13

»Fürst Gunther!« sagte Amothud, Herrscher von Palanthas, und erhob sich. »Welch unerwartete Freude. Und auch du, Tanis, Halb-Elf. Ich vermute, ihr seid beide gekommen, um die Siegesfeier mitzuplanen. Ich freue mich ja so. Jetzt können wir früh im Jahr damit beginnen. Ich, das heißt, das Komitee und ich glauben...«

»Unsinn«, unterbrach Fürst Gunther schneidend, ging durch das Empfangszimmer von Amothud und begutachtete es mit einem kritischen Auge. Offenbar kalkulierte er bereits, was zur Befestigung notwendig war. »Wir sind hier, um die Verteidigung der Stadt zu diskutieren.«

Herrscher Amothud blinzelte den Ritter an, der aus den Fenstern spähte und vor sich hin brummte. Einmal drehte er sich um und schnappte: »Zuviel Glas!« – eine Feststellung, die die Verwirrung des Herrschers dermaßen steigerte, daß er nur noch eine Entschuldigung stammeln konnte und dann hilflos mitten im Zimmer herumstand.

»Werden wir angegriffen?« wagte er zögernd zu fragen, nachdem Gunther weiterhin Untersuchungen anstellte.

Fürst Gunther warf Tanis einen scharfen Blick zu. Mit einem Seufzer erinnerte Tanis Herrscher Amothud höflich an die Warnung, die ihnen der Dunkelelf Dalamar übermittelt hatte – die Wahrscheinlichkeit, daß die Drachenfürstin Kitiara plane, in Palanthas einzumarschieren, um ihrem Bruder Raistlin, Herrn des Turms der Erzmagier, in seinem Kampf gegen die Königin der Finsternis beizustehen und ihn zu unterstützen.

»O ja!« Herrscher Amothuds Gesicht klärte sich wieder. Er schlenkerte mißbilligend eine zierliche Hand, als ob er Mücken vertreiben wollte. »Aber ich glaube nicht, daß du dir um Palanthas Sorgen machen mußt, Fürst Gunther. Der Turm des Oberklerikers...«

»... wird gerade bemannt. Ich habe die Stärke unserer Ritter verdoppelt. Dort wird natürlich der Hauptangriff erfolgen. Es gibt keinen anderen Weg nach Palanthas außer im Norden auf dem Seeweg. Aber über das Meer herrschen wir. Nein, sie werden auf dem Landweg kommen. Sollte trotzdem etwas schieflaufen, Amothud, will ich die Verteidigung von Palanthas vorbereitet wissen. Jetzt...«

Nachdem Gunther jetzt sozusagen das Pferd der Tat bestiegen hatte, stürmte er unverdrossen drauflos. Über Herrscher Amothuds gemurmelten Einspruch, daß man diese Angelegenheit vielleicht mit den Generälen erörtern sollte, fegte er gnadenlos hinweg, galoppierte weiter und ließ Amothud bald in einem Wust von Notwendigkeiten, wie Truppenauflockerung, Versorgungsbedarf, Waffenlager und dergleichen, würgend zurück. Amothud gab sich geschlagen. Er setzte sich, nahm einen Ausdruck höflichen Interesses an und begann unverzüglich über etwas anderes nachzudenken. Es war sowieso alles Unsinn. Palanthas war niemals von einer Schlacht berührt worden. Armeen mußten zuerst den Turm des Oberklerikers passieren, und niemand – nicht einmal die große Drachenarmee im vergangenen Krieg – war dazu in der Lage gewesen.

Tanis, der das alles beobachtete und nur zu gut wußte, was Amothud durch den Kopf ging, lächelte grimmig in sich hinein und wollte sich gerade fragen, wie er dem Angriff entkommen könnte, als an den riesigen, reichverzierten, vergoldeten Türen leise geklopft wurde. Amothud sprang mit einem Gesichtsausdruck auf, als ob er die Trompeten einer Rettungsdivision hören würde, aber bevor er noch ein Wort sagen konnte, öffneten sich die Türen, und ein älterer Diener trat ein.

Charles war seit mehr als einem halben Jahrhundert im Dienst des königlichen Hauses von Palanthas tätig. Man konnte ohne ihn nicht auskommen, und das war ihm auch bewußt. Er wußte alles – wieviel Weinflaschen im Keller lagerten, neben wem Elfen beim Abendessen am besten ihren Platz nehmen sollten, wann die Leinentücher zum letzten Mal gelüftet worden waren. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, der seine Erwartung verriet, daß im Falle seines Ablebens das königliche Haus über dem Scheitel seines Herrn einstürzen würde.

