9

Nach den Worten Dalamars herrschte lange Zeit Schweigen im Zimmer. Dann wurde das Schweigen durch das Kratzen eines Federhalters unterbrochen. Astinus zeichnete die Worte des Dunkelelfen in seinem großen Buch auf.

»Möge Paladin Gnade walten lassen«, murmelte Elistan. »Ist sie bei ihm?«

»Natürlich«, schnappte Dalamar gereizt und enthüllte eine Nervosität, die er trotz aller Gefaßtheit nicht verbergen konnte. »Was denkst du denn, wie er sonst erfolgreich hätte sein können? Das Portal ist allen verschlossen außer den vereinigten Kräften eines schwarzgekleideten Zauberers mit einer Macht, wie er sie hat, und eines weißgekleideten Klerikers mit derart starkem Glauben, wie sie ihn bewiesen hat.«

Tanis sah verwirrt von einem zum anderen. »Hört mal«, erklärte er wütend, »ich verstehe überhaupt nichts. Was ist überhaupt los? Über wen sprecht ihr eigentlich? Raistlin? Was macht er? Hat es etwas mit Crysania zu tun? Und was ist mit Caramon? Er ist doch auch verschwunden. Zusammen mit Tolpan! Ich...«

»Beherrsche die menschliche Hälfte deines Wesens in ihrer Ungeduld, Halb-Elf«, bemerkte Astinus, der immer noch mit ruhigen schwarzen Federzügen schrieb. »Und du, Dunkelelf, beginn mit dem Anfang anstatt mit der Mitte.«

»Beziehungsweise mit dem Ende, wie es der Fall zu sein scheint«, warf Elistan mit leiser Stimme ein.

Dalamar befeuchtete seine Lippen mit Wein – sein Blick blieb starr aufs Feuer gerichtet – und erzählte die seltsame Geschichte, von der Tanis bis jetzt nur Teile kannte. Vieles hätte der Halb-Elf vermuten können, vieles erstaunte ihn, und vieles erfüllte ihn mit Entsetzen.

»Crysania war von Raistlin gefesselt. Und wenn die volle Wahrheit gesagt werden soll, so bin ich überzeugt, daß auch er von ihr angezogen war. Wer kann das bei ihm schon genau sagen? Eiswasser ist zu heiß für seine Adern. Wer weiß, wie lange er das geplant und davon geträumt hat? Aber schließlich war er bereit. Er plante eine Reise in die Vergangenheit, um etwas zu suchen, was ihm fehlte – das Wissen des größten Zauberers, der je gelebt hatte, das Wissen von Fistandantilus.

Er stellte Crysania eine Falle, weil er plante, sie zu sich in die Vergangenheit zu locken, so wie auch seinen Zwillingsbruder...«

»Caramon?« fragte Tanis erstaunt.

Dalamar ignorierte die Frage. »Aber etwas Unvorhergesehenes geschah. Die Halbschwester des Meisters Kitiara, eine Drachenfürstin...«

Das Blut pochte in Tanis’ Kopf und ließ seine Sicht verschwimmen und sein Gehör verdunkeln. Er spürte, daß das Blut auch in seinem Gesicht pulsierte. Er glaubte, daß seine Haut bei einer Berührung aufflammen würde, so heiß war sie.

Kitiara!

Sie stand wieder vor ihm: Ihre dunklen Augen funkelten, dunkles Haar lockte sich um ihr Gesicht, und ihre Lippen teilten sich leicht zu diesem bezaubernden, verschmitzten Lächeln. Das Licht spiegelte sich in ihrer Rüstung...

Sie sah auf ihn herab vom Rücken ihres blauen Drachen, umgeben von ihren Lakaien, herrschaftlich und mächtig, stark und skrupellos...

Sie lag in seinen Armen, liebend, lachend....

Obwohl er ihn nicht sehen konnte, spürte Tanis Elistans mitfühlenden und mitleidigen Blick. Er zuckte vor dem strengen, wissenden Blick von Astinus zurück. Eingehüllt in seine eigene Schuld, seine eigene Schande, seine eigene Erbärmlichkeit bemerkte Tanis nicht, daß auch Dalamars Gesichtsfarbe sich geändert hatte, die jedoch eher blaß und nicht gerötet war. Er hörte auch nicht das Beben in der Stimme des Dunkelelfen, als er von Kitiara sprach.

