Viertes Buch - Das Haus am Ende der Zeit

Von außen hatte das Haus nur groß und finster ausgesehen; vielleicht ein ganz kleines bißchen düster, wie es die Art alter, einsam stehender Herrenhäuser nun einmal ist; mit einer Spur von Bedrohung und dem leichten Hauch des Unheimlichen, der von seinen von den Jahrzehnten geschwärzten Mauern ausging. Aber trotz allem nicht mehr, als eben ein Haus, das seit einem Menschenalter vergessen und seit zweien verlassen hier mitten im Wald stand.

Das war das Äußere gewesen.

Innen war es unheimlich. Unheimlich und - gefährlich ...

Jenny vermochte das Gefühl nicht in Worte zu kleiden. Sie waren stehengeblieben, nachdem Charles das morsche Türschloß aufgebrochen und einen Flügel des gewaltigen Portals mit der Schulter aufgedrückt hatte. Ein schmaler Streifen grauer, flackernder Helligkeit sickerte hinter ihnen in die Halle, vielleicht das erste Mal seit Jahren, daß Licht die ewige Nacht hier drinnen erhellte, und durch das dumpfe, rasche Hämmern ihres eigenen Herzens glaubte Jenny das Huschen kleiner, krallenbewehrter Pfoten zu hören. Ratten, dachte sie entsetzt. Natürlich. Das Haus mochte von Menschen verlassen sein, aber die Ratten und Spinnen hatten es erobert und zu ihrem Domizil gemacht. Sie haßte Ratten.

Aber das war nicht alles. Irgend etwas Seltsames, körperlos Drohendes nistete in dem alten Gemäuer, etwas, das sie weder hören noch sehen oder riechen, dafür aber um so deutlicher spüren konnte.

»Laß ... laß uns wieder gehen, Charles«, sagte sie stockend. »Ich ... ich fürchte mich.« Sie flüsterte, als hätte sie Angst, mit dem Klang ihrer Stimme die Geister dieses Hauses aufzuwecken, aber ihre Worte füllten die hohe, in undurchdringliche Schwärze getauchte Halle trotzdem mit kichernden Echos aus. Ein rascher, unangenehmer Schauer huschte auf eisigen Spinnenfüßen über ihren Rücken.

Charles schüttelte stumm den Kopf, berührte sie flüchtig am Arm und versuchte zu lächeln. »Unsinn«, sagte er. »Es gibt hier nichts, wovor du Angst zu haben bräuchtes. Das Haus steht seit fast fünfzig Jahren leer. Als Kind habe ich oft hier gespielt. Wir haben es als Versteck benutzt, aber das ist lange her.«

Jenny schauderte. Ohne daß sie sagen konnte, warum, verstärkten Charles' Worte ihre Furcht noch. Ihr Herz schlug schneller. Speichel sammelte sich hinter ihrer Zunge. Sie hatte das Gefühl, daß ihr gleich übel werden würde. Ihre Handflächen wurden feucht.

»Ich will nicht hierbleiben«, sagte sie noch einmal. »Bitte, Charles!«

Charles seufzte. Sein Blick glitt zurück durch die Tür und heftete sich für einen Augenblick auf den nahen Waldrand, der rasch im dunkler werdenden Grau der Dämmerung versank. »Wir können nicht weiter«, sagte er nach einer Weile. Seine Stimme hörte sich gleichzeitig entschlossen wie bedauernd an. »Sie suchen garantiert die Hauptstraße ab, und ich gebe dir Brief und Siegel, daß sie jedes Gasthaus im Umkreis von fünfzig Meilen kontrollieren werden.« Er lächelte. »Wir können nicht draußen im Wald übernachten, das weißt du genau. Und es ist nur für eine Nacht.« Er schüttelte den Kopf, atmete hörbar ein und sah sich suchend um. »Irgendwo hier muß es eine Kerze geben«, murmelte er. »Früher lagen Dutzende davon hier herum.«

»Charles, ich ...«

»Bitte, Jenny«, unterbrach sie Charles. »Morgen abend um diese Zeit sind wir Mann und Frau, und keine Macht der Welt kann uns noch trennen. Aber solange wir noch nicht offiziell verheiratet sind, müssen wir vorsichtig sein.« Er trat auf sie zu, legte die Hände auf ihre Schultern und küßte sie flüchtig auf die Stirn. »Du weißt doch genau, was geschieht, wenn deine Eltern uns erwischen, Schatz«, flüsterte er.

Jenny nickte zögernd. Natürlich wußte sie es. Daß sie es wußte, war ja gerade der Grund, aus dem sie sich entschlossen hatten, wie eine moderne Ausgabe von Romeo und Julia miteinander durchzubrennen und in Gretna Green zu heiraten. Sie war erst achtzehn, und sie wußte, daß ihre Eltern alles in ihrer Macht Stehende tun würden, sie von Charles fernzuhalten. Sie hatten mehr als einmal damit gedroht, sie in ein Internat auf dem Kontinent zu schicken, wenn sie sich weiter mit Charles traf. Und ihr Vater war kein Mensch, der leere Drohungen ausstieß.

Sicher, Charles hatte recht, mit jedem Wort. Und trotzdem bedauerte sie ihren Entschluß fast, seit sie dieses unheimliche Haus betreten hatten.

Charles löste sich behutsam von ihr, drehte sich herum und ging mit vorsichtigen Schritten tiefer in das Haus hinein. Jenny blieb neben der Tür stehen, achtsam darauf bedacht, den winzigen Bereich von Helligkeit hinter dem Eingang nicht zu verlassen. Charles hantierte eine Weile im Dunkeln herum, fluchte gedämpft und kam - nach Sekunden, die ihr wie Ewigkeiten erschienen - zurück. Seine Kleider waren verdreckt und staubig, und auf seiner linken Wange glänzte ein dünner, blutiger Kratzer. Aber er trug eine Kerze in der Hand. Mit einem triumphierenden Grinsen ließ er sich neben Jenny in die Hocke sinken, stellte die Kerze zu Boden und kramte eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche. Nach wenigen Augenblicken schlug ein gelbes, flackerndes Flämmchen aus dem Docht und trieb die Dunkelheit um ein paar Schritte zurück.

Charles richtete sich auf, gab Jenny die Kerze und schob die Tür wieder zu. Das schwere, annähernd drei Meter hohe Türblatt bewegte sich nur widerwillig. Es war verzogen und verquollen, und Charles keuchte vor Anstrengung, als es ihm endlich gelungen war, die Tür wieder zu schließen. Mit einem dumpfen, unheimlich widerhallenden Laut rastete das Schloß ein.

»Gehen wir nach oben«, schlug Charles vor. »Es gibt ein paar Zimmer, die noch ganz in Ordnung sind. Komm.« Er nahm Jenny die Kerze wieder ab, machte eine aufmunternde Kopfbewegung und ging auf die breite Freitreppe zu, die sich im hinteren Teil der Halle erhob.

Jenny folgte ihm mit klopfendem Herzen. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte sie im schwachen Schein der Kerze erstaunlich weit sehen. Die Halle war gefüllt von zerbrochenen Möbelstücken, Staub und Unrat, der sich im Laufe der Jahrzehnte hier gesammelt hatte. Überall hingen Spinnweben wie graue Vorhänge, und von der Decke fielen graue Staubfäden bis fast zum Boden herab. Auf den Treppenstufen lag Rattenkot, und aus einem finsteren Winkel schlug ihnen leichter Verwesungsgeruch entgegen. Dieses Haus ist kein Haus, dachte Jenny schaudernd, sondern ein Grab.

Hintereinander gingen sie die Treppe hinauf. Charles schritt schnell aus, und Jenny mußte sich sputen, um mit ihm Schritt zu halten und nicht zurückzufallen. Sie erreichten das obere Ende der Treppe und traten auf eine breite, auf einer Seite offene Galerie hinaus, von der zahllose Türen abzweigten. Jenny glaubte Geräusche zu hören, das Wispern und Flüstern von Stimmen, das Schlurfen schwerer Schritte, Atmen, ein leises, unglaublich böses Lachen ...

Für einen Moment stieg Panik in ihr hoch, aber sie drängte sie zurück und ballte die Fäuste, so fest, daß sich ihre Fingernägel schmerzhaft in ihre Handflächen gruben.

»Charles«, flüsterte sie. »Ich will hier raus.«

Charles blieb stehen, drehte sich langsam zu ihr herum und sah sie an. Sein Gesicht war ernst, und Jenny glaubte das leise Flackern von Angst in seinen Augen zu erkennen.

»Ich will weg«, sagte sie noch einmal und etwas lauter als zuvor. »Bitte, Charles. Lieber übernachte ich im Wald, als in diesem Haus.«

Das Wispern und Flüstern wurde lauter. Jemand lachte, ganz leise und voller boshafter Vorfreude. Charles' Mundwinkel zuckten. Die Kerze in seiner Hand begann zu zittern, und die Flamme warf zuckende Lichtreflexe und huschende Schatten auf die Wände. Schatten, die sich auf sie zubewegten, sie einzukreisen begannen ...

»Bitte«, sagte sie noch einmal. »Ich ... ich bleibe nicht hier.«

Charles nickte. Die Bewegung wirkte abgehackt, und auf seiner Stirn glänzte plötzlich Schweiß, obwohl es hier drinnen eher zu kalt war. Und plötzlich begriff Jenny, daß er es auch hörte. Die Stimmen und Schritte waren keine Einbildung.

»Du ... hast recht«, sagte er gepreßt. »Vielleicht finden wir eine andere Stelle, an der wir übernachten ...«

Er sprach den Satz nicht zu Ende. Die wispernden Stimmen verstummten. Das Lachen hörte auf, und die Schatten zogen sich zurück, hörten auf, hierhin und dorthin zu huschen, sondern bildeten einen massigen, undurchdringlichen Kreis rings um sie herum. Plötzlich war es still, unheimlich still.

Aber nur für einen Augenblick. Ein helles, wimmerndes Geräusch durchdrang die Stille, ein Laut, als würde eine Tür in uralten Angeln bewegt...

Jenny fuhr mit einer abrupten Bewegung herum. Ihre Augen weiteten sich entsetzt, als sie sah, wie die Türen hinter ihr eine nach der anderen aufgingen.

Im ersten Moment sah sie nichts; nichts außer schwarzen Schatten und körperlosen, finsteren Dingen, die sich dahinter zu verbergen schienen. Dann kamen sie näher, lautlos, schleichend und unaufhaltsam.

Erst, als Jenny sah, was da mit lautlosen Bewegungen auf die Galerie hinausglitt, begann sie zu schreien ...


»Sagtest du: Salem?«

Es dauerte einen Moment, bis Howard auf meine Worte reagierte. Die letzten zweieinhalb Stunden hatte er mit halb geschlossenen Augen auf seinem Platz neben dem Fenster gesessen, außer einem gelegentlichen Seufzer keinen Laut von sich gegeben und - genau wie ich und Rowlf - ergeben darauf gewartet, daß die Fahrgäste, die in Carlisle zugestiegen waren, endlich wieder gingen. Howard hatte Platzkarten und Billets für das ganze Abteil gekauft, so daß wir eigentlich ungestört hätten fahren und reden können, aber der Zug war überfüllt, und der Schaffner hatte Howard mit einem gleichmütigen Achselzucken geantwortet, daß er die Passagiere schließlich nicht auf den Kohletender verfrachten könne - womit er recht hatte. Es waren ein Mann und zwei Frauen (wie aus ihren Gesprächen hervorging, ein Ehepaar in Begleitung der Schwiegermutter) gewesen; eigentlich drei nicht einmal unnette Personen, denen anzumerken war, wie unangenehm ihnen die ganze Situation war. Eigentlich hatte ich sie ganz sympathisch gefunden. Aber es redete sich schlecht über Hexen, Magier und GROSSE ALTE, wenn fremde Ohren mithörten ...

»Was?« fragte Howard.

Ich wiederholte meine Frage: »Salem«, sagte ich. »Als wir gestern abend mit ... Priscylla sprachen, erwähntest du Salem.« Das unmerkliche Stocken in meinen Worten mußte ihm auffallen. Obwohl ich mir alle Mühe gab, hatte ich die Ereignisse längst nicht verwunden, geschweige denn vergessen. Wie konnte ich auch? Ich liebte Priscylla noch immer. Jetzt vielleicht mehr als zuvor. Aber Howard ging nicht auf den warnenden Ton in meiner Stimme ein.

»Ich sagte Salem«, antwortete er und lehnte sich wieder zurück, als wolle er schlafen. Es war nicht das erste Mal, daß ich ihn auf seine Worte ansprach.

Und es war nicht das erste Mal, daß er nicht oder nur ausweichend antwortete. Aber diesesmal würde ich mich nicht mit einer Ausflucht abspeisen lassen. Seine Worte ergaben keinen Sinn, außer ...

Ich schüttelte den Gedanken ab und sah ihm scharf in die Augen. Howard lächelte, unterdrückte mit Mühe ein Gähnen und blickte auf die Landschaft, die vor dem Fenster vorüberhuschte. Der Zug fuhr jetzt, auf dem letzten, beinahe schnurgerade verlaufenden Stück der Strecke, mit voller Geschwindigkeit, und unsere Umgebung flog nur so an uns vorüber. In weniger als zwei Stunden würden wir Glasgow erreichen. Von dort aus sollte die Reise - wenigstens hatte Howard mir dies erklärt - mit einer Kutsche weitergehen, die er telegrafisch zum Bahnhof bestellt hatte. Wenn wir erst einmal in der Stadt waren, würde er sicher genug Gelegenheiten finden, mir nicht antworten zu müssen.

»Und?« fragte ich.

Howard bückte mit unverhohlenem Mißmut auf. Er ließ keinen Zweifel daran, daß er die Penetranz, mit der ich auf einer Antwort beharrte, als äußerst lästig empfand. »Was - und?« fragte er.

»Ich möchte wissen, wie du deine Worte gemeint hast«, sagte ich, nicht sehr laut, aber mit großem Nachdruck. Etwas hatte sich zwischen uns geändert. Während der letzten beiden Tage war er wie ein väterlicher Freund zu mir gewesen, und jetzt ...

Ich konnte das Gefühl selbst nicht in Worte fassen. Es war keine Feindschaft, nicht einmal Mißtrauen. Aber es gab eine fühlbare Spannung zwischen uns. Er verschwieg mir etwas, und ich spürte es.

Howard seufzte, schüttelte den Kopf und rutschte auf dem unbequemen Sitz hin und her. »Du machst dir Sorgen um Priscylla«, sagte er, »Das verstehe ich, Junge. Aber sie ist bei Dr. Grays Freunden in den besten Händen. Sie haben Erfahrung in solchen Dingen, glaube mir. Wenn es jemanden gibt, der aus ihr wieder einen normalen Menschen machen kann, dann sie.«

»Einen normalen Menschen?« Ich hatte Mühe, den Zorn in meiner Stimme zu unterdrücken. »Du sprichst von ihr, als wäre sie geistesgestört.«

Howard sah mich ernst an. »Das ist sie auch, Robert«, sagte er leise. »Nicht so, wie man das Wort normalerweise benutzt - sie ist nicht verrückt oder gar schwachsinnig. Aber ihr Geist ist verwirrt.« Er machte eine entsprechende Bewegung zur Stirn. »Sie hat sich mit Mächten eingelassen, denen sie nicht gewachsen ist, Robert. Sie ist nicht böse; nicht wirklich. Früher war sie sogar ein ausgesprochen liebenswerter Mensch. Und es wird sehr viel Zeit und Geduld nötig sein, sie wieder zu dem Menschen zu machen, der sie war.«

»In Salem«, fügte ich hinzu.

Howards Blick verfinsterte sich. »Bitte, Robert«, sagte er leise. »Fang nicht...«

»Du verschweigst mir etwas«, unterbrach ich ihn. Rowlf, der die ganze Zeit schweigend und mit geschlossenen Augen neben Howard gehockt und so getan hatte, als schliefe er - ohne daß ich darauf hereingefallen wäre -, hob träge das linke Augenlid und blinzelte mich an.

»Du verschweigst mir sogar eine ganze Menge«, fuhr ich in scharfem, beinahe aggressivem Ton fort. »Du hast mir weder gesagt, wohin ihr Priscylla bringt, noch, was dort mit ihr geschieht.«

»Weil ich es nicht weiß«, behauptete Howard. »Auch Dr. Gray weiß es nicht, und das ist auch gut so. Es geschieht zu unserer und ihrer Sicherheit. Die Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, sind sehr vorsichtig. Aber sie wissen nicht, wer wir sind. Wir haben mächtige Feinde, weißt du, und wir müssen damit rechnen, daß einer von uns in ihre Hände fällt. Was er nicht weiß, kann er nicht preisgeben.« Er lachte. »Das ist ein uralter Trick, den zum Beispiel Spionageringe verwenden, um ...«

»Du weichst mir schon wieder aus«, unterbrach ich ihn. »Was hatten deine Worte zu bedeuten? Salem ist seit über hundert Jahren zerstört, und Priscylla ...«

»Lyssa«, sagte Howard ruhig. »Ihr wirklicher Name ist Lyssa.«

»Das ändert nichts daran, daß Salem vor mehr als einem Jahrhundert vernichtet worden ist.«

»Isses nich«, nuschelte Rowlf. Ich hielt verstört inne und sah ihn an. Rowlf gähnte, ohne sich die Mühe zu machen, dabei etwa die Hand vor den Mund zu nehmen, kratzte sich mit den Fingern an seinem Stoppelbart und blickte mich triefäugig an. Sein Bulldoggengesicht wirkte verschlafen.

»Rowlf hat recht«, sprang Howard hilfreich - und eine Spur zu schnell - ein. »Salem wurde nicht vernichtet, wie die meisten glauben. Es gab ein Progrom, bei dem Dutzende von Menschen getötet wurden, aber der Ort selbst existiert noch heute. Ich war dort, vor ein paar Jahren. Damals habe ich Lyssa - Priscylla - getroffen.«

Ich glaubte ihm kein Wort. Es hätte nicht einmal meines Talentes, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden, bedurft, um zu erkennen, daß er log. Aber warum? Welchen Grund sollte er haben, mich zu belügen? Außer dem, daß er glaubte, mich vor irgend etwas schützen zu müssen.

»Lyssa«, murmelte ich. »Das ist ihr richtiger Name?«

Howard nickte.

»Und weiter?«

»Weiter?«

»Kein Nachname, keine Familie, nichts?«

Howard druckste herum. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. Eine weitere Lüge. »Und es spielt auch keine Rolle.« Er seufzte, blickte wieder aus dem Fenster und fuhr, ohne mich anzusehen, fort: »Es ist nicht mehr weit bis Glasgow, Robert. Wenn der Wagen pünktlich am Bahnhof ist, dann können wir gleich weiterfahren. Wir sollten noch etwas essen, solange Zeit ist. Später werden wir keine Gelegenheit mehr dazu haben.« Er stand auf. »Laß uns in den Speisewagen gehen.«

Ich starrte ihn finster an, aber diesmal ignorierte er meinen Blick, lächelte sogar und wandte sich mit einer abrupten Bewegung zum Gehen.


Matthew Carradine hielt die Laterne so, daß der Lichtschein durch die halb offenstehende Tür des Hauses fiel. Im Zentrum des flackernden, weißgelben Kegels erschienen Staub und Unrat, Bruchstücke von vermoderten Möbeln und dunkle, unidentifizierbare Klumpen - und die halb verwischten Spuren menschlicher Füße.

»Sie waren hier«, sagte Carradine. »Vor nicht allzu langer Zeit.«

Boldwinn trat mit einem raschen Schritt neben ihn, beugte sich vor und starrte einen Moment auf die durcheinanderlaufenden Fußspuren. Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, sagten ihm die Abdrücke im Staub nicht sehr viel. »Sind Sie sicher, Carradine?« fragte er. Seine Stimme klang eisig; der einzige Ausdruck, der überhaupt darin mitschwang, war Verachtung.

Carradine sah wütend auf. »Hören Sie, Boldwinn«, schnappte er. »Ich ...«

Boldwinn brachte ihn mit einer zornigen Bewegung zum Verstummen. Als er Carradine ansah, huschte ein Ausdruck über seine Züge, als betrachte er ein vielleicht interessantes, aber nichtsdestotrotz lästiges Insekt, das er am Schluß doch zerquetschen würde, so oder so. »Mister Boldwinn«, sagte er betont.

Carradine sog hörbar die Luft ein. Die Laterne in seiner Hand zitterte. Der Lichtstrahl huschte wie ein bleicher Finger über Boldwinns Gesicht und tastete unstet an den zerbröckelnden Außenmauern des Hauses entlang. »Wie Sie wollen, Mister Boldwinn«, sagte er. »Aber ich bin sicher, daß sie hier waren. Ich wäre es auch, wenn ich diese Spuren nicht gesehen hätte. Charles ist als Kind immer hierher gekommen, wenn er ein Versteck brauchte. Er hat wohl geglaubt, wir wüßten nichts von diesem Haus, und wir haben ihn in diesem Glauben gelassen.«

Boldwinn lächelte kalt. »Sie scheinen mir überhaupt sehr seltsame Erziehungsmethoden zu haben«, sagte er eisig. »Das Benehmen Ihres Sohnes ...«

»Steht hier nicht zur Debatte«, fiel ihm Carradine ins Wort.

Boldwinns linke Augenbraue rutschte ein Stück weit seine Stirn empor. »Nicht?« wiederholte er mit gespielter Verwunderung. »Sie werden sich wundern, was alles zur Debatte steht, wenn Ihr feiner Sohn meine Tochter auch nur angerührt hat. Sie ist noch ein Kind, vergessen Sie das nicht.«

»Ein Kind?« Carradine lachte, aber seiner Stimme fehlte die nötige Selbstsicherheit. Boldwinn war ein mächtiger Mann, das wußte er. Wenn Charles die Kleine auch nur falsch angesehen hatte, würde Boldwinn ihn vernichten, das war ihm klar. Und es war auch der einzige Grund, aus dem er hier war. Charles würde ihn hassen, wenn ausgerechnet er, sein eigener Vater, ihn verriet. Und vermutlich würde er es mit Recht tun. Aber er hatte keine Wahl.

»Lassen wir das«, sagte er, ohne Boldwinn dabei anzusehen. »Ich bin sicher, daß sie hier irgendwo sind. Das Schloß ist aufgebrochen worden, sehen Sie? Und die Spuren führen nur hinein, nicht wieder hinaus. Kommen Sie.« Er machte eine einladende Bewegung mit der Laterne, schob die Tür ein Stück weiter auf und trat in die darunterliegende Halle. Boldwinn folgte ihm nach kurzem Zögern. Auf seinem bleichen Stutzer-gesicht erschien ein angewiderter Ausdruck, als er den Staub und den Unrat sah, die die Jahrzehnte in der Halle abgeladen hatten.

Carradine hielt seine Laterne höher, beugte sich ein wenig vor und folgte der Fußspur, die sich deutlich im knöcheltiefen Staub abzeichnete. Sie führte in gerader Linie zur Treppe und brach dann ab. Aber es war nicht schwer zu erraten, wohin sie führte. Carradine deutete mit einer Kopfbewegung nach oben, wartete, bis Boldwinn aufgeholt hatte und neben ihm stehengeblieben war und ging dann ohne ein Wort weiter. Auf der obersten Stufe blieb er stehen, hob seine Laterne höher über den Kopf und versuchte, im Staub zu seinen Füßen die Spuren wiederzufinden. Es gelang ihm, aber sie verschwanden schon nach wenigen Metern erneut.

So abrupt, als hätten sich die beiden Menschen, von denen sie stammten, in Luft aufgelöst ...

Carradine blinzelte verwirrt. Boldwinn bemerkte sein Zögern, runzelte die Stirn und wollte an ihm vorbeitreten, aber Carradine hielt ihn mit einer raschen Handbewegung zurück. »Nicht«, sagte er. »Sie verwischen nur die Spur. Sehen Sie.«

Boldwinn blickte gehorsam in die Richtung, in die sein ausgestreckter Arm wies, aber der fragende Ausdruck auf seinen Zügen änderte sich nicht. »Was meinen Sie?« fragte er.

»Die Spuren«, murmelte Carradine verstört. »Sehen Sie sich die Spuren an, Boldwinn.«

Boldwinn gehorchte. »Und?« fragte er.

»Verdammt, sind Sie blind?« schnappte Carradine. »Fällt Ihnen nichts auf? Sie beginnen hier - und wo enden sie, bitteschön?«

»Sie ...« Boldwinn verstummte verwirrt, blickte ein paarmal von seinem Gesicht auf die Fußspur, die so abrupt abbrach und wieder zurück, und sog hörbar die Luft ein. Sein Gesicht verfinsterte sich.

»Hören Sie, Carradine«, sagte er leise. »Wenn das ein Trick ist, mit dem Sie Ihren Herrn Sohn schützen wollen ...«

»Aber natürlich«, unterbrach ihn Carradine wütend. »Ich habe genau gewußt, was die beiden vorhaben, wissen Sie? Ich bin gestern schon hierher gekommen und habe diese falsche Spur gelegt, um Sie zu täuschen, Boldwinn. Ich habe meine Schuhe an den Füßen und die Ihrer Tochter an den Händen getragen und bin hier heraufgekrochen, damit alles ganz echt aussieht. Und dann, als ich hier war, habe ich meine Flügel ausgeklappt und bin weggeflogen.«

Boldwinn schluckte und starrte ihn mit einer Mischung aus Zorn und Verwirrung an. »Aber das ist doch unmöglich«, sagte er, noch immer laut, aber jetzt in einem Tonfall, der eher hilflos als aggressiv klang. »Eine Spur kann doch nicht einfach im Nichts enden.«

»Diese hier tut es aber«, schnappte Carradine.

»Und was ... was tun wir jetzt?«

Carradine zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung«, brummte er. »Aber es wird uns wohl nicht viel anderes übrig bleiben, als das Haus Zimmer für Zimmer zu durchsuchen.«

»Allein?« entfuhr es Boldwinn. »Dieses Haus muß Dutzende von Zimmern haben, Carradine!«

»Wir können natürlich auch zurückgehen und Hilfe holen«, erwiderte Carradine gelassen. »Aber machen Sie mich nicht verantwortlich, wenn dann niemand mehr hier ist.«

Boldwinn zögerte. Sein Blick wanderte den Weg zurück, den sie gekommen waren, und saugte sich einen Herzschlag lang an der offenstehenden Tür fest. Sein Gesicht wirkte im grellen Schein der Laterne noch bleicher, als es ohnehin war. Seine Nasenflügel bebten. Wenn Carradine jemals einem Menschen gegenübergestanden war, der Angst hatte, dann ihm.