»Es tut mir leid, Euch zu stören, mein Herrscher...«, begann Charles.

»Es ist ganz recht!« rief Herrscher Amothud, vor Freude strahlend. »Es ist ganz recht. Bitte...«

»... aber ich habe eine dringende Botschaft für Tanis, den Halb-Elfen«, beendete Charles gelassen den Satz. Mit dem Anflug eines Tadels in der Stimme quittierte er, daß sein Herr ihn unterbrochen hatte.

»Oh.« Herrscher Amothud schaute verblüfft und äußerst enttäuscht drein. »Für Tanis, den Halb-Elfen?«

»Ja, mein Herrscher«, bestätigte Charles.

»Nicht für mich?« erlaubte sich Amothud zu fragen.

»Nein, mein Herrscher.«

Amothud seufzte. »Na schön. Danke, Charles. Tanis, vermutlich solltest du lieber...«

Aber Tanis hatte das Zimmer schon zur Hälfte durchquert. »Was ist es? Nicht von Laurana...«

»Hier entlang, bitte, mein Fürst«, sagte Charles und schob Tanis aus der Tür. Ein Blick von Charles erinnerte den Halb-Elfen gerade noch rechtzeitig daran, sich vor Amothud und Gunther zu verbeugen. Der Ritter lächelte und winkte. Herrscher Amothud konnte sich nicht verkneifen, Tanis einen neidischen Blick zuzuwerfen, dann sank er wieder zurück, um den Ausführungen über eine Ausrüstung für das Sieden von Öl zu lauschen.

Charles schloß sorgfältig und langsam die Türen hinter sich.

»Was ist es?« fragte Tanis und folgte dem Diener in den Korridor. »Hat der Bote sonst nichts gesagt?«

»Doch, mein Fürst.« Charles’ Gesicht glättete sich in sanfter Trauer. »Ich sollte es Euch erst im Falle absoluter Notwendigkeit enthüllen, um Euch nicht von Euren Verpflichtungen zu entbinden. Der Verehrte Sohn Elistan liegt im Sterben. Er wird diese Nacht voraussichtlich nicht überleben.«

Die Rasenflächen des Tempels wirkten friedlich und feierlich im schwindenden Licht des Tages. Die Sonne ging unter, nicht in feuriger Pracht, sondern mit einer sanften, perlartigen Helligkeit, die den Himmel mit einem Regenbogen weicher Farben wie eine umgestülpte Muschel füllte. Tanis hatte überall Menschenansammlungen erwartet, die auf Neuigkeiten warteten, und weißgekleidete Kleriker, die kopflos hin und her irrten, und war nun verblüfft festzustellen, daß alles ruhig und friedlich war. Wie gewöhnlich ruhten sich Menschen auf dem Rasen aus, weißgekleidete Kleriker wandelten neben den Blumenbeeten und unterhielten sich leise oder schienen in stiller Meditation verloren, wenn sie allein waren.

Vielleicht hat sich der Bote geirrt oder war falsch informiert, dachte Tanis. Als er aber über das samtgrüne Gras eilte, kam er an einer jungen Klerikerin vorbei. Sie sah zu ihm auf, und ihre Augen waren vom Weinen rot und geschwollen. Trotzdem lächelte sie ihn an und wischte die Spuren der Trauer weg, als sie ihren Weg fortsetzte.

Und auf einmal fiel Tanis auf, daß weder Amothud, Herrscher von Palanthas, noch Fürst Gunther, Großmeister der Ritter von Solamnia, informiert worden waren. Der Halb-Elf lächelte traurig in plötzlichem Verstehen. Elistan starb so, wie er gelebt hatte – in stiller Würde.

Ein junger Meßdiener erwartete Tanis an der Tempeltür.

»Tritt ein und sei willkommen, Tanis, Halb-Elf«, grüßte der junge Mann leise. »Du wirst erwartet. Hier entlang.«

Tanis wurde von kühlen Schatten überflutet. Im Tempel selbst waren die Anzeichen der Trauer eindeutig. Ein Elfenharfenist spielte liebliche Musik, Kleriker standen zusammen, die Arme umeinandergelegt, um sich in der Stunde dieser schweren Prüfung gegenseitig Trost zu spenden. Tanis’ Augen füllten sich mit Tränen.

