TOLEDO 30. MÄRZ 1492
Ich werde mit Eleasar zum Fluß hinuntergehen, vielleicht fangen wir ja unser Abendessen. Was meinst du, Abba?«
»Bist du mit dem Polieren fertig?«
»Das meiste ist fertig.«
»Die Arbeit ist erst zu Ende, wenn alles fertig ist. Du mußt alle Stücke polieren«, sagte Helkias mit der freudlosen Stimme, die Jona immer verletzte. Manchmal wollte er seinem Vater in die leeren Augen starren und ihm sagen: Meir ist tot, aber Eleasar und ich sind noch da. Wir leben.
Jona haßte das Silberpolieren. Ein halbes Dutzend großer Stücke wartete noch auf ihn, und er tauchte seinen Lumpen in die stinkende Paste, eine dicke Mischung aus pulverisiertem Vogelkot und Urin, und rieb und rieb.
Den Geschmack des Leids hatte er früh kennengelernt, beim Tod seiner Mutter, und es war sehr schwer für ihn gewesen, als Meir ermordet wurde, denn da war er schon älter gewesen, fast dreizehn Jahre, und begriff die Endgültigkeit des Verlustes besser. Nur wenige Monate nach Meirs Tod hatte man Jona zur Tora gerufen, damit er das Gesetz vorlese und ein vollgültiges Mitglied des Minjan werde. Das Unglück hatte ihn vor der Zeit reifen lassen. Sein Vater, der ihm immer so groß und stark erschienen war, verzehrte sich derweil noch immer, und Jona wußte nicht, wie er die Lücke füllen sollte, die Helkias' Kummer gerissen hatte.
Sie wußten nicht, wer die Mörder seines Bruders waren. Einige Wochen nach Meirs Tod hatte Helkias Toledano erfahren, daß der Arzt Espina durch die Stadt streife und Erkundigungen über den Vorfall einziehe, der seinen Sohn das Leben gekostet hatte. Helkias war mit Jona aufgebrochen, um Espina zu besuchen und mit ihm zu reden, doch als sie sein Haus erreichten, sahen sie, daß es verlassen war und Juan Pablo, Espinas ehemaliger Diener, von der verbliebenen Einrichtung wegschleppte, was er gebrauchen konnte, einen Tisch und einige Stühle. Juan Pablo sagte ihnen, der Arzt und seine Familie seien weggezogen.
»Wohin sind sie gegangen?«
Der Mann hatte nur den Kopf geschüttelt. »Ich weiß es nicht.«
Helkias war zur Abtei zur Himmelfahrt Mariä gegangen, um mit Padre Sebastian Alvarez zu sprechen, doch bei seiner Ankunft dachte er im ersten Augenblick verwirrt, er wäre unterwegs irgendwo falsch abgebogen. Innerhalb der Mauern standen eine Reihe Wagen und Karren. Daneben stampften drei Frauen in einem großen Faß rote Trauben. Durch die geöffnete Tür der ehemaligen Kapelle sah Helkias Körbe mit Oliven und noch mehr Trauben.
Auf die Frage, wohin die Mönche denn gezogen seien, antwortete ihm eine der Frauen, die Abtei zur Himmelfahrt Mariä sei aufgelöst worden und der Hieronymiten-Orden habe das Grundstück an ihren Herrn verpachtet.
»Und was ist mit Padre Sebastian? Wo ist der Prior?« fragte er.
Die Frau hatte ihn nur angelächelt, den Kopf geschüttelt und die Achseln gezuckt, ohne im Stampfen innezuhalten.
Jona hatte sich die größte Mühe gegeben, die Pflichten des ältesten Sohnes zu übernehmen, aber ihm war klar, daß er seinen Bruder nie würde ersetzen können. Nicht als Lehrling des Silberschmiedehandwerks, nicht als Sohn, nicht als Bruder, in keiner Weise. Der erloschene Blick in den Augen seines Vaters machte seinen Kummer noch schlimmer. Obwohl seit Meirs Tod drei Pessach-Feste vergangen waren, waren Helkias' Haus und Werkstatt noch immer Orte der Trauer.
Einige der Stücke vor ihm waren besonders dunkel angelaufen, aber er sah keinen Grund zur Eile, denn sein Vater schien sich plötzlich an ihre Unterhaltung vor einer halben Stunde zu erinnern. »Du wirst nicht zum Fluß gehen. Suche Eleasar, und dann bleibt ihr mir beide in der Nähe des Hauses. In einer Zeit wie dieser dürfen sich jüdische Jungen keiner Gefahr aussetzen.«
Nach Meirs Tod hatte Jona die Verantwortung für Eleasar übernehmen müssen, der ein zarter und apfelwangiger siebenjähriger Knabe war. Er erzählte dem Jüngeren Geschichten über ihren älteren Bruder, damit er ihn nie vergessen würde, und manchmal zupfte er Melodien auf der kleinen maurischen Gitarre, die Meir gehört hatte, und die beiden sangen dazu. Er hatte Eleasar versprochen, ihm das Gitarrespielen beizubringen, so wie Meir es ihm beigebracht hatte. Und das wollte Eleasar auch jetzt tun, als Jona ihn beim Kriegspielen mit Steinen und Zweigen im Schatten des Hauses fand, doch Jona schüttelte den Kopf.
