14

»Crysania...«

Er bekam keine Antwort, sondern hörte nur ein leises Stöhnen.

»Pst. Es ist alles gut. Du bist verletzt worden, aber der Feind ist verschwunden. Trink das, es wird den Schmerz lindern.« Raistlin hatte aus einem Beutel einige Kräuter geholt und sie in einen Becher mit dampfendem Wasser geworfen. Jetzt hob er Crysania von ihrem Bett aus blutdurchtränkten Blättern hoch und hielt den Becher an ihre Lippen. Als sie trank, glättete sich ihr Gesicht, und sie öffnete ihre Augen.

»Ja«, murmelte sie und lehnte sich an ihn. »Es geht besser.«

»Jetzt«, fuhr Raistlin sanft fort, »mußt du zu Paladin beten, daß er dich heilt, Verehrte Tochter. Wir müssen weitergehen.«

»Ich... ich weiß nicht, Raistlin. Ich fühle mich so schwach und... und Paladin scheint so weit weg zu sein!«

»Zu Paladin beten?« fragte eine strenge Stimme. »Du begehst Gotteslästerung, Schwarze Robe!«

Stirnrunzelnd und verärgert sah Raistlin auf. Seine Augen weiteten sich. »Sturm!« keuchte er.

Aber der junge Ritter beachtete ihn nicht. Er starrte auf Crysania und beobachtete voller Furcht, wie sich die Wunden an ihrem Körper schlossen, auch wenn sie nicht völlig ausheilten. »Hexen!« schrie der Ritter und zog sein Schwert. »Hexen!«

»Hexe?« Crysania hob ihren Kopf. »Nein, Herr Ritter. Ich bin keine Hexe. Ich bin eine Klerikerin, eine Klerikerin von Paladin! Schau auf das Medaillon, das ich trage!«

»Du lügst!« rief Sturm heftig. »Es gibt keine Kleriker mehr! Sie sind während der Umwälzung verschwunden. Aber wenn du eine bist, was treibst du dann in der Gesellschaft dieses verruchten Schwarzen?«

»Sturm! Ich bin es doch, Raistlin!« Der Erzmagier erhob sich. »Sieh mich an! Erkennst du mich nicht wieder?«

Der junge Ritter richtete sein Schwert gegen den Magier, und dessen Spitze stieß an Raistlins Kehle. »Ich weiß nicht, auf welchen Zauberwegen du meinen Namen herbeigerufen hast, Schwarze Robe, aber sag ihn nicht noch einmal, sonst wird es dir schlecht ergehen. Wir in Solace machen mit Hexen und Zauberern kurzen Prozeß.«

»Da du ein mutiger und heiliger Ritter bist, gebunden an die Schwüre der Ritterlichkeit und des Gehorsams, bitte ich dich um Gerechtigkeit«, sagte Crysania, die sich mit Raistlins Hilfe langsam aufrichtete.

Das strenge Gesicht des jungen Mannes glättete sich. Er verneigte sich und steckte mit einem erneuten Seitenblick auf Raistlin sein Schwert wieder ein. »Du sprichst wahr, meine Dame. Ich bin an diese Schwüre gebunden, und Gerechtigkeit soll dir gewährt werden.«

Noch während er sprach, wurde aus dem Blätterbett ein Holzboden, die Bäume wurden Bänke, der Himmel eine Zimmerdecke und die Straße ein Gang zwischen den Bänken. Wir sind in der Halle der Gerechtigkeit, erkannte Raistlin, den ein Schwindel über diese plötzliche Veränderung erfaßte. Sein Arm lag noch immer um Crysania, und er half ihr, an einem kleinen Tisch mitten im Raum Platz zu nehmen. Vor ihnen tauchte ein Podest auf. Als Raistlin hinter sich schaute, bemerkte er, daß sich in dem Raum viele Leute drängten, die alle mit Interesse und Vergnügen zusahen.

