Realität zurück. »Malcolm, alles in Ordnung mit Ihnen?«

Er nickte mühsam. »Ja, Sir.«

»Ich weiß, was Sie denken«, sagte Newbold halblaut, »und habe nicht vor, Sie diese Last allein tragen zu lassen. Wir reden darüber, aber wie wär's, wenn Sie jetzt heimfahren und sich ausruhen würden? Sie sind übermüdet, das sieht man Ihnen an. Dion kann die weiteren Ermittlungen leiten.«

Ainslie schüttelte den Kopf. »Ich bring' die Sache zu Ende, Lieutenant, aber es wäre gut, wenn Dion mir dabei helfen würde. Trotzdem vielen Dank.«

Er griff nach seinem Handfunkgerät, um das Standardverfahren einzuleiten.

Es war kurz nach ein Uhr morgens, als Malcolm Ainslie endlich nach Hause kam, wo Karen, die er vor mehreren Stunden hatte anrufen können, in einem blaßgrünen Morgenrock auf ihn wartete. Als sie ihn sah, breitete sie die Arme aus und drückte ihn fest an sich. Nach einiger Zeit ließ sie ihn los, sah zu ihm auf und berührte sein Gesicht.

»War's schlimm?«

Er nickte langsam. »Ziemlich.« »Oh, Liebling, wieviel mehr kannst du noch ertragen?«

Ainslie seufzte. »Von der Art wie heute abend nicht mehr viel.«

Sie schmiegte sich an ihn. »Ich bin froh, daß du wieder da bist. Möchtest du darüber reden?«

»Vielleicht morgen. Nicht jetzt.«

»Malcolm, Liebster, geh jetzt ins Bett. Ich bringe dir noch etwas.«

Dieses »Etwas« war heiße Ovomaltine, ein Getränk aus seiner Kindheit, das er vor dem Einschlafen gern zu sich nahm. Als er den Becher geleert hatte und sich auf sein Kopfkissen zurücksinken ließ, meinte Karen: »Das müßte dir helfen einzuschlafen.«

»Und die Alpträume verscheuchen?«

Sie schlüpfte zu ihm unter die Bettdecke und drückte ihn nochmals an sich. »Die halte ich von dir fern.«

Aber während Malcolm erschöpft in den Schlaf fiel, lag Karen noch lange sorgenvoll wach. Wie lange, fragte sie sich, konnten sie dieses Leben durchhalten? Früher oder später würde Malcolm sich zwischen seiner Familie und den Dämonen seiner Arbeit entscheiden müssen. Wie so viele Ehefrauen von Kriminalbeamten in Vergangenheit und Gegenwart konnte Karen sich nicht vorstellen, daß ihre Ehe auf Dauer mit der jetzigen beruflichen Laufbahn ihres Mannes unter einen Hut zu bringen war.

Der nächste Tag brachte ein Postskriptum, das geradezu eine Ironie des Schicksals war. Eine Berufsfotografin mit Verbindungen zu Bildagenturen wohnte in Bay Heights ganz in der Nähe der Villa des ermordeten Ehepaars Tempone. Deshalb war sie so rasch am Tatort gewesen und hatte ein Blitzlichtfoto gemacht, als Doil überwältigt wurde.

Der dramatische Schnappschuß zeigte Doil auf dem Bauch im Gras liegend, während Detective Dan Zagaki dem sich Wehrenden Handschellen anlegte. Diese von Associated Press verbreitete Aufnahme erschien in allen großen amerikanischen Zeitungen mit der Bildunterschrift:

Ein heldenhafter Polizist

Nach dramatischer Verfolgungsjagd überwältigt Detective Dan Zagaki von der Miami Police den Verdächtigen Elroy Doil, der ein schwarzes Ehepaar ermordet haben soll und wegen einer Mordserie verhört wird. Auf die Frage nach seiner Arbeit und ihren Gefahren antwortet Zagaki: »Sie ist manchmal riskant. Man tut einfach nur sein Bestes.« Er ist Sohn von General Thaddeus Zagaki, Kommandeur der First Army Division in Fort Stewart, Georgia.