Mühsam gewann Tanis seine Fassung wieder und hörte weiter zu. Aber er spürte wieder den alten Schmerz in seinem Herzen, einen Schmerz, von dem er dachte, er hätte ihn für immer verbannt. Er war glücklich mit Laurana. Er liebte sie tiefer und zärtlicher, als er gedacht hatte, daß ein Mann eine Frau lieben könnte. Er war mit sich im Frieden. Sein Leben war reich und erfüllt. Und jetzt mußte er verblüfft feststellen, daß diese Dunkelheit noch immer in ihm war, eine Dunkelheit, von der er dachte, er hätte sie für ewig vertrieben.

»Auf Kitiaras Befehl warf der tote Ritter Lord Soth einen Zauber auf Crysania, einen Zauber, der sie hätte töten müssen. Aber Paladin mischte sich ein. Er nahm ihre Seele zu sich und ließ nur ihre Körperschale zurück. Ich dachte, der Meister wäre besiegt. Aber keineswegs. Er münzte den Verrat seiner Schwester zu seinem Vorteil um. Sein Zwillingsbruder Caramon und der Kender Tolpan brachten Crysania zum Turm der Erzmagier nach Wayreth, weil sie hofften, daß die Magier sie heilen könnten. Es stand aber nicht in ihrer Macht, was Raistlin nur zu gut wußte. Sie konnten sie lediglich in die Vergangenheit zurückschicken, in eine Epoche der Geschichte von Krynn, in der ein Königspriester lebte, der mächtig genug war, Paladin aufzurufen, die Seele der Frau wieder ihrem Körper zurückzugeben. Das aber entsprach genau Raistlins Wünschen.«

Dalamar ballte seine Fäuste. »Ich hatte das den Magiern auch gesagt! Narren! Ich sagte ihnen, daß sie sie direkt in seine Hände spielen würden.«

»Du hast ihnen das gesagt?« Tanis fühlte sich wieder gefaßt genug, um diese Frage zu stellen. »Du hast ihn verraten, deinen Meister?« Er schnaubte ungläubig.

»Ich spiele ein gefährliches Spiel, Halb-Elf.« Dalamar sah ihn jetzt offen an, seine Augen leuchten von innen heraus, wie die glühende Kohle im Feuer. »Ich bin ein Spion, den die Versammlung der Magier ausgesandt hat, jeden Schritt von Raistlin zu beobachten. Ja, du kannst ruhig erstaunt sein. Sie fürchten ihn – alle Orden fürchten ihn, die Weißen, die Roten, sogar die Schwarzen. Besonders die Schwarzen, weil wir unser Schicksal kennen, falls er zur Macht gelangen sollte.«

Während Tanis ihn noch anstarrte, hob der Dunkelelf seine Hand und teilte langsam die vorderen Falten seiner schwarzen Robe und legte seine Brust frei. Fünf eiternde Wunden verunstalteten die Oberfläche seiner glatten Haut. »Das Zeichen seiner Hand«, erklärte Dalamar mit ausdrucksloser Stimme. »Die Belohnung für meinen Verrat.«

Tanis konnte Raistlin plötzlich sehen, wie er seine dünnen, goldenen Finger auf die Brust des jungen Dunkelelfen legte, er konnte plötzlich Raistlins Gesicht sehen – ohne Gefühl, ohne Bösartigkeit, ohne Grausamkeit, ohne jeglichen Hauch von Menschlichkeit —, und er konnte diese Finger das Fleisch seines Opfers brandmarken sehen. Er schüttelte den Kopf, Übelkeit fühlte er in sich hochsteigen und sank auf seinen Stuhl zurück, den Blick auf den Boden gerichtet.

»Aber sie hörten mir nicht zu«, fuhr Dalamar fort. »Sie klammerten sich an einen Strohhalm. Wie Raistlin vorausgesehen hatte, lag ihre größte Hoffnung in ihrer größten Angst. Sie faßten den Entschluß, Crysania in die Vergangenheit zu schicken, angeblich, damit der Königspriester ihr helfen könne. Das erzählten sie Caramon, da sie wußten, daß er sich sonst verweigert hätte. Aber in Wirklichkeit schickten die Magier sie zum Sterben zurück oder daß sie zumindest verschwinden würde, so wie alle anderen Kleriker vor der Umwälzung verschwanden. Und sie hofften, daß Caramon in der Vergangenheit die Wahrheit über seinen Zwillingsbruder erfahren würde: daß Raistlin in Wirklichkeit Fistandantilus war. Und sie hofften, daß er gezwungen sein würde, seinen Bruder zu töten.«