Er machte große Augen. Er kannte diese Leute! Da war Otik, der Besitzer des Wirtshauses »Zur letzten Bleibe«, der einen Teller mit Würzkartoffeln verspeiste. Da war Tika, deren rote Locken auf und ab hüpften und die auf Crysania zeigte, etwas sagte und lachte. Und Kitiara! Sie stand an den Türrahmen gelehnt, von sie anhimmelnden jungen Männern umgeben, ihre Hand am Knauf ihres Schwertes, und winkte ihm zu.

Raistlin sah sich fieberhaft um. Sein Vater, ein armer Holzfäller, saß in einer Ecke, die Schultern gebeugt, diesen ständigen Blick voll Kummer und Sorge auf seinem Gesicht. Laurana saß abseits, ihre kühle Elfenschönheit glänzte wie ein strahlender Stern in der schwärzesten Nacht.

Neben ihm rief Crysania: »Elistan!« Sie erhob sich und streckte ihre Hand aus, aber der Kleriker sah sie nur traurig und ernst an und schüttelte den Kopf.

»Erhebt euch und erweist Ehre!« ertönte eine Stimme.

Mit viel Geschlurfe und Scharren erhoben sich alle aus den Bänken in der Halle der Gerechtigkeit. Ein respektvolles Schweigen senkte sich über die Menge, als der Richter eintrat. In die grauen Roben von Gilean, dem Herrn der Neutralität, gekleidet, nahm der Richter seinen Platz hinter dem Podium ein und wandte sein Gesicht den Angeklagten zu.

»Tanis!« rief Raistlin und tat einen Schritt nach vorne.

Aber der bärtige Halb-Elf runzelte nur die Stirn über dieses unschickliche Verhalten, während ein mürrischer alter Zwerg – der Gerichtsvollzieher – nach vorne stapfte und mit dem Endstück seiner Streitaxt Raistlin in die Seite stieß. »Setz dich, Hexer, und rede erst, wenn du angesprochen wirst.«

»Flint?« Raistlin packte den Zwerg am Arm. »Kennst du mich denn nicht?«

»Und faß den Gerichtsvollzieher nicht an!« brüllte Flint zornerregt und riß seinen Arm frei. »Pah«, grummelte er, als er zurückstolzierte, um seinen Platz neben dem Richter einzunehmen. »Kein Respekt vor meinem Alter oder meiner Position. Du glaubst wohl, ich bin ein Sack Mehl, den jeder anpacken kann...«

»Es reicht, Flint«, unterbrach Tanis und beäugte Raistlin und Crysania streng. »Also, wer erhebt Anklage gegen diese beiden?«

»Ich«, sagte ein Ritter in glänzender Rüstung und erhob sich.

»Sehr gut, Sturm Feuerklinge«, sagte Tanis, »du wirst Gelegenheit erhalten, deine Anschuldigungen vorzubringen. Und wer verteidigt diese beiden?«

Raistlin wollte aufstehen und antworten, aber er wurde unterbrochen.

»Ich! Hier, Tanis... Ich, hier vorne! Warte. Ich... ich scheine festzustecken...«

Gelächter dröhnte durch die Halle der Gerechtigkeit, die Menge drehte sich um und starrte auf einen Kender, der sich abmühte, mit einem riesigen Bücherstapel durch die Tür zu kommen. Mit einem spöttischen Lächeln streckte Kitiara ihre Hand aus, packte ihn an seinem Haarzopf, zog ihn durch die Tür und schleuderte ihn unsanft auf den Boden. Die Bücher flogen durch die Gegend, und die Menge brüllte vor Lachen. Völlig unberührt rappelte sich der Kender auf, staubte sich ab, stolperte über die Bücher und schaffte es schließlich, vorne anzulangen.