13

Nach der Verhaftung kam Elroy Doil unter der Beschuldigung, Kingsley und Nellie Tempone ermordet zu haben, im Dade-County-Gefängnis in Untersuchungshaft. Wie gesetzlich vorgeschrieben war, fand im benachbarten Metro Justice Building innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach der Verhaftung ein Haftprüfungstermin statt. Dabei brauchte Doil sich nicht zur Schuldfrage zu äußern; dafür würde in zwei bis drei Wochen ein Anhörungstermin festgesetzt werden. Statt dessen beantragte ein Pflichtverteidiger routinemäßig seine Freilassung gegen Kaution, die ebenso routinemäßig abgelehnt wurde.

Doil interessierte sich kaum für diesen Vorgang, weigerte sich, mit seinem Pflichtverteidiger zu sprechen, und gähnte dem Richter ins Gesicht. Aber als ein Gerichtsdiener ihn am Arm packte, um ihn hinauszuführen, versetzte Doil ihm einen Schlag in den Magen, so daß der Mann zusammenklappte. Sofort stürzten sich zwei weitere Gerichtsdiener und ein Gefängniswärter auf Doil, überwältigten ihn, legten ihn in Ketten und schleiften ihn aus dem Saal. Draußen in der Zelle für Untersuchungshäftlinge schlugen sie weiter mit ihren Fäusten auf ihn ein, bis der Widerstandswille des hilflos Keuchenden gebrochen war.

Während die amtlichen Entscheidungen über den Fortgang des Verfahrens jetzt bei der Staatsanwaltschaft lagen, trug ein Team aus Leuten von der Spurensicherung und Kriminalbeamten der Mordkommission weiter Belastungsmaterial zusammen.

An Griff und Klinge des Bowiemessers, das Elroy Doil bei seiner Verhaftung in der Hand gehalten hatte, wurde Blut gefunden, das mit dem der beiden Ermordeten identisch war. Außerdem war Dr. Sanchez bereit, vor Gericht auszusagen, daß dieses durch charakteristische Rillen und Scharten identifizierbare Messer die Waffe sei, mit der Kingsley und Nellie Tempone ermordet worden waren.

Nach Auskunft von Dr. Sanchez war es jedoch nicht das Bowiemesser, mit dem die Ehepaare Frost, Urbina und Ernst getötet worden waren. Genauere Untersuchungen der Einstichwunden aus Clearwater und Fort Lauderdale lagen noch nicht vor, so daß bisher kein Vergleich möglich war.

Bei einer Besprechung mit Kriminalbeamten der Sonderkommission fügte die Gerichtsmedizinerin hinzu: »Das soll keineswegs heißen, Doil habe diese anderen Morde nicht verübt. Die Tatausführung läßt im Gegenteil auf ihn schließen. Aber er kann sich mehrere Bowiemesser gekauft haben, die Sie vielleicht finden, wenn Sie seinen Besitz durchsuchen.«

Zur Enttäuschung von Kriminalbeamten und Staatsanwälten, die gehofft hatten, jetzt auch alle früheren Fälle lösen zu können, fanden sich unter Doils spärlichen Besitztümern weder weitere Messer noch sonstiges Belastungsmaterial.

Im Fall Tempone wurde die Beweislage jedoch mit jedem Tag besser. Das Blut an Doils Kleidung und seinen Schuhen stammte von den beiden Ermordeten; auch das Blut an seinen Latexhandschuhen, die er offenbar getragen hatte, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, stimmte mit dem der Opfer überein. Die am Tatort sichergestellten Schuhabdrücke - einige mit Spuren des Blutes der Ermordeten - entsprachen den Sportschuhen, die Doil getragen hatte.

Und zu diesen Beweisen kam die Aussage des zwölfjährigen Ivan Tempone. Sobald er sich von seinem Schock erholt hatte, erwies der Junge sich als ruhiger, glaubwürdiger Augenzeuge. Er schilderte erst Detective Jacobo und dann einem Staatsanwalt, wie er durch eine halboffene Tür beobachten konnte, wie Doil seine Großeltern gefoltert und ermordet hatte.

»Wir haben einfach noch keinen Fall mit besserer Beweislage gehabt«, stellte Staatsanwältin Adele Montesino fest, als sie ihre umstrittene Entscheidung bekanntgab, Doil nur wegen des Doppelmords an dem Ehepaar Tempone anzuklagen.