»Wir sind dankbar, daß du rechtzeitig zurückgekehrt bist«, fuhr der Meßdiener fort, während er Tanis tiefer in die verborgenen Bereiche des stillen Tempels führte. »Wir hatten befürchtet, du könntest es nicht schaffen. Wir übersandten Botschaften, wohin wir nur konnten, aber nur an diejenigen, von denen wir wußten, daß sie das Geheimnis unseres tiefen Kummers für sich behalten. Es ist Elistans Wunsch, ruhig und friedlich zu sterben.«

Der Halb-Elf nickte kurz. Er war froh, daß sein Bart die Tränen verbarg. Nicht, daß er sich ihrer geschämt hätte. Die Elfen verehren das Leben über alles und halten es für das heiligste Geschenk der Götter. Elfen verbergen ihre Gefühle nicht, wie es bei Menschen der Fall ist. Aber Tanis fürchtete, daß der Anblick seiner Trauer Elistan aufregen könnte. Er wußte, daß der weise Mann zutiefst bedauerte, daß sein Tod den Zurückbleibenden bitteren Kummer bringen würde.

Tanis und sein Führer passierten eine geheime Kammer, in der Garad und andere Verehrte Söhne und Töchter standen, die einander tröstende Worte sagten. Hinter ihnen befand sich eine verschlossene Tür. Alle Blicke streiften diese Tür, und Tanis hatte keinen Zweifel, wer dahinter lag.

Als Garad Tanis kommen hörte, sah er auf und ging durch den Raum, um den Halb-Elfen zu begrüßen.

»Wir sind so froh, daß du kommen konntest«, sagte der ältere Elf herzlich. Er stammte aus Silvanesti, erkannte Tanis, und mußte unter den ersten Elfen gewesen sein, die zu der Religion übergetreten waren, die sie vor langer, langer Zeit vergessen hatten. »Wir haben schon befürchtet, daß du nicht rechtzeitig zurückkehren würdest.«

»Das ist aber überraschend eingetreten«, murmelte Tanis, dem unbehaglich bewußt wurde, daß sein Schwert – das er vergessen hatte abzulegen – in dieser friedlichen, kummererfüllten Umgebung laut klirrte. Er legte seine Hand darüber.

»Ja, er ist in der Nacht deines Aufbruches schwer erkrankt.« Garad seufzte. »Ich weiß nicht, was in jenem Raum gesagt wurde, aber der Schock muß groß gewesen sein. Er hatte schreckliche Schmerzen. All unsere Bemühungen waren erfolglos. Schließlich kam Dalamar, der Lehrling des Zauberers« – Garad konnte ein Stirnrunzeln nicht zurückhalten – »zum Tempel. Er brachte einen Arzneitrunk mit, der, wie er sagte, den Schmerz lindern würde. Wie er überhaupt davon erfahren hat, kann ich nicht einmal vermuten. Seltsame Dinge passieren an jenem Ort.« Er blickte aus dem Fenster in die Richtung, wo der Turm stand, ein dunkler Schatten, der das helle Licht der Sonne trotzig ablehnte.

»Hast du ihn eintreten lassen?« fragte Tanis erstaunt.

»Ich hätte es ihm verweigert«, antwortete Garad grimmig. »Aber Elistan gab Anweisung, daß ihm der Eintritt erlaubt werden sollte. Und ich muß zugeben, daß sein Heiltrunk gewirkt hat. Der Schmerz verließ unseren Herrn, und ihm ist die Gnade gewährt, in Frieden zu sterben.«

»Und Dalamar?«

»Er ist bei ihm. Seit seiner Ankunft hat er sich weder bewegt noch gesprochen, sondern sitzt stumm in einer Ecke. Aber seine Anwesenheit scheint Elistan zu trösten, und so haben wir ihm erlaubt, hier zu bleiben.«

Ich würde gerne erleben, wie ihr versucht, ihn zum Verschwinden zu veranlassen, dachte Tanis insgeheim, sagte aber nichts. Die Tür öffnete sich. Die Kleriker sahen ängtlich auf, aber es war nur der Meßgehilfe, der leise geklopft hatte und mit jemandem im angrenzenden Raum redete. Er wandte sich um und winkte Tanis zu sich.