»Ich bin Tolpan Barfuß«, sagte der Kender und wollte Raistlin seine kleine Hand reichen. Der Erzmagier starrte Tolpan verwundert an und rührte sich nicht. Mit einem Schulterzucken schaute Tolpan auf seine Hand, seufzte, wandte sich um und ging zum Richter. »Hallo, mein Name ist Tolpan Barfuß...«

»Setz dich!« brüllte der Zwerg. »Dem Richter schüttelst du nicht die Hand, du Türknopf!«

»Na ja«, antwortete Tolpan beleidigt. »Ich denke, ich könnte, wenn ich wollte. Ich bin schließlich höflich, etwas, wovon ihr Zwerge keine Ahnung habt. Ich...«

»Setz dich und halt den Mund!« schrie der Zwerg und schlug mit dem Endstück seiner Axt auf den Boden.

Mit tanzendem Haarzopf wandte sich der Kender ab, ging gehorsam zurück und setzte sich neben Raistlin. Aber bevor er Platz nahm, sah er zu den Zuschauern hinüber und ahmte den mürrischen Blick des Zwergen so gut nach, daß die Menge vor Schadenfreude grölte, was den Zwerg noch zorniger machte. Aber jetzt mischte sich der Richter ein.

»Ruhe«, rief Tanis streng, und die Menge verstummte.

Tolpan ließ sich neben Raistlin plumpsen. Der Magier, der eine sanfte Berührung spürte, funkelte den Kender an und streckte seine Hand aus.

»Gib das zurück!« verlangte er.

»Was zurück? Oh, das? Gehört dir das? Du mußt es fallen gelassen haben«, erwiderte Tolpan unschuldig und reichte Raistlin einen seiner Beutel mit Zauberzutaten. »Ich fand ihn auf dem Boden...«

Raistlin riß dem Kender den Beutel aus der Hand und befestigte ihn wieder an der Kordel um seine Taille.

»Du könntest dich wenigstens bedanken«, bemerkte Tolpan mit schrillem Flüsterton. Doch dann verstummte er, als er den strengen Blick des Richters erhaschte.

»Wie lauten die Anklagen gegen diese beiden?« fragte Tanis.

Sturm Feuerklinge trat vor. Es gab vereinzelten Applaus. Der junge Ritter mit seinen hohen Wertmaßstäben und seiner melancholischen Miene war offensichtlich beliebt.

»Ich fand diese zwei in der Wildnis, Euer Ehren. Der Schwarzgekleidete nannte den Namen von Paladin« – aus der Menge kam wütendes Gemurmel – »und während ich noch zusah, braute er ein übles Getränk zusammen und gab es der Frau zu trinken. Sie war schwerverletzt. Blut bedeckte ihre Robe, und ihr Gesicht war verbrannt und vernarbt, als wäre sie einem Brand zum Opfer gefallen. Aber nachdem sie dieses Hexengebräu getrunken hatte, war sie geheilt!«

»Nein!« rief Crysania und erhob sich unsicher. »Das stimmt nicht. Jener Trank, den mir Raistlin gab, hat lediglich meinen Schmerz gelindert. Es waren meine Gebete, die mich heilten! Ich bin eine Klerikerin von Paladin...«

»Entschuldigt, Euer Ehren«, kreischte der Kender und sprang auf die Füße. »Meine Klientin gedachte nicht zu sagen, daß sie eine Klerikerin von Paladin ist. Eine Pantomime vorführen, das ist, was sie gemeint hat. Ja, das ist es.« Tolpan kicherte. »Nur ein wenig Spaß haben, um die Reise lustiger zu gestalten. Es ist ein Spiel, das alle ständig spielen. Ha, ha.« Er wandte sich an Crysania, runzelte die Stirn und flüsterte in einer Lautstärke, daß es alle im Saal hören konnten: »Was machst du denn? Wie soll ich dich hier überhaupt rausbekommen, wenn du herumläufst und die Wahrheit sagst! Ich würde das gar nicht erst zur Spache bringen!«

»Ruhe!« brüllte der Zwerg.

Der Kender wirbelte herum. »Und auch du fängst allmählich an, mich zu langweilen, Flint!« schrie er. »Hör auf, mit dieser Axt auf dem Boden herumzuhämmern, oder ich binde sie dir um den Hals!«

Die Leute im Saal bogen sich vor Gelächter, und selbst der Richter lächelte.