Aber trotzdem nickte er nach einer Weile. »Sie haben recht«, murmelte er. »Durchsuchen wir das Haus. Wo fangen wir an?«

Carradine deutete mit der Hand nach rechts und mit dem Kopf nach links. »Sie dort und ich auf der anderen Seite«, sagte er. »Dann geht es schneller.«

»Allein?« Boldwinn schluckte. »Sie meinen, wir sollen uns trennen?«

»Sie haben es selbst gesagt«, antwortete Carradine. »Das Haus hat Dutzende von Zimmern. Wir brauchen bis Sonnenaufgang, wenn wir sie alle durchsuchen wollen. Wenn wir uns teilen, sind wir schneller.«

»Aber ich - wir haben nur eine Laterne«, stammelte Boldwinn.

Carradine unterdrückte ein triumphierendes Grinsen. Es bereitete ihm ein geradezu sadistisches Vergnügen, zu sehen, wie Boldwinn vor Angst zitterte. »Fürchten Sie sich im Dunkeln?« fragte er hämisch.

Für einen Moment blitzte in Boldwinns Augen Zorn auf. Aber die Furcht war größer und gewann rasch wieder die Oberhand. »Das spielt keine Rolle«, antwortete er. »Aber wir haben nichts davon, wenn einer von uns im Dunkeln herumstolpert.«

»Es gibt genug Kerzen hier«, entgegnete Carradine ruhig.

»Und unten in der Halle war ein Wandhalter mit einer Fackel. Warum holen Sie sie nicht?«

Boldwinn blickte ihn unsicher an. »Ich warte hier«, fügte Carradine nach einigen Sekunden hinzu. »Aber Sie sollten sich beeilen. Wahrscheinlich hört man unsere Stimmen durch das ganze Haus. Es würde mich nicht wundern, wenn Charles und Jenny schon wissen, daß wir hier sind.«

Boldwinn nickte verkrampft, drehte sich herum und begann vorsichtig die Treppe wieder herabzugehen. Carradine überlegte einen Moment, ob er die Sache auf die Spitze treiben sollte, entschied sich aber dann dagegen und hielt seine Laterne so, daß ihr Schein Boldwinn den Weg wenigstens notdürftig erhellte. Im Moment war er zweifellos in der stärkeren Position, aber er kannte Boldwinn gut genug, um zu wissen, daß er ihm jede Sekunde, die sie in diesem Haus verbrachten, doppelt und dreifach zurückzahlen würde - ganz gleich, ob sie seine Tochter fanden oder nicht.

Boldwinn klapperte und rumorte eine Weile unten herum und kam dann mit weit ausgreifenden Schritten zurück. Sein teurer Maßanzug war verdreckt, und in seinem Haar klebten graue Spinnweben. Ein gehetzter Ausdruck lag auf seinen Zügen. Sein Blick glitt an Carradine vorbei und huschte unstet über die geschlossenen Türen, die die Galerie säumten. Carradine ließ sich zu einem schadenfrohen Lächeln hinreißen - aber er mußte sich auch gleichzeitig eingestehen, daß er selbst nicht halb so ruhig war, wie er sich gab. Das Haus übte einen seltsamen, unheimlichen Einfluß auf ihn aus. Wenn er ganz ehrlich war, dann mußte er sich eingestehen, daß er Angst hatte.

Er entzündete die Fackel, reichte Carradine seine Laterne und hielt das brennende Holz hoch über den Kopf. Es war besser, wenn Boldwinn die Laterne hatte - mit der brennenden Fackel in der Hand würde dieser Trottel am Ende noch das ganze Haus anstecken. Boldwinn schien etwas sagen zu wollen, aber Carradine winkte rasch ab, deutete noch einmal mit einer Kopfbewegung nach rechts und machte sich in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg. Sein Blick tastete über den knöcheltiefen Staub auf dem Boden. Die flockige graue Schicht war unbeschädigt und höchstens da und dort von den Spuren winziger Rattenfüßchen durchbrochen; wenn Charles und Jenny in eines dieser Zimmer gegangen wären, hätte er es gesehen. Aber andererseits: wenn sie es fertiggebracht hatten, ihre Spuren einfach so abbrechen zu lassen, dann ...

Er verscheuchte den Gedanken, ging bis zum Ende des Korridors und öffnete die letzte Tür. Weit hinter sich, am anderen Ende der Galerie, hörte er Boldwinn eine andere Tür öffnen.

Knarrend schwang die Tür auf. Die zuckenden Flammen seiner Fackel warfen irrlichternde rote Blitze gegen die Decke und die Wände, und die Bewegung und der plötzliche Luftzug - vielleicht der erste seit einem Menschenalter - ließen Staub in dichten, brodelnden Schwaden vom Boden hochsteigen. Carradine trat zögernd durch die Tür, hob seine Fackel ein wenig höher und sah sich mit einer Mischung aus Neugier und Unbehagen um.

Das Zimmer bot einen Anblick der Zerstörung. Früher mußte seine Einrichtung einmal kostbar und von großem Geschmack gewesen sein. Jetzt war sie zerstört. Nicht zerfallen und vermodert, wie Carradine auffiel, sondern gründlich zerschlagen, als hätte jemand in einem Anfall von Raserei jedes einzelne Möbelstück zertrümmert. Überall lag Staub und Schmutz. Das Fenster war vernagelt, die Scheiben zerborsten, ohne auseinandergebrochen zu sein, und das hintere Drittel des Raumes war hinter einem massiven grauen Vorhang aus ineinander verflochtenen Spinnweben verborgen.

Hinter dem Vorhang bewegte sich etwas.

Carradines Herz begann rasend und schmerzhaft zu schlagen. Instinktiv machte er einen Schritt, blieb aber abrupt wieder stehen und starrte aus schreckgeweiteten Augen auf den verzerrten Schatten, der sich hinter dem grauen Vorhang abzeichnete.

»Charles?« fragte er halblaut. Seine Stimme klang unsicher. Der Schatten hinter den Spinnweben bewegte sich wieder, aber Carradine konnte immer noch nicht erkennen, was es war.

Eine faustgroße Spinne fiel mit einem hörbaren Geräusch aus dem Netz und begann langsam auf ihn zuzukriechen. Ekel stieg in Carradine hoch, aber gleichzeitig auch Erstaunen. Er hatte niemals eine Spinne von dieser Größe gesehen. Einen Moment lang beobachtete er das sinnverwirrende Spiel ihrer Beine, dann senkte er seine Fackel und verbrannte sie.

Langsam ging er weiter. Der Schatten hinter dem Vorhang bewegte sich erneut, und als Carradine näherkam, erkannte er weitere, kleinere, dunkle Punkte ...

Dann, mit einem Ruck, stand die Gestalt auf und zerriß den grauen Vorhang.

Carradine schrie gellend auf. Für die Dauer von zwei, drei Herzschlägen stand er gelähmt vor Schrecken da und starrte auf das grauenerregende Bild, das ihm die zuckenden roten Flammen der Fackeln enthüllten.

Es waren nicht eine, sondern zwei Gestalten, die Gestalten zweier Menschen, die nur so eng ineinander verschlungen gewesen waren, daß sie durch den grauen Schleier hindurch wie eine einzige gewirkt hatten.

Es waren Jenny und Charles.

Sie waren nackt, beide. Ihre Kleider lagen in Fetzen und vermodert auf dem Boden und dem verrotteten Bett, auf dem sie gesessen hatten.

Und über das Bett, über den Boden, die zerrissenen Kleider und vermoderten Decken und ihre Körper krochen Dutzende von faustgroßen, mit drahtigem, schwarzem Haar bedeckte Spinnen ...

Carradine erwachte mit einem gurgelnden Schrei aus seiner Erstarrung, als die beiden jungen Menschen auf ihn zutraten und ihnen die Spinnen wie eine quirlende schwarze Woge folgten. Halb wahnsinnig vor Furcht wirbelte er herum und rannte los. Fünf, sechs der ekelhaften haarigen Tiere fielen wie kleine pelzige Bälle von der Decke, prallten auf seine Schulter und seinen Rücken und krallten sich in seinen Kleidern fest. Haarige Beine tasteten über sein Gesicht. Carradine schrie, fegte die Tiere angeekelt zur Seite und schwang seine Fackel. Die Flammen zeichneten einen feurigen Halbkreis in die Luft, und die Hitze vertrieb die Tiere; wenn auch nur für einen Augenblick. Carradine taumelte weiter, prallte mit dem Gesicht schmerzhaft gegen den Türrahmen und torkelte auf die Galerie hinaus. Er hörte Boldwinns Stimme, verstand aber die Worte nicht, sondern lief weiter, noch immer schreiend und dem Wahnsinn nahe. Hinter ihm quoll ein schwarzer, vierbeiniger Teppich aus winzigen Körpern aus der Tür.

»Carradine?« Boldwinns Stimme drang nur wie durch einen dämpfenden Schleier in sein Bewußtsein. Der tanzende Schein einer Laterne tauchte vor ihm auf der Galerie auf, huschte über den staubbedeckten Boden und blendete ihn einen Moment. Er hörte, wie Boldwinn voller Entsetzen aufschrie, dann klirrte irgend etwas; die Laterne erlosch.

Carradine torkelte weiter, prallte gegen die steinerne Brüstung der Galerie und verlor um ein Haar das Gleichgewicht. Verzweifelt blickte er sich um. Die Spinnen kamen näher.

Für einen Moment - nur einen Moment - gewann sein klares Denken wieder die Oberhand. Carradine wechselte die Fackel von der Linken in die Rechte und schwang das brennende Holz wie eine Waffe. Die Hitze trieb die Spinnen zurück, aber aus der offenstehenden Tür drängten immer mehr und mehr nach, nicht mehr Dutzende jetzt, sondern Hunderte. Der Mosaikfußboden der Galerie verschwand unter einer schwarzen, kribbelnden, haarigen Masse, die wie eine zähe Woge näherschwappte.

»Boldwinn!« keuchte er. »Zur Treppe! Laufen Sie!«

Er wußte nicht, ob Boldwinn auf seine Worte reagierte. Sein Angriff hatte den Vormarsch der Spinnen ins Stocken gebracht, aber von hinten drängten immer mehr und mehr der ekelhaften Tiere nach, und hinter ihnen ...

Carradines Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen, als er die beiden aneinandergeklammerten Schatten sah. Sein Sohn und Boldwinns Tochter torkelten mit mühsamen, abgehackt wirkenden Bewegungen aus der Tür. Ihre Gesichter waren leer, der Blick ihrer Augen erloschen; ihre Münder standen offen, was ihnen den Ausdruck von Schwachsinnigen verlieh. Die Armee der Spinnen teilte sich vor ihren Füßen, so daß eine schmale, quirlende Gasse entstand, die sich aber hinter ihnen sofort wieder schloß.

Carradine vergaß die Spinnen, als die beiden nackten Gestalten näherkamen. Langsam, Schritt für Schritt, wich er zurück, unfähig, den Blick von dem leeren Gesicht seines Sohnes zu wenden. Charles' Augen waren erloschen. Er ist tot, dachte Carradine entsetzt. Tot - oder Schlimmeres. Aber der Gedanke erreichte sein Bewußtsein kaum, sondern verging in der Woge von Entsetzen und Wahnsinn, die sein Denken zu überschwemmen drohte. Er fühlte die harte Kante der Galerie-brüstung in seinem Rücken, spürte, wie er sich weiter und weiter zurückbog, als die Schreckensgestalt, die einmal sein eigener Sohn gewesen war, näher kam, und irgendwo tief in ihm begann eine Alarmglocke zu schlagen, aber auch diese Warnung verhallte ungehört.

Langsam hob Charles die Hand. Seine Finger deuteten fast anklagend auf Carradine, zitterten, kamen näher und verharrten wenige Zentimeter vor seinem Gesicht reglos in der Luft.

Eine Spinne krabbelte über seine Schulter, blickte Carradine aus ihren acht stecknadelkopfgroßen funkelnden Augen einen Sekundenbruchteil lang boshaft an und begann dann auf wirbelnden Beinchen über Charles' Arm auf ihn zuzulaufen. Etwas berührte seine Beine, leicht, tastend, kroch an seinem Knöchel empor und schlüpfte in seine Hose.

Carradine stieß einen gellenden, unglaublich schrillen Schrei aus, warf sich zurück und stürzte mit haltlos wirbelnden Armen über das Geländer in die Tiefe.

Seine Fackel erlosch, als er auf dem Steinboden aufprallte.


»Da is nix zu machen«, sagte Rowlf kopfschüttelnd. Mit einem resignierenden Seufzen ließ er den Vorderlauf des Pferdes los, tätschelte dem Tier mit einer unbewußten Geste den Hals und wandte sich zu uns um. »Der Gaul läuft keine Meile mehr. Ein Wunder, dasser noch nich zusammengebrochn is«, sagte er.

»Verdammt«, murmelte Howard. »Und das ausgerechnet hier.« Er atmete hörbar ein, biß sich einen Moment auf die Unterlippe und sah mit einem gleichermaßen gequälten wie resignierenden Blick die Straße hinab. Vor einer knappen halben Stunde waren die Häuser einer kleinen Ortschaft an den Fenstern des Wagens vorübergezogen; seitdem hatten wir nichts als Wald gesehen. Es war dunkel geworden, und die Bäume säumten die Straße zu beiden Seiten wie eine finstere, undurchdringliche Mauer. Es war kalt.

»Ich fürchte, wir werden umkehren müssen«, sagte er bedauernd. »Damit dürfte unser Zeitplan über den Haufen geworfen sein. Gründlich.«

»Umkehren?« fragte ich. Wir waren praktisch ununterbrochen gefahren, seit wir Glasgow erreicht und den Zug verlassen hatten. Die Vorstellung, auch nur eine einzige der Meilen, die wir so mühsam gereist waren, wieder zurückzufahren, erfüllte mich mit einem instinktiven Widerwillen. Und Howard hatte recht - unser Zeitplan war ohnehin knapp bemessen. Wir konnten es uns nicht leisten, eine ganze Nacht zu verlieren.

Howard nickte. »Die Ortschaft, durch die wir gekommen sind«, erinnerte er. »Mit etwas Glück finden wir dort jemanden, der uns ein frisches Pferd verkauft oder leiht. Allerdings ist es schon spät«, fügte er achsekuckend hinzu.

»Und wenn wir das Pferd abschirren und nur mit einem Zugtier weiterfahren?« fragte ich.

»Geht nich«, antwortete Rowlf an Howards Stelle. »Wir sin zu schwer für nur ein Tier. Der Gaul würde bloß schlappmachn.«

Howard nickte. »Rowlf hat recht. Ich möchte nicht mitten auf der Straße liegenbleiben. Komm - helfen wir Rowlf.«

Diesmal widersprach ich nicht, sondern trat gehorsam neben ihn und seinen hünenhaften Diener und begann, die Schirrriemen des Pferdes zu lösen. Die Vorstellung, auf dieser abgelegenen Straße übernachten zu müssen, behagte mir ganz und gar nicht. Ich habe niemals Angst vor der Dunkelheit gehabt oder etwas ähnlich Albernes - aber dieser schwarze Wald, dessen Bäume die Straße zu erdrücken und mit dürren, blattlosen Ästen wie mit schwarzen Armen auf uns herabzugreifen schienen, erfüllte mich mit Unbehagen, ohne daß ich sagen konnte, warum. Vielleicht hatte ich in den letzten Wochen einfach zu viel erlebt. Ich hatte die Vorstellung, daß ich der Sohn eines Hexers war und Dinge wie Zauberer und Dämonen real existierten und in die Welt der Menschen eingreifen konnten, akzeptiert, weil ich es mußte. Aber das hieß nicht, daß ich sie schon verarbeitet hatte. Der Spruch, daß man sich an jeden Schrecken gewöhnt, wenn er nur lange genug andauert, ist nicht wahr, im Gegenteil. Nach einer Weile fängt man an, hinter jedem Schatten eine Gefahr und in jedem Geräusch eine Bedrohung zu vermuten.

»Jemand kommt«, murmelte Rowlf.

Ich sah auf, trat einen halben Schritt auf die Straße hinaus und blickte in die Richtung, in die er gewiesen hatte: zurück dorthin, wo wir hergekommen waren. Im ersten Moment konnte ich weder etwas Außergewöhnliches sehen noch hören. Aber Rowlf schien über schärfere Sinne zu verfügen als ich, denn nach ein paar Augenblicken hörte ich Hufschlag, dann begann sich der Schatten eines einzelnen Reiters gegen das Schwarzgrau des Waldes abzuheben.

Der Mann kam in scharfem Tempo näher und zügelte sein Tier erst wenige Schritte vor unserer Kutsche. Das Pferd stampfte unruhig, und der Wind trug den scharfen Geruch seines Schweißes zu mir. Er mußte sehr schnell geritten sein.

»Guten Abend, die Herren«, sagte er steif. »Sie haben Schwierigkeiten?«

Die Frage war rein rethorisch. Rowlf hatte das Pferd vollends abgeschirrt, während Howard und ich dem Fremden entgegengetreten waren, aber das Tier scheute noch immer und zog schmerzhaft das rechte Vorderbein an.

»Ich fürchte«, antwortete Howard. »Eines unserer Pferde hat sich einen Stein in den Huf getreten. Und das zweite allein wird die Kutsche nicht ziehen können.«

Der Mann hob den Kopf und blickte für die Dauer von zwei, drei Herzschlägen auf unser Fahrzeug. Obwohl ich sein Gesicht in der Dunkelheit nur als hellen Fleck erkennen konnte, entging mir der Blick, mit dem er unsere Kalesche musterte, keineswegs. Es war ein Blick, dem nicht die geringste Winzigkeit entging. Ein Blick, der mir nicht gefiel. Aber ich schwieg.

»Ein denkbar ungünstiger Platz für einen Halt«, sagte er, nachdem er seine Musterung beendet hatte. »Bis zur nächsten Stadt sind es fast fünf Meilen. Sie sind auf einer weiten Reise?«

Howard ignorierte seine Frage und rang sich sogar zu einem freundlichen - wenn auch spürbar kühlen - Lächeln durch. »Wir dachten an die Ortschaft, durch die wir gekommen sind«, sagte er. »Vielleicht gibt es dort ...«

»Dort gibt es absolut niemanden, der Ihnen helfen wird«, unterbrach ihn der Reiter kopfschüttelnd. Howard runzelte die Stirn, und der Fremde fuhr nach einer Sekunde fort: »Die einzigen Pferde, die es dort gibt, sind ein paar Ackergäule, die Ihre Kutsche zuschanden schlagen würden, wenn Sie versuchten, sie einzuspannen. Und die fünf Meilen bis nach Oban«, fügte er mit einer Handbewegung nach Norden hinzu, »schaffen Sie nicht mit nur einem Pferd.«

Howard seufzte. »Dann werden wir wohl zu Fuß gehen müssen«, murmelte er. »Jedenfalls können wir nicht hier übernachten.«

Der Fremde lachte; ein dunkler, unsympathisch klingender Laut. Sein Pferd scheute und scharrte unruhig mit den Vorderläufen, aber er brachte es mit einem brutalen Ruck zur Ruhe. »Das können Sie nicht«, bestätigte er. »Aber Sie müssen auch nicht zu Fuß gehen. Mein Haus ist keine halbe Meile von hier entfernt. Wenn Sie mit meinem Gästezimmer Vorlieb nehmen wollen, können Sie die Nacht dort verbringen. Morgen früh kümmere ich mich darum, daß Sie ein frisches Pferd bekommen. Oder besser gleich zwei«, fügte er mit einem Seitenblick auf das zweite, noch angespannte Tier hinzu.

Howard zögerte. Ohne ihn anzusehen spürte ich, daß ihm der hochgewachsene Fremde mindestens ebenso suspekt vorkam wie mir. Aber wir hatten keine große Wahl.

»Das ... wäre überaus freundlich von Ihnen Mister ...«

»Boldwinn«, sagte der Fremde. »Lennon Boldwinn, Sir. Zu Ihren Diensten.«

Howard deutete eine Verbeugung an. »Phillips«, sagte er. »Howard Phillips. Mein Neffe Richard, und Rowlf, unser Hausdiener und Kutscher.« Nacheinander deutete er auf mich und Rowlf; gleichzeitig warf er mir einen raschen, beschwörenden Blick zu. Ich widerstand im letzten Moment der Versuchung, zu nicken. Sicher, es gab keinen Grund, Boldwinn zu mißtrauen - aber es gab auch keinen Grund, ihm zu trauen.

Und wir hatten schon in London verabredet, unter falschem Namen zu reisen.

»Dann kommen Sie, Mister Phillips«, sagte Boldwinn knapp. »Es ist spät, und ich habe einen weiten Weg hinter mir und bin müde. Steigen Sie in Ihre Kutsche. Ich reite voraus.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ er sein Pferd antraben und ritt an uns vorüber. Für einen ganz kurzen Moment konnte ich sein Gesicht im bleichen Licht des Mondes genauer erkennen. Es ähnelte auf schwer zu beschreibende Weise dem Howards - schmal, von scharfem, beinahe - aber eben nur beinahe - aristokratischem Schnitt, mit dunklen Augen und eingerahmt von einem pedantisch ausrasierten King-Arthur-Bart. Seine Haut schien mir unnatürlich bleich, aber ich war mir nicht sicher, ob dieser Eindruck nicht einfach am Licht lag. Und er hockte in unnatürlich verkrampfter Haltung im Sattel. Entweder hatte er wirklich einen sehr langen und anstrengenden Ritt hinter sich, oder er war - was mir wahrscheinlicher schien - kein sehr geübter Reiter.

Howard berührte mich am Arm und deutete auf die Kutsche. Rowlf hatte das überzählig gewordene Geschirr mittlerweile zu einem Bündel verschnürt und zwischen unser Gepäck auf das Dach der Kutsche geworfen. Das verletzte Tier stand ein Stück abseits, aber ich wußte, daß es uns folgen würde, sobald die Kutsche anfuhr.

Wir stiegen wieder in den Wagen. Howard schloß die Tür, schob jedoch den Vorhang zur Seite und setzte sich so, daß er aus dem Fenster blicken und Boldwinn unauffällig im Auge behalten konnte. Rowlf ließ seine Peitsche knallen; der Wagen setzte sich schaukelnd in Bewegung. Das Knarren der schweren, hölzernen Räder auf der staubigen Straße schien mir lauter als vorher.

»Was hältst du von ihm?« fragte Howard nach einer Weile.

»Boldwinn?« Ich zuckte mit den Achseln. »Ich glaube nicht, daß ich ihn mag«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Aber zumindest bewahrt er uns davor, auf offener Straße übernachten zu müssen.«

Howard runzelte die Stirn. »Vielleicht wäre das besser«, murmelte er. Die Worte schienen mehr für ihn selbst als für mich bestimmt, aber ich antwortete trotzdem darauf.

»Du traust ihm nicht?«

»Trauen ...« Howard seufzte. »Wahrscheinlich sehe ich Gespenster«, sagte er. »Aber es kommt mir seltsam vor, daß er ausgerechnet jetzt auftaucht. Immerhin sind wir seit fast zwei Stunden keiner Menschenseele begegnet. Sein Hilfsangebot kam ziemlich schnell.«

»Ich dachte immer, die Engländer sind besonders hilfsbereite Menschen.«

Howard lachte leise. »Jeder Mensch ist hilfsbereit, wenn er Gründe dafür hat«, antwortete er zweideutig. »Aber vermutlich hast du recht - wir sollten froh sein, daß wir nicht wirklich auf der Straße schlafen müssen.«

»Und wie geht es weiter?«

Howard schwieg einen Moment. »Dieses kleine Unglück ändert nichts an unserem Plan«, antwortete er schließlich. »Ich habe Freunden in Durness telegrafiert, daß wir kommen. Sie werden eine gewisse Verspätung einkalkulieren.«

Der Klang der Hufschläge änderte sich. Die Kutsche begann stärker zu schaukeln und legte sich schließlich wie ein Schiff auf hoher See auf die Seite. Ein harter Stoß traf die kaum gefederten Achsen und beutelten Howard und mich, als Rowlf den Wagen hinter unserem Führer auf einen schmalen, von tiefen Schlaglöchern und Gräben durchzogenen Waldweg lenkte.

Für den Rest des Weges wurde eine Unterhaltung unmöglich. Howard und ich hatten alle Hände voll zu tun, nicht von den Sitzen geworfen zu werden oder unentwegt mit dem Kopf gegen die Decke zu prallen, wenn ein neuer Stoß den Wagen traf, und ich rechnete ernsthaft damit, daß die Achse brechen oder die Kalesche schlichtweg umstürzen würde. Ich versuchte, aus dem Fenster zu sehen, aber alles, was ich erkennen konnte, war Schwärze, in der nur ab und zu ein paar Schatten auftauchten und wieder verschwanden. Der Weg war so schmal, daß Unterholz und Geäst an beiden Seiten scharrend an der Kutsche entlangschrammten, und in einem Zustand, als wäre er jahrelang nicht mehr benutzt worden.

Ich schätzte, daß wir etwa eine halbe Meile tief in rechtem Winkel zu unserem vorherigen Kurs in den Wald eingedrungen waren, als das Schaukeln und Stoßen endlich aufhörte und die Kutsche mit einem letzten, magenumstülpenden Krachen zum Stehen kam. Howard rappelte sich grimassenschneidend hoch und beugte sich zur Seite, um aus dem Fenster zu sehen, und ich tat es ihm auf der anderen Seite gleich.

Der Wagen hatte vor einem gewaltigen, schmiedeeisernen Tor gehalten. Boldwinn war aus dem Sattel gestiegen und machte sich am Schloß zu schaffen. Er öffnete nur einen Flügel, der jedoch mehr als breit genug war, die Kutsche durchzulassen. Die Scharniere quietschten, als wären sie seit einem Menschenalter nicht mehr geölt worden.