»Gehst du zum Fluß?« fragte Eleasar. »Soll ich mitkommen?«
»Es gibt noch Arbeit«, sagte Jona und ahmte dabei unbewußt seinen Vater nach. Dann nahm er den Kleinen mit in die Werkstatt. Die beiden saßen in einer Ecke und polierten Silber, als David Mendoza und Rabbi Jose Ortega in die Werkstatt kamen.
»Was gibt es Neues?« fragte Helkias, und Senor Mendoza schüttelte den Kopf. Er war ein kräftiger Mann mittleren Alters mit Zahnlücken und schlechter Haut. Von Beruf war er Baumeister.
»Nichts Gutes, Helkias. Wir können nicht mehr ungefährdet durch die Stadt gehen.«
Drei Monate zuvor hatte die Inquisition fünf Juden und sechs Konvertiten hinrichten lassen. Man hatte sie beschuldigt, vor elf
Jahren Hexerei betrieben zu haben, bei der sie angeblich eine gestohlene Hostie und das Herz eines zuvor gekreuzigten christlichen Jungen benutzt hatten, um alle guten Christen mit Wahnsinn zu belegen. Obwohl der Junge nie identifiziert werden konnte - kein christliches Kind war je als vermißt gemeldet worden! -, gestanden einige der Beschuldigten unter hochnotpeinlicher Befragung Einzelheiten des angeblichen Verbrechens, und alle waren auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, einschließlich der Abbildungen von weiteren drei der Verurteilten, die vor dem Autodafe gestorben waren. »Einige beten bereits zu dem >Märtyrer<-Kind. Ihr Haß verpestet die Luft«, sagte Mendoza bedrückt.
»Wir müssen Ihre Majestäten um Ihren fortdauernden Schutz anflehen«, sagte Rabbi Ortega. Der Rabbi war klein und mager, ein Kranz weißer Locken umrahmte seinen Kopf. So mancher schmunzelte, wenn er mit der großen und schweren Tora-Rolle durch die Synagoge schwankte, damit die Gemeindemitglieder sie küssen oder berühren konnten. Dennoch wurde er von fast allen hoch geachtet. Jetzt war Mendoza allerdings anderer Meinung als er. »Der König ist ebensosehr Mann wie König, fähig zu Freundschaft und Mitgefühl, aber die Königin Isabella hat sich in letzter Zeit gegen uns gewandt. Sie wurde in Abgeschiedenheit von Mönchen aufgezogen, die ihren Geist geformt haben. Tomas de Torquemada, der Generalinquisitor, möge er das Zeitliche segnen, war in Isabellas Kindheit ihr Beichtvater, und er hat großen Einfluß auf sie.« Mendoza schüttelte den Kopf. »Ich fürchte die Tage, die uns bevorstehen.«
»Wir müssen fest im Glauben sein, David, mein Freund«, entgegnete Rabbi Ortega. »Wir müssen in die Synagoge gehen und gemeinsam beten. Der Herr wird unser Rufen hören.«
Die beiden Jungen hielten im Polieren inne. Eleasar war erschrocken über die Anspannung in den Gesichtern der Erwachsenen und die unüberhörbare Furcht in ihren Stimmen.
»Was hat das zu bedeuten?« flüsterte er Jona zu.
»Später. Ich erklär dir das alles später«, flüsterte Jona zurück, obwohl er sich gar nicht sicher war, ob er wirklich verstand, worum es ging.
Am nächsten Morgen erschien ein bewaffneter Offizier auf dem Stadtplatz von Toledo. Er wurde begleitet von drei Herolden, zwei städtischen Beamten und zwei Männern des Vogts, die ebenfalls Waffen trugen, und er verlas eine Proklamation, die sämtliche Juden davon in Kenntnis setzte, daß sie trotz ihrer langen Geschichte in Spanien das Land binnen drei Monaten verlassen müßten. Bereits 1483 hatte die Königin alle Juden aus Andalusien vertrieben. Jetzt zwang man sie, jede Region des spanischen Königreichs zu verlassen - Kastilien, Leon, Aragon, Galicien, die baskischen Provinzen, Valencia, das Fürstentum Katalonien, das Lehen Vizcaya und die Inseln Sardinien, Sizilien, Mallorca und Menorca.
Das Edikt wurde an eine Wand genagelt. Rabbi Ortega schrieb es ab mit einer Hand, die so zitterte, daß er Schwierigkeiten hatte, einige Wörter zu entziffern, als er sie in einer eilends einberufenen Zusammenkunft des Rats der Dreißig vorlas.