Crysania sank zurück neben Raistlin. Ihr Gesicht war leichenblaß. »Was ist das für ein Possenspiel?« murmelte sie ängstlich.

»Ich weiß es auch nicht, aber ich werde dem ein Ende bereiten.« Raistlin erhob sich.

»Schweigt alle.« Seine sanfte, flüsternde Stimme ließ alle verstummen. »Die Dame ist eine heilige Klerikerin von Paladin! Ich bin ein Zauberer der Schwarzen Roben, geübt in den Künsten der Magie...«

»Oh, mach mal was Magisches!« schrie der Kender und sprang wieder auf die Füße. »Laß mich in einen Ententeich sausen...«

»Setz dich!« rief der Zwerg.

»Setzt seinen Bart in Brand!« Tolpan lachte.

Für diesen Vorschlag gab es wieder eine Beifallssalve.

»Ja, zeige uns ein wenig Magie, Zauberer«, rief Tanis laut über die Heiterkeit in der Halle.

Alle verstummten, und dann begann die Menge zu murmeln. »Ja, Zauberer, zeig uns ein wenig Magie. Zaubere ein wenig, Hexer!« Kitiaras Stimme ertönte laut über den anderen, stark und mächtig. »Vollführe ein wenig Magie, du zerbrechlicher und kränklicher Wicht, wenn du kannst!«

Raistlins Zunge klebte am Gaumen. Crysania starrte ihn mit Hoffnung und Entsetzen in ihrem Blick an. Seine Hände zitterten. Er nahm den Stab des Magus, der an seiner Seite stand, aber als er sich erinnerte, was dieser ihm zuvor angetan hatte, wagte er nicht, ihn zu gebrauchen.

Er zog sich am Tisch hoch und warf einen verächtlichen Blick auf die Menge. »Ha! Ich habe es nicht nötig, mich vor so einem Pack wie euch unter Beweis zu stellen...«

»Ich finde aber auch, das wäre wirklich eine gute Idee«, murmelte Tolpan und zupfte an Raistlins Robe.

»Seht ihr!« schrie Sturm. »Der Hexer kann es nicht! Ich verlange Gerechtigkeit!«

»Gerechtigkeit! Gerechtigkeit!« grölte die Menge. »Verbrennt die Hexen! Verbrennt ihre Körper! Rettet ihre Seelen!«

»Nun, Zauberer?« fragte Tanis streng. »Kannst du beweisen, was du behauptest zu können?«

Zauberworte entschlüpften ihm ohne Kontrolle. Crysanias Hände umklammerten ihn. Der Lärm betäubte ihn. Er konnte nicht denken! Er wollte allein sein, fort von diesen lachenden Mäulern und flehenden, angsterfüllten Augen. »Ich...«, stammelte er und senkte seinen Kopf.

»Verbrennt sie!«

Grobe Hände ergriffen Raistlin. Das Gericht verschwand vor seinen Augen. Er kämpfte, aber es war sinnlos. Der Mann, der ihn festhielt, war groß und stark, mit einem Gesicht, das einst vielleicht fröhlich gewesen war, aber jetzt ernst und gespannt dreinschaute.

»Caramon! Bruder!« schrie Raistlin und wand sich im Griff des großen Mannes.

Aber Caramon ignorierte ihn. Er packte Raistlin nur noch fester und zerrte den zerbrechlichen Magier einen Hügel hoch. Raistlin schaute sich um. Vor ihm erhoben sich auf dem Hügel zwei hohe Holzpfosten, die in den Boden getrieben waren. Am Fuß jedes Pfostens warfen die Stadtbewohner – seine Freunde, seine Nachbarn – schadenfroh riesige Mengen Trockenholz auf einen Haufen.