Wir fuhren weiter. Unter den Rädern der Kutsche knirschte jetzt Kies, und die buckeligen Schatten, die den Weg säumten, gehörten zu einem ausgedehnten, aber vollkommen verwilderten Park, der Boldwinns Haus umgab. Der Weg und das Tor schienen nicht das einzige zu sein, was verwahrlost war. Aber darüber stand mir kein Urteil zu. Ich ließ mich wieder zurücksinken.

Wir wurden nicht mehr ganz so arg durchgeschüttelt, während Rowlf die Kutsche den leicht ansteigenden Weg zum Haus hinauflenkte. Ich hörte, wie er ein paar Worte mit Boldwinn wechselte, dann kam der Wagen erneut zum Stehen. Ein gewaltiger, dunkler Schatten füllte das Fenster auf Howards Seite aus.

Kalter Wind schlug uns entgegen, als wir ausstiegen, und aus dem nahen Wald drang eine seltsame Mischung aus dem Geruch feuchten, frischen Grüns und ... ja - und was eigentlich? Mir fiel kein passender Vergleich ein, aber es roch ... seltsam. Die Luft schien abgestanden und verbraucht, obwohl das unmöglich war; ich kam mir vor wie in einem Raum, dessen Fenster zu lange nicht geöffnet worden waren.

Dann fiel mein Blick auf das Haus, und ich vergaß den Geruch.

Es war gewaltig. Gewaltig, düster und drohend wie eine Gewitterwolke, die den Horizont verdunkelte; ein Herrenhaus in spätviktorianischem Stil, das früher einmal grandios gewesen sein und einem Adeligen oder König gehört haben mußte. Mächtige, polierte Säulen säumten die breite Freitreppe aus weißem Marmor, und über den Fenstern, die ausnahmslos vergittert waren, prangten kostbare Stuckarbeiten. Zwei gewaltige steinerne Löwen flankierten die Haustür, und direkt über dem Eingang war eine Inschrift, die ich allerdings in der herrschenden Dunkelheit nicht entziffern konnte.

Aber das Haus war nicht nur gewaltig, es war auch alt. Die Gitter vor den Fenstern waren verrostet; der Regen hatte häßliche braune Streifen in das Mauerwerk darunter gewaschen. Die Wände waren rissig, da und dort war der Putz abgebröckelt und nicht oder nur laienhaft erneuert worden, und aus einer der Marmorsäulen war ein kopfgroßes Stück herausgebrochen und auf der Treppe zersplittert. Seine Bruchstücke lagen noch da auf den geborstenen Stufen, wo sie niedergestürzt waren.

»Mister Phillips?«

Boldwinns Stimme riß mich aus meinen Betrachtungen. Ich schrak hoch, sah ihn einen Moment fast schuldbewußt an und lächelte rasch, als ich seine einladende Handbewegung bemerkte.

»Wenn Sie mir ins Haus folgen wollen«, sagte er steif. »Ich lasse einen kleinen Imbiß für Sie herrichten. Sie müssen hungrig sein.«

»Unser Gepäck ...« begann Howard, wurde aber sofort von Boldwinn unterbrochen:

»Darum wird sich mein Hausdiener kümmern«, sagte er. »Ihr Kutscher muß ebenso müde sein wie Sie. Lassen Sie den Wagen getrost stehen. Ihrem Eigentum wird nichts geschehen.«

Seine Worte ärgerten mich, aber Howard machte eine rasche, warnende Geste mit der Hand, und ich schluckte die scharfe Entgegnung, die mir auf der Zunge lag, herunter. Schweigend folgten wir Boldwinn die Treppe hinauf.

Die Tür wurde geöffnet, kurz bevor wir sie erreicht hatten. Ein Streifen gelber, flackernder Helligkeit fiel auf die Treppe hinaus, dann erschien eine geduckte Gestalt unter der Öffnung und sah Boldwinn und uns entgegen. Boldwinn winkte ungeduldig mit der Hand; der Mann trat hastig zurück und öffnete die Tür gleichzeitig weiter, so daß wir eintreten konnten.

Der Anblick überraschte uns alle drei. Nach dem verwahrlosten Zustand des Parks und des Hauses hatte wohl nicht nur ich hier drinnen etwas Ähnliches erwartet, aber das Gegenteil war der Fall: hinter dem Eingang erstreckte sich eine gewaltige, fast zur Gänze in schneeweißem Marmor gehaltene Halle. Ein mindestens fünf Yards messender Kronleuchter hing an einer armdicken Kette von der Decke und tauchte den Raum in mildes, gelbes Licht, und der Boden war so sauber, daß sich unsere Gestalten als verzerrte Schatten darauf spiegelten. Die Halle war fast leer; das einzige Möbelstück war ein gewaltiger, kostbarer Sekretär, über dem ein riesiger Kristallspiegel in einem goldenen Rahmen hing. Auf der gegenüberliegenden Seite der Halle führte eine geschwungene, mit kostbaren Teppichen belegte Treppe zu einer Galerie hinauf, von der zahlreiche Türen abzweigten. Es war angenehm warm, obwohl nirgends ein Feuer brannte.

»Nun, Mister Phillips?« fragte Boldwinn. »Zufrieden?« Es dauerte eine Sekunde, ehe ich begriff, daß seine Worte mir galten. Ich fuhr zusammen, drehte mich halb um und sah ihn verlegen an. Ein dünnes, spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen. Er mußte den Blick, mit dem ich mich umgesehen hatte, richtig gedeutet haben. »Ich ... verzeihen Sie«, stotterte ich. »Ich ...« Boldwinn winkte ab und schloß die Tür hinter sich. »Es muß Ihnen nicht unangenehm sein, Mister Phillips«, sagte er gleichmütig. »Ich bin das gewohnt, wissen Sie? Jeder, der mein Haus nur von außen kennt, ist überrascht, wenn er es betritt.« Sein Lächeln wurde ein wenig breiter, aber nicht sympathischer. »Ich habe weder die Mittel noch das Personal, den Park in Ordnung zu halten«, sagte er, »aber es verschafft mir immer wieder Genugtuung, die Gesichter meiner Besucher zu sehen, wenn sie hereinkommen.«

Ich fühlte mich mit jeder Sekunde unbehaglicher. Boldwinn war im Grunde nichts als ehrlich, aber es gibt eine Art der Ehrlichkeit, die schon wieder unhöflich ist.

»Ich sehe«, fuhr er fort, »ich bringe Sie in Verlegenheit, also wechseln wir das Thema. Carradine - bereiten Sie einen Imbiß für vier Personen vor. Und schnell, bitte.«

Die Worte galten dem Mann, der uns geöffnet hatte, einem verhutzelten kleinen Männchen, das die ganze Zeit schweigend und mit gesenktem Kopf dagestanden und Howard und mich verstohlen aus den Augenwinkeln gemustert hatte. Schon vorhin, als ich nur seinen Schatten gesehen hatte, war er mir sonderbar vorgekommen; jetzt, als ich ihn im hellen Licht sah, erschreckte mich seine Erscheinung fast.

Im ersten Moment hielt ich ihn für einen Buckeligen, aber das stimmte nicht. Seine linke Schulter hing tiefer und in anderem Winkel herab als die rechte, und sein Hals war auf sonderbare Weise auf die Seite geneigt, als könne er den Kopf nicht gerade halten. Seine linke Hand war einwärts geknickt, die Finger zu einer nutzlosen steifen Kralle verkrümmt, und sein rechtes Bein und der Fuß sahen aus, als wären die Knochen irgendwann einmal gebrochen und in falschem Winkel wieder zusammengeheilt. Sein Gesicht war ein Alptraum: eingedrückt und schief wie eine Maske aus Wachs, die jemand zusammengedrückt hatte; der Mund verzogen, so daß er ständig sabberte - ohne etwas dafür zu können -, das linke Auge blind und geschlossen. Ein Krüppel.

»Gefällt Ihnen Carradine?« fragte Boldwinn leise. »Er ist mein Hausdiener, wissen Sie? Ein bedauernswertes Geschöpf. Eigentlich ist er nutzlos und richtet mehr Schaden als Nutzen an, aber irgend jemand mußte sich seiner annehmen, nicht wahr?« Er lachte. »Eigentlich wollte ich ihn Quasimodo nennen, aber das wäre geschmacklos gewesen.«

Howard sog scharf die Luft ein, aber diesmal war ich es, der ihn mit einem warnenden Blick zurückhielt. Boldwinns Sinn für Humor schien eine sonderbare Entwicklung mitgemacht zu haben, aber das ging uns nichts an.

»Sie ... leben allein hier?« fragte ich, um auf ein anderes Thema zu kommen.

Boldwinn starrte mich an, als hätte ich ihn gefragt, ob er Syphilis habe. »Nein«, sagte er. »Außer Carradine wohnen noch meine Tochter und mein Neffe Charles hier. Aber die schlafen beide schon. Sie werden sie morgen beim Frühstück kennenlernen - wenn Sie Wert darauf legen.« Er wandte sich abrupt um und klatschte in die Hände. »Carradine!« sagte er. »Hast du nicht gehört? Einen Imbiß für vier - husch, husch!«

Carradine grunzte, blickte uns der Reihe nach aus seinem einzigen verquollenen Auge an und humpelte dann davon. Er erinnerte mich tatsächlich ein bißchen an Quasimodo ...

»Aber was stehen wir hier noch herum?« fuhr Boldwinn fort, als der Krüppel gegangen war. »Es wird eine Weile dauern, ehe das Essen fertig ist. Gehen wir in die Bibliothek. Dort redet es sich besser.«

Er wartete unsere Antwort nicht ab, sondern drehte sich um und ging mit raschen Schritten auf eine Tür in der Seitenwand zu. Ich tauschte einen langen, fragenden Blick mit Howard. Er schwieg, aber das Gefühl in seinen Augen entsprach dem in meinem Inneren. Man mußte kein Hellseher sein, um zu spüren, daß mit diesem Haus und seinen Bewohnern etwas nicht stimmte.

Aber ich war plötzlich gar nicht mehr begierig darauf, herauszubekommen, was es war.


Die Bibliothek war ein gewaltiger, bis unter die Decke mit Regalen vollgestopfter Raum, dessen gesamte Einrichtung aus einem rechteckigen, polierten Tisch und vier Stühlen bestand. Dicke, sicherlich kostbare Teppiche bedeckten den Boden, und im Kamin - mit Ausnahme der Fenster und der Tür der einzige Fleck, der nicht mit Büchern vollgestopft war - brannte ein gewaltiges Feuer. Boldwinn deutete mit einer einladenden Geste auf den Tisch, wartete, bis wir an ihm vorübergegangen waren und schloß die Tür.

Erstaunt blieb ich stehen.

Der Tisch war nicht leer. Auf dem polierten Holz stand ein verzierter silberner Leuchter mit nahezu einem Dutzend brennender Kerzen, und an seinen vier Kopfenden standen vier Teller, komplett mit Besteck, Gläsern und säuberlich gefalteten Servietten. Vier Teller ... dachte ich verwirrt. Fast, als hätte er uns erwartet.

»Erwarten Sie Gäste?« fragte Howard.

»Gäste?« Boldwinn blickte einen Moment lang irritiert von ihm zu mir und zurück, dann hellte sich sein Gesicht auf. »Ach, das Geschirr, meinen Sie?« Er lächelte. »Nein. Aber Carradine bereitet immer schon alles für das Frühstück vor, bevor er zu Bett geht. Ich habe ihm tausendmal gesagt, daß ich das nicht will. Die Teller und Gläser stauben ein, wissen Sie? Aber es ist sinnlos. Er ist nun mal ein Krüppel, und leider nicht nur körperlich.« Er seufzte. »Aber setzen Sie sich doch, meine Herren.«

Howard starrte ihn eine endlose Sekunde lang durchdringend an, dann zuckte er mit den Achseln und gehorchte. Auch ich zog mir einen der Stühle heran und ließ mich darauf nieder, während Rowlf neben dem Kamin stehenblieb, sich unglücklich umsah und ganz offensichtlich nicht wußte, was er mit seinen Händen tun sollte. Boldwinn runzelte die Stirn und schenkte ihm einen langen, strafenden Blick, wandte sich dann aber wieder an Howard.

»Sie entschuldigen mich einen Moment«, sagte er. »Ich will sehen, wie weit Carradine ist. Ihre Zimmer müssen noch vorbereitet werden.«

»Machen Sie sich nur keine Umstände unseretwegen«, sagte Howard hastig. »Wir ...«

»Aber ich bitte Sie«, unterbrach ihn Boldwinn, und er tat es in einem Ton, der keinen weiteren Widerspruch duldete. »Es sind keine Umstände. Das Haus steht praktisch leer, und ich habe genug Zimmer, mit denen ich sowieso nichts anfangen kann. Ich bin gleich zurück.« Damit wandte er sich um und verließ den Raum.

Howard starrte ihm stirnrunzelnd nach, auch, als die Tür schon lange ins Schloß gefallen war. Es war nicht schwer, seine Gedanken zu erraten. Seine Finger spielten nervös mit dem kleinen Stöckchen, das er ständig mit sich herumschleppte. Aber er schwieg verbissen.

Schließlich hielt ich das Schweigen nicht mehr aus. »Also?« sagte ich.

Howard sah auf. »Was - also?«

»Du weißt, was ich meine«, sagte ich verärgert. »Was hältst du von ihm? Und von diesem Haus?«

»Was ich von ihm halte?« Howard wandte den Blick und starrte in die prasselnden Flammen im Kamin, als könne er die Antwort auf meine Frage dort lesen. »Das ist nicht so leicht zu sagen, Robert. Boldwinn ist ein seltsamer Mann, aber es ist noch kein Verbrechen, ein Exzentriker zu sein.«

Ich spürte deutlich, daß er nicht aussprach, was er dachte. Er fühlte wie ich, daß mit Boldwinn, seinem sonderbaren Diener und diesem ganzen Haus elwas nicht stimmte; ganz und gar nicht stimmte. Und auch Rowlf schien die boshafte Aura, die dieses Haus ausstrahlte, zu fühlen. Und er hatte weniger Hemmungen als Howard, seine Gefühle in Worte zu fassen.

»Der Kerl is meschugge«, sagte er. »Plemplem. Und außerdem isser mir unheimlich.«

Howard lächelte flüchtig. Kopfschüttelnd kramte er eine flache silberne Dose aus der Tasche, entnahm ihr eine seiner dünnen schwarzen Zigarren und suchte nach Streichhölzern. Als er keine fand, stand er auf, ging zum Kamin hinüber und ließ sich davor in die Hocke sinken.

»Am liebsten würde ich wieder fahren«, murmelte ich. »Mir wäre beinahe wohler, draußen im Wagen zu schlafen als in diesem Haus.«

»Geht mir genauso«, murmelte Rowlf. Er sprach sehr leise, aber auf seinem Gesicht lag ein nervöser Zug, und sein Blick huschte unentwegt hierhin und dorthin. Er war nervös. Wie wir alle.

Howard hatte seine Zigarre mit einem brennenden Span entzündet, richtete sich auf und trat neugierig an die Bücherregale heran, die den Kamin flankierten. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, da er mir den Rücken zudrehte, aber ich sah, wie sich seine Haltung für einen winzigen Augenblick versteifte und sein Kopf mit einer ruckhaften Bewegung hochflog.

»Ist irgend etwas?« fragte ich.

Howard antwortete nicht, sondern starrte einen Herzschlag lang die dichtgedrängt stehenden Bücher an, fuhr dann herum und eilte mit zwei, drei großen Schritten zu einem anderen Regal. Rowlf und ich beobachteten ihn verwirrt. Für mich waren die Bücher - nun Bücher eben. Ich hatte mir nie viel aus Geschriebenem gemacht (außer aus gedruckten Zahlen auf gewissen grünen Scheinen), und konnte Howards Begeisterung für alte Schmöker nicht einmal in Ansätzen teilen. Aber ich glaubte zu spüren, daß seine Erregung einen Grund hatte.

Schließlich, nachdem er fast zehn Minuten von einem Regal zum anderen gelaufen und kopfschüttelnd und wie ein Sabbergreis vor sich hinbrummelnd die ledernen Rücken begutachtet hatte, wandte er sich um und kam zum Tisch zurück. »Das ist phantastisch«, murmelte er. »Unglaublich.«

»Aha«, sagte ich.

Howard blinzelte, sog an seiner Zigarre und raffte sich zu einem entschuldigenden Lächeln auf. »Natürlich«, sagte er. »Du kannst es nicht wissen. Diese Bücher hier - das ist unglaublich.« Er setzte sich. Seine Zigarrenasche fiel auf den kostbaren Teppich, aber das schien er in seiner Erregung nicht einmal zu bemerken. »Du hast die Bücher in meinem Haus in London gesehen«, begann er. »Es ist die wahrscheinlich größte Sammlung okkulter Schriften und magischer Bücher in England - jedenfalls habe ich das bis gerade geglaubt. Aber das hier ...«

Allmählich begann ich zu begreifen. Mein Blick wanderte an den Regalen entlang, tastete über die dicht an dicht stehenden, ledergebundenen Bände ... »Du meinst«, fragte ich zweifelnd, »das hier wären alles ...«

»... Bücher über Hexerei, Magie und Okkultismus«, nickte Howard. »Ja. Es sind Bände darunter, deren Originale Tausende von Jahren alt sind, Bücher, die für längst verschollen gehalten wurden. Das ist -«

»- kein Zufall, Mister Phillips«, sagte eine Stimme von der Tür her. Howard zuckte zusammen und fuhr mit einer raschen, beinahe schuldbewußten Bewegung herum. Die Tür war wieder aufgegangen, und Boldwinn war zurückgekommen, ohne daß es einer von uns bemerkt hätte. Auf seinem Gesicht lag eine Mischung von Spott und Ärger. »Sie interessieren sich für Okkultes?«

Howard nickte hastig. »Etwas«, sagte er. »Ein ... Hobby von mir.«

»Dann werden Sie an dieser Bücherei Ihre Freude haben«, sagte Boldwinn und schloß die Tür. »Soweit ich weiß, handelt es sich ausschließlich um Bücher über Hexerei und ähnlichen Firlefanz.«

»Soweit Sie wissen?« vergewisserte sich Howard. Boldwinn nickte und kam näher. Sein Blick streifte Howards Zigarre. Zwischen seinen Brauen entstand eine steile Falte. »Einer meiner Vorfahren hat den Plunder gesammelt«, antwortete er. »Mich interessiert das alles herzlich wenig, wissen Sie? Ebensowenig wie das, was man sich über dieses Haus erzählt.«

Ich hatte das Gefühl, Howard bei diesen Worten ein ganz kleines bißchen erbleichen zu sehen. Aber ich war mir nicht sicher.

»Wie meinen Sie das: dieses Haus?«

Boldwinn lächelte, aber es wirkte eher wie eine Grimasse. »Sie sind fremd hier in der Gegend, deshalb können Sie es nicht wissen, Mister Phillips«, sagte er. »Aber Sie befinden sich in einem Hexenhaus. Nicht, daß es hier spukt oder so was«, fügte er hastig hinzu, als er das Erschrecken auf Rowlfs und meinem Gesicht sah. »Aber einer meiner Vorväter stand in dem zweifelhaften Ruf, ein Hexer zu sein. Sie haben ihn bei lebendigem Leibe verbrannt, den armen Kerl.« Er lächelte kalt. »Der gleiche übrigens, der diese Bibliothek angeschafft hat. Mir selbst sind die Schwarten höchstens lästig. Ich habe schon ernsthaft erwogen, sie wegzuwerfen, um dieses Zimmer als Salon nutzen zu können.«

»Wegwerfen?« keuchte Howard.

Boldwinn nickte. »Warum nicht?«

»Aber sie sind ... ein Vermögen wert. Mehr als das ganze Haus.«

»Das bezweifle ich«, murmelte Boldwinn.

Howard war plötzlich sehr aufgeregt. »Wenn Sie sie verkaufen wollen, Mister Boldwinn«, begann er, »dann ...«

»Das will ich bestimmt nicht«, unterbrach ihn Boldwinn. »Aber es wäre mir lieb, wenn Sie einen Aschenbecher benutzen würden, statt des Teppichs.«

Howard fuhr schuldbewußt zusammen, ging zum Kamin und warf seine Zigarre hinein. »Verzeihen Sie«, murmelte er.

Boldwinn winkte ab. »Schon gut. Das Essen wird noch einige Augenblicke dauern, fürchte ich. Carradine ist nicht gerade der Schnellste. Wenn Sie nichts dagegen haben, zeige ich Ihnen Ihre Zimmer, bis es soweit ist.«

Howard nickte, aber sein Blick sagte das Gegenteil. In seinen Augen stand ein unbeschreiblicher Ausdruck, während er die Bücher in den Regalen musterte. So ähnlich wie er jetzt mußte sich ein Verdurstender fühlen, der eine Woche durch die Wüste gekrochen war und mitansehen mußte, wie die einzige Wasserstelle zugeschaufelt wird. Aber er schien zu spüren, daß Boldwinn nicht mehr über seine Bücher - und schon gar nicht über einen eventuellen Verkauf - reden wollte. Mit deutlichem Widerwillen setzte er sich in Bewegung und folgte Boldwinn, der die Tür wieder geöffnet hatte. Nach kurzem Zögern gingen auch Rowlf und ich ihnen nach.

Wir durchquerten die Eingangshalle und gingen die Treppe zur Galerie empor. Die Stille fiel mir auf. Der dicke Teppich auf den Stufen verschluckte das Geräusch unserer Schritte vollkommen, aber es war auch sonst völlig still. Zu still. Es hätte nicht so ruhig sein dürfen. Kein Haus ist vollkommen still, nicht einmal, wenn es verlassen ist. Irgendwo gibt es immer Geräusche: das Klappern eines Ladens, das Heulen des Windes, der sich an den Mauern bricht, das Ächzen und Arbeiten der Balken, die unter dem Gewicht der Jahrzehnte stöhnen - ein Haus ist wie ein gewaltiges, lebendes Wesen, das seinen eigenen Pulsschlag, seine eigenen Lebensgeräusche hat. Dieses nicht. Dieses Haus war still, absolut still. Es war tot.

Ich schüttelte den Gedanken ab und beeilte mich, nicht den Anschluß zu verlieren und Howard und Boldwinn auf die Galerie zu folgen.

Unser Gastgeber war auf der obersten Stufe stehengeblieben und wartete stirnrunzelnd und mit unverhohlener Ungeduld, daß ich endlich nachkam.

»Ihre Zimmer liegen dort.« Boldwinn deutete mit einer knappen Handbewegung nach links, zum hinteren Ende der Galeise. »Die drei letzten Räume. Sie sind vielleicht nicht so komfortabel, wie Sie es gewohnt sind, aber für eine Nacht wird es gehen.«

Howard murmelte eine Antwort und deutete ein Nicken an, während Rowlf und ich wortlos an ihm vorbeigingen und uns unseren Zimmern näherten.

Die Tür quietschte in den Angeln, und ein Schwall abgestandener, muffig riechender Luft schlug mir entgegen. Ein Schatten huschte durch den Raum, und irgendwo fiel etwas um und wirbelte grauen Staub auf.

Mitten im Schritt blieb ich stehen.

Der Raum bot tatsächlich nicht den Komfort, den ich gewohnt war. Nicht einmal annähernd.

Auf dem Boden lag eine fünf Zentimeter dicke Staubschicht, in der sich die Spuren von Ratten- und Insektenfüßen abzeichneten. Spinnweben hingen wie graue Vorhänge von der Decke, und das breite, sicherlich irgendwann einmal prachtvoll anzusehende Himmelbett unter dem vernagelten Fenster war zusammengebrochen und zu einem Trümmerhaufen geworden.

Ein schwarzer Ball fiel von der Decke und begann auf acht zitternden, haarigen Beinen auf mich zuzukriechen. Eine Spinne. Ihr Leib war so groß wie eine Kinderfaust, und die acht starren Facettenaugen funkelten wie winzige Diamantsplitter.

Ich schrie auf, prallte - mehr erschrocken als aus Angst - zurück und schmetterte die Tür mit aller Kraft zu. Meine Hände zitterten, als ich mich umdrehte.

Howard, der sich ebenfalls angeschickt hatte, sein Zimmer zu betreten, war mitten im Schritt stehengeblieben und blickte mich stirnrunzelnd an. »Was ist los?« fragte er alarmiert.

Ich schluckte. Bittere Galle sammelte sich unter meiner Zunge. Instinktiv wich ich ein Stück von der Tür zurück. Ein eisiger Schauer raste über meinen Rücken, als ich an die ekelerregende Spinne zurückdachte. Ich habe nie unter Arachnophobie gelitten, aber dieses Tier war das mit Abstand Ekelhafteste, das mir jemals untergekommen war.

»Stimmt irgend etwas nicht?« fragte Boldwinn leise. Ein seltsames Funkeln trat in seine Augen. »Sie sind blaß geworden, junger Mann.«

Ich schwieg noch einen Moment, riß mich mit aller Gewalt zusammen und drängte das Ekelgefühl, das in meiner Kehle emporstieg, zurück. »Das kann man wohl sagen, daß etwas nicht stimmt«, antwortete ich. Meine Stimme zitterte vor Erregung. »Sie wollen mir nicht im Ernst dieses ... dieses sogenannte Zimmer anbieten, oder?«

Boldwinn blinzelte, tauschte einen fragenden Blick mit Howard und trat mit einem entschlossenen Schritt an mir vorbei. Seine Hand fiel auf die Türklinke und schlug sie mit unnötiger Wucht herunter. Die Tür flog krachend zurück und prallte drinnen gegen die Wand.

Ich unterdrückte im letzten Augenblick einen überraschten Aufschrei.

Das Zimmer war sauber.

Auf dem Boden lagen die gleichen Teppiche wie draußen in der Halle. Der Kronleuchter unter der Decke verbreitete sanftes, gelbes Licht, und im Kamin brannte ein behagliches Feuer. Das Bett, das soeben noch ein zerwühlter, mit halb vermoderten, stinkenden Lumpen bedeckter Trümmerhaufen gewesen war, war sauber bezogen, die Decke einladend ein Stück zurückgeschlagen. Auf der Nachtkonsole standen eine Flasche Wein und ein sauberes Glas.