»Caramon?« Tanis lachte bitter, und wieder verfinsterte sich sein Gesicht vor Zorn. »Wie konnten sie bloß so etwas denken? Der Mann ist krank! Das einzige, was Caramon noch töten kann, ist eine Flasche Zwergenspiritus! Raistlin hat ihn bereits zerstört. Warum haben sie nicht...«

Als Tanis Astinus’ gereizten Blick bemerkte, verstummte er. Seine Gedanken wirbelten wild umher. Das alles ergab keinen Sinn! Er sah zu Elistan hinüber. Der Kleriker mußte bereits alles gewußt haben. Sein Gesicht zeigte weder Entsetzen noch Überraschung – selbst als er gehört hatte, daß die Magier Crysania zum Sterben in die Vergangenheit geschickt hatten. Aus seinem Gesicht sprach lediglich tiefer Kummer.

Dalamar erzählte weiter. »Aber der Kender, Tolpan Barfuß, verwirrte Par-Salians Zauber und reiste zufällig mit Caramon zurück in die Vergangenheit. Durch das Auftauchen eines Kenders im Fluß der Zeit wurde es möglich, die Zeit zu verändern. Über die Ereignisse in Istar können wir nur Vermutungen anstellen. Wir wissen aber, daß Crysania nicht starb. Caramon hat seinen Bruder nicht umgebracht. Und Raistlin war in seinem Bestreben erfolgreich, das Wissen von Fistandantilus zu erlangen. Er nahm Crysania und Caramon mit sich und bewegte sich nach vorne im Fluß der Zeit, dorthin, wo Crysania die einzig wahre Klerikerin im ganzen Lande sein würde. Er reiste in die Epoche unserer Geschichte, in der die Königin der Finsternis am verwundbarsten und unfähig war, ihn aufzuhalten.

So wie Fistandantilus vor ihm, ließ Raistlin den Zwergentorkrieg entbrennen und erhielt so Zutritt zum Portal, das zu jener Zeit in der magischen Festung Zaman stand. Wenn die Geschichte sich vollständig wiederholt hätte, wäre Raistlin in diesem Portal gestorben, denn dort fand Fistandantilus seinen Untergang.«

»Darauf hatten wir gebaut«, murmelte Elistan, und seine Hände zogen schwach an den Bettdecken, unter denen er lag. »Par-Salian war sich sicher, es bestehe keine Möglichkeit, daß Raistlin die Geschichte verändern könnte...«

»Dieser erbärmliche Kender!« knurrte Dalamar. »Par-Salian hätte es wissen müssen. Es hätte ihm klar sein müssen, daß diese elende Kreatur genau das tun würde, was er auch getan hatte – jede Gelegenheit ergreifen, ein neues Abenteuer zu erleben! Er hätte unseren Rat annehmen und diesen kleinen Bastard unschädlich machen müssen...«

»Sag mir rasch, was mit Tolpan und Caramon geschehen ist«, unterbrach ihn Tanis kalt. »Es interessiert mich nicht, was aus Raistlin geworden ist oder – entschuldige mich, Elistan – aus Crysania. Sie war von ihrer eigenen Güte geblendet. Es tut mir leid für sie, aber sie weigerte sich, die Augen zu öffnen und die Wahrheit zu sehen. Meine Freunde interessieren mich. Was ist aus ihnen geworden?«

»Wir wissen es nicht«, antwortete Dalamar. Er zuckte die Achseln. »Aber an deiner Stelle würde ich die Hoffnung aufgeben, sie in diesem Leben wiederzusehen, Halb-Elf... Sie sind für den Meister von zu geringem Nutzen.«

»Dann hast du mir schon alles gesagt, was ich wissen muß«, entgegnete Tanis. Seine Stimme war vor Trauer und Zorn angespannt. Der Halb-Elf stand auf. »Das letzte, was ich je tun würde, wäre, Raistlin zu suchen, und ich...«

»Setz dich, Halb-Elf«, gebot ihm Dalamar. Er hatte seine Stimme nicht erhoben, aber in seinen Augen lag ein gefährliches Glitzern. Tanis griff nach dem Knauf seines Schwertes, nur um erinnert zu werden, daß er es nicht mehr trug, seit er den Tempel Paladins betreten hatte. Voll Zorn und unfähig zu sprechen verbeugte sich Tanis vor Elistan und auch vor Astinus und wollte zur Tür gehen.