»Wo ist Crysania?« fragte er seinen Bruder und hoffte, sie wäre entkommen und könnte nun zurückkehren, um ihm zu helfen. Doch dann erhaschte Raistlin einen Blick auf weiße Roben. Elistan band Crysania gerade an einen Pfahl. Sie kämpfte und versuchte, seinem Griff zu entfliehen, aber sie war von ihrem Leiden geschwächt. Schließlich gab sie auf. Vor Angst und Verzweiflung weinend, sackte sie gegen den Pfahl zusammen, während ihre Hände nach hinten und ihre Füße am Pfahl gefesselt waren.

Dir dunkles Haar fiel über ihre glatten, bloßen Schultern, die vor Weinen bebten. Ihre Wunden hatten sich geöffnet, und ihr Blut färbte ihre Roben rot. Raistlin meinte, sie einen Schrei zu Paladin ausstoßen zu hören, aber falls das stimmte, konnten ihre Worte über dem grölenden Mob nicht gehört werden. Ihr Glaube ließ im gleichen Maße nach, wie sie selbst schwächer wurde.

Tanis trat mit einer brennenden Fackel in seiner Hand heran. Er wandte sich an Raistlin. »Du wirst erst ihr Schicksal anschauen und dann dein eigenes erleben, Hexer!« rief er.

»Nein!« Raistlin kämpfte, aber Caramon hielt ihn fest.

Tanis bückte sich und warf die flammende Fackel in das öldurchtränkte, trockene Holz. Es fing sofort Feuer, das sich schnell ausbreitete und bald Crysanias weiße Roben verschlang. Raistlin hörte ihren qualvollen Schrei durch das tosende Feuer. Es gelang ihr, den Kopf zu heben, um einen letzten Blick zu Raistlin zu schicken.

Als Raistlin den Schmerz und die Angst in ihren Augen sah und auch ihre Liebe, brannte sein Herz in einem Feuer, das heißer war, als es ein Lebewesen erzeugen konnte. »Sie wollen Magie! Ich gebe ihnen Magie!« Und bevor er weiter nachdachte, schob er den verblüfften Caramon zur Seite, riß sich frei und streckte seine Arme dem Himmel entgegen.

In diesem Moment traten die Worte der Magie in seine Seele, um ihn nie wieder zu verlassen.

Blitze zuckten aus seinen Fingerspitzen und streiften die Wolken im rotgefärbten Himmel. Die Wolken antworteten mit Blitzen, die nach unten fuhren und in den Boden vor den Füßen des Magiers einschlugen.

Zornerfüllt wandte sich Raistlin der Menge zu – aber die Menschen waren verschwunden, wie aufgelöst, als ob sie niemals existiert hätten.

»Ah, meine Königin!« Ein Lachen perlte über seine Lippen. Freude jagte durch seine Seele, während die Ekstase seiner Magie in seinem Blut glühte. Und schließlich verstand er. Er verstand seine große Torheit, und er erkannte seine große Chance.

Er war getäuscht worden – von sich selbst! Tolpan hatte ihm in Zaman den Schlüssel gegeben, aber er hatte nicht weiter darüber nachgedacht. »Ich dachte manchmal an etwas«, hatte der Kender erzählt, »und da tauchte es auch auf! Wenn ich irgendwohin wollte, mußte ich nur daran denken, und entweder kam der Ort zu mir, oder ich ging dorthin, darüber bin ich mir nicht ganz sicher. Es waren alle Städte, in denen ich je gewesen war, und doch keine von ihnen.« So hatte der Kender erzählt.

Ich habe vermutet, die Hölle sei eine Widerspiegelung der Welt, erkannte Raistlin. Und so bin ich durch sie gereist. Aber das stimmt nicht. Sie ist nichts weiter als eine Widerspiegelung meines Geistes! Ich bin die ganze Zeit nur durch meinen eigenen Geist gereist!