Boldwinn blieb einen Augenblick unter der Tür stehen, blickte demonstrativ nach beiden Seiten und wandte sich dann mit einem übertrieben geschauspielerten Stimrunzeln an mich.

»Ich ... sagte bereits, daß das Zimmer vielleicht nicht ganz Ihren Ansprüchen gerecht wird«, sagte er gedehnt. »Aber es ist sauber und wird für eine Nacht genügen. Immer noch besser als ein Wagen auf einer kalten Straße, oder?«

Ich suchte vergeblich nach Worten. Was ich sah, war unmöglich! Das Zimmer war der reinste Müllhaufen gewesen, vor weniger als zehn Sekunden.

»Was ist mit dir, Rob ... Richard?« fragte Howard leise. Seine Stimme klang besorgt.

»Nichts«, antwortete ich. Es fiel mir schwer, überhaupt zu sprechen. Mühsam schüttelte ich den Kopf, lächelte gequält, blickte verwirrt von Howard zu Boldwinn und zurück. »Nichts«, sagte ich noch einmal. »Es ist in Ordnung. Verzeihen Sie, Mister Boldwinn. Ich ... muß mich getäuscht haben.«

Boldwinn zog eine Grimasse. »Die Fahrt war sehr anstrengend, wie?« fragte er.

Ich verzichtete auf eine Antwort, ging an ihm vorbei und schloß die Tür, so heftig, daß Boldwinn sich mit einem Satz in Sicherheit bringen mußte, wollte er nicht die Klinke ins Kreuz bekommen. Mein Herz hämmerte. Für einen Moment drohte so etwas wie Panik meine Gedanken zu übermannen, während ich mich in dem großen, von behaglicher Wärme erfüllten Zimmer umsah. Alles wirkte glänzend und frisch und sauber, als wäre es mit großer Liebe eigens für mich hergerichtet worden.

Aber ich war doch nicht verrückt! Ich wußte doch, was ich gesehen hatte!

Mein Blick suchte den Spiegel über dem Kamin. Für einen Moment wünschte ich mir fast, das Zimmer darin in seinem alten, verwüsteten Zustand zu sehen, aber alles, was ich gewahrte, war mein eigenes Spiegelbild.

Ich erschrak, als ich mein eigenes Gesicht sah. In meinen Augen lag ein gehetzter, wilder Ausdruck, meine Wangen waren eingefallen, und meine Haut war bleich und von feinen, glitzernden Schweißperlen bedeckt. Mühsam riß ich mich von dem Anblick los, wandte mich um und ging zum Bett.

Meine Reisetasche stand, geöffnet, aber nicht ausgepackt, an seinem Fußende. Carradine mußte unser Gepäck bereits aus dem Wagen geholt und in die Zimmer gebracht haben. Erneut überlief mich ein eisiger Schauer, als ich an den schwachsinnigen, verkrüppelten Diener Boldwinns dachte. Unsere Situation kam mir mit jedem Augenblick unwirklicher vor: ein halb verfallenes Haus mitten im Wald, bewohnt von einem Exzentriker, der noch dazu einen verkrüppelten Diener hatte ... das Ganze hätte die perfekte Vorlage für einen zweitklassigen Gruselroman sein können - aber doch nicht die Wirklichkeit!

Ohne selbst so recht zu wissen warum, packte ich meine Tasche aus und nahm den Stockdegen, der auf ihrem Boden lag, hervor. Wahrscheinlich würde mich Boldwinn für total überdreht halten, wenn ich mit einem Gehstöckchen zum Abendessen erschien, aber das war mir mittlerweile vollends egal. Ich fühlte mich einfach wohler, mit einer Waffe in der Hand.

Auch wenn in mir eine Stimme war, die mir leise, aber sehr bestimmt zuflüsterte, daß mir die Waffe gegen die Gefahren, die in diesem Haus auf uns lauern mochten, herzlich wenig nutzen würde ...


Das Erwachen war wie ein mühsames, unendlich langsames Auftauchen aus einem lichtschluckenden, schwarzen Nichts; ein Sumpf aus finsterer Leere, der mit unsichtbaren, klebrigen Fingern nach ihrem Bewußtsein griff und sie immer wieder zurück in das große Vergessen zu zerren trachtete.

Stöhnend schlug sie die Augen auf.

Sie lag auf einer harten, kalten Unterlage. Ein eisiger Hauch kam von irgendwoher und ließ sie frösteln, und an ihrer linken Schulter war etwas Kleines, Weiches, das kitzelte und kribbelte.

Jenny stemmte sich mühsam auf die Ellbogen hoch, fuhr sich mit der linken Hand über die Augen und versuchte Einzelheiten von ihrer Umgebung zu erkennen. Aber alles, was sie sah, waren Schatten. Über ihrem Kopf schien ein Gewölbe zu sein; aber sie war sich nicht sicher. Die Luft roch feucht. Irgendwo tropfte Wasser.

Ein Keller, dachte sie. Vergeblich versuchte sie, sich zu erinnern, wo sie war und wie sie hierhergekommen war. Wo ihr Gedächtnis sein sollte, war nichts als eine gewaltige, beinahe schmerzhaft tiefe Leere.

Mühsam setzte sie sich ganz auf, starrte aus weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit und tastete mit den Händen um sich. Ihre Finger glitten über feuchten Stein und berührten etwas Kleines, Pelziges, das lautlos davonhuschte. Angeekelt zog Jenny die Hand zurück. Ihr Herz begann zu hämmern. Ihre überreizte Phantasie erfüllte die Dunkelheit rings um sie herum mit Ratten und Spinnen und körperlosen Alptraummonstern. Fast eine Minute lang saß sie stocksteif und starr vor Furcht da, ehe es ihr gelang, die Panik zurückzudrängen. Langsam beugte sie sich vor, erhob sich auf die Knie und streckte die Hand aus.

Neben ihr lag etwas Großes, Langgestrecktes, Dunkles. Das schwache graue Licht, das aus keiner bestimmten Quelle kam, reichte nicht aus, um mehr zu erkennen, aber in Jenny stieg eine bange Ahnung auf. Ihre Finger berührten Stoff, tasteten zitternd weiter und berührten glatte, eiskalte Haut.

Charles!

Plötzlich, mit schmerzhafter Wucht, kam ihre Erinnerung zurück. Jenny schrie auf, sprang mit einem Satz auf die Füße und prallte zurück. Sie hatte Charles' Gesicht nur den Bruchteil einer Sekunde berührt, aber selbst diese kurze Zeitspanne hatte gereicht, ihr zu sagen, daß er tot war.

Tot! hämmerten ihre Gedanken. Tot! Tot! Tot!

Ein Schrei stieg in ihrer Kehle hoch und wurde zu einem würgenden Keuchen. Plötzlich erinnerte sie sich an alles, an ihre gemeinsame Flucht, an ihr Vorhaben, nach Gretna Green zu gehen, das verlassene Haus im Wald, die Türen, die sich plötzlich geöffnet hatten, die -

- die Spinnen!

Jenny fuhr mit einem Schrei herum, rannte los und prallte im Dunkeln gegen eine Wand. Ihre Stirn schrammte über harten Stein. Der dumpfe Schmerz ließ sie aufschreien, riß sie aber gleichzeitig in die Wirklichkeit zurück. Sie blieb stehen, zwang sich, fünf-, sechsmal hintereinander tief durchzuatmen, und kämpfte die Panik ein zweites Mal nieder. Die Spinnen waren über sie und Charles hergefallen und hatten irgend etwas mit ihnen gemacht, etwas mit ihren Gedanken, aber auch mit ihren Körpern, was sie sich nicht erklären konnte und auch nicht wollte. Sie war nicht bewußtlos geworden, aber alles, was zwischen diesem Zeitpunkt und dem ihres Erwachens geschehen war, schien wie hinter einem Schleier verborgen zu sein, unwirklich wie ein Traum, obwohl sie genau wußte, daß es keiner gewesen war.

Jenny vermied es krampfhaft, an den reglosen Körper auf dem Boden hinter sich zu denken. Sie glaubte sich zu erinnern, ihren und Charles' Vater gesehen zu haben, später, nachdem die Spinnen gekommen waren, aber sie verdrängte auch diesen Gedanken und zwang sich, an nichts anderes zu denken als daran, wie sie hier heraus kam. Aus irgendeinem Grund hatten die Spinnen sie freigegeben, das allein zählte. Wenn sie nicht versuchte, an irgend etwas anderes zu denken, würde sie den Verstand verlieren, das wußte sie.

Zitternd hob sie die Arme, streckte die Hände aus und bewegte sie tastend wie eine Blinde vorwärts. Ihre Schritte erzeugten seltsame, klackende Echos auf dem feuchten Steinboden, und der Modergeruch schien stärker zu werden, je tiefer sie sich in das Gewölbe hineinbewegte. Sie fühlte Stein, legte die Handfläche dagegen und tastete sich Schritt für Schritt an der Wand entlang. Zu Anfang versuchte sie noch, ihre Schritte zu zählen, aber der Keller war sehr groß, und ihre Gedanken waren zu sehr in Aufruhr, als daß sie sich längere Zeit konzentrieren konnte.

Irgendwann stieß ihre Hand ins Leere, und vor ihrem tastenden Fuß war die unterste Stufe einer Treppe. Jenny zögerte, blickte noch einmal aus weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit hinter sich, dann wandte sie sich um und begann vorsichtig die unsichtbaren Stufen hinaufzusteigen.

Nach einer Weile sah sie Licht. Es war nur ein dünner, haarfeiner Streifen bleiches Licht, das unter einer Tür hindurchschien, aber es war Tageslicht.

Jenny ging schneller und rannte die letzten Stufen schließlich, gehetzt von den körperlosen Schrecken ihres eigenen Unterbewußtseins. Ihr Herz jagte, und ihr ganzer Körper war mit eisigem, klebrigem Schweiß bedeckt, als sie die Tür erreichte.

Sie war verschlossen.

Jenny schrie vor Schrecken und Enttäuschung auf, hämmerte wie wild mit den Fäusten gegen die Tür und taumelte zurück. Panik verwirrte ihre Gedanken. Sie fuhr herum, verlor auf dem schlüpfrigen Stein der Stufen fast das Gleichgewicht und hielt sich im letzten Augenblick an der Wand fest. Geräusche stiegen aus der Tiefe zu ihr empor. Sie glaubte das Schleifen von Schritten zu hören, das Trippeln winziger, pelziger Beinchen ... schwarzer, mit drahtigem, dünnem Haar besetzter Beinchen ... Spinnenbeine ... Hunderttausende von Spinnenbeinen, die lautlos zu ihr hinaufkrochen ... wie eine schwarze, kribbemde Woge die Stufen emporfluteten ... langsam ... langsam, aber unaufhaltsam ...

Dann hörte sie die Schritte.

Es waren schwere, schlurfende Schritte, als schleppe sich jemand mit letzter Kraft über den steinernen Boden. Ein schwarzer, irgendwie verzerrt wirkender Schatten erschien am unteren Ende der Treppe, blieb stehen und hob mühsam den Kopf.

Jennys Herz krampfte sich zusammen, als sie das Gesicht erkannte. Es war zerstört, von schwärenden Wunden durchsetzt, die Augen leere, schwarze Höhlen, der Mund eine zerfranste Wunde - aber sie erkannte es.

Es war Charles' Gesicht...

Das Grauen lähmte sie. Unfähig, sich zu rühren, starrte sie auf die nur schattenhaft erkennbare Gestalt herab, sah, wie Charles langsam, als koste ihn die Bewegung unendliche Mühe, die Arme hob und die Hände zu ihr emporreckte. Ein furchtbarer, gurgelnder Laut drang aus seinem Mund.

»Jenny ...«, flüsterte er. »Verlaß mich nicht. Komm zurück, Jenny!«

Ein gellender Schrei kam über Jennys Lippen. Sie fuhr herum, schlug noch einmal mit den Fäusten gegen die Tür und warf sich mit aller Macht gegen das morsche Holz.

Die Tür zerbrach. Jenny stolperte, fiel zusammen mit den Resten der zerborstenen Tür nach vorne und schlug schwer auf Händen und Knien auf.

Sie war im Freien!

Ein warmer, unangenehm schwüler Wind umschmeichelte sie, und über ihr spannte sich ein sonderbarer, unnatürlich blauer Himmel, in dessen Zentrum eine grellweiße, übergroße Sonne wie ein blendendes böses Auge loderte. Sie achtete nicht darauf, stemmte sich hoch und taumelte vorwärts, nur erfüllt von dem einen Wunsch, wegzukommen, fort, fort von diesem Haus des Wahnsinns, nur fort, fort, fort ...

Sie lief los, taumelte den gewundenen Kiesweg hinab und warf einen gehetzten Blick über die Schulter zurück. Das Haus ragte wie ein schwarzer Moloch hinter ihr in den Himmel, ein dunkles Ding, zusammengeballt aus Schwärze und Furcht. Die Tür, die sie aufgebrochen hatte, klaffte wie eine schwarze Wunde in seiner Flanke. Und sie spürte, wie irgend etwas aus dieser Öffnung hervorquoll, wie sich tief im Leib des Hauses etwas regte, etwas Großes und Körperloses und unglaublich Böses; etwas, das spürte, daß ihm eines seiner Opfer entkommen war, und das sich nun anschickte, es zurückzuholen ...

»Jenny!« hörte sie Charles' Stimme. »Komm zurück! Du darfst nicht gehen. Verlaß mich nicht!«

Jenny schrie erneut und lief noch schneller. Sie fiel, rollte sieben, acht, zehn Yards weit den abschüssigen Weg hinunter und sprang wieder auf die Füße. Ihre Hände und Knie bluteten, aber das spürte sie noch nicht einmal. Das rostige Tor und der Waldrand waren vor ihr, vielleicht noch fünfzig Schritte entfernt und doch unendlich weit.

Etwas an diesem Wald war seltsam. Es war dunkel gewesen, als Charles und sie hierhergekommen waren, so daß sie von ihrer Umgebung nicht mehr als schwarze Schatten wahrgenommen hatte - aber sie war sicher, daß es nicht mehr der selbe Wald war. Die Bäume waren größer, massiger und sahen eigentlich gar nicht wie normale Bäume aus. Und das Unterholz war viel dichter, als sie es in Erinnerung hatte. Genaugenommen hatte sie ein Unterholz wie dieses noch nie zuvor gesehen. Trotzdem lief sie weiter, noch immer gehetzt von unbeschreiblicher Furcht und grauer Panik.

Sie schaffte es beinahe.

Das unsichtbare Ding aus dem Haus holte sie ein, kurz bevor sie das Tor erreicht hatte. Jenny hatte plötzlich das Gefühl, von einer Welle tödlicher Kälte überrollt und gelähmt zu werden. Sie schrie, taumelte gegen das Gittertor und versuchte weiterzulaufen, aber ihre Beine versagten ihr den Dienst. Etwas griff nach ihrer Seele und ließ sie erstarren.

Als sie sich herumdrehte, stand Charles hinter ihr. Ein grausiges Lächeln verzerrte sein zerstörtes Gesicht.

»Jenny«, flüsterte er. »Komm zurück zu mir. Du darfst mich nicht verlassen.« Langsam hob er die Hand.

Für einen winzigen Moment wehrte sich noch etwas in Jenny, aber der Widerstand erlosch sofort. Sie lächelte. Langsam trat sie auf Charles zu, ergriff seine Hand und ließ sich zum Haus zurückführen.


Ich blieb nicht länger als unumgänglich notwendig in meinem Zimmer, und als ich es verließ, hatte ich das Gefühl, einer Gruft zu entsteigen. Ich spürte erst auf der Treppe, wie schwer es mir gefallen war, dort oben überhaupt zu atmen.

Howard und Rowlf waren bereits wieder in der Bibliothek, als ich den Raum betrat. Von Boldwinn war keine Spur zu sehen, aber auf dem Tisch stand jetzt neben dem Besteck eine Anzahl silberner Schüsseln und Schalen, in denen gekochte Kartoffeln und gedünstetes Gemüse dampften. Wenn Boldwinn das unter einem kleinen Imbiß verstand, dann wollte ich gar nicht wissen, was er auffahren ließ, wenn er wirklich hungrig war.

Ich setzte mich. Rowlf hatte bereits an der gegenüberliegenden Seite der Tafel Platz genommen und sich ohne viel Federlesens Gemüse und Salzkartoffeln auf seinen Teller gehäuft, während Howard - was auch sonst? - vor einem Bücherregal stand und mit zitternden Fingern über die Bände tastete. Keiner von ihnen verlor auch nur ein Wort über den Zwischenfall von vorhin, aber ich spürte, daß die Spannung, die schon die ganze Zeit über wie ein übler Geruch in der Atmosphäre gehangen hatte, stärker geworden war.

Der Anblick der Speisen weckte meinen Appetit. Ich hatte außer einem kleinen Imbiß im Zug den ganzen Tag über nichts zu mir genommen, und mein Magen knurrte hörbar. Rowlf grinste und stopfte sich eine ungeheuerliche Ladung Kartoffeln und zerquetschtes Gemüse in den Mund. Für einen Moment beneidete ich ihn um den Gleichmut, mit dem er sich über alle Konventionen hinwegsetzte und tat, wonach ihm zumute war.

Das Geräusch der Tür ließ mich aufsehen. Boldwinn und Carradine kamen zurück; Boldwinn mit einer verstaubten Weinflasche und einem Korkenzieher in der Hand, Carradine einen niedrigen Servierwagen vor sich her schiebend. Zwischen Boldwinns Brauen entstand eine tiefe Falte, als er sah, daß Rowlf bereits mit der Mahlzeit begonnen hatte, aber er verbiß sich die Bemerkung, die ihm zweifellos auf der Zunge lag. Ein leises Gefühl von Schadenfreude stieg in mir hoch. Wahrscheinlich waren wir die unmöglichsten Gäste, die er jemals gehabt hatte - aber er war auch der mit Abstand sonderbarste Gastgeber, dem ich je begegnet war.

Carradine begann seinen Servierwagen zu entladen und weitere Schüsseln und Bleche auf den Tisch zu häufen. Boldwinn sah ihm eine Weile schweigend dabei zu, scheuchte ihn dann mit einer Handbewegung aus dem Zimmer und setzte sich. Auch Howard riß sich endlich von den Büchern los und nahm Platz.

Wir aßen schweigend. Nach allem, was passiert war, überraschte mich das Essen doch - das Fleisch schmeckte sonderbar, aber äußerst gut, und nachdem die ersten Bissen meinen Hunger richtig geweckt hatten, griff ich herzhaft zu und nahm gleich zweimal nach.

Howard bedankte sich nach dem Essen und wollte aufstehen, um sich zurückzuziehen, aber Boldwinn bedeutete ihm mit einer knappen Geste, sitzenzubleiben, nahm einen flachen Silberkasten vom Servierwagen und klappte ihn auf. Howard blinzelte einen Moment irritiert auf die säuberlich aufgereihten Zigarren, die darin lagen, zögerte unentschlossen und griff dann doch zu. Boldwinn stand auf, kam mit einem glimmenden Span aus dem Kamin zurück und gab ihm Feuer.

»Ich habe noch mit Ihnen zu sprechen«, begann er, nachdem er den Span zurück ins Feuer geworfen und sich wieder gesetzt hatte.

Howard sog an seiner Zigarre, verzog anerkennend die Lippen und sah ihn fragend an.

»Sie haben sich für meine Bücher interessiert«, sagte Boldwinn ausdruckslos. »Warum?«

In seiner Stimme war plötzlich ein seltsamer Unterton. Ich warf Howard einen warnenden Blick zu, aber er reagierte nicht darauf.

»Nun, Mister Boldwinn, ich interessiere mich für alte Bücher. Und ...«

»Alte Bücher?« unterbrach ihn Boldwinn lauernd. »Oder Okkultismus und Hexerei, Mister Lovecraft?«

Es dauerte einen Moment, bis Howard überhaupt merkte, was sein Gegenüber gesagt hatte. »Love ... craft?« stotterte er. »Wie kommen Sie ... ich meine, was ...«

»Machen Sie sich nicht lächerlich«, sagte Boldwinn grob. »Glauben Sie, ich wüßte nicht, wer Sie wären? Oder Sie, Robert Craven?« Er starrte mich an. Sein Blick erinnerte mich an eine Schlange, die ihr Opfer mustert. »Ich bin vielleicht ein verrückter alter Mann«, sagte er. »Aber ich bin auch mißtrauisch, wissen Sie. Wenn man so einsam lebt wie ich hier draußen, muß man sich absichern.«

»Aber wie ...?«

»Ich habe Ihr Gepäck durchsucht«, begann Boldwinn gleichmütig. »Das ist vielleicht unhöflich, aber sehr sicher.«

Howard wirkte beinahe erleichtert. Es hätte auch eine andere Erklärung für Boldwinns Wissen geben können.

»Wir ... hatten gewisse Gründe, unter einem nome de voyage zu reisen«, sagte Howard mit einem unsicheren Lächeln, »Das hat nichts mit Ihnen zu tun, Mister Boldwinn.«

»Ach?« fragte Boldwinn. »Vielleicht doch?«

Howard senkte seine Zigarre und sah Boldwinn alarmiert an. In seine Augen trat ein seltsames Glitzern. Ich sah aus den Augenwinkeln, wie sich Rowlf spannte, und meine eigene Hand kroch beinahe ohne mein Zutun unter den Tisch und tastete nach dem Stockdegen, den ich gegen meinen Stuhl gelehnt hatte.

Boldwinns Kopf ruckte mit einer abgehackten Bewegung herum. »Lassen Sie den albernen Degen, wo er ist, Mister Craven«, sagte er böse. »Sie glauben doch nicht wirklich, daß Sie mich mit dieser lächerlichen Waffe bedrohen könnten?«

»Was bedeutet das, Mister Boldwinn?« fragte Howard scharf. »Wenn Sie wissen, wer wir sind, dann ...«

»Weiß ich auch, was Sie sind«, unterbrach ihn Boldwinn lächelnd. »Aber selbstverständlich. Immerhin haben wir lange genug auf Sie gewartet. Auf Sie und Mister Craven, Lovecraft.«

»Wir?«

Boldwinn machte eine weitausholende Handbewegung. »Ich und dieses Haus«, sagte er. »Wer sonst?«

Howards Lippen wurden zu einem dünnen, blutleeren Strich. »Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht«, sagte er gepreßt.

Boldwinn lächelte. »O doch, Mister Lovecraft. Sie sind auf dem Weg nach Durness, um Taucher anzuheuern, die eine gewisse Kiste aus einem Schiffswrack vor der Küste bergen sollen.«

Howard erbleichte. Das konnte er nun beim besten Willen nicht aus unserem Gepäck erfahren haben. »Woher ...«

»Ich weiß noch viel mehr, Mister Lovecraft. Ich weiß zum Beispiel auch, warum Mister Craven - oder sollte ich besser sagen: Robert Andara? - bei Ihnen ist. Sie wollen diese Kiste bergen, nicht wahr? Aber daraus wird nichts. Es sind noch andere am Inhalt der Kiste interessiert, und ich fürchte, sie werden schneller sein als Sie.«

»Sie -«

»Keine Beleidigungen bitte«, sagte Boldwinn rasch. »Ich will Ihnen nicht schaden. Meine einzige Aufgabe ist, Sie aufzuhalten. Und das ist mir ja gelungen.«

Howard stand mit einem Ruck auf. »Meinen Sie?« fragte er wütend. »Wir werden sehen, Rowlf, Robert - wir fahren.«

»Aber wohin denn?« erkundigte sich Boldwinn beiläufig. »Und vor allem - womit?«

»Das Pferd schaffts schon«, nuschelte Rowlf. »Simmer eben n' bißchen langsamer.«

»Das Pferd?« Boldwinn lächelte noch breiter. »Soso. Hat Ihnen das Fleisch geschmeckt, Rowlf?«

Rowlf blinzelte. »Wa?«

»Was das Pferd angeht«, erklärte Boldwinn. »Das haben Sie gerade gegessen. Sie müssen zugeben, Carradine hat es ausgezeichnet zubereitet.« Er wurde übergangslos ernst. »Geben Sie auf, Lovecraft. Sie müßten zu Fuß von hier weg. Selbst wenn Sie Ihr Gepäck zurücklassen würden, verlieren Sie zu viel Zeit. Meine ... Auftraggeber sind jetzt bereits an der Unglücksstelle. Wahrscheinlich haben sie die Kiste schon. Und außerdem kommen Sie sowieso nicht hier raus«, fügte er gelangweilt hinzu.

Howard war sichtlich am Ende seiner Selbstbeherrschung. Seine Lippen zitterten. »Rowlf«, sagte er. »Wir gehen.«

»O nein«, sagte Boldwinn. »Das tun Sie nicht.« In seiner Hand lag plötzlich eine Pistole. Er zog sie nicht etwa unter dem Rock hervor oder dem Tisch - sie war einfach da, von einem Sekundenbruchteil auf den anderen. »Wie gesagt«, fuhr er fort. »Ich will Ihnen nicht schaden - aber ich werde schießen, wenn Sie mich dazu zwingen.«

Rowlf fuhr mit einem wütenden Knurren aus seinem Stuhl hoch und sank zurück, als Boldwinn die Waffe ein wenig schwenkte und den Lauf auf seine Stirn richtete. Meine Hand krampfte sich um den Stockdegen.

Boldwinn grinste. »Tun Sie es nicht, Craven. Ich habe Sie erschossen, bevor Sie die Waffe gezogen haben. Mein Wort darauf.«

Ich glaubte ihm. Aber ich versuchte auch gar nicht erst, den Degen aus seiner Hülle zu ziehen, sondern ließ mich ohne ein weiteres Wort seitwärts vom Stuhl fallen, riß den Stock hoch und zog ihm den Schaft mit aller Macht über die Schulter.

Boldwinn schrie auf, fiel zur Seite und verlor den Halt. Die Pistole entlud sich mit einem donnernden Knall, aber die Kugel klatschte harmlos hoch unter der Decke in einen Buchrücken.