Während die Staatsanwaltschaft über ein halbes Jahr brauchte, um das Beweismaterial auszuwerten und die Anklage vorzubereiten, lag das Ergebnis der internen Untersuchung im Miami Police Department wesentlich schneller vor. Dabei ging es um die verpatzte Überwachung Elroy Doils, die das Ehepaar Tempone überflüssigerweise das Leben gekostet hatte. Sämtliche Einzelheiten kannten allerdings nur einige Führungskräfte; die Beamten der Mordkommission hatten Anweisung, mit niemandem über diese Sache zu reden - nicht mit Angehörigen, erst recht nicht mit den Medienvertretern.

Tatsächlich hielt das Police Department nach dem Doppelmord an dem Ehepaar Tempone tagelang den Atem an und fragte sich, ob irgendein cleverer Reporter unter der Oberfläche der ohnehin schon sensationellen Story weiterschürfen würde. Erschwerend kam hinzu, daß Kingsley und Nellie Tempone Schwarze gewesen waren. Obwohl diese Fahndungspanne keinen rassistischen Hintergrund gehabt hatte -die Opfer hätten ebensogut Weiße sein können -, gab es immer Aktivisten, die jede Gelegenheit nutzten, um einen Rassenkonflikt zu schüren.

Aber das Befürchtete trat bemerkenswerterweise - fast unglaublicherweise - doch nicht ein, weil keine der Informationen nach draußen drang. In ihrer Berichterstattung über das grausame Verbrechen konzentrierten sich die Medien, auch überregionale Zeitungen und die großen Fernsehgesellschaften, auf die Tatsache, daß ein mutmaßlicher Serienmörder endlich gefaßt worden war. Dazu trug noch ein weiterer Faktor bei: Der kleine Ivan Tempone, der »trotz der Gefahr, von dem Killer entdeckt und ebenfalls ermordet zu werden, mutig die Polizei alarmiert hat«, wie ein Journalist bewundernd schrieb, stieg über Nacht zum Volkshelden auf.

Für wesentlich mehr war weder im Fernsehen noch in den Zeitungen Platz.

Hinter den Kulissen liefen unterdessen ohne großes Aufsehen Disziplinarverfahren gegen die beiden Polizeibeamten, die diese Fahndungspanne zu verantworten hatten. Wegen der möglichen schädlichen PR-Auswirkungen für den Fall, daß die Wahrheit in die Öffentlichkeit gelangte, wurde sogar der Polizeipräsident mit dieser Sache befaßt. Die letzte Entscheidung blieb jedoch Major Figueras überlassen, dem als Leiter der Abteilung Verbrechensbekämpfung die gesamte Kriminalpolizei unterstand.

Figueras machte unmißverständlich klar, was er erwartete: »Ich will alles wissen, alle Einzelheiten bis hin zum kleinsten Fliegendreck.« Diese Anweisung erreichte Lieutenant Newbold, der Malcolm Ainslie und Dan Zagaki einzeln befragte, wobei ein Tonbandgerät mitlief.

Ainslie, der Zagakis Verhalten scharf verurteilte, machte sich weiter Vorwürfe, weil er seine ursprüngliche Meinung über den jungen Kriminalbeamten geändert hatte. »Ich habe einen Fehler gemacht«, erklärte er Newbold. »Die Verantwortung liegt bei mir, und ich übernehme sie. Ausreden gibt's dafür keine.«

Zagaki dagegen bemühte sich, sein Verhalten wortreich zu rechtfertigen; er beschuldigte Ainslie sogar, ihm keine klaren Anweisungen erteilt zu haben - eine Behauptung, die Lieutenant Newbold ihm nicht glaubte, wie er in seinem Abschlußbericht festhielt.

Seinen Bericht und die Tonbandaufzeichnungen übergab Newbold Major Manolo Yanes, dem Leiter des Referats Verbrechen gegen Personen, der sie nach oben an Major Figueras weiterleitete. Einige Tage später wurden die Entscheidungen intern bekanntgegeben.