Die Königin ist in der Heimat der Götter, weil ich glaubte, daß sie dort ist. Und die Heimat der Götter ist genauso weit entfernt oder in der Nähe, wie ich mich entscheide! Meine Magie hat nicht funktioniert, weil ich gezweifelt habe, und nicht weil mich etwas abhielt, sie anzuwenden. Ich war schon fast soweit, mich selbst zu besiegen! Ah, aber jetzt weiß ich Bescheid, meine Königin! Jetzt weiß ich Bescheid, und jetzt kann ich triumphieren! Denn die Heimat der Götter ist nur einen Schritt entfernt, und es ist nur ein weiterer Schritt zum Portal...

»Raistlin!«

Die Stimme klang leise, gequält, erschöpft und verbraucht. Raistlin wandte seinen Kopf um. Die Menge war verschwunden, weil sie niemals existiert hatte. Sie war seine Erfindung gewesen. Das Dorf, das Land, der Kontinent, alles, was er sich vorgestellt hatte, war verschwunden. Er befand sich in einem flachen, wellenförmigen Nichts. Himmel und Boden waren nicht zu unterscheiden, denn beide waren in den gleichen unheimlichen, brennenden Rosaton getaucht. Eine blasse Linie am Horizont schnitt sich wie ein Messer durch das Land.

Aber ein Gegenstand war nicht verschwunden – der Holzpfahl. Umgeben von angekohltem Holz, reckte er sich in den rosafarbenen Himmel und drängte sich von dem Nichts unter ihm nach oben. Eine Gestalt lag neben dem Pfahl. Sie hatte vielleicht einst weiße Roben getragen, aber jetzt waren sie schwarz verbrannt, und der Geruch verkohlten Fleisches war stark.

Raistlin trat näher. Er kniete sich auf die noch warme Asche und drehte die Gestalt auf die andere Seite. »Crysania«, murmelte er.

»Raistlin?« Ihr Gesicht war schrecklich verbrannt, und blinde Augen starrten ins Leere. Sie hielt ihm eine Hand entgegen, die nichts weiter war als eine geschwärzte Klaue. »Raistlin?« Sie stöhnte vor Qual.

Seine Hand schloß sich um ihre. »Ich kann nicht sehen!« wimmerte sie. »Alles ist dunkel! Bist du es?«

»Ja«, antwortete er.

»Raistlin, ich habe versagt...«

»Nein, Crysania, das hast du nicht«, antwortete er, und seine Stimme war kühl und gleichmäßig. »Ich bin unverletzt. Meine Magie ist jetzt stark, stärker als je zuvor in allen Zeiten, in denen ich lebte. Ich werde jetzt weitergehen und die Dunkle Königin besiegen.«

Ihre gesprungenen und mit Blasen bedeckten Lippen teilten sich zu einem Lächeln. Die Hand, die Raistlin hielt, festigte ihren Griff. »Dann wurden meine Gebete erhört.« Sie würgte, und ein Schmerzenskrampf zuckte durch ihren Körper. Als sie dann wieder Atem schöpfen konnte, flüsterte sie etwas. Raistlin beugte sich näher zu ihr. »Ich sterbe, Raistlin. Ich bin unerträglich geschwächt. Bald wird Paladin mich zu sich nehmen. Bleib bei mir, Raistlin. Bleib bei mir, während ich sterbe...«

Raistlin sah auf die erbärmlichen Überreste der Frau hinab. Und als er ihre Hand hielt, kam ihm unvermittelt eine Vision, wie er sie im Wald in der Nähe von Kargod gesehen hatte, als er beinahe die Kontrolle über sich selbst verloren und sie genommen hätte – ihre weiße Haut, ihr seidenweiches Haar, ihre glänzenden Augen. Er erinnerte sich an die Liebe in ihren Augen, er erinnerte sich, wie eng er sie in seinen Armen gehalten hatte, er erinnerte sich, daß er ihre glatte Haut geküßt hatte...

Jede einzelne Erinnerung verbrannte Raistlin hintereinander in seinem Gedächtnis. Er setzte sie mit seiner Magie in Brand und sah zu, wie sie sich zu Asche verwandelten und vom Rauch weggeblasen wurden. Mit seiner anderen Hand befreite er sich aus ihrer Umklammerung.