»Es wird dich dennoch interessieren, was aus Raistlin geworden ist, Tanis, Halb-Elf«, wurde er von Dalamars gelassener Stimme aufgehalten, »weil es dich nämlich betrifft. Es betrifft uns alle. Ich sage doch die Wahrheit, Verehrter Sohn?«

»Er hat recht, Tanis«, sagte Elistan. »Ich verstehe deine Gefühle, aber du mußt sie jetzt vergessen!«

Astinus sagte nichts. Nur das Kratzen seines Federhalters war ein Zeichen für die Anwesenheit des Mannes im Zimmer. Tanis ballte die Fäuste, und mit einem bösartigen Fluch, der sogar Astinus aufblicken ließ, wandte sich der Halb-Elf an Dalamar. »Nun gut. Was könnte Raistlin möglicherweise noch anstellen, was weiterhin jene um ihn herum verletzt, sie quält und zerstört?«

»Ich sagte anfangs, daß sich unsere schlimmsten Befürchtungen bereits bestätigt haben«, erwiderte Dalamar, und seine schrägen Elfenaugen begegneten den leicht schrägen Augen des Halb-Elfen.

»Und?« schnappte Tanis ungeduldig, der immer noch stand.

Dalamar machte eine Pause. Astinus sah wieder auf und zog seine grauen Augenbrauen in wilder Verärgerung zusammen.

»Raistlin hat die Hölle betreten. Er und Crysania werden die Königin der Finsternis herausfordern.«

Tanis starrte Dalamar ungläubig an. Auf einmal brach er in wildes Gelächter aus. »Nun«, sagte er schulterzuckend, »mir scheint, daß ich mir deswegen keine Sorgen machen muß. Der Magier hat seinen eigenen Untergang bereits besiegelt.«

Aber Tanis’ Gelächter fand keine Zustimmung. Dalamar musterte ihn mit kühler, zynischer Belustigung, als ob er diese lächerliche Reaktion von einem Halbmenschen erwartet hätte. Astinus schnaufte und schrieb weiter. Elistans zerbrechliche Schultern sackten zusammen. Er schloß die Augen und lehnte sich in seine Kissen zurück.

Tanis starrte sie alle verständnislos an. »Ihr könnt das doch nicht ernsthaft für eine Bedrohung halten!« herrschte er sie an. »Bei den Göttern, ich habe selbst vor der Königin der Finsternis gestanden! Ich habe ihre Macht gespürt und ihre Majestät... und das war zu einer Zeit, als sie nur teilweise auf dieser Existenzebene weilte.« Der Halb-Elf erschauerte unwillkürlich. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wenn man sie auf ihrer eigenen... eigenen...«

»Du stehst damit nicht allein, Tanis«, murmelte Elistan erschöpft. »Auch ich hatte eine Begegnung mit der Dunklen Königin.« Er öffnete die Augen und lächelte matt. »Überrascht dich das? Auch ich hatte meine Prüfungen und Versuchungen. Wie jeder andere Mensch auch.«

»Nur einmal ist sie zu mir gekommen.« Dalamar erblaßte, und in seinen Augen lag Angst. Er befeuchtete die Lippen. »Und das war, um mir diese Botschaften zu überbringen.«

Astinus sagte nichts, aber er hatte mit dem Schreiben jetzt aufgehört. Gestein selbst verriet mehr als die Miene des Historikers.

Tanis schüttelte verwundert den Kopf. »Du hast die Königin getroffen, Elistan? Du erkennst ihre Macht an? Und trotzdem bist du überzeugt, daß ein zerbrechlicher und kränkelnder Zauberer und eine altjüngferliche Klerikerin ihr irgend etwas antun könnten?«

Elistans Augen blitzten auf, und seine Lippen zogen sich zusammen. Tanis wußte, daß er zu weit gegangen war. Er errötete, kratzte sich am Bart und wollte sich entschuldigen, doch dann schloß er dickköpfig den Mund. »Es ergibt keinen Sinn«, murmelte er, ging zurück und warf sich wieder auf seinen Stuhl.