Detective Dan Zagaki sollte wegen »Pflichtversäumnis« einen Verweis erhalten, mit dem Abzug von sechzig Stundenlöhnen bestraft und zur uniformierten Polizei zurückversetzt werden. »Am liebsten hätte ich den Hundesohn ganz rausgeschmissen«, vertraute Figueras Yanes an. »Aber Pflichtversäumnis gehört leider nicht zu den Dienstvergehen, die automatisch zur Entlassung führen.«

Sergeant Malcolm Ainslie sollte wegen »fehlerhaften Ermessens« einen Verweis erhalten. Ainslie akzeptierte das als gebührende Strafe, obwohl der Verweis seine Personalakte bis zu seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst verunzieren würde.

Lieutenant Newbold war jedoch anderer Meinung.

Er ging zu Major Yanes und bat um ein sofortiges Gespräch mit Yanes und Figueras.

Yanes sah von seinem Schreibtisch auf. »Das klingt ziemlich förmlich, Leo.«

»Das ist förmlich, Sir.«

»Thema?«

»Sergeant Ainslie.«

Yanes musterte ihn neugierig. Dann griff er nach dem Telefonhörer, sprach mit Figueras und nickte Newbold zu. »Okay, wir sollen gleich rüberkommen.«

Die beiden gingen schweigend den Korridor entlang und wurden in Major Figueras' Dienstzimmer geführt.

»Ich bin beschäftigt, Lieutenant«, sagte Figueras scharf. »Fassen Sie sich also bitte kurz.«

»Ich möchte Sie bitten, Sir, sich die Sache mit dem Sergeant Ainslie erteilten Verweis noch mal zu überlegen.«

»Hat Ainslie Sie gebeten, sich für ihn einzusetzen?«

»Nein, Sir. Er weiß nicht, daß ich hier bin.«

»Ich sehe keinen Grund, meine Entscheidung zu revidieren.

Ainslie hat einen Fehler gemacht.«

»Das weiß er selbst am besten.«

»Warum zum Teufel sind Sie dann hier?«

»Weil Sergeant Ainslie zu unseren besten Beamten gehört, Major. Seine Führung ist vorbildlich, seine Aufklärungsquote hervorragend. Aber das wissen Sie bestimmt selbst. Major Yanes weiß es auch. Und...« Newbold zögerte.

»Los, reden Sie schon weiter!« knurrte Figueras.

Der Lieutenant erwiderte seinen Blick. »Wie praktisch jeder im PD weiß, ist Ainslie in letzter Zeit verdammt unfair behandelt worden. Wir sind ihm was schuldig, glaube ich.«

Danach folgte eine Pause, während Figueras und Yanes einen Blick wechselten. Beide wußten genau, was Newbold meinte. Dann sagte Yanes ruhig: »Ich stimme dem Lieutenant zu, Sir.«

Figueras starrte Newbold an. »Was wollen Sie?«

»Einen Neunzigtageverweis«, antwortete der Lieutenant.

Figueras zögerte, dann sagte er: »Einverstanden. Und jetzt raus mit Ihnen!«

Newbold machte, daß er hinauskam.

Ainslie würde jetzt einen Verweis erhalten, der für neunzig Tage in seiner Personalakte blieb, um danach für immer zu verschwinden.

In den folgenden Wochen und Monaten gehörten Elroy Doil und seine mutmaßlichen Verbrechen nicht mehr zu den dringendsten Angelegenheiten der Mordkommission oder den Themen, die das Interesse der Öffentlichkeit erregten. Während des Verfahrens gegen ihn richtete sich die Aufmerksamkeit noch einmal auf diesen Fall, als Sergeant Ainslie, Dr. Sanchez, Ivan Tempone und andere als Zeugen aussagten, bevor die Geschworenen ihn schuldig sprachen und Richter Olivadotti das Todesurteil verkündete. Einige Monate später wurde gerade noch zur Kenntnis genommen, daß Doils automatisch eingelegte Berufung verworfen worden war. Danach kam die Meldung, daß Doil selbst auf weitere Einspruchsmöglichkeiten verzichtet habe, und das Hinrichtungsdatum wurde festgesetzt.

Dann geriet Doil erneut fast in Vergessenheit - bis zu dem Abend, an dem Sergeant Malcolm Ainslie von Pater Ray Uxbridge aus dem Florida-State-Gefängnis angerufen wurde.

Seine Nachricht war verwirrend. Elroy Doil, der in nunmehr acht Stunden auf den elektrischen Stuhl kommen würde, wollte vor seinem Tod noch einmal mit Malcolm Ainslie sprechen.

Загрузка...