Ich fiel, rollte mich herum und sprang auf, um mich auf Boldwinn zu stürzen. Aber es war nicht mehr nötig. Howard sprang mit einem raschen Schritt hinzu, trat ihm die Waffe aus der Hand und riß ihn grob vom Boden hoch. Boldwinn keuchte und versuchte, sich zu wehren, aber der Zorn gab Howard übermenschliche Kräfte. Er schüttelte Boldwinn wie ein Spielzeug hin und her, wirbelte ihn schließlich herum und gab ihm einen Stoß, der ihn direkt in Rowlfs ausgebreitete Arme taumeln ließ. Rowlf grinste und schloß seine mächtigen Pranken um Boldwinns Schultern.

»Das war knapp«, sagte Howard schweratmend. »Gut gemacht, Robert. Rowlf, halt ihn gut fest.«

Rowlf knurrte eine Antwort, hob Boldwinn mit einer beiläufigen Bewegung hoch und setzte ihn wuchtig auf seinen Stuhl zurück, während Howard und ich zur Tür eilten.

Sie war verschlossen. Howard zerbiß einen Fluch auf den Lippen, rüttelte einen Moment in sinnlosem Zorn an der Klinke, fuhr mit einer wütenden Bewegung herum und stampfte auf Boldwinn zu. »Das nutzt Ihnen nichts, Boldwinn«, sagte er. »Geben Sie den Schlüssel heraus!«

Boldwinn wand sich stöhnend unter Rowlfs Griff. Howard gab Rowlf einen Wink, und der breitschultrige Riese ließ Boldwinns Arme los. »Also?«

»Ich habe ihn nicht«, sagte Boldwinn trotzig.

Howard wollte auffahren, aber ich hielt ihn mit einem raschen Griff zurück. »Er hat recht, Howard«, sagte ich. »Wir hätten es gemerkt, wenn er die Tür verschlossen hätte. Es muß Carradine gewesen sein.«

»Dann rufen Sie ihn«, verlangte Howard.

Boldwinn schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht daran«, sagte er. Die Furcht war aus seiner Stimme gewichen. Jetzt, als er den ersten Schrecken überwunden hatte, kehrte die alte Überheblichkeit in seinen Blick zurück. Und noch etwas. Etwas, das ich nicht definieren konnte, das mich aber schaudern ließ.

»Wir können Sie auch zwingen«, sagte Howard leise.

Boldwinn runzelte die Stirn. »So?« sagte er. »Können Sie das?« Er stand auf. Rowlf hob mit einem zornigen Knurren die Arme, aber Howard hielt ihn zurück.

»Ich hasse Gewalt, Mister Boldwinn«, sagte er ernst. »Aber Sie lassen mir keine andere Wahl.«

Boldwinn lachte meckernd. »So?« sagte er. »Und was wollen Sie tun? Mich vielleicht umbringen?«

»Vielleicht die Tür einschlag'n«, sinnierte Rowlf. »Mit deim' Schädel.«

Boldwinn drehte sich herum, sah Rowlf mit einer Mischung aus Abscheu und Verachtung an und lächelte böse. »Aber Sie können mich nicht umbringen«, sagte er dann, wieder an Howard gewandt. Sein Gesicht begann sich zu verändern. »Selbst wenn Sie wollten.« Seine Haut fiel ein, wurde grau und rissig und spannte sich plötzlich wie trockenes Pergament über den Knochen. »Ich bin nämlich schon tot, müssen Sie wissen.« Die Veränderung ging weiter, schnell, unglaublich schnell. Er taumelte. Seine Beine schienen nicht mehr die Kraft zu haben, seinen Körper zu tragen. Er sackte gegen den Tisch, klammerte sich vergeblich fest und sank weiter zu Boden. Sein Körper sah plötzlich aus wie ein schlaffer Sack ohne stützende Knochen. Seine Kleider sanken ein, als wäre der Leib darunter plötzlich nicht mehr da.

Der ganze schreckliche Vorgang dauerte nur wenige Augenblicke, Dann lagen da, wo Boldwinn zu Boden gestürzt war, nur noch ein Haufen alter Kleider und grauer, trockener Staub.


Der Raum lag tief unter der Erde. Seine Wände waren fensterlos, und die Tür bestand aus schweren, eisenbeschlagenen Bohlen, die nicht den geringsten Lichtschimmer, nicht den mindesten Laut hindurchließen. Jenny erinnerte sich nur schemenhaft daran, wie sie hier heruntergekommen war: Charles hatte sie zurückgeführt ins Haus, zurück in den Keller, in dem sie das erste Mal erwacht war, tiefer hinein in das unterirdische Labyrinth von Gängen und Stollen und Katakomben, das sich unter dem Haus erstreckte. Sie waren über ein Dutzend Treppen und zahllose, ausgetretene Stufen tiefer und immer tiefer hinabgegangen, weiter durch Stollen und Tunnel, später durch Gräben, die sie an ins Riesenhafte vergrößerte Maulwurfsgänge erinnerten und deren Wände nur noch aus zusammengepreßtem Erdreich bestanden, später durch bizarre, einer dem menschlichen Begriffsvermögen nicht völlig zugänglichen Geometrie folgenden Tunnel, die direkt durch den harten Granit des Bodens gegraben worden waren. Jetzt war sie hier.

Charles war gegangen, und mit ihm war die geistige Fessel von ihr abgefallen. Nicht vollkommen - sie spürte, daß die unsichtbare Macht noch irgendwo da war, sie belauerte, bereit, sofort wieder zuzuschlagen, sollte sie erneut einen Fluchtversuch unternehmen.

Jenny hatte Angst. Nicht das, was sie bisher unter dem Wort Angst verstanden hatte, sondern ein völlig neues, unbeschreibliches Gefühl des Grauens, das jeden Ansatz vernünftigen Denkens hinwegfegte und ihren Willen lähmte. Selbst wenn die Tür nicht verschlossen gewesen wäre, wäre sie unfähig gewesen, sich von der Stelle zu rühren.

Sie war allein in der gewölbten Kammer, und doch nicht allein. Es gab kein Licht, aber sie konnte auf geheimnisvolle Weise trotzdem sehen, und obwohl es vollkommen still war, hörte sie unheimliche, schleifende, rasselnde Geräusche.

Ein Laut, dachte sie erschrocken, wie ein schwerfälliges, unendlich mühsames Atmen. Es war niemand da, den sie atmen hören konnte, aber das Geräusch war trotzdem real, und es wurde in jedem Augenblick lauter, deutlicher, drohender ... Es kam aus keiner bestimmten Richtung, sondern schien aus Wänden und Decke, aus Boden und den Ritzen des Mauerwerks selbst zu kommen. Fast, als atmete das Haus selbst...

Jenny versuchte den Gedanken zu verscheuchen, aber es ging nicht, er hatte sich, einmal geweckt, wie der Keim einer üblen Krankheit in ihr Bewußtsein eingenistet und vergiftete ihr Denken. Vibrierte nicht der Boden unter ihren Füßen ein ganz kleines bißchen? Waren die Wände nicht in beständiger, unendlich langsamer, aber trotzdem sichtbarer Bewegung? Pulsierte nicht der ganze Raum wie ein gewaltiges, mühevoll schlagendes Herz?

Jenny spürte, wie der Wahnsinn nach ihren Gedanken griff. Sie stöhnte, krümmte sich wie ein verängstigtes Kind in einer Ecke zusammen und schlug die Hände vor das Gesicht; preßte die Augen so heftig zu, daß es schmerzte. Aber es half nicht. Das Atemgeräusch wurde lauter, und darunter glaubte sie ein dumpfes, regelmäßiges Pochen zu hören. Gleichzeitig wurde es wärmer.

Ein helles Knirschen drang in Jennys Gedanken. Zitternd vor Furcht nahm sie die Hände herunter, raffte das bißchen Mut, das sie in einem Winkel ihrer Seele noch fand, zusammen, und zwang sich, in die Richtung zu blicken, aus der das Geräusch kam.

Es war die Tür.

Das massive, armdicke Eichenholz begann sich zu biegen, als laste ein ungeheurer Druck auf ihm. Die Tür krachte und ächzte, armlange Splitter traten knallend aus dem Holz, dann wurde einer der Eisenbeschläge von einer ungeheuren Gewalt abgerissen und zu Boden geschleudert. Das Türblatt riß von oben bis unten; ein handbreiter Spalt entstand, und dahinter ...

Jennys Schreien steigerte sich zu einem irrsinnigen Kreischen, als ihr Blick durch das zerborstene Türblatt fiel ...


»Dat hat kein' Zweck nich«, brummte Rowlf. »Glaubense mir.«

Howard richtete sich mit einem resignierenden Seufzen auf, betrachtete einen Moment lang mißmutig das abgebrochene Messer in seiner Hand - es war das dritte, das er bei dem Versuch, das Schloß zu öffnen, zerbrochen hatte - und trat achselzuckend zurück, »Mach Platz, Robert.«

Ich gehorchte. Rowlf grunzte, trat drei, vier Schritte zurück und konzentrierte sich einen Moment. Dann rannte er los, drehte sich im letzten Moment zur Seite und rammte die Tür mit seiner gesamten ungeheuren Körperkraft. Die Tür bebte, als wäre sie von einer Kanonenkugel getroffen worden. Staub und feiner, weißer Kalk rieselten aus dem Rahmen, und einer der bronzierten Beschläge löste sich und fiel klappernd zu Boden.

Aber sie ging nicht auf.

Rowlf war zurückgetaumelt und hatte mit rudernden Armen sein Gleichgewicht wiedergefunden. Sein Gesicht zuckte, während er seine geprellte Schulter massierte, und in seinen Augen lag ein ungläubiger Ausdruck.

»Dat gibtet nich«, murmelte er. »Ich werd doch noch sone blöde Tür ...« Er knurrte, trat wieder zurück und machte Anstalten, ein zweites Mal gegen die Tür anzurennen, aber Howard hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück.

»Laß es bleiben, Rowlf«, sagte er. »Er hat keinen Sinn. Die Tür ist magisch verriegelt.« Er seufzte. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war undeutbar. »Ich bin ein Narr gewesen, Robert«, murmelte er. »Dieses Haus ist eine einzige riesige Falle. Ich hätte es erkennen müssen.«

Ich antwortete nicht. Mein Blick tastete über den Haufen vermoderter Kleider und grauen Staubes; alles, was von Boldwinn übrig geblieben war. Ein eisiger Schauer lief über meinen Rücken. Aber ich bin doch schon tot, hatte er gesagt. Es war mir unmöglich, den eisigen Schrecken zu verjagen, mit dem mich diese Worte erfüllt hatten.

»Du kannst nichts dafür«, murmelte ich, nicht aus Überzeugung, sondern nur, um überhaupt etwas zu sagen und das tödliche Schweigen, das sich im Raum ausgebreitet hatte, nicht übermächtig werden zu lassen.

Howard lachte humorlos. »Doch«, widersprach er. »Ich hätte ihn erkennen müssen. Spätestens in dem Moment, in dem ...« Er sprach nicht weiter, sondern ballte in hilflosem Zorn die Fäuste, fuhr mit einer plötzlichen, abrupten Bewegung herum und ging zu einem der Fenster. Wir wußten beide, wie sinnlos es war. Die Fenster zu öffnen, war das erste gewesen, was wir versucht hatten, als sich die Tür nicht öffnen ließ. Die Flügel saßen so unverrückbar an ihrem Platz, als wären sie verschweißt, und das Glas hatte jedem Versuch widerstanden, es einzuschlagen. Howard rüttelte einen Moment am Griff, wandte sich mit einem resignierenden Seufzer wieder um und ging zum Tisch.

»Ich versuch's noch mal«, knurrte Rowlf. »Wär ja gelacht, wenn ich nich ...«

»Das ist vollkommen sinnlos«, unterbrach ihn Howard. »Nicht einmal ein Elefant könnte diese Tür einrammen. Aber wir kommen schon hier heraus.« Der letzte Satz war eher ein Ausdruck seiner Verzweiflung als echter Überzeugung. »Irgend etwas wird geschehen«, murmelte er. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sie sich damit zufrieden geben, uns hier drinnen einzusperren und zu warten, bis wir an Altersschwäche sterben.«

»Oder verdursten«, fügte ich finster hinzu. »Das geht wesentlich schneller.«

Howard sah mich an, als käme ihm diese Möglichkeit erst jetzt zu Bewußtsein. Für einen Moment wurde sein Gesicht grau vor Schrecken, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Unsinn«, sagte er. »Irgend etwas wird geschehen. Ich spüre es. Dieses Haus ist ... kein normales Haus.«

Diesmal widersprach ich nicht. Ich hatte schon im ersten Moment, nachdem ich das Haus betreten hatte, gespürt, daß mit diesem Gebäude etwas nicht so war, wie es sein sollte. Es war mehr als ein Haus aus Stein und Holz; weit mehr.

Rowlf hatte wie bisher schweigend zugehört. Jetzt drehte er sich mit einem gegrunzten Fluch herum, schlurfte zum Kamin und beugte sich hinein, soweit es die prasselnden Flammen zuließen.

»Was wird das?« fragte ich neugierig.

Rowlf beugte sich noch weiter vor, schob einen brennenden Scheit mit dem Fuß beiseite und verdrehte sich halbwegs den Hals. Als er sich wieder aufrichtete, war sein Gesicht schwarz von Ruß. Kleine glühende Funken schwelten in seiner Hose.

»Geht auch nich«, murmelte er. »Is zu eng zum rausklettern. Außerdem scheint obn'n Gitter zu sein oder so was.«

Ich sah ihn einen Moment enttäuscht an, dann wandte ich mich wieder an Howard. »Was ist mit den Büchern?« fragte ich.

Howard runzelte die Stirn. »Den Büchern?«

»Du sagtest, es wären ... magische Bücher.«

Howard nickte. »Sicher, aber ...« Wieder sprach er nicht zu Ende, sondern seufzte nur, drehte sich aber nach einigen Sekunden doch herum und ging zu einem der Regale hinüber.

Er erreichte es nie.

Ich weiß nicht, was es war. Ich wußte nicht einmal, wie es geschah. Es war eine Vision, aber eine Vision von solcher Wucht, wie ich sie niemals zuvor erlebt hatte. Plötzlich, von einem Lidzucken zum nächsten, war ich nicht mehr in der Bibliothek. Der Raum um mich herum war groß, womöglich größer als die Bibliothek, eine graue, von Feuchtigkeit und Kälte durchdrungene Höhle, erfüllt von Dunkelheit und vereinzelten schmalen Streifen grauen, irgendwie krank wirkenden Lichts. Ich war nicht mehr ich. Mein Körper war der eines Fremden - oder genauer gesagt einer Fremden; einer jungen Frau oder eines Mädchens, die zusammengekauert in einer Ecke des Raumes hockte. Ihr/mein Blick war starr auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, auf die zerschmetterte Tür darin und das formlose, grausige Ding, das wogend und zitternd durch diese Tür hereinkam ...

Dann war es vorbei, mit der gleichen, unbeschreiblichen Wucht, wie es mich überkommen hatte, ein Gefühl, als würde mein Körper oder vielleicht auch nur mein Geist von einer unsichtbaren geistigen Faust getroffen und bis ins Mark erschüttert. Ich taumelte, griff haltsuchend um mich und fiel auf die Knie. Wie durch einen grauen, wogenden Schleier sah ich Howards Gesicht vor mir.

»Robert!« Howards Stimme klang besorgt und erschrocken zugleich. »Mein Gott, Junge - was ist mit dir?«

In meinem Kopf drehte sich alles. Ich stöhnte, schob seine Hand kraftlos beiseite und versuchte aufzustehen, aber ich war für einen Moment so schwach, daß mir Rowlf dabei helfen mußte.

»Was ist... passiert?« fragte ich verwirrt. Die Bibliothek drehte sich um mich herum, und Howards Gesicht führte einen irren Veitstanz vor mir auf. Für einen Moment drohte ich abermals das Gleichgewicht zu verlieren.

»Du weißt es nicht?«

»Ich ...« Vergeblich versuchte ich, mich zu erinnern. Die Bilder, die ich gesehen hatte, erschienen mir sinnlos. Aber sie waren trotzdem von einer erschreckenden Realität gewesen. »Ich weiß nicht«, murmelte ich. »Ich hatte eine ... eine Art Vision.«

»Vision?« Howard runzelte die Stirn und sah mich scharf an. »Du hast geschrien, Robert.«

»Geschrien?«

Er nickte. Sein Gesicht war sehr ernst. »Ja. Du hast... einen Namen gerufen. Du erinnerst dich nicht?«

Ich versuchte es, aber alles, woran ich mich erinnerte, war das Bild dieses Kellerraumes. Das Mädchen. Das Mädchen, das ich gewesen war ... Und ein unbeschreibliches Ding, das ...

Ich stöhnte. Das Bild verschwamm, wenn ich mich genauer zu besinnen suchte. Ich hatte einen flüchtigen Eindruck von Schwärze, wogender, glitzernder und irgendwie lebender Schwärze, von schleimigem Fleisch und glitzerndem Horn. Einer Art Papageienschnabel. Aber es verblaßte, sobald ich danach zu greifen versuchte. Es war, als wollte etwas verhindern, daß ich das Ungeheuer beschreiben konnte. Aber ich wußte, daß ich es gesehen hatte. Und das wenige, woran ich mich erinnerte, war schrecklich genug.

»Charles«, sagte Howard. »Du hast ein paarmal ganz deutlich ›Charles‹ gerufen. Erinnerst du dich nicht?«

»Ich erinnere mich an nichts«, murmelte ich. »Nur an ...«

Eine rasche, wellenförmige Bewegung ging durch den Raum. Vielleicht war es auch keine wirkliche Bewegung. Es war ein rasches, blitzschnelles Zucken und Wogen, eine Erscheinung, als bögen sich Wände und Decke in sich, veränderten sich Winkel und Geraden auf unheimliche, mit menschlichen Sinnen kaum mehr erkennbare Weise ... Für einen ganz kurzen Moment streifte der Atem einer fremden, unbeschreiblich anderen Welt das Gebäude; einer Welt, von der wir nur Schatten und verzerrte Trugbilder wahrzunehmen imstande waren. Und für einen ganz kurzen Moment war es, als lebe das Haus.

Dann war es vorbei.

Howard sprang mit einem unterdrückten Keuchen zurück. »Was war das?« fragte er. »Das ...«

Wieder wand sich der Boden, und wieder war die Bewegung nicht wirklich zu sehen oder zu fühlen, als spiele sich das alles in einer Dimension - oder auf einer Ebene des Seins - ab, die jenseits der für Menschen zugänglichen war.

Howard erbleichte. Sein Mund öffnete sich, aber er brachte kein Wort hervor, sondern starrte nur aus ungläubig geweiteten Augen an mir vorbei auf den Tisch.

Langsam, mit einem Gefühl widersinniger, aber immer stärker werdender Angst, drehte ich mich herum. Ich wußte nicht, was ich erwartete - vielleicht das Ungeheuer aus meiner Vision, vielleicht einen Boldwinn, der auf bizarre Weise wieder zum Leben erwacht war ... Es war nichts von allem, nichts von dem formlosen Schrecken, mit dem meine Phantasie die Leere hinter mir füllte. Der Anblick war beinahe banal. Und doch ließ er ein ungläubiges Stöhnen über meine Lippen kommen.

Unser Eßgeschirr stand noch so da, wie wir es nach der überhastet abgebrochenen Mahlzeit zurückgelassen hatten. Aber es begann sich auf unheimliche Weise zu verändern!

Die Reste der Speisen auf den Tellern vermoderten. Weißlicher Schimmelpilz bildete sich, wuchs zu wäßrigen, krebsartig verquollenen Gebilden heran und zerfiel, so schnell, daß es aussah, als lebe die wabbelige Masse; auf dem Silber der Schalen und Schüsseln erschienen Flecken, das Porzellan wurde grau und unansehnlich und begann zu reißen. Das Tischtuch zerfiel zu grauem Staub. Es war, als liefe die Zeit vor unseren Augen hunderttausendmal schneller ab als normal ...

Und die Veränderung beschränkte sich nicht nur auf den Tisch. Wie Kreise, die ein ins Wasser geworfener Stein zieht, breitete sie sich im Raum aus. Der Teppich vermoderte unter unseren Füßen. Die Bücherregale begannen zu knirschen, die Bände zitterten, zerfielen in Sekundenschnelle zu grauem Staub und kleinen, rissigen Fetzen. Mit einem hörbaren Knirschen zerbrach die Kette des Kronleuchters. Howard riß mich im letzten Moment zurück, als das zentnerschwere Gebilde aus Glas und geschliffenem Kristall auf den Tisch herabfiel und ihn zerschmetterte.

»Mein Gott, Howard - was ist das?« keuchte ich.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Howard. »Und es interessiert mich auch nicht. Wir müssen raus hier - schnell!«

Das letzte Wort hatte er geschrien. Eines der Bücherregale an der Südwand brach krachend und polternd zusammen. Das Holz zersplitterte unter seinem eigenen Gewicht, bog sich durch und ließ in einer bizarren Kettenreaktion auch die darunterliegenden Bretter zerbrechen. Wie Dominosteine, die einmal angestoßen worden waren, begannen sich auch die beiden Regale rechts und links davon zu neigen und knirschende, beinahe wie ein schmerzhaftes Stöhnen klingende Laute von sich zu geben. Eine gewaltige Staubwolke quoll hoch und nahm mir die Sicht. Ich hustete, zog angstvoll den Kopf zwischen die Schultern und taumelte blind hinter Howard und Rowlf her. Die Bibliothek verwandelte sich von einem Moment auf den anderen in ein Chaos zersplitternden Holzes, bröckelnder Steine und Lärm und Staub und zitternder Bewegung.

Auch an der Tür war die furchtbare Veränderung nicht vorübergegangen. Das Holz war grau und rissig geworden, und wo das Schloß gesessen hatte, befand sich nur noch ein formloses Etwas aus braunrotem Rost. Rowlf sprengte es mit einem entschlossenen Fußtritt vollends heraus, warf sich mit der Schulter gegen die Tür und fiel beinahe auf die Knie, als das drei Meter hohe Türblatt schlichtweg aus den Angeln brach und mit einer fast gemächlichen Bewegung nach draußen kippte.

Nebeneinander hetzten wir durch die Halle. Das Haus veränderte sich weiter, alterte in Sekunden um Jahrhunderte, aber ich achtete nicht mehr darauf, sondern taumelte blind vor Furcht und immer stärker werdender Panik weiter. Kalk und Steine lösten sich von der Decke und schlugen wie kleine, tödliche Geschosse rings um uns auf, und etwas traf mich an der Schulter und ließ mich aufschreien. Als wir die Tür erreichten, brach die Treppe ins Obergeschoß mit einem gewaltigen Donnern und Bersten zusammen.

Howard schrie irgend etwas. Ich verstand ihn nicht, blieb stehen und hustete. Meine Schulter schmerzte höllisch. Rowlf versetzte mir einen Stoß, der mich aus dem Haus und auf die Treppe hinaustorkeln ließ.

Und im gleichen Moment hörte es auf.

Das Haus erbebte unter einem letzten, gewaltigen Zucken. Etwas Gigantisches, Körperloses schien für einen Moment hinter uns zu wogen, eine Bewegung wie das wütende Zupacken einer Faust, der das sicher geglaubte Opfer im letzten Moment noch entkommen war. Dann kam das gepeinigte Gebäude zur Ruhe.

Howard, Rowlf und ich liefen noch ein paar Meter weiter, ehe wir, allesamt schwer atmend und am Ende unserer Kräfte, stehenblieben und mit einer Mischung aus Furcht und Erleichterung zurückblickten. Es hatte aufgehört. Ich brauchte ein paar Sekunden, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, aber es hatte aufgehört.

»Mein Gott«, flüsterte Howard neben mir. »Das war knapp. Zehn Sekunden später, und ...«

Er sprach nicht weiter, aber ich wußte, was er meinte. Das Haus stand noch, aber es wäre, wenn der bizarre Verfall im gleichen Tempo fortgeschritten wäre, nur noch eine Frage von Augenblicken gewesen, ehe es wie ein Kartenhaus über uns zusammengestürzt wäre und uns unter seinen Trümmern begraben hätte. Das Dach war bereits eingesunken, und ein Teil der Südwand stand sichtlich schräg. Selbst der tonnenschwere Türsturz hatte sich aus seiner Verankerung gelöst und hing deutlich zur Seite geneigt über dem Eingang.

»Das Licht«, murmelte Howard. »Was ist mit dem Licht?«

Instinktiv hob ich den Blick. Der sternenübersäte Nachthimmel war verschwunden und hatte einer seltsamen, grauen Farbe Platz gemacht. Weder Mond noch Sterne waren zu sehen, aber dabei war es trotzdem so hell wie während der frühen Morgendämmerung, kurz bevor sich die Sonne am Horizont zeigte. Aber es war keine Sonne zu sehen.

Ich schauderte. Irgend etwas an diesem Licht flößte mir Angst ein, ein spürbares, körperliches Unbehagen. Der Himmel war grau, von einer Farbe wie mattes, geschmolzenes Blei. Er wirkte krank.

»Gehn wir«, murmelte Rowlf. »Is mir egal, was mittem Licht is. Ich will weg.«

Weder Howard noch ich widersprachen. Im Grunde sprach Rowlf nur das laut aus, was wir alle fühlten - nämlich nichts anderes als den Wunsch, so schnell wie möglich hier weg zu kommen, und so weit wie möglich.

Aber ich glaube auch, wir alle drei spürten, daß es uns nicht gelingen würde ...

Howard löste mit sichtlicher Überwindung seinen Blick vom Haus, drehte sich um und deutete schweigend auf einen zusammengesunkenen Umriß ohne erkennbare Form; alles, was von unserer Kutsche übriggeblieben war. Keiner von uns verlor auch nur ein Wort darüber.

Langsam gingen wir los. Der Kies knirschte unter unseren Schuhen, als wir den gewundenen Weg zum Tor hinabgingen, aber dieser Laut war auch der einzige, den ich hörte. Es war still, vollkommen still. Es gab keine Vogelstimmen, nicht das Wispern des Windes in den Baumkronen. Der Wald vor uns war starr, reglos und stumm wie eine massive, erstarrte grüne Mauer, und selbst die Luft erschien mir zäh wie Sirup. Das Atmen fiel mir schwerer, je weiter wir uns dem Wald näherten. Meine Schritte wurden langsamer. Ich hatte das Gefühl, durch unsichtbare Watte zu gehen, einen Widerstand, der fast unmerklich, aber auch unerbittlich stärker wurde, je näher wir dem Wald kamen.