»Also, wie in der Hölle können wir ihn aufhalten?« Als Tanis klar wurde, was er da gesagt hatte, lief er rot an. »Es tut mir leid«, murmelte er. »Ich wollte jetzt keinen Witz darüber machen. Alles, was ich sagen will, scheint falsch zu werden. Aber, verdammt, ich verstehe es nicht! Sollen wir Raistlin aufhalten oder ihn anspornen?«

»Du kannst ihn nicht aufhalten«, mischte sich Dalamar kühl ein, bevor Elistan etwas sagen konnte. »Das können nur wir Magier allein. Seitdem wir vor vielen Wochen von dieser Bedrohung erfahren haben, planen wir und bereiten uns vor. Verstehst du, Halb-Elf: Was du gesagt hast, ist teilweise korrekt. Raistlin weiß auch, was wir alle wissen, daß er die Königin der Finsternis nicht auf ihrer eigenen Existenzebene besiegen kann. Folglich plant er, sie hervorzulocken und sie durch das Portal hier in diese Welt zu bringen...«

Tanis hatte ein Gefühl, als hätte er einen harten Schlag in den Magen erhalten. Einen Augenblick konnte er nicht atmen. »Das ist Wahnsinn«, gelang es ihm schließlich zu keuchen. Seine Hände klammerten sich um die Lehnen seines Stuhls, und seine Knöchel liefen vor Anspannung weiß an. »Wir haben sie in Neraka kaum besiegen können! Er will sie wirklich zurück in diese Welt bringen?«

»Falls wir ihn nicht aufhalten können«, fuhr Dalamar fort, »was meine Pflicht ist, wie ich gesagt habe.«

»Und was also sollen wir unternehmen?« verlangte Tanis zu wissen und beugte sich nach vorne. »Warum hast du uns hierher gerufen? Sollen wir herumsitzen und zuschauen...«

»Geduld, Tanis!« ermahnte ihn Elistan. »Du bist nervös und verängstigt. Wir alle teilen diese Gefühle.«

Mit Ausnahme dieses granitherzigen Historikers, dachte Tanis verbittert...

»Aber mit voreiligen Taten und wilden Worten werden wir nichts gewinnen.« Elistan sah hinüber zu dem Dunkelelfen, und seine Stimme wurde sanfter. »Ich glaube, das Schlimmste haben wir noch gar nicht erfahren, nicht wahr, Dalamar?«

»Ja, Verehrter Sohn«, antwortete Dalamar, und Tanis war überrascht, einen Hauch von Gefühlen in den schrägen Augen des Elfen flackern zu sehen. »Ich habe die Nachricht erhalten, daß die Drachenfürstin Kitiara...» Der Elf würgte leicht, räusperte sich und fuhr entschlossen fort: »Kitiara plant einen Großangriff auf Palanthas.«

Tanis sank auf seinen Stuhl zurück. Sein erster Gedanke war bittere, zynische Belustigung: Das habe ich dir gesagt, Herrscher Amothud. Ich habe es auch dir erklärt, Porthios. Ich sagte es euch allen, die ihr wieder in eure netten, warmen, kleinen Nester zurückkriechen wolltet und vorgabt, daß der Krieg sich niemals ereignet hätte. Tanis’ nächste Gedanken waren nüchterner. Erinnerungen kehrten zurück – die Stadt Tarsis in Flammen, die Drachenarmeen, die Solace erobert hatten, der Schmerz, das Leiden... Tod.

Elistan sagte etwas, aber Tanis konnte ihn nicht verstehen. Er lehnte sich zurück, schloß seine Augen und versuchte zu denken. Er erinnerte sich daran, daß Dalamar etwas über Kitiara gesagt hatte, aber was war es gewesen? Es trieb an fernen Gestaden seines Bewußtseins. Er hatte über Kitiara nachgedacht. Er hatte nicht aufgepaßt.

»Wartet!« Tanis richtete sich auf, denn plötzlich erinnerte er sich wieder. »Du hast gesagt, Kitiara wäre voller Groll gegen Raistlin. Du hast gesagt, sie sei genauso verängstigt wie wir, daß die Königin wieder diese Welt betreten könnte. Das war der Grund, warum sie Soth befahl, Crysania zu töten. Wenn das aber stimmt, warum will sie dann Palanthas angreifen? Das ergibt keinen Sinn! Ihre Macht in Sanction wächst täglich. Alle bösen Drachen haben sich dort versammelt, und aus den Berichten geht hervor, daß die Drakonier, die nach dem Krieg überall verstreut waren, sich ebenfalls unter ihrem Kommando sammeln. Aber Sanction ist von Palanthas weit entfernt. Dazwischen liegt das Land der Ritter von Solamnia. Die guten Drachen werden aufstehen und kämpfen, wenn die Drachen des Bösen sich wieder am Himmel zeigen. Warum? Warum sollte sie alles aufs Spiel setzen, was sie gewonnen hat? Und wofür...«

»Du kennst doch Fürstin Kitiara, glaube ich, Halb-Elf?« unterbrach ihn Dalamar.