Der Halb-Elf betrat das kleine, schlicht eingerichtete Zimmer und versuchte, sich so leise zu bewegen wie die Kleriker in ihren raschelnden Roben und wattierten Pantoffeln. Aber sein Schwert rasselte, seine Stiefel dröhnten, die Schnallen seiner Lederrüstung klapperten. Für seine Ohren klang es wie eine ganze Zwergenarmee. Sein Gesicht glühte, und er versuchte dem Krach abzuhelfen, indem er sich auf Zehenspitzen bewegte. Elistan, der seinen Kopf auf dem Kissen schwach zur Seite drehte, sah zu dem Halb-Elfen hinüber und begann zu lachen.

»Man könnte meinen, mein Freund, du bist gekommen, um mich auszurauben«, bemerkte Elistan, hob eine abgezehrte Hand und hielt sie Tanis entgegen.

Der Halb-Elf versuchte zu lächeln. Er hörte die Tür leise hinter sich schließen und wurde sich nun erst der dunklen Gestalt in einer Ecke des Zimmers bewußt. Aber er ignorierte alles. Er kniete sich ans Bett des Mannes, bei dessen Befreiung aus den Minen von Pax Tarkas er geholfen hatte und dessen sanfter Einfluß eine so wichtige Rolle in seinem und Lauranas Leben gespielt hatte, ergriff die Hand des sterbenden Freundes und hielt sie fest.

»Wäre es so, dann wäre ich auch in der Lage, diesen Feind für dich zu bekämpfen, Elistan«, sagte Tanis und sah auf die abgemagerten weiße Hand, die auf seiner sonnengebräunten Haut ruhte.

»Kein Feind, Tanis, kein Feind. Ein alter Freund kommt zu mir.« Er zog sanft seine Hand aus Tanis’ Griff und tätschelte den Arm des Halb-Elfen. »Nein, du verstehst das nicht. Aber du wirst es eines Tages begreifen, das verspreche ich dir. Aber ich habe dich nicht zu mir gebeten, um dich mit Abschiedskummer zu belasten. Ich habe einen Auftrag für dich, mein Freund.« Er winkte, und der junge Meßgehilfe trat mit einer Holzschachtel heran und legte sie in Elistans Hände. Dann zog er sich wieder zurück und stellte sich schweigend neben die Tür.

Die dunkle Gestalt in der Ecke rührte sich nicht.

Elistan hob den Deckel der Schachtel und entnahm ihr einen gefalteten Bogen reinen weißen Pergaments. Er legte den Bogen in Tanis’ Hand und schloß dessen Finger darüber.

»Gib das Crysania«, sagte er leise. »Falls sie überlebt, soll sie das nächste Oberhaupt der Kirche sein.« Als er den zweifelnden und mißbilligenden Ausdruck in Tanis’ Gesicht sah, lächelte Elistan. »Mein Freund, du bist durch die Dunkelheit gegangen – niemand weiß das besser als ich. Beinahe hätten wir dich verloren. Aber du hat die Nacht ertragen, Tanis, und das Tageslicht erblickt, gestärkt durch das Wissen, das du gewonnen hast. Die gleiche Hoffnung hege ich für Crysania. Sie ist stark in ihrem Glauben, aber, wie du selbst bemerkt hast, es fehlt ihr an Wärme, Mitgefühl und Menschlichkeit. Sie mußte mit eigenen Augen die Prüfungen sehen, die uns das Schicksal des Königspriesters auferlegt hat. Sie mußte verletzt werden, Tanis, schwer verletzt, um überhaupt die Fähigkeit zu erlangen, angesichts von Verletzungen anderer mit Mitgefühl zu reagieren. Und vor allem, Tanis, mußte sie zur Liebe fähig werden.«

Elistan schloß seine Augen, und sein von Leiden angespanntes Gesicht verdunkelte sich vor Trauer. »Ich hätte es für sie anders entschieden, mein Freund, wenn ich in der Lage gewesen wäre. Ich sah die Straße, auf der sie ging. Aber wer stellt die Wege der Götter in Frage? Ich bestimmt nicht. Obwohl« – er öffnete seine Augen und sah Tanis an, und der Halb-Elf bemerkte ein zorniges Glitzern in ihnen – »ich gerne ein wenig mit ihnen streiten würde.«

Tanis hörte hinter sich die leisen Schritte des Meßgehilfen. Elistan nickte. »Ja, ich weiß. Sie fürchten, daß Gäste mich ermüden. Das tun sie auch, aber schon bald werde ich endgültig Ruhe finden.« Der Kleriker schloß seine Augen und lächelte. »Ja, ich werde mich ausruhen. Mein alter Freund kommt, um mich zu begleiten und meine schwachen Schritte zu führen.«

Tanis erhob sich und warf dem Meßgehilfen einen fragenden Blick zu, doch der schüttelte den Kopf.