»Raistlin!« schrie sie, und ihre Hand griff entsetzt ins Leere.

»Du hast meinem Zweck gut gedient, Verehrte Tochter«, sagte Raistlin, und seine Stimme klang so glatt und kalt wie die silberne Klinge des Dolches, den er an seinem Handgelenk trug. »Die Zeit drängt. Schon jetzt kommen jene dem Portal in Palanthas immer näher, um mir Einhalt zu gebieten. Ich muß jetzt die Königin herausfordern und meine letzte Schlacht mit ihren Lakaien austragen. Aber nach meinem Sieg muß ich zum Portal zurückkehren und es betreten, bevor es jemandem gelingt, mich aufzuhalten.«

»Raistlin, verlaß mich nicht! Bitte, laß mich nicht allein in der Dunkelheit!«

Raistlin stützte sich auf den Stab des Magus, der jetzt in einem hellen, leuchtenden Licht strahlte, und richtete sich auf. »Leb wohl, Verehrte Tochter«, sagte er mit einem sanften, zischenden Flüstern. »Ich brauche dich jetzt nicht mehr.«

Crysania hörte das Raschem seiner schwarzen Roben, als er verschwand. Sie hörte den Stab des Magus nicht aufschlagen. Durch den erstickenden, beißenden Geruch von Rauch und verbranntem Fleisch konnte sie auch den schwachen Duft von Rosenblättern riechen...

Und dann herrschte vollkommene Stille. Sie wußte, daß er gegangen war.

Sie war allein, und ihr Leben strömte aus ihren Venen, so wie ihre Illusionen langsam verströmten.

»Wenn du wieder einmal deutlich sehen wirst, Crysania, wirst du von der Dunkelheit blind sein... von unendlicher Dunkelheit.«

So hatte ihr Loralon, der Elfenkleriker, vor dem Untergang Istars prophezeit. Crysania wollte weinen, aber das Feuer hatte die Quelle ihrer Tränen verbrannt.

»Jetzt sehe ich«, flüsterte sie in der Dunkelheit. »Ich sehe so deutlich! Ich habe mich selbst getäuscht! Ich habe ihm nichts bedeutet – ich war nur eine Spielfigur, die er auf dem Brett seines großen Spiels herumschiebt, so wie es ihm beliebt. Und selbst als er mich benutzt hat – habe doch ich ihn benutzt!« Sie stöhnte. »Ich benutzte ihn, um meinen Stolz, meinen Ehrgeiz zu befriedigen! Meine Dunkelheit hat seine eigene verstärkt! Er ist verloren, und ich habe ihn in seinen eigenen Untergang geführt! Denn wenn er jetzt die Dunkle Königin besiegt, dann nur, um ihren Platz einzunehmen!«

Sie starrte zum Himmel hoch, den sie nicht sehen konnte, und schrie auf vor Qual. »Das habe ich getan, Paladin! Ich habe dieses Übel über mich gebracht und über die Welt! Aber, o mein Gott, welch größeres Übel habe ich über ihn gebracht!«

Dort in der ewigen Dunkelheit weinte Crysanias Herz alle Tränen, die ihre Augen nicht mehr weinen konnten. »Ich liebe dich, Raistlin«, murmelte sie. »Ich konnte es dir niemals sagen. Ich konnte es mir selbst nicht eingestehen.« Sie warf ihren Kopf umher, ergriffen von einem Schmerz, der sie tiefer versengte als alle Flammen. »Aber was hätte es geändert, wenn ich es gesagt hätte?«

Der Schmerz ließ nach. Es schien ihr, als glitte sie weg. Und sie begann die Gewalt über ihr Bewußtsein zu verlieren.

Gut, dachte sie erschöpft. Ich sterbe. Laß den Tod schnell kommen und meine bittere Qual beenden.

Sie holte Atem. »Paladin, verzeih mir«, murmelte sie.

Noch ein Atemzug: »Raistlin...«

Ein weiterer, schwächerer Atemzug: »Verzeih...«

Загрузка...