Etwas an diesem Wald war seltsam. Im ersten Moment vermochte ich das Gefühl noch nicht in Worte zu kleiden, aber dann begriff ich. Aus der Ferne hatten die Bäume noch ganz normal ausgesehen, aber je weiter wir uns vom Haus entfernten, desto mehr zerschmolz dieser Eindruck. Schließlich blieb ich stehen.

»Was ist?« fragte Howard. Seine Stimme bebte vor Erschöpfung.

Ich deutete mit einer knappen Geste auf den Wald. Die Bewegung erforderte erstaunlich viel Kraft, und plötzlich war ich sicher, daß es keine Einbildung war. Ich glaubte nicht nur, schwerer zu atmen, und ich bildete mir nicht nur ein, daß Howards und Rowlfs Atemzüge ebenfalls lauter und mühsamer geworden waren, so wenig, wie ich mir den Widerstand einbildete, der sich uns entgegenstemmte. Irgend etwas zerrte an meinen Gliedern.

»Der Wald«, murmelte ich. »Sieh ... sieh dir die Bäume an.«

Howard runzelte die Stirn, sah mich einen Moment voller Verwirrung an, gehorchte dann aber.

Auf seinen Zügen erschien ein Ausdruck maßloser Verblüffung. »Aber das ...« Er schluckte, machte einen Schritt und blieb stehen, als wäre er vor eine unsichtbare gläserne Wand gelaufen.

»Wassndas?« murmelte Rowlf. Sein Atem ging schwer, als wäre er die ganze Strecke gerannt, und als ich zu ihm hinübersah, fiel mir auf, wie gebückt er dastand. Auf seinen Schultern schien ein unsichtbares Gewicht zu lasten. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß.

»Das ist nicht möglich«, murmelte Howard noch einmal.

Ich runzelte die Stirn, schüttelte hilflos den Kopf und sah erneut zu den Bäumen hinüber, die sich auf so sonderbare Weise verändert hatten.

Eigentlich waren es gar keine richtigen Bäume mehr. Ihre Stämme waren schuppig und viel dicker, als sie hätten sein dürfen. Die Farbe stimmte nicht, und sie hatten keine Äste, sondern etwas, das mich vage an gigantische Farnwedel erinnerte. Grüngelbe, sonderbar verkrüppelte Pilzgewächse wucherten dort, wo zuvor noch dorniges Unterholz gewesen war, und da und dort erkannte ich Pflanzen, die wie ins Absurde vergrößerte, blasse Orchideen aussahen.

»Was ... was ist das?« flüsterte ich. »Das ist doch kein Wald. Jedenfalls keiner, wie es ihn ...« Ich stockte, erschrocken vor dem, was ich gerade hatte aussprechen wollen.

»Keiner, wie es ihn auf unserer Erde gibt, meinst du?« sagte Howard, ohne den Blick von den titanischen Farnwedeln zu wenden. Plötzlich lachte er, aber es klang sehr bitter und vollkommen ohne Humor, und seine Stimme zitterte jetzt nicht mehr vor bloßer Erschöpfung. »Du hast recht, Robert«, fuhr er fort. »Oder auch nicht - ganz wie du willst.«

Er sprach nicht weiter, aber das war auch gar nicht nötig.

Ich hatte es im Grunde schon gewußt, aber etwas in mir hatte sich dagegen gesträubt, den Gedanken laut auszusprechen.

Natürlich gab es Wälder wie diese nicht. Nicht mehr, hieß das. Aber es hatte eine Zeit gegeben, in der es sie gegeben hatte, nicht nur hier in England, sondern überall auf der Welt.

Ich wußte nicht genau, wie lange es her war, aber ich hatte das Gefühl, daß das auch keine Rolle spielte.

Jedenfalls nicht für uns.

Es hatte einmal Wälder wie diese gegeben.

Vor hundert oder zweihundert Millionen Jahren.


Sie schrie. Schrecken und Furcht lähmten sie, aber selbst wenn sie fähig gewesen wäre, sich zu bewegen, hätte es nichts gegeben, wohin sie hätte fliehen können. Mit dem Ding war Licht in den Keller gedrungen; ein grauer, flackernder Schein, in dem alle Gegenstände unwirklich und alle Bewegungen ruckhaft und abgehackt wirkten. Ihr Blick hing gebannt auf dem schwarzgrünen, wabernden Ding, das die Tür wie ein Bild aus einem Alptraum ausfüllte, ein wogendes, widerwärtiges Etwas aus Schleim und Fleisch und reißenden Stacheln und gestaltgewordener Furcht, das sie aus einem einzigen, lidlosen roten Auge musterte. Seiner Dämonenfratze war keine Regung anzusehen, aber Jenny spürte einfach, wie die Blicke des Ungeheuers mit einer schwer zu bestimmenden Gier über ihren Körper tasteten ...

Das Ungeheuer glitt mit einer kraftvollen Bewegung auf sie zu und blieb zitternd stehen, als Jenny mit einem Schrei auf die Füße sprang und abwehrend die Hände ausstreckte, »Geh weg!« schrie sie. »Geh weg!«

Sie wußte nicht, ob das Monstrum ihre Worte verstand oder ob es nur auf den Klang ihrer Stimme reagierte. Aber es kam nicht weiter auf sie zu. Sein Blick flackerte. Drei, vier seiner zahllosen, peitschenden Tentakel streckten sich aus, deuteten zitternd in ihre Richtung und verharrten, wenige Zentimeter, ehe sie ihren Körper berühren konnten.

»Nein!« schrie Jenny. »Geh! Geh weg!«

Sie taumelte rückwärts vor der grauenhaften Erscheinung davon, prallte gegen die feuchtkalte Wand und schrie weiter.

Ihre Schreie schienen das Ungeheuer nervös zu machen. Die glitzernden Arme peitschten stärker, und in dem faustgroßen blutigroten Auge flammte Zorn auf. Aber es kam nicht näher.

»Du darfst dich nicht wehren, Jenny.«

Jenny fuhr mit einem neuerlichen, noch gellenderen Schrei herum, als sie die Gestalt neben sich aufwachsen sah. Es war Charles - aber sie erkannte ihn kaum noch. Der Verfall seines Körpers war weiter fortgeschritten.

Jennys Stimme überschlug sich, wurde zu einem unmenschlichen Kreischen. Für einen Moment drohte sie die Besinnung zu verlieren, aber irgendwo, tief in ihr, war noch ein Rest von Kraft und Lebenswillen, etwas, das sie zurückriß und sie, obgleich sie halb wahnsinnig vor Furcht und Entsetzen war, kämpfen ließ.

Charles kam näher, hob langsam die Arme, versuchte, nach ihr zu greifen und erstarrte, als Jenny mit einem würgenden Laut zurücksprang. Sie taumelte, verlor auf dem feuchten Boden das Gleichgewicht und fiel.

»Nicht wehren«, murmelte Charles. »Es hat keinen Zweck, wenn du dich wehrst, Liebling. Er braucht deine Lebenskraft, aber du mußt sie ihm freiwillig geben. Freiwillig und freudig.« Seine Stimme wurde hart und hatte plötzlich nichts mehr mit der zu tun, die sie kannte. »Sterben wirst du so oder so, aber es liegt in deiner Hand, ob du die Erfüllung enden oder zu einem Wesen wie ich werden wirst. Sieh mich an! Willst du, daß das dein Schicksal ist?«

Jenny kroch verzweifelt vor ihm davon. Charles folgte ihr mit unsicheren, taumelnden Schritten. Er streckte abermals die Arme nach ihr aus, und eine einzelne, schwarzglänzende Spinne kroch über seine Hand, balancierte auf sechs Beinen auf seinen ausgestreckten Fingern und tastete mit den beiden anderen nach ihrem Gesicht.

Jennys Verstand drohte endgültig zu zerbrechen, als die haarigen Beine ihre Wange berührten. Es war ein sanftes, kaum spürbares Tasten, eine Berührung fast wie ein zärtliches Streicheln, und trotzdem hatte sie das Gefühl, von einer weißglühenden Flamme ergriffen und berührt zu werden.

Sie schrie. Ihre Finger glitten ziellos über den Boden, ertasteten etwas Hartes, Großes und schlossen sich darum. Sie handelte, ohne zu denken. Mit einer blitzschnellen, mit der Kraft der Verzweiflung geführten Bewegung riß sie den Stein hoch und schleuderte ihn mit aller Macht.

Charles versuchte, dem Wurfgeschoß auszuweichen, aber seine Reaktion kam zu spät. Der Stein traf seine Stirn.

Charles taumelte. Seine Arme fuhren ziellos durch die Luft. Weitere Spinnen fielen aus seiner Kleidung, und für einen Moment konnte Jenny in seinem Gesicht Schmerz lesen, Schmerz und eine tiefe Verzweiflung.

Dann erlosch der Funke von freiem Willen wieder. Die geistige Fessel nahm wieder Besitz von seinem Bewußtsein, aber er versuchte nicht noch einmal, sich Jenny zu nähern.

»Warum wehrst du dich?« fragte er leise. »Du fügst dir nur selbst Schmerzen und Angst zu.« Seine Hand wies auf das gewaltige Monstrum, das noch immer reglos an seinem Platz hockte und die Szene aus seinem einzigen, lodernden Auge verfolgte. »Er braucht dich«, murmelte er.

Jennys Schreie wurden zu einem keuchenden, stoßhaften Würgen und Schluchzen. Sie wimmerte, wand sich wie unter Krämpfen auf dem Boden und kroch rückwärts weiter vor Charles und dem Ungeheuer davon, bis sie gegen die Wand stieß.

»Er braucht deine Lebenskraft«, fuhr Charles fort. »Aber du mußt sie ihm freiwillig geben. Sprich die heiligen Worte!«

Jenny wimmerte. Sie wünschte sich, zu sterben oder wenigstens das Bewußtsein zu verlieren, endlich aus diesem grauenhaften Alptraum erlöst zu werden, aber sie konnte weder das eine noch das andere.

»Sprich mir nach!« donnerte Charles. Plötzlich war seine Stimme ein machtvolles, ungeheuer starkes Dröhnen, ein Befehl, der mit solcher Wucht in ihr Denken hämmerte, daß sie erneut aufschrie.

»Sprich!« donnerte Charles. »Sprich mir nach: Shcyyylo! Hgnat ghobmmorrog luh-huuth!«

Jenny wußte nicht, was die Worte bedeuteten, ob es überhaupt Worte waren in der menschlichen oder irgendeiner anderen Sprache. Sie spürte, wie die Laute auf geheimnisvolle Weise von ihr Besitz ergriffen, wie ein schleichendes Gift in ihren Willen sickerten und ihr Bewußtsein durchtränkten ...

Und wieder war da etwas in ihr, das Widerstand leistete. Sie wußte nicht, woher sie die Kraft nahm oder ob es überhaupt ihre Kraft war - aber irgend etwas brach den tödlichen Bann, wehrte sich gegen die Worte, ihren unheimlichen, unseligen Klang ...

Charles erstarrte. Von einer Sekunde zur anderen erlosch der Druck auf ihr Bewußtsein.

»Gut«, sagte er. »Wie du willst. Es geht auch anders.«

Sekundenlang geschah nichts. Dann, ganz langsam, begannen sich Spinnen aus seinen Kleidern zu lösen. Erst eine, dann mehr und mehr der schwarzen, haarigen Tiere krochen auf Jenny zu, aber keine berührte sie oder kam ihr auch nur nahe. Die Tiere bildeten einen weiten, an einer Seite offenen Halbkreis um sie herum, krochen in ihrem Rücken an der Wand hinauf, hefteten sich mit ihren zahlreichen, mit Widerhaken besetzten Beinen selbst an die Decke.

Dann begann aus dem Hinterleib des ersten Tieres ein einzelner, glitzernder Spinnfaden zu quellen.

Aber es war nur der erste von zahllosen ...

Irgendwo, sehr weit entfernt und fast an der Grenze des überhaupt noch Sichtbaren, kreiste eine Anzahl dunkler Punkte. Über dem grünen, von unsicherem grauen Licht beleuchteten Wald schienen sie die meiste Zeit stillzustehen, und die wenigen Male, die sie sich bewegten, hatten ihre Bewegungen etwas seltsam Ruckhaftes. Unter normalen Umständen hätte ich sie für Vögel gehalten, aber jetzt war ich nicht mehr sicher. Seit wir dieses Haus betreten hatten, war nichts mehr so, wie es sein sollte. Und ich wollte auch gar nicht wissen, was die »Vögel« in Wirklichkeit waren.

Mit einem Ruck löste ich meinen Blick von dem Schwarm dunkler Punkte und wandte mich wieder an Howard. Er war einen Schritt weitergegangen und abermals stehengeblieben. Sein Atem ging schnell und hörbar schwer. Er war bleich geworden, nicht nur blaß, sondern schneeweiß. Seine Augen waren unnatürlich geweitet, und seine Lippen zitterten ununterbrochen, ohne daß er indes auch nur den geringsten Laut von sich gegeben hätte. Auf seiner Stirn perlte Schweiß.

»Was bedeutet das?« murmelte ich hilflos. »Dieser Wald und ...«

»Ich weiß es nicht«, murmelte er. »Ich ...« Howard stockte. Seine Hände zitterten. Er schien kurz davor zu stehen, endgültig die Beherrschung zu verlieren. »Dieser Wald ist...«

Wieder sprach er nicht weiter, sondern starrte nur abwechselnd mich und den Waldrand aus starren Augen an.

Jetzt, als wir näher heran waren, sah ich mehr Einzelheiten: Der kiesbestreute Weg wand sich vor uns weiter den Hang hinab, lief durch das Tor und verschwand in wogendem Grün und Gelb und Braun wie abgeschnitten. In den Kronen der gigantischen Farngewächse, die an die Stelle der Bäume getreten waren, bewegten sich winzige dunkle Punkte, und weiter hinten glitzerte etwas wie ein gewaltiges Spinnennetz. Ein seltsamer, verwirrender Geruch schlug uns entgegen, und wenn man genau hinsah, konnte man ein leichtes Flimmern und Bewegen über den Hüten der Riesenpilze erkennen. Sporen, dachte ich schaudernd. Es war mit Sicherheit nicht gut, auch nur in ihre Nähe zu kommen.

Irgendwo vor uns raschelte etwas. Für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, etwas Gigantisches, Dunkles zwischen den Stämmen zu erkennen, aber ich war nicht sicher. Dann war es verschwunden.

»Gehen wir ... weiter«, murmelte Howard stockend. Sein Blick glitt zurück zum Haus, das sich durch die Entfernung in einen schwarzen, tiefenlosen Schatten verwandelt hatte. Ich hatte das Gefühl, daß sich seine Umrisse bewegten ...

Howard ging weiter, lief, gegen den gleichen, unsichtbaren Widerstand ankämpfend wie Rowlf und ich, weiter den gewundenen Weg hinüber. Langsam näherte er sich dem Tor.

»Nicht.«

Howard blieb abrupt stehen. Einen Moment lang starrte er unsicher das hohe, aus rostigen Eisenstäben geschmiedete Tor an, dann drehte er sich zu mir herum. »Was hast du gesagt?« fragte er mißtrauisch.

»Nicht«, sagte ich noch einmal. Meine Stimme war leise und klang in meinen eigenen Ohren wie die eines Fremden.

»Wie meinst du das?« fragte Howard. In seiner Stimme war noch immer dieser mißtrauische, lauernde Ton.

»Geh ... nicht hindurch«, murmelte ich verwirrt. Was war das? Das waren nicht meine Worte! Es war meine Stimme, die sie formte, aber ich wußte nicht, warum ich sie sagte. Es war, als spräche ein anderer durch mich.

Howard wandte sich wieder um, ging jedoch nicht weiter. Sein Blick tastete über die verfallenen Reste der Mauer, die einstmals den Park umgeben hatte, die beiden halb zerbröckelten, schrägstehenden Pfeiler rechts und links des Tores und die rostzerfressenen Gitterstäbe.

»Es ist ... gefährlich«, sagte ich stockend. »Hinter diesem Tor lauert ... der Tod.«

In einer anderen Situation hätten meine Worte lächerlich geklungen. Aber jetzt sah ich, wie Howard wie unter einem Hieb zusammenfuhr. Erneut drehte er sich um. In seinen Augen erschien ein sonderbares Glitzern, als er mich ansah.

Ich stöhnte. Für einen Moment begannen Howard, der Wald und das Tor vor meinen Augen zu verschwimmen. Mir wurde schwindelig, und der Boden schien unter meinen Füßen zu wanken.

»Nicht das ... Tor«, hörte ich meine eigene Stimme sagen. »Geh nicht ... hindurch ...«

Howard reagierte nicht. Langsam, aber ohne Zögern ging er weiter, blieb erst einen halben Schritt vor dem Tor stehen und hob langsam die Hand, um das rostige Gitter aufzustoßen.

Mit einem gellenden Schrei setzte ich ihm nach, packte ihn an den Schultern und schleuderte ihn mit aller Macht zurück, direkt in Rowlfs ausgebreitete Arme. Aber durch die Bewegung verlor ich selbst das Gleichgewicht, taumelte, kämpfte einen winzigen, schrecklichen Augenblick um meine Balance - und kippte ganz langsam nach hinten.

Feuer zuckte durch meine Adern, als ich das Gittertor berührte. Die rostigen Stäbe schienen zu glühen. Ein weißer, unerträglich schmerzhafter Blitz fraß sich durch meinen Leib, explodierte irgendwo tief in mir und ließ mich aufschreien. Ich taumelte, fiel auf die Knie und nahm den gräßlichen Geruch brennenden Stoffs und verschmorter Kleider wahr. Der Schmerz steigerte sich ins Unerträgliche, und es war nicht nur ein rein körperlicher Schmerz, sondern etwas Unbeschreibliches, unsagbar Fremdes, etwas, das meinen Geist so gnadenlos zu versengen schien wie die Hitze meinen Rücken. Ich schrie, fiel auf die Seite und schlug in Agonie um mich, als Rowlf und Howard neben mir niederknieten.

Dann kam die Vision.

Es war nicht so wie beim ersten Mal; kein plötzlicher Wechsel, sondern ein sanftes Hinübergleiten, als verschmelze mein Geist mit dem eines anderen. Das Bild vor meinen Augen blieb gleich: Ich sah weiterhin den Park, den Wald, Rowlfs und Howards besorgte Gesichter, aber ich war nicht mehr ich, nicht mehr ich allein wenigstens. Wie durch einen dämpfenden Nebel hörte ich, wie meine eigene Stimme Worte schrie, die nicht die meinen waren, einen Namen stammelte, dann sinnlose, bizarr klingende Laute aus einer Sprache, die nicht einmal mehr entfernt menschlich klang. Bilder stiegen in meinem Geist auf, bizarre, grauenerregende Visionen einer Welt, die so fremdartig war, daß ihr bloßer Anblick beinahe reichte, mich in den Wahnsinn zu treiben.

Rowlf wollte nach mir greifen, um meine Arme und Beine festzuhalten, aber ich schlug nach ihm, wälzte mich herum und kam taumelnd und aus eigener Kraft wieder auf die Füße. Ein unmenschlicher, gellender Schrei stieg in mir empor und brach sich Bahn. Ich spürte, wie sich tief in mir etwas regte, etwas, das die ganze Zeit dagewesen war, ohne daß ich seine Existenz auch nur geahnt hätte. Etwas Gewaltiges, Finsteres und Mächtiges ...

»Robert!« brüllte Howard. »Was ist mit dir?«

Der Boden bebte. Aus dem Wald drang ein seltsam stöhnender, tiefer Laut, ein Geräusch, als schrien die Bäume selbst vor Schmerz und Qual. Das Licht flackerte.

»Was ist das?« keuchte Howard. Sein Blick fiel an mir vorbei auf den Wald, und ein neuer, abgrundtiefer Schrecken verzerrte seine Züge.

Mühsam drehte ich mich herum. Selbst diese kleine Bewegung kostete mich alle Kraft, die ich noch hatte. Ich war nicht länger Herr meiner selbst, und mein Körper gehorchte meinem Willen nur noch so weit, wie es dieses schreckliche Ding in mir zuließ ...

Der Wald begann sich auf fürchterliche Weise zu verändern. Die Bäume zitterten, verschwammen, als betrachte man sie durch einen Vorhang aus schnell fließendem, klarem Wasser, begannen sich zu verbiegen und zu verzerren, änderten ihre Farbe und Form. Zwischen ihren Stämmen begannen Schatten zu wogen, ein unablässiges Huschen und Gleiten, Wachsen, Verfallen und Gedeihen. Farben tauchten auf und vergingen, es wurde hell, dunkel, hell, dunkel, Tag ... Nacht, Tag ... Nacht ... immer und immer schneller.

Und endlich begriff ich. Es war wie in der Bibliothek und im Haus, nur tausendmal heftiger.

Vor unseren Augen begann die Zeit schneller zu laufen, millionenmal schneller als normal. Der Wald veränderte sich, wuchs in Minuten zu einem kolossalen, unbeschreiblichen Dschungel aus Farn- und Pilzgewächsen heran und begann wieder zu schrumpfen, wuchs erneut, schrumpfte wieder ... ein langsames, täuschend langsames Pulsieren ... Es war wie ein Atmen.

Die Atemzüge der Zeit ...

»Zurück!« keuchte ich. »Howard! Rowlf! Wir ... wir müssen zurück ins Haus!«

Howard fuhr herum. »Ins Haus?« keuchte er. »Aber ...«

Ich wirbelte herum, versetzte ihm einen Stoß, der ihn beinahe zu Boden schleuderte, und zerrte ihn ohne ein weiteres Wort hinter mir her.

Unter unseren Füßen begann der Boden wie ein lebendes Wesen zu zittern, während wir den Weg zurückhetzten, den wir vor Augenblicken erst gekommen waren. Der Wald wuchs weiter, schrumpfte erneut und wuchs wieder, aber ich sah auch, daß er bei jedem Pulsieren um eine Winzigkeit kleiner und blasser zu werden schien. Gleichzeitig änderte sich die Farbe des Himmels. Das Licht wirkte härter, gnadenloser, und das Gras, das bisher noch als dichter Teppich den Hügel bedeckt hatte, zerfiel zu kleinen, drahtigen Büscheln und verschwand dann von einem Lidzucken auf das andere ganz. Es wurde heiß, binnen Sekunden unerträglich heiß, und als ich einen Blick über die Schulter zurückwarf, sah ich, daß aus dem gigantischen Farnwald ein Gestrüpp niedriger verkrüppelt wirkender Gewächse geworden war, die aus einem kahlen, rötlich schimmernden Wüstenboden wucherten.

Es war ein bizarrer, irrsinngier Sturz durch die Zeit. Jeder Schritt brachte uns eine Million Jahre zurück in die Vergangenheit, jeder Atemzug weiter zurück in eine Welt, die seit Urzeiten vergangen und vergessen war. Der Boden zuckte und wand sich wie unter Krämpfen. Ein gewaltiger Riß klaffte plötzlich dicht neben uns auf, übelriechende Dämpfe schossen in einem brüllenden Geysir hoch in die Luft und versuchten uns zu verbrühen, und die Hitze stieg unerbittlich weiter.

Rowlf stolperte, als wir noch wenige Yards von der Treppe entfernt waren. Sein Schrei ging in einem dumpfen, mahlenden Knirschen unter, als sich der Boden direkt unter seinen Füßen zu einer klaffenden Spalte öffnete, von deren Grund es rot und drohend emporloderte. Rowlf verlor den Halt, kippte in einer grotesk langsamen Bewegung über den Rand der Spalte und klammerte sich im letzten Augenblick fest.

Ich versetzte Howard einen Stoß, der ihn weitertaumeln ließ, fuhr mitten im Schritt herum und war mit einem Satz bei Rowlf.

Eine Weile grausamer Hitze schlug mir wie eine unsichtbare Faust ins Gesicht, als ich mich der Spalte näherte. Kleine, winzige Funken stiegen aus der Tiefe empor, führten irre Tänze auf der heißen Luft auf und erloschen oder senkten sich brennend auf Rowlf und mich nieder. Ich schrie schmerzhaft auf, fiel mehr auf die Knie, als ich mich vor Rowlf niederließ, und griff nach seinem Handgelenk.

»Hau ab!« brüllte Rowlf. »Bring dich in Sicherheit!«

Ich ignorierte seine Worte, griff auch mit der anderen Hand nach seinem Arm und suchte mit Knien und Füßen festen Halt im Boden. Die Spalte zitterte, kleine, wie gezackte Blitze geformte Risse entstanden an ihren Rändern und liefen in irrem Zickzack auf mich zu. Der Spalt zitterte wie eine gewaltige, von loderndem Rot erfüllte klaffende Wunde, und die neuerliche Erschütterung ließ Rowlf endgültig den Halt verlieren.

Ein grausamer Ruck schien mir die Arme aus den Schultern reißen zu wollen. Rowlf brüllte vor Angst, griff mit der freien Hand nach oben und krallte die Finger in meine Jacke. Der Ruck riß mich nach vorne. Für einen kurzen, grauenhaften Augenblick drohte ich ebenfalls den Halt zu verlieren, dann warf ich mich mit einer Kraft, von der ich selbst nicht wußte, woher ich sie nahm, noch einmal nach hinten und zerrte Rowlf ein Stück nach oben. Ein mörderischer Schlag ließ den Boden erzittern, irgendwo, tief unter uns, stürzte etwas polternd und krachend zusammen, und eine neuerliche, noch schlimmere Hitzewelle griff mit unsichtbaren glühenden Fingern nach mir und Rowlf.

Rowlf begann erneut zu schreien und hilflos mit den Beinen zu strampeln. Meine Muskeln waren bis zum Zerreißen gespannt. Ich bin kein Schwächling, aber ich spürte, daß ich den Druck nicht mehr länger ertragen würde. Die Hitze stieg ins Unerträgliche, und unter Rowlfs strampelnden Beinen züngelten gelbe, zischende Flammen, leckten wie gierige Hände nach seiner Hose und ließen ihn erneut vor Schmerz aufschreien. Verzweifelt suchte er mit den Füßen Halt zu finden, aber das lockere Erdreich gab immer wieder nach, und Rowlf rutschte unbarmherzig weiter ab.