»Wir wissen nicht, wen er meint«, murmelte der junge Kleriken. »Er hat sonst wenig über diesen alten Freund gesagt. Wir dachten, daß du es vielleicht bist...«

Aber Elistans Stimme ertönte klar von seinem Bett. »Leb wohl, Tanis, Halb-Elf. Richte Laurana meine Liebe aus. Garad und die anderen« – er nickte zur Tür – »kennen meine Wünsche hinsichtlich der Nachfolge. Sie wissen, was ich dir anvertraut habe. Sie werden dir alle helfen, soweit es in ihrer Macht hegt. Auf Wiedersehen, Tanis. Möge Paladins Segen mit dir sein.«

Tanis konnte nichts sagen. Er bückte sich, drückte die Hand des Klerikers und nickte. Vergeblich mühte er sich zu sprechen und gab es schließlich auf. Dann wandte er sich um, ging an der dunklen, stillen Gestalt in der Ecke vorbei und verließ das Zimmer. Seine Augen waren tränenblind.

Garad begleitete ihn zum Vordereingang des Tempels. »Ich weiß, was Elistan dir aufgetragen hat«, sagte der Kleriker, »und glaube mir, ich hoffe, daß seine Wünsche in Erfüllung gehen. Soweit ich verstanden habe, ist Crysania auf einer Art Pilgerfahrt, die sich als sehr gefährlich erweisen könnte?«

»Ja.« Das war alles, was Tanis antworten konnte.

Garad seufzte. »Möge Paladin bei ihr sein. Wir beten für sie. Sie ist eine starke Frau. Die Kirche benötigt Jugend und Stärke, wenn sie wachsen will. Wenn du Hilfe brauchst, Tanis, vergiß nicht, daß du auf uns zählen kannst.«

Der Halb-Elf konnte nur höflich eine zustimmende Antwort murmeln. Garad verbeugte sich und eilte zu seinem sterbenden Herrn zurück. Tanis hielt noch einen Moment in der Türöffnung inne, um die Kontrolle über sich zurückzugewinnen, bevor er hinaustrat. Als er dort stand und noch über Elistans Worte nachdachte, nahm er einen Streit wahr, der bei der Tempeltür ausgetragen wurde.

»Es tut mir leid, Herr, aber ich kann Euch keinen Einlaß in den Tempel gewähren«, sagte ein junger Meßdiener bestimmt.

»Aber ich sage dir, ich bin hier, um Elistan zu sehen«, gab eine quenglige, mürrische Stimme zurück.

Tanis schloß die Augen und lehnte sich gegen die Mauer. Er kannte die Stimme. Erinnerungen überschwemmten ihn mit einer Intensität, so schmerzvoll, daß er einen Moment weder sprechen noch sich bewegen konnte.

»Wenn Ihr mir Euren Namen nennen könntet«, sagte der Meßdiener geduldig, »dann könnte ich ihn fragen...«

»Ich bin... Mein Name ist...« Die Stimme zögerte und klang ein wenig verwirrt. Dann murmelte sie: »Gestern wußte ich es noch...«

Tanis hörte, wie ein Holzstab gereizt auf den Tempelstufen aufschlug. Die Stimme erhob sich jetzt schrill: »Ich bin eine sehr wichtige Person, junger Mann. Und ich bin es nicht gewohnt, mit solch einer Impertinenz behandelt zu werden. Jetzt geh mir aus dem Weg, bevor du mich zwingst, etwas zu tun, was ich bedauern müßte. Ich meine, was du bedauern müßtest. Na ja, einer von uns wird es bedauern.«

»Es tut mir schrecklich leid, Herr«, wiederholte der Meßdiener, und seine Geduld ließ offensichtlich nach, »aber ohne einen Namen kann ich nicht...«