Tanis würgte, hustete und murmelte etwas Unverständliches.

»Wie bitte?«

»Ja, verdammt, ich kenne sie!« schnappte Tanis, erhaschte Elistans Blick und sank wieder auf seinen Stuhl zurück. Er spürte seine Haut brennen.

»Du hast recht«, sagte Dalamar ruhig, und ein Hauch von Belustigung lag in seinen hellen Elfenaugen. »Als Kitiara von Raistlins Plan erfuhr, war sie zunächst verängstigt. Natürlich nicht seinetwegen, sondern weil sie Angst hatte, daß er den Zorn der Dunklen Königin über sie bringen würde. Aber« – Dalamar zuckte die Achseln – »das war zu einer Zeit, als Kitiara glaubte, daß Raistlin verlieren würde. Jetzt scheint sie zu erwägen, daß er eine Chance hat zu gewinnen. Und sie versucht immer, auf der Gewinnerseite zu stehen. Sie plant, Palanthas zu erobern und damit bereit zu sein, den Zauberer zu begrüßen, wenn er durch das Portal kommt. Sie wird ihrem Bruder die Macht ihrer Soldaten zur Verfügung stellen. Wenn er stark genug ist – und zu der Zeit könnte das der Fall sein —, kann er problemlos die bösen Kreaturen der Dunklen Königin abspenstig machen, um ihre Ergebenheit seinem Zweck dienlich zu machen.«

»Kitiara?« Jetzt war Tanis an der Reihe, belustigt zu schauen. Dalamar knurrte leicht.

»O ja, Halb-Elf. Ich kenne Kitiara genauso gut wie du.«

Aber der sarkastische Ton in der Stimme des Dunkelelfen versagte und verkehrte sich unbewußt in Bitterkeit. Seine schlanken Hände ballten sich zusammen. Tanis nickte im plötzlichen Verstehen und empfand, merkwürdig genug, eine seltsame Sympathie für den jungen Elfen.

»Sie hat dich also auch verraten«, murmelte Tanis leise. »Sie hat dir Unterstützung gelobt. Sie sagte, sie würde da sein und an deiner Seite stehen. Falls Raistlin zurückkehrte, würde sie an deiner Seite kämpfen.«

Dalamar erhob sich, und seine schwarzen Roben raschelten um ihn. »Ich habe ihr niemals vertraut«, sagte er kalt, aber er drehte ihnen den Rücken zu und starrte angestrengt in die Flammen. Und er hielt sein Gesicht abgewendet. »Ich wußte, zu welchem Verrat sie fähig sein könnte. Das war für mich keine Überraschung.«

Aber Tanis bemerkte, daß die Hand, die sich an dem Kaminsims klammerte, weiß anlief.

»Wer hat dir das alles gesagt?« unterbrach Astinus abrupt. Tanis schreckte zusammen. Er hatte die Anwesenheit des Historikers beinahe vergessen. »Sicherlich nicht die Dunkle Königin. Es würde sie niemals interessieren.«

»Nein, nein.« Dalamar wirkte einen Augenblick verwirrt. Offensichtlich war er mit seinen Gedanken weit entfernt. Seufzend sah er wieder zu ihnen herüber. »Lord Soth, der tote Ritter, hat mir das gesagt.«

»Soth?« Tanis hatte das Gefühl, daß er langsam die Kontrolle über die Wirklichkeit verlor.

Hektisch suchten seine Gedanken einen Halt. Magier, die Magiern nachspionierten. Kleriker des Lichtes, die sich mit Zauberern der Dunkelheit zusammenschließen. Dunkelheit, die dem Licht vertraut, das sich gegen die Dunkelheit richtet. Licht, das sich der Dunkelheit zuwendet...

»Soth ist Kitiara treu ergeben!« murmelte Tanis verwirrt. »Warum sollte er sie verraten?«

Dalamar wandte sich vom Feuer ab und sah Tanis wieder in die Augen. Für den Augenblick eines Herzschlags war ein Band zwischen ihnen beiden, ein Band, geschmiedet durch geteiltes Verstehen, geteiltes Leid, geteilte Qual, geteilte Leidenschaft. Und plötzlich verstand Tanis alles, und seine Seele schrumpfte vor Entsetzen zusammen.

»Er will sie tot«, erwiderte Dalamar.

Загрузка...