Ich hätte es nicht geschafft, wäre nicht in diesem Moment Howard neben mir aufgetaucht. Blitzschnell griff er mit beiden Händen zu, packte Rowlfs Arm und warf sich mit einer kraftvollen Bewegung zurück. Gleichzeitig mobilisierte ich noch einmal alle Kraftreserven, die mein geschundener Körper noch hatte.

Rowlf flog regelrecht aus der Erdspalte heraus. Die abrupte Bewegung riß uns alle drei von den Füßen. Ich fiel, rollte herum und sprang wieder auf die Füße. Das Haus ragte wie ein verschwommener Schatten dunkel und drohend über uns empor. Ich taumelte weiter, erreichte die Treppe, fiel und kroch die letzten Stufen auf Händen und Knien empor.

Hinter uns schoß eine brüllende Feuersäule aus der Erdspalte. Felsen und kleine, rotglühende Lavaspritzer wurden hoch in die Luft geschleudert und regneten wie tödliche Wurfgeschosse rings um uns nieder. Ein mikroskopisch feiner Spritzer des flüssigen Steins traf meinen Arm, brannte sich in Sekundenbruchteilen durch den Stoff meines Rockes und fraß sich tief in meine Haut. Noch einmal bebte die Erde, und ein zweiter, noch gewaltigerer Feuergeysir leckte gen Himmel, als brülle das Feuer seinen Zorn heraus, daß ihm das sicher geglaubte Opfer vom letzten Moment noch entkommen war. Dann schloß sich die Spalte wieder. Ihre Ränder krachten wie die Kiefer eines gigantischen, steinernen Maules aufeinander. Die Erschütterung ließ das gesamte Haus in seinen Grundfesten erbeben.

Zwei, drei Sekunden lang starrte ich wie gelähmt auf das unglaubliche Schauspiel, das sich uns bot. Die Umgebung des Hauses veränderte sich weiter. Vor unseren Augen lief die Entwicklung der Erde rückwärts und milliardenmal schneller ab. Der Wald war vollends verschwunden und hatte einer gewaltigen, rötlich schimmernden Ebene Platz gemacht. In der Ferne, so weit, daß sie nur als Schatten zu erkennen waren, standen gigantische gezackte Berge, und der Himmel war jetzt fast weiß.

Ein weiterer Erdstoß ließ die Treppe unter mir erbeben und erinnerte mich daran, daß wir noch lange nicht außer Gefahr waren. Hastig stemmte ich mich hoch, warf Howard einen auffordernden Blick zu und taumelte auf die geborstene Tür zu.

Im gleichen Moment, in dem ich das Haus betrat, erloschen die dumpfen Geräusche und die Erdstöße. Es war nicht nur ein Schritt in ein Gebäude, sondern ein Schritt in eine andere Welt - genauer gesagt in einen winzigen Teil der Welt, der noch so geblieben war, wie er sein sollte. Hinter uns schlug die Zeit weiter Purzelbäume, aber rings um mich herum herrschte Kühle und Zwielicht und Stille, eine beinahe unheimliche, furchteinflößende Stille nach den krachenden und berstenden Geräuschen der zuckenden Erde draußen.

Ich wankte noch ein paar Schritte weiter, drehte mich herum und ließ mich erschöpft gegen die Wand sinken. Hinter mir taumelten Rowlf und Howard ins Haus, beide genauso erschöpft wie ich und mindestens genauso verstört.

Mein Herz jagte. Jetzt, als alles vorbei war, schlug die Erschöpfung mit aller Macht zu. Meine Knie begannen zu zittern, wurden weich und vermochten das Gewicht meines Körpers nicht mehr zu tragen, und allmählich begann ich auch die zahllosen kleinen und großen Blessuren zu spüren, die ich davongetragen hatte. Langsam rutschte ich an der Wand entlang zu Boden. Ein starkes Schwindelgefühl begann sich in meinem Schädel auszubreiten. Ich wartete darauf, daß ich das Bewußtsein verlor, aber das geschah nicht.

Howard berührte mich an der Schulter.

»Alles in Ordnung, Junge?« fragte er.

Ich hob mühsam den Kopf, nickte, zog eine Grimasse und sagte: »Nein.«

»Laß mich deinen Rücken sehen«, verlangte er. Die Anstrengung, mich herumzudrehen und die zerfetzte Jacke abzustreifen, überstieg fast meine Kräfte, aber ich gehorchte und biß tapfer die Zähne zusammen, als er mein Hemd auseinanderriß und mit geschickten Fingern über meine Haut tastete.

»Halb so wild«, sagte er nach einer Weile. »Die Verbrennungen sind nicht gefährlich.«

»Aber dafür tun sie verdammt weh«, preßte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich versuchte auf die Füße zu kommen, knickte wieder ein und nickte dankbar, als Rowlf mich am Arm nahm und auf die Füße stellte, als wäre ich eine gewichtslose Puppe. Allmählich begannen der Schwindel und das Schwächegefühl zu weichen. Trotzdem war ich noch immer so matt, daß ich mich gegen die Wand lehnen mußte, um nicht erneut zusammenzubrechen. »Vielen Dank, Rowlf«, murmelte ich.

Rowlf winkte ab. »Unsinn«, murmelte er in seiner groben Art. »Ohne Sie war ich jetzt zermatscht wiene Wanze. Hätt mich glatt erwischt.«

»Deinen Dialekt hatte es ja erwischt, wie?« fragte ich mit einem müden Lächeln. »Oder sprichst du nur einwandfreies Englisch, wenn du in Lebensgefahr bist?«

Rowlf grinste, wandte sich ab und ging zur Tür zurück. Vor dem Haus tobten die entfesselten Naturgewalten noch immer, vielleicht schlimmer als zuvor. Der Himmel schien zu brennen, war aber jetzt nicht mehr ganz so unerträglich hell. Alles, was ich zu sehen vermochte, waren Felsen, graue, kahle Felsen, auf denen sich nicht das geringste Zeichen von Leben zeigte.

»Was ist das?« murmelte ich. Der Himmel flackerte. Streifen von Schwärze begannen das brennende Orange zu durchziehen und langsam zu wachsen. Es sah aus wie schwarzer Ausschlag.

»Ich fürchte, die Antwort wird dir nicht gefallen, Robert«, murmelte Howard. »Jedenfalls, wenn es das ist, was ich befürchte.«

Um ein Haar hätte ich ihn ausgelacht. »Glaubst du - mir?« fragte ich betont. »Irgend etwas ist mit der Zeit geschehen. Was ist das, Howard?«

Howard schwieg.

»Du weißt es«, behauptete ich. »Nicht wahr?«

»Ich war ein Narr«, murmelte er, ohne direkt auf meine Frage zu antworten. »Mein Gott, was war ich nur für ein Narr! Ich hätte es schon in London wissen müssen, spätestens in dem Moment, in dem ich den Saurier sah.«

»Den was?« fragte ich. Rowlf wandte kurz den Blick und sah Howard stirnrunzelnd an, konzentrierte sich dann aber wieder ganz auf das, was draußen vor dem Haus vorging.

»Den Saurier«, murmelte Howard. »Das Ungeheuer von Loch Shin - was glaubst du, was es war? Die Bestie war ein Ichtiosaurier, ein Wesen, das vor drei- oder vierhundert Millionen Jahren auf unserer Erde ausgestorben ist.«

»Nicht ganz«, widersprach ich, aber Howard ließ mich nicht zu Worte kommen.

»Sie sind ausgestorben«, sagte er noch einmal. »Aber sie haben ihn geholt. Auf dem gleichen Weg, auf dem sie uns holen.«

»Aha.«

Howard lächelte schmerzlich. »Ich weiß, es klingt verrückt«, sagte er, »aber es ist wahr. Unsere Gegner ...«

»Du meinst, die Hexen von Salem.«

»Nein.« Howard schüttelte entschieden den Kopf, wühlte einen Moment in seiner Rocktasche und nahm eine seiner dünnen schwarzen Zigarren hervor. Umständlich klemmte er sie zwischen die Lippen, zündete sie an und nahm einen tiefen, beinahe gierigen Zug, ehe er weitersprach.

»Sie wären nicht in der Lage gewesen, so etwas zu tun«, sagte er mit einer Geste, die das gesamte Haus einschloß. »Nicht einmal annähernd, Robert. Ich ... habe dir von den GROSSEN ALTEN erzählt, und du hast einen von ihnen selbst gesehen.«

Ich schauderte. Howards Erinnerung wäre unnötig gewesen. Ich hatte nicht viel mehr als einen vagen Schatten von Yog-Sothoth gesehen, aber selbst diesen Anblick würde ich Zeit meines Lebens nicht mehr vergessen können.

»Dies hier ist ihr Werk«, sagte Howard dumpf. »Diese Narren ahnen ja nicht einmal, was sie getan haben. Sie haben Yog-Sothoth gerufen, um deinen Vater zu vernichten, Robert, aber sie haben mehr getan, weit mehr. Ohne es zu ahnen. Sie haben es den GROSSEN ALTEN ermöglicht, sich einen Weg durch die Zeit zu öffnen.«

Ich begriff nur langsam. Etwas in mir sträubte sich dagegen, Howards Worte als das anzuerkennen, was sie waren. Mein Blick richtete sich wieder auf die bizarr veränderte Welt vor dem Haus. Selbst die Felsen waren mittlerweile verschwunden; aus der rötlichen Ebene war eine schwarze, wie poliert wirkende Einöde geworden, die sich ohne Unterbrechung bis zum Horizont erstreckte.

Howard registrierte meinen Blick, nahm mich beim Arm und führte mich zur Tür. »Schau hinaus«, sagte er leise. »Was du dort siehst, ist unsere Welt, so wie sie vor tausend Millionen Jahren ausgesehen hat. Es wird nicht mehr lange dauern.«

Seine Worte schienen wie ein unheimliches Echo hinter meiner Stirn widerzuhallen. Tausend Millionen Jahre. Die Zahl überstieg das wirklich Vorstellbare einfach. Sie war absurd. Wir sollten eine Milliarde Jahre in der Vergangenheit sein? Lächerlich.

Und trotzdem wußte ich, daß er recht hatte.

»Es ist die einzige Erklärung«, murmelte Howard. »Ein Tunnel durch die Zeit. Die GROSSEN ALTEN haben einen Weg gefunden, den Abgrund der Zeit zu überbrücken, eine Verbindung zwischen ihrer und unserer Welt zu schaffen.«

»Aber wenn das so ist«, murmelte ich, sehr leise und mit einem stärker werdenden Gefühl der Furcht, »warum ...«

»Warum sie unsere Welt noch nicht erobert haben, meinst du?« Howard lachte, leise, rauh und völlig humorlos. »Sie werden es tun, Robert. Noch ist der Weg nicht vollends geöffnet, aber sobald unsere Reise zu Ende ist ...« Er sprach nicht weiter, schnippte seine kaum angerauchte Zigarre aus der Tür und sah ihr nach. Sie schlug auf der Treppe auf, rollte ein Stück und erlosch übergangslos. Schaudend begriff ich, daß draußen vor dem Haus keine Luft mehr war. In der Zeit, in der wir uns befanden, war die Erde nicht mehr als ein toter Steinklumpen.

»Wenigstens werden wir die zweifelhafte Ehre haben, als erste Menschen einen Blick in die Welt der GROSSEN ALTEN zu tun«, murmelte Howard.

»Wir ... müssen etwas unternehmen«, murmelte ich verstört. »Du kannst nicht einfach tatenlos dastehen und zusehen, wie ...« Ich sprach nicht weiter, als mich sein Blick traf. Es gab nichts, was wir tun konnten. Die Gewalten, denen wir gegenüberstanden, waren mit menschlichen Maßstäben nicht mehr zu ermessen.

»Und alles nur, um einen einzelnen Mann zu töten«, stöhnte ich. »Diese Bestien.«

Howard seufzte. »Du darfst ihnen keinen Vorwurf machen, Robert«, sagte er. »Sie haben nicht gewußt, was sie taten. Die GROSSEN ALTEN sind schlau. Begehe nie den Fehler, sie für hirnlose Bestien zu halten, Robert.«

»Aber wir müssen etwas tun!« begehrte ich auf. »Du hast es selbst gesagt - es wird nicht mehr lange dauern!« Wieder fiel mein Blick auf die schwarze, trostlose Ebene. Meine überreizte Phantasie ließ Bewegung entstehen, wo keine war, und Schatten zu bizarren tentakelbewehrten Monstern werden. Ich wußte, daß es nicht so war. Wir waren eine Milliarde Jahre weit in der Vergangenheit, und trotzdem hatten wir kaum die Hälfte des Abgrundes überwunden, der die Welt der GROSSEN ALTEN von der der Menschen trennte. Der Gedanke, welche Kräfte nötig waren, eine Brücke über diesen Abgrund zu schlagen, ließ mich aufstöhnen.

»Es ist dieses Haus«, murmelte Howard. Sein Blick glitt durch die große, verwüstete Eingangshalle, tastete über die zusammengebrochene Treppe und blieb einen Moment an der zerschmetterten Tür zur Bibliothek hängen.

»Ich bin sicher, daß es dieses Haus ist«, murmelte er erneut. »Es ist kein Zufall.« Plötzlich stockte er, runzelte für einen Moment die Stirn und sah mich lange und nachdenklich an.

»Als ich vorhin das Tor berühren wollte«, murmelte er, »da hast du mich zurückgehalten. Warum?«

Ich blinzelte verwirrt. »Ich ...«

»Du warst es auch, der die Gefahr zuerst erkannt hat«, fuhr er, in sonderbar nachdenklichem Ton, als rede er mehr mit sich selbst als mit mir, fort. »Warum, Robert? Was weißt du, was ich nicht weiß?«

Ich starrte ihn betroffen an. Für einen winzigen Moment glaubte ich wieder die Stimme in mir zu hören, dieses leise und doch unglaublich machtvolle Flüstern und Wispern, das in einer Sprache zu mir gesprochen hatte, die keines Menschen Ohr jemals gehört hatte. Ich schauderte. Allein die Erinnerung ließ mich frösteln.

»Erinnere dich!« drängte Howard. »Es ... es kann sein, daß unser Leben davon abhängt. Und das zahlloser anderer!«

Ich versuchte es, aber es ging nicht. Die Erinnerung bereitete mir fast körperliche Schmerzen.

»Sieh mich an!« verlangte Howard. Instinktiv gehorchte ich.

Sein Blick war starr in den meinen gerichtet, und seine Augen ... irgend etwas war mit seinen Augen. Ihr Blick war durchdringend und hart, so fordernd und gnadenlos, wie ich es noch niemals zuvor erlebt hatte. »Sieh mich an!« sagte er noch einmal, und diesmal war jedes einzelne seiner Worte wie ein Peitschenhieb, der mich bis ins Mark erschütterte. Irgendwo in einer verlorenen, frei gebliebenen Ecke meines Bewußtseins regte sich der Gedanke, daß Howard dabei war, mich zu hypnotisieren oder etwas Ähnliches mit mir zu tun, aber ich war unfähig, mich dagegen zu wehren.

»Erinnere dich!« befahl Howard. »Erinnere dich, was geschehen ist. Du ...«

Die Bilder kamen mit der Wucht eines Fausthiebes. Ich taumelte zurück, fiel gegen die Wand und krümmte mich wie unter Schmerzen. Rowlf wollte hinzuspringen, aber Howard scheuchte ihn mit einer raschen, beinahe herrischen Geste zurück. So wie draußen am Tor war ich mir meiner Umgebung weiterhin voll bewußt, aber gleichzeitig sah ich Bilder, die mir fremd und unverständlich waren und mich trotzdem mit einem unbeschreiblichen Grauen erfüllten. Ich war weiter ich, aber gleichzeitig auch eine andere - das Mädchen, in dessen Körper ich schon einmal gewesen war. Meine Umgebung hatte sich verändert. Ich war noch immer in der Kammer, aber über den feuchten Stein und die Wände krochen kleine, dunkle Dinge, die ich nicht genau erkennen konnte. Ein weißer Stoff wie Seide umgab meinen (meinen?) Körper, und hinter dem wehenden weißen Vorhang bewegte sich etwas Gewaltiges, Dunkles. Bizarre Laute drangen an mein Ohr, dann hörte ich meine eigene Stimme Worte sprechen, die nicht von mir stammten.

»Geht weg«, keuchte ich. »Geht... doch ... weg. Ich ... Charles. Charles, hilf mir. Ich ...«

Der weiße Schleier zerriß. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte ich das Wesen in aller Deutlichkeit erkennen.

Howard und Rowlf fingen mich auf, als ich das Bewußtsein verlor.


Ich konnte nicht sehr lange bewußtlos gewesen sein. Auf meiner Zunge lag ein übler Geschmack, als ich erwachte. Rowlfs mächtige Pranken stützten mich, und Howard kniete vor mir und fächelte mir mit einem Taschentuch frische Luft ins Gesicht.

»Nun?« fragte er. »Alles wieder in Ordnung?«

Das Lächeln auf seinen Zügen war falsch und vermochte die Sorge, die er empfand, nicht zu überspielen. Auf seiner Stirn perlte Schweiß, obwohl es hier drinnen dunkel und kalt wie in einem Grab war.

»Nein«, knurrte ich. »Ich mag es nämlich nicht, wenn ich ohne mein Wissen hypnotisiert werde.«

Howard lächelte flüchtig. »Es war keine Hypnose«, sagte er.

Ich ignorierte seine Antwort. »Hast du wenigstens erfahren, was du wissen wolltest?« fragte ich scharf.

»Nein«, entgegnete Howard. Er seufzte, richtete sich auf und half mir, ebenfalls auf die Füße zu kommen. Automatisch wanderte mein Blick zur Tür. Draußen war es dunkel geworden. Von der felsigen Ebene war nicht mehr als ein vager Schatten geblieben, über dem sich ein gewaltiger, sternenübersäter Himmel spannte. Der Blick reichte unglaublich weit.

»Es ist noch Zeit«, sagte Howard hastig, als er meinen Blick bemerkte, »aber nicht mehr viel. Erinnerst du dich an das, was du gesehen hast?«

Ich schwieg einen Moment, schüttelte den Kopf und sah ihn hilflos an. In meinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Ich vermochte nicht zu unterscheiden, was Wirklichkeit, was Erinnerung und was schlichtweg Einbildung war.

»Du hast ein paarmal einen Namen gerufen«, sagte Howard vorsichtig. »Jenny ... erinnerst du dich?«

Jenny ... Das Wort ließ irgend etwas in mir klingen, aber es war wie die Erinnerung an einen Traum, der nur noch in Bruchstücken vorhanden ist. Und doch ...

»Sie ist ... in Gefahr«, murmelte ich.

In Howards Augen blitzte es auf. »In Gefahr?« wiederholte er. »Wer ist sie? Wo ist sie?«

»Wir müssen ihr helfen«, wiederholte ich. Die Worte kamen schleppend, langsam - und ohne mein Zutun. Langsam, und ohne wirklich zu wissen, warum, drehte ich mich von der Tür weg und deutete auf die halb eingebrochene Treppe, die zur Galerie hinaufführte.

»Sie ist ... dort«, murmelte ich. »Dort oben. Wir ... müssen ihr helfen.«

Howard tauschte einen raschen, undeutbaren Blick mit Rowlf, runzelte die Stirn und trat auf mich zu, aber ich drückte seine Hand beiseite und setzte mich, stockend und mit abgehackten, mühsamen Schritten, in Bewegung. »Robert!« sagte Howard erschrocken. »Was hast du vor?«

Ich antwortete nicht. Es war wie die Male zuvor: Das Wissen war einfach in mir, ohne den geringsten Zweifel - ich wußte einfach, daß Jenny dort oben war, und daß es wichtig war, sie zu retten, nicht nur für sie, sondern für uns alle und vielleicht für die ganze Welt.

Am Fuße der Treppe blieb ich stehen. Von den breiten, in einem sanft geschwungenen, weit ausladenden Bogen nach oben führenden Marmorstufen war nur noch ein Skelett geblieben, aber für einen geschickten Kletterer - der ich war - mußte es möglich sein, trotzdem nach oben zu gelangen.

Howard und Rowlf waren mir gefolgt, blieben aber gehorsam zurück, als ich eine abwehrende Bewegung mit der Linken machte. »Bleibt hier«, murmelte ich. »Ich weiß nicht, ob das Ding das Gewicht von zwei Männern trägt.«

Genaugenommen wußte ich noch nicht einmal, ob es das Gewicht eines Mannes tragen würde. Ich zögerte noch einen Moment, streckte die Hand nach dem zerfallenen Rest des Geländers aus und setzte mit klopfendem Herzen den Fuß auf die unterste Stufe.

Die gesamte Treppe bebte unter meinem Gewicht, als ich hinaufzusteigen begann. Kleinere Steine und Kalk lösten sich aus dem zerborstenen Steinskelett und rieselten zu Boden, und als ich die Hälfte hinter mir hatte, brach ein mannsgroßes Stück aus den geborstenen Marmorstufen und donnerte zu Boden. Ich blieb stehen, erstarrte für einen Moment und ging erst nach Sekunden weiter. Mein Herz raste. Ich war in Schweiß gebadet, und die Angst wurde langsam übermächtig. Ein einziger Fehltritt, eine einzige Stufe, die meinem Gewicht nicht mehr gewachsen war, und es war aus. Aber ich konnte nicht umkehren. Die lautlose Stimme in meinem Inneren trieb mich weiter. Ich mußte dort hinauf, ganz egal, wie.

Stunden schienen vergangen zu sein, ehe ich die Galerie erreichte. Ich blieb stehen, wartete, bis mein Herz aufgehört hatte, bis zum Zerspringen zu schlagen, und drehte mich langsam herum. Howard und Rowlf standen noch immer am Fuß der Treppe, aber sie waren ein Stück zurückgewichen, um nicht von einem herabstürzenden Trümmerstück getroffen zu werden.

»Ihr könnt kommen«, sagte ich. »Aber seid vorsichtig. Die Treppe ist verdammt unsicher.«

Howard und Rowlf wechselten ein paar Worte miteinander, die ich nicht verstand, dann ging Rowlf langsam los. Die gesamte Treppe schien in ihren Grundfesten zu erzittern, als er die ersten Stufen hinaufging.

Er kam nicht sehr weit. Ein tiefes, mahlendes Stöhnen lief durch das Skelett der Treppe. Kopfgroße Steinbrocken lösten sich und zersprangen mit peitschendem Knall auf dem Marmorfußboden, dann kippte ein drei Meter langes Stück des Geländers nach innen und stürzte herab. Rowlf schrie erschrocken auf, warf sich mit einer verzweifelten Bewegung nach hinten und wich dem tödlichen Steinregen im letzten Augenblick aus. Die Treppe bebte weiter. Mehr und mehr Brocken lösten sich, ganze Stufen kippten nach vorne und verschwanden donnernd in der Tiefe, dann entstand, weniger als eine Handbreit vor meinen Füßen, ein langer, gezackter Riß.

Hastig sprang ich zurück. Die Galerie bebte und zitterte so heftig, daß ich für einen Moment fürchtete, mit in die Tiefe gerissen zu werden und hastig weiter zurücksprang. Ein ungeheures Krachen und Bersten erfüllte das Haus. Plötzlich war alles voller Staub und stürzenden Steinen. Das Haus erzitterte wie unter dem Fausthieb eines Giganten. Ich hörte Howard schreien, dann stürzten noch mehr Steine zu Boden, und ein Teil der Galerie folgte der zusammenbrechenden Treppe in die Tiefe. Erst nach einer Ewigkeit hörte es auf.

Minuten vergingen, bis sich der Staub so weit gelegt hatte, daß ich wieder sehen konnte. Vorsichtig löste ich mich von meinem Platz, trat dicht an den zerborstenen Rand der Galerie heran und ließ mich auf die Knie nieder. Die Luft in der Halle war noch immer voller Staub, und unter mir türmte sich ein gewaltiger Berg aus Trümmern und zerborstenen Marmorstufen. Die Treppe existierte nicht mehr.

»Robert! Bist du okay?«

Es dauerte einen Moment, ehe ich Rowlf und Howard in all dem Staub erkannte. Sie schienen unverletzt zu sein, waren aber bis ans gegenüberliegende Ende der Halle zurückgewichen und husteten ununterbrochen.

»Ich bin unverletzt!« schrie ich zurück.

»Dann bleib, wo du bist!« antwortete Howard. »Wir suchen einen anderen Weg, um hinaufzukommen.«

Ich überlegte einen Augenblick. Der Gedanke, allein weiterzugehen, gefiel mir nicht sonderlich. Aber ich mußte. Die Zeit lief unbarmherzig ab.

Langsam richtete ich mich auf, klopfte mir den ärgsten Staub aus den Kleidern und sah mich unschlüssig um. Es war fast ein Dutzend Türen, die von der Galerie abzweigten. Die meisten waren verschlossen, nur eine oder zwei standen auf und gaben den Blick auf die darunterliegenden, verwüsteten Räume frei. Die steinerne Galerie begann unter meinen Füßen zu beben, als ich mich in Bewegung setzte.

»Robert! Verdammt noch mal, was tust du?« Howards Stimme überschlug sich fast vor Schrecken. »Bleib, wo du bist! Es ist zu gefährlich!«

Ich ignorierte ihn. Das Wispern und Flüstern in meinem Inneren war verstummt, aber ich wußte einfach, welche Tür die richtige war. Vorsichtig ging ich weiter. Meine Hand kroch unbewußt zum Gürtel und legte sich um den versilberten Knauf des Stockdegens, den ich aus der Bibliothek gerettet hatte.

»Verdammt, Robert - bleib stehen!« schrie Howard. »Du weißt nicht, worauf du dich einläßt!«

Aber selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich nicht stehenbleiben können. Es war die letzte Tür, ganz am Ende der Galerie, und meine Beine schienen sich fast ohne mein Zutun zu bewegen. Langsam streckte ich die Hand aus, zögerte einen unmerklichen Moment und berührte die bronzierte Klinke.

Das Metall war eisig. Wieder zögerte ich einen Moment, dann drückte ich die Klinke herunter, stemmte mich mit der Schulter gegen die Tür und drückte sie langsam nach innen.