Es folgte ein Schlurfen, dann war es ruhig, und plötzlich hörte Tanis ein wahrhaft unheilvolles Geräusch – das Geräusch von Seiten, die umgeblättert wurden. Unter Tränen lächelnd ging der Halb-Elf zur Tür. Er schaute hinaus und sah einen alten Zauberer auf den Tempelstufen stehen. In mausgraue Roben gekleidet, mit einem zerbeulten Zauberhut, der offensichtlich bereit war, bei der kleinsten Gelegenheit von seinem Kopf zu purzeln, bot der uralte Zauberer einen höchst anrüchigen Anblick. Er hatte seinen schlichten Holzstab gegen die Tempelmauer gelehnt und blätterte jetzt, ohne den erröteten und entrüsteten Meßdiener zu beachten, in den Seiten seines Zauberbuches. Dabei murmelte er: »Feuerkugel... Feuerkugel... Wie geht dieser verdammte Zauber denn?«

Sanft legte Tanis seine Hand auf die Schulter des Meßdieners. »Er ist wirklich eine wichtige Person«, erklärte der Halb-Elf leise. »Du kannst ihn hineinlassen. Ich werde die volle Verantwortung übernehmen.«

»Ist er das?« Der Meßdiener sah ihn zweifelnd an.

Beim Klang von Tanis’ Stimme hob der Zauberer den Kopf und blickte sich um. »Häh? Wichtige Person? Wo?« Als er Tanis sah, zuckte er zusammen. »Nanu! Wie geht es dir?« Er wollte seine Hand ausstrecken, verhedderte sich in seinen Roben und ließ sein Zauberbuch zu Boden fallen. Er bückte sich, um es wieder aufzuheben, stieß dabei seinen Stab um und ließ ihn klappernd die Stufen hinunterrollen. In diesem Durcheinander flog auch sein Hut davon. Die Unterstützung von Tanis und dem Meßdiener war nötig, um den alten Mann wieder aufzurichten.

»Aua, mein Zeh! Verdammt! Hab’ meinen Platz verloren. Dummer Stab! Wo ist mein Hut?«

Schließlich war die Ordnung mehr oder weniger wiederhergestellt. Der alte Zauberer stopfte sein Zauberbuch in einen Beutel zurück und stülpte seinen Hut fest auf den Kopf, nachdem er zuvor das umgekehrte Verfahren erfolglos ausprobiert hatte. Unglücklicherweise glitt der Hut sofort herab und bedeckte seine Augen.

»Von Blindheit geschlagen, bei den Göttern!« bemerkte der alte Zauberer ehrfürchtig und fuchtelte mit beiden Händen um sich.

Doch dieses Problem war schnell gelöst. Der Meßdiener – mit einem immer noch zweifelnden Blick auf Tanis – schob sanft den Hut auf den weißhaarigen Scheitel zurück. Der alte Zauberer funkelte den jungen Mann wütend an und wandte sich dann an Tanis. »Wichtige Person? Ja, das bist du... glaube ich. Sind wir uns schon einmal begegnet?«

»In der Tat, ja«, erwiderte Tanis. »Aber du bist die wichtige Person, von der ich gesprochen habe, Fizban.«

»Ich?« Der alte Zauberer schien einen Moment zu taumeln. Dann funkelte er mit einem »Hm« wieder den jungen Kleriker an. »Nun, natürlich. Sagte ich doch! Geh zur Seite, geh zur Seite«, befahl er dem Meßdiener gereizt.

Als er in der Tempeltür stand, wandte sich der alte Mann noch einmal um und sah Tanis unter der Krempe seines zerbeulten Hutes an. Er blieb stehen und legte eine Hand auf den Arm des Halb-Elfen. Der verwirrte Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht, und er musterte Tanis aufmerksam.

»Du bist niemals einer dunkleren Stunde entgegengegangen, Halb-Elf«, sagte der alte Zauberer ernst. »Es besteht Hoffnung, aber die Liebe muß triumphieren.« Damit trottete er davon und stolperte schon im nächsten Augenblick gegen einen Schrank.

Zwei Kleriker kamen ihm zur Hilfe und führten ihn weiter.

»Wer ist er?« fragte der junge Meßdiener und starrte verwirrt dem alten Zauberer nach.

»Ein Freund von Elistan«, murmelte Tanis. »Ein sehr alter Freund.«

Als Tanis den Tempel verließ, hörte er noch eine ferne Stimme jammern: »Mein Hut!«

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