Ein Hauch eisiger Luft und Modergeruch schlugen mir entgegen, wispernde, huschende Geräusche wie von winzigen Füßchen, die über feuchten Stein und Erde huschten, und dunkelgrüner, flackernder Lichtschein. Hinter der Tür lag kein Zimmer, sondern ein dunkler, gewölbter Gang mit niedriger Decke, dessen Wände sich irgendwo in unbestimmbarer Entfernung verloren. Das grüne Licht machte es unmöglich, Entfernungen zu schätzen, aber es mußten hundert oder mehr Yards sein - viel mehr, als das Haus überhaupt groß war.

Aber in diesem Haus war ja nichts normal.

Ich zögerte einen Moment, trat dann mit einem entschlossenen Schritt in den Gang und zog die Tür hinter mir zu. Howards Stimme verklang, als das altersschwache Schloß einrastete.

Stille hüllte mich ein. Das Wispern und Huschen verklang, und von einem Augenblick auf den anderen war es so ruhig, daß ich mir einbildete, das Klopfen meines eigenen Herzens zu hören. Die Wände waren feucht. Moder und weißlicher Schimmelpilz nisteten in Ritzen und Fugen, und in dem sanften Windzug, der mir ins Gesicht fächelte, bewegten sich staubige Spinnweben unter der Decke. Die Luft war so trocken, daß ich nur noch mit Mühe ein Husten unterdrücken konnte.

Nach einer Weile begann sich meine Umgebung zu verändern. Die rohen, lieblos aufeinandergesetzten Steinquader, die bisher die Wände des Stollens gebildet hatten, machten nackter Erde Platz, braunem Lehm und schwarzen, wie verbrannt wirkenden Flächen, die nur noch durch ihr eigenes Gewicht und den Druck, der auf ihnen lastete, zusammengehalten wurden. Ich glaubte, das Gewicht der Fels- und Erdmassen, die sich über meinem Kopf türmten, körperlich zu spüren. Dieser Gang gehörte längst nicht mehr zu dem Haus in Schottland, in dem wir gewesen waren. Ich wußte nicht wie, und ich wollte es auch gar nicht verstehen, aber ich war in eine fremde, vollkommen andere Welt geraten, im gleichen Augenblick, in dem ich die Tür durchschritten hatte.

Eine Treppe tauchte vor mir auf. Die Stufen waren schräg und unterschiedlich hoch und breit; das Gehen war schwierig und erforderte meine ganze Konzentration. In den Wänden waren Bilder: verschlungene, sinnverwirrende Linien und Formen, Dinge, die Übelkeit und Schwindel erregten, wenn man zu lange hinsah. Die Winkel der Wände waren falsch, aber ich vermochte nicht zu sagen, wieso. Der Boden fiel, auch nachdem ich die Treppe hinabgestiegen war, weiter steil ab, so daß ich mit weit ausgebreiteten Armen und vorsichtig gehen mußte. Trotzdem hatte ich das Gefühl, mich einen steil ansteigenden Hang hinaufzukämpfen.

Ich weiß nicht, wie lange ich mich durch diese bizarre, unmenschliche Welt tastete. Vermutlich waren es nur wenige Minuten, aber es kam mir vor wie Stunden.

Schließlich hörte ich Geräusche und blieb stehen. Es waren keine Stimmen oder Schritte, sondern ein dumpfes, mehr zu fühlendes als wirklich zu hörendes Pochen und Hämmern, ein Laut, wie das mühsame Schlagen eines gewaltigen, großen Herzens. Dazwischen glaubte ich wieder dieses Rasseln und Schiern zu hören, das ich schon oben am Eingang vernommen hatte, nur deutlicher diesmal.

Mißtrauisch sah ich mich um. Der Stollen schien sich um mich herum zu bewegen, aber dieser Eindruck war falsch und kam nur von der bizarren, dem menschlichen Geist nicht zugänglichen Geometrie der Wände. Ich schloß für einen Moment die Augen, versuchte, das bedrückende Gefühl abzuschütteln und ging weiter.

Vor mir war eine Tür. Das Türblatt selbst war zersplittert, in den rostigen Angeln hingen nur noch Reste der Bretter, die von einer ungeheuren Gewalt zermalmt worden waren. Und die Geräusche kamen aus dem Raum dahinter.

Vorsichtig näherte ich mich der Tür, blieb für die Dauer eines Herzschlages stehen und ging auf Zehenspitzen weiter.

Der Anblick ließ mich aufstöhnen.

Ich erkannte den Raum sofort wieder. Es war die Kammer, die ich in meiner Vision gesehen hatte: ein finsteres, großes Gewölbe mit feuchten Wänden, erfüllt von graugrünem, flackerndem Licht. Etwas Gewaltiges, Schwarzes stand im Hintergrund des Raumes, eine tentakelbewehrte Scheußlichkeit, die sich dem direkten Blick immer wieder zu entziehen schien, als wäre sie hinter einem Vorhang aus Schwärze und huschenden Schatten verborgen.

Das Ungeheuer aus meiner Vision!

Aber es war nicht allein. Neben ihm stand ein hochgewachsener, braunhaariger Mann. Seine Haut war von unzähligen, winzigen blutenden Kratzern übersät. Auf dem Boden vor ihm bewegte sich eine schwarze, wimmernde Masse ...

Spinnen!

Ein eisiger Schauer jagte meinen Rücken herab. Es waren Spinnen, Hunderte, wenn nicht Tausende von faustgroßen, mit schwarzem, drahtigem Haar bedeckte Spinnen, die auf geschäftigen Füßchen hin und her huschten, die Decke und die Wände hinauf- und herabliefen und ein gewaltiges Zelt aus weißer Spinnseide schufen, einen drei, vielleicht vier Yard messenden Kokon, in dessen Innerem sich ein dunkler Umriß bewegte.

Sekundenlang stand ich wie gelähmt da und starrte das grausige Bild an. Weder das Ungeheuer noch der Mann hatten bisher von meiner Anwesenheit Notiz genommen, sondern konzentrierten sich völlig auf die Spinnen und ihr geschäftiges Tun.

Für einen Augenblick war ich unaufmerksam; und um ein Haar hätte mich dieser Moment das Leben gekostet!

Ich hörte die Schritte im letzten Moment, aber meine Reaktion kam zu spät. Ein harter Tritt traf meine Kniekehle und ließ mich zusammenbrechen, gleichzeitig schlang sich ein Arm von hinten um meinen Hals und drückte zu.

Ich schrie auf, stemmte mich instinktiv gegen den Druck und drehte gleichzeitig den Körper zur Seite, so weit es der mörderische Griff des anderen zuließ. Gleichzeitig rammte ich dem Mann den Ellbogen in den Leib, so hart ich konnte. Im ersten Moment schien es, als würde der Bursche den Schlag ohne spürbare Reaktion hinnehmen, aber dann merkte ich, wie sich sein Griff lockerte. Ein leises Stöhnen drang an mein Ohr.

Ich schlug noch einmal zu, machte gleichzeitig einen halben Schritt zurück und warf mich dann mit aller Kraft vor. Der Mann wurde nach vorne gerissen, segelte über meinen gekrümmten Rücken hinweg und schlug auf dem steinernen Boden auf.

Aber er kam fast schneller wieder auf die Füße, als er gestürzt war. Mit einer ungeheuer flinken, quirlenden Bewegung sprang er hoch, stieß ein wütendes Fauchen aus und drang mit wirbelnden Fäusten erneut auf mich ein. Mir blieb kaum Zeit, mich von meinem Schrecken zu erholen und auf seinen neuerlichen Angriff vorzubereiten.

Es war Carradine. Wir hatten bei allem, was geschehen war, Boldwinns verkrüppelten Diener glattweg vergessen, aber ich erkannte die kleine, irgendwie verschrobene Gestalt sofort wieder.

Und wenn er auch verkrüppelt war, so war er doch erstaunlich kräftig. Allein mit der Wucht seines ungestümen Angriffes trieb er mich zurück. Ich taumelte, prallte gegen den Türrahmen und riß schützend die Arme hoch, um mein Gesicht vor seinen gnadenlosen Schlägen zu schützen. Seine Hiebe kamen so schnell hintereinander, daß ich nicht einmal eine Chance hatte, sie abzuwehren oder gar zurückzuschlagen.

»Carradine!« dröhnte eine Stimme. »Töten Sie ihn!«

Für einen winzigen Moment war er abgelenkt. Und ich nutzte meine Chance!

Blitzschnell trat ich einen Schritt zur Seite, schlug seine Faust weg und versetzte ihm einen Hieb genau auf die Kinnspitze.

Carradine taumelte. Seine Augen wurden glasig. Einen Moment lang stand er reglos da, dann kippte er, ganz langsam, als leiste irgend etwas in ihm immer noch Widerstand, zur Seite und blieb reglos liegen.

Aber meine Lage war aussichtsloser als zuvor!

Der zweite Mann und das Monster waren herumgefahren, und die wenigen Augenblicke, die mich Carradine abgelenkt hatte, hatten ihnen gereicht. Ich war in die Enge getrieben, und eine Gegenwehr war sinnlos. »Craven!« keuchte der Mann. Ich kannte ihn nicht, aber er schien mich sehr genau zu kennen. Sein Blick sprühte vor Haß.

Irgendwie wirkte er bedrohlich, auf eine schwer in Worte zu fassende Art.

Eine Sekunde lang starrte ich ihn an. Er hielt meinem Blick gelassen stand, lächelte schließlich sogar und kam einen Schritt näher.

Und genau darauf hatte ich gewartet. Blitzschnell fuhr ich herum, trat ihm vors Knie und versetzte ihm einen Stoß, der ihn haltlos zurücktaumeln ließ. Gleichzeitig wirbelte ich herum und versuchte mit einem verzweifelten Satz, die Tür zu erreichen.

Aber das schwarze Ungeheuer war schneller. Zwei, drei seiner schwarzen Schlangenarme peitschten in meine Richtung, wanden sich wie dünne, schleimige Vipern um meine Arme und rissen mich mit einer brutalen Bewegung herum.

Ich schrie auf. Meine Haut brannte wie Feuer, wo sie von der des Ungeheuers berührt wurde. Ein betäubender Schmerz peitschte durch meine Arme, explodierte in meinen Schultern und lähmte meinen Körper. Der Kellerraum schien vor meinen Blicken zu verschwimmen. Das Ungeheuer ragte wie ein gewaltiger, verzerrter Schatten über mir auf. Seine Arme hatten sich von meinen Handgelenken gelöst, aber ich war trotzdem unfähig, mich zu rühren.

»Sie werden sterben, Craven«, sagte der Mann. »Sie hätten nicht hierher kommen sollen.« Er sprach ganz ruhig, beinahe tonlos. Und trotzdem traf mich jedes seiner Worte wie ein Hieb. Ich versuchte mich zu bewegen, aber es ging nicht.

Zitternd kam das Ungeheuer näher. Die blutigen Schleier vor meinen Augen lichteten sich, aber ich vermochte seinen Körper trotzdem nicht viel klarer zu erkennen als bisher. Sein Leib war riesig, viel größer als der eines Menschen und massig wie ein Bär. Dutzende von peitschenden, ineinander verwundener Tentakeln wuchsen aus seinen Schultern, und sein Kopf wurde fast zur Gänze von einem einzigen, blutrot leuchtenden Auge eingenommen. Seine Tentakeln bewegten sich zitternd vor meinem Gesicht auf und ab, aber irgend etwas schien es noch davon abzuhalten, mich zu berühren.

Dafür geschah etwas anderes. Eine Anzahl der Spinnen, die bisher keinerlei Notiz von mir genommen hatten, löste sich aus der wimmelnden Masse und huschte auf wirbelnden Beinen auf mich zu, berührten vorsichtig meine Schuhe und meine Hosenbeine - und begannen mich einzuspinnen!

Mein Blick suchte den glänzenden, weißen Kokon in der Ecke. Und plötzlich wußte ich, was der dunkle Umriß hinter der schimmernden Spinnseide zu bedeuten hatte. Es war der Körper eines Menschen.

Jennys Körper!

Mit einem gellenden Schrei erwachte ich aus meiner Erstarrung, schleuderte die Spinnen davon und taumelte zurück. Das Ungeheuer stieß ein wütendes Zischen aus und schlug mit seinen Tentakeln nach mir. Ich duckte mich, zerrte mit einer verzweifelten Bewegung meinen Stockdegen aus dem Gürtel und schlug nach ihnen, aber der geschliffene Stahl prallte von der zähen Haut der Bestie ab. Das wütende Zischen des Monstrums verstärkte sich. Ich sah, daß aus den Enden seiner Schlangenarme dünne, nadelscharf auslaufende Horndolche wuchsen. An ihren Enden glitzerten Tropfen einer farblosen Flüssigkeit.

»Widerstand ist sinnlos, Craven«, sagte der Mann. »Sie hätten nicht kommen sollen. Sie können den Meister nicht besiegen. Niemand kann das. Ihr Erscheinen wird alles nur noch beschleunigen. Jetzt hat er die Lebenskraft von zwei Menschen, um das Tor zu öffnen.«

Das Tor?

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff.

Bis ich begriff, daß ich einem der GROSSEN ALTEN selbst gegenüberstand ...

»Nein«, murmelte ich. »Das ...«

Der Mann lachte. »Doch, Craven. Sie selbst werden es sein, der den Untergang Ihrer lächerlichen Welt beschleunigt. Aber es hätte nichts geändert, wenn Sie nicht gekommen wären. So geht es nur schneller.«

Das Monster kam näher. Seine Tentakel peitschten, öffneten sich wie zu einer schwerfälligen, tödlichen Umarmung ...

Irgendwo hinter ihm bewegte sich etwas. Es war Carradine, der mühsam wieder auf die Füße kam und sich aus verschleierten Augen umsah. Er war noch immer benommen und schien Mühe zu haben, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden. Verwirrt blickte er erst mich an, dann das Ungeheuer und schließlich den jungen Mann.

»Charles?« murmelte er. »Du ...?«

»Charles? Sie sind Charles? Der Mann, dessen Namen Jenny gerufen hat?«

Für den Bruchteil eines Augenblickes wirkte Charles verunsichert. Ein sonderbarer Ausdruck blitzte in seinen Augen auf, eine Mischung aus Unglauben und Schrecken. Aber nur für einen kurzen Moment. Dann verschleierte sich sein Blick wieder.

»Jenny ...« murmelte Carradine. »Wo ... ist sie.« Plötzlich begann seine Stimme zu beben. »Was hast du mit ihr gemacht?«

»Halten Sie den Mund, Carradine«, sagte Charles verärgert. »Sie ...«

Carradine sprang mit einem Schrei vor, packte Charles an den Schultern und versuchte ihn zu schütteln, aber Charles versetzte ihm einen Stoß vor die Brust, der ihn zurücktaumeln ließ. Carradine stolperte, verlor das Gleichgewicht - und stürzte mit einem Schrei durch den glitzernden Vorhang aus Spinnenseide.

Dahinter kam ein reglos ausgestreckter, fast zur Gänze in glänzendes, weißes Gewebe eingesponnener Kokon zum Vorschein. Der Körper eines jungen Mädchens ...

Carradines Schrei hatte nichts Menschliches mehr. Der Anblick schien den hypnotischen Bann, der sich um seinen Geist gelegt hatte, vollends zu zerbrechen. Seine Finger zerrten an dem weißen Kokon, der den Körper umgab, zerrissen das empfindliche Gewebe.

»Carradine!« Charles' Stimme überschlug sich fast. »Hören Sie auf!«

Carradine reagierte nicht. Wie ein Tobsüchtiger zerrte und riß er an dem Spinngewebe, zerfetzte in Sekunden den Kokon, an dem die Tiere stundenlang gearbeitet haben mußten.

»Hören Sie auf!« schrie Charles. »Sie machen alles zunichte, Sie Narr!« Er stürzte vor, brach rücksichtslos durch den Vorhang aus Spinnseide und versuchte, Carradine zurückzuzerren.

Carradine wirbelte herum. Sein verunstaltetes Gesicht zuckte vor Schmerz und Grauen. Mit einer blitzschnellen, kraftvollen Bewegung zuckten seine Hände vor, krallten sich um Charles' Kehle und drückten zu. Charles keuchte. Verzweifelt warf er sich zurück, zerrte einen Moment an Carradines Handgelenken und begann mit den Fäusten auf sein Gesicht einzuschlagen. Ich sah, wie Carradines Körper unter den Schlägen erzitterte. Seine Augenbrauen und Lippen platzten auf, Blut floß über sein Gesicht und verwandelte es in eine furchteinflößende Fratze.

Aber Angst und Verzweiflung schienen Carradine übermenschliche Kräfte zu geben. Seine Hände krallten sich nur noch fester um Charles' Kehle und drückten fest zu. Allmählich begannen Charles' Schläge an Kraft zu verlieren.

Der GROSSE ALTE stieß ein fast klägliches Zischen aus. Seine Tentakel peitschten. Der Blick seines einzigen, flammendroten Auges wanderte unentschlossen zwischen mir und den Kämpfenden hin und her. Ich spürte, wie das Band aus magischer Energie, das sich zwischen ihm und dem hilflos daliegenden Mädchen gespannt hatte, dünner wurde und nahezu zerriß. Und ich spürte auch, daß das Ungeheuer für einen Moment abgelenkt und verwirrt war.

Mit einer entschlossenen Bewegung riß ich meinen Degen hoch, umklammerte ihn mit beiden Händen und stieß mit aller Macht zu. Das Ungeheuer wirbelte herum. Seine Tentakeln peitschten nach meinem Gesicht.

Der Schmerz war unbeschreiblich. Ein weißglühender Dolch schien sich rief in meinen Schädel zu bohren. Ich schrie, taumelte, von der Wucht meiner eigenen Bewegung nach vorne gerissen, weiter auf das Monster zu. Der Degen blitzte auf, zuckte auf das lidlose Auge des Ungeheuers herab - und bohrte sich bis zum Griff hinein!

Das Ungeheuer begann zu schreien, hoch, spitz und schrill wie ein verwundetes Tier. Seine Tentakeln schlugen in irrsinniger Raserei, aber die Hiebe waren nicht mehr gezielt und nur noch ein Ausdruck seines Schmerzes. Sein Körper begann zu zucken und beben. Das flammende Auge war erloschen. Schwärzliche, zähe Flüssigkeit sickerte aus dem zerfransten Loch, das einmal sein Auge gewesen war.

Aber davon bemerkte ich kaum noch etwas. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit verlor ich das Bewußtsein.


Ich war nicht mehr allein, als ich erwachte. Sonnenschein kitzelte mein Gesicht, und irgendwo in meiner Nähe waren Stimmen; Stimmen, die sich gedämpft unterhielten, ohne daß ich die Worte verstanden hätte. Ich versuchte die Augen zu öffnen, blinzelte und preßte erschrocken die Lider wieder zusammen, als grelles Sonnenlicht wie eine dünne Nadel in meine Augen stach. In meinem Kopf nistete ein dumpfer, pochender Schmerz.

»Er kommt zu sich.«

Es dauerte einen Moment, bis ich die Stimme erkannte. Und es dauerte noch länger, bis mir klar wurde, daß ich nicht mehr in der unterirdischen Höhle war. Ich lag auf einer weichen, kühlen Unterlage, und von irgendwoher kam ein wohltuender kühler Hauch.

Zum zweiten Mal öffnete ich die Augen, und diesmal gelang es mir, sie offen zu halten.

Ich lag auf einem Bett in einem kleinen, behaglich eingerichteten Zimmer. Das Fenster stand weit offen und ließ das Licht der Morgensonne und den Gesang von Vögeln herein.

Howard saß neben mir auf der Bettkante. »Nun?« fragte er leise. »Wieder unter den Lebenden?«

»Unter den ...« Ich versuchte mich aufzurichten, aber Howard stieß mich kurzerhand in die Kissen zurück. »Was ... ist passiert?« fragte ich stockend.

Howards Lächeln erlosch schlagartig. »Das hätte ich gerne von dir erfahren«, sagte er. »Du erinnerst dich nicht?«

Einen Moment lang versuchte ich es, aber hinter meiner Stirn wirbelten die Gedanken durcheinander. »Die Höhle«, murmelte ich. »Wo ist ...«

»Höhle?« Howard runzelte die Stirn. »Was für eine Höhle? Wir haben dich hier gefunden«, sagte er mit einer Geste, die das ganze Zimmer einschloß. »Du hast geschrien und wie ein Wilder um dich geschlagen. Was ist bloß passiert?«

Ich antwortete nicht gleich. Der Schmerz hinter meiner Stirn sank langsam zu einem dumpfen, mehr störenden als wirklich schmerzhaften Pochen herab, und im gleichen Maße, in dem er nachließ, kehrten meine Erinnerungen zurück.

Rowlf erschien neben dem Bett und reichte mir schweigend ein Glas. Ich sah, wie sein Blick flackerte, als er in mein Gesicht sah, schenkte dem aber keine Beachtung. »Ich war in einer Art... Höhle«, murmelte ich nach einem ersten, fast gierigen Zug. »Ich ... ich weiß, daß es sich verrückt anhört, aber ...«

Howard lächelte. »Nach allem, was passiert ist, hört sich wohl nichts mehr verrückt an, fürchte ich.«

»Nach allem, was ...« Ich erschrak. »Wo sind wir? Was ist mit...«

Howard drückte mich erneut mit sanfter Gewalt auf das Bett zurück. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Wir sind wieder in der Gegenwart. Es hat aufgehört, kurz nachdem du verschwunden warst.«

»Aber wieso?«

»Ich hatte gehofft, die Antwort darauf von dir zu bekommen«, murmelte Howard. »Ich weiß nicht, was geschah - es hat einfach aufgehört.« Er schnippte mit den Fingern. »Einfach so.«

»Einfach ...« Um ein Haar hätte ich gelacht. »Wenn das einfach war ...« Ich seufzte, trank einen weiteren Schluck und begann zu erzählen. Howard hörte mir schweigend zu, ohne mich ein einziges Mal zu unterbrechen, aber der Ausdruck auf seinen Zügen verdüsterte sich mit jedem Wort, das er hörte.

»Das ist alles«, sagte ich, als ich zu Ende berichtet hatte. »Ich verlor das Bewußtsein. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist dieses Zimmer. Ich ... ich habe keine Ahnung, wo die Höhle geblieben ist, und der ...«

»Der GROSSE ALTE«, sagte er, als ich nicht weitersprach. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber seine Stimme bebte vor unterdrückter Furcht. »Sprich es ruhig aus. Du weißt es doch sowieso.«

»Ich ... habe es befürchtet«, flüsterte ich. Selbst die Erinnerung an das scheußliche Monster ließ etwas in mir sich zusammenkrampfen.

»Du warst in ihrer Welt«, murmelte Howard. »Es war ein Teil ihrer Welt, den du gesehen hast. Und dieses Mädchen ...«

»Jenny.«

Howard nickte traurig. »Nach allem, was du erzählt hast, fürchte ich, daß sie nicht mehr am Leben sein wird.«

Ich antwortete nicht. Ich hatte sie niemals wirklich zu Gesicht bekommen und kannte eigentlich nicht mehr als ihren Namen. Und trotzdem erschreckte mich der Gedanke zutiefst.

Howard schien das zu spüren. »Es ist besser für sie, wenn sie tot ist«, sagte er sanft. »Niemand überlebt es, mit dem Bewußtsein eines GROSSEN ALTEN verbunden zu sein. Und selbst wenn sie lebt, ist sie in ihrer Zeit gefangen. Du kannst nichts mehr für sie tun.« Er seufzte, schloß einen Moment die Augen und fuhr dann mit veränderter Stimme fort: »Das erklärt alles.«

»Was erklärt was?« fragte ich betont.

Howard sah mich erneut auf diese sonderbare Art an, schüttelte ein paarmal den Kopf und stand auf. Ich hörte ihn eine Zeitlang hinter mir hantieren, dann kam er zurück und setzte sich wieder auf die Bettkante. In den Händen hielt er einen Spiegel. »Sieh hinein«, sagte er.

Ich gehorchte.

Fast eine Minute lang saß ich da, starr vor Schrecken und zu nichts anderem fähig, als mein eigenes Spiegelbild anzustarren. Mein Gesicht wirkte eingefallen und müde. Auf meiner Wange war ein neuer, blutiger Kratzer, und darüber ...

Die Klaue des GROSSEN ALTEN hatte eine tiefe, bis auf den Knochen reichende Wunde in meine Stirn gerissen, ein Schnitt, der von der Augenbraue bis zum Haaransatz reichte.

Und dort, wo er endete, war eine fünf Zentimeter breite Strähne meines Haares schloßweiß geworden. Eine Strähne, die wie ein gezackter Blitz geformt war und bis zum Scheitel emporreichte ...

Schließlich, nach einer Ewigkeit, wie es mir vorkam, brach Howard das Schweigen. »Du hast mich niemals gefragt, wie dein Vater an seine Verletzung gekommen ist, Robert«, sagte er. »Ich hätte es dir sagen können.«

Mühsam löste ich den Blick vom Spiegel. Ich wußte die Antwort, aber plötzlich hatte ich Angst, sie laut zu hören. »Er hat...«

»Das gleiche getan wie du«, sagte Howard. »Du hast uns alle gerettet, Junge«, murmelte er. »Aber ich will dir nichts vormachen. Früher oder später würdest du es sowieso erfahren. Du hast einen der GROSSEN ALTEN getötet, genau wie dein Vater. Und du weißt, was das bedeutet.«

Ich wußte es.

Natürlich wußte ich es. Ich hatte es gewußt, im gleichen Moment, in dem ich mein Spiegelbild sah, die Strähne schlohweißen Haares, die mich endgültig zum Erben und Nachfolger meines Vaters machte, auch nach außen hin.

Er und ich, wir beide hatten einen der schrecklichen Dämonen aus der Vorzeit der Erde getötet. Und er und ich hatten das gleiche Schicksal. Seines hatte sich erfüllt, und das meine würde sich erfüllen. Irgendwann.

Ich hatte einen GROSSEN ALTEN getötet, und ich wußte, was das bedeutete. Sie würden mich jagen. Sie würden mich mit ihrer Rache verfolgen, bis ans Ende der Welt, wenn es sein mußte.

Und darüber hinaus.

Загрузка...