»Allen Juden und Jüdinnen, gleich welchen Alters, die in unseren besagten Königreichen und Ländereien leben, wohnen oder verweilen... ist es bei Todesstrafe verboten, sich zu erdreisten, hierher oder in irgendeinen Teil des Reiches zurückzukehren, um sich hier aufzuhalten, sei es als Bewohner oder Reisende oder auf sonst eine Art... Und wir befehlen und verbieten jedem in unserem besagten Königreich, es zu wagen, öffentlich oder geheim einen Juden oder eine Jüdin aufzunehmen, ihnen Schutz oder Obdach zu gewähren oder ihn zu verteidigen ... bei Androhung des Verlustes von Grundbesitz, Vasallen, Schlössern und anderer Habe.«
Alle Christen wurden eindringlich davor gewarnt, falsches Mitgefühl walten zu lassen. Es wurde ihnen verboten, »mit Juden... Umgang zu pflegen oder sich zu unterhalten oder sie in ihren Häusern aufzunehmen, ihnen behilflich zu sein oder ihnen Nahrung irgendeiner Form für ihr leibliches Wohl zugeben«.
Die Verlautbarung war ausgegeben worden »auf Befehl des Königs und der Königin, unseren Herrschern, und des Hochwürdigen Priors von Santa Cruz, dem Generalinquisitor in allen Königreichen und Ländereien Ihrer Majestäten«.
Der Rat der Dreißig, der die Juden Toledos regierte, bestand aus je zehn Vertretern der drei Stände - angesehene städtische Führer, Kaufleute und Handwerker. Helkias gehörte dazu, weil er zu den Meistern der Silberschmiedekunst gehörte, und die Versammlung wurde in seinem Haus abgehalten.
Die Ratsmitglieder waren bestürzt.
»Wie kann man uns so kaltherzig aus einem Land vertreiben, das uns soviel bedeutet und an dem wir einen so wesentlichen Anteil haben?« fragte Rabbi Ortega stockend.
»Dieses Edikt ist nur wieder eine königliche List, um uns Geld abzupressen«, sagte Juda ben Salomo Avista. »Die spanischen Könige haben uns schon immer ihre ertragreiche Milchkuh genannt.«
Zustimmendes Gemurmel erhob sich. »Zwischen den Jahren 1482 und 1491«, sagte Joseph Lazara, ein betagter Mehlhändler aus Tembleque, »haben wir zu den Kriegsanstrengungen nicht weniger als achtundfünfzig Millionen Maravedi beigetragen, und noch einmal zwanzig Millionen in erzwungenen Krediten. Immer wieder hat sich die jüdische Gemeinschaft stark verschuldet, um irgendeine maßlose sogenannte Steuer zu bezahlen, oder, als Gegenleistung für unser Überleben, dem Thron ein >Geschenk< zu machen. Jetzt ist es wohl wieder einmal soweit.«
»Wir müssen uns an den König wenden und ihn um sein Eingreifen bitten«, sagte Helkias.
Die Räte besprachen, wer die Bitte vorbringen sollte, und man einigte sich schließlich auf Don Abraham Seneor.
»Er ist der jüdische Höfling, den Seine Majestät am meisten liebt und bewundert«, sagte Rabbi Ortega, und viele Köpfe nickten zustimmend.
Achtzig Jahre schon lebte Abraham Seneor, und obwohl sein Verstand frisch und scharf war, war sein Körper sehr müde. Sein Werdegang als Diener des Monarchen in schwierigen und gefährlichen Angelegenheiten hatte damit begonnen, daß er eine geheime Hochzeitszeremonie arrangierte, mit der am 19. Oktober 1469 Vetter und Base vereinigt wurden, nämlich die achtzehnjährige Isabella von Kastilien und der siebzehnjährige Ferdinand von Aragon. Die Hochzeit hatte heimlich stattfinden müssen, weil sie dem Willen des Königs, Heinrich IV. von Kastilien, widersprach. Heinrich hatte seine Halbschwester mit König Alfonso von Portugal vermählen wollen. Die Infantin hatte sich geweigert und Heinrich gebeten, sie als Thronerbin von Kastilien und Leon einzusetzen, wobei sie ihm versprach, nur mit seiner Zustimmung zu heiraten. Heinrich IV. von Kastilien hatte keine Söhne (seine Untertanen verspotteten ihn als Heinrich den Impotenten), aber er hatte eine Tochter, Juana, angeblich das unrechtmäßige Kind seiner Geliebten Beiträn de la Cueva. Als Heinrich versuchte, Juana als seine Erbin einzusetzen, brach ein Bürgerkrieg aus. Die Adligen versagten Heinrich die Gefolgschaft und erkannten als ihren Herrscher Isabellas zwölf Jahre alten Bruder Alfonso an. Nach nur zwei Jahren wurde Alfonso, Isabellas einziger Blutsverwandter, tot in seinem Bett aufgefunden, angeblich vergiftet.
Isabella war nicht zur künftigen Monarchin erzogen oder ausgebildet worden, aber bald nach dem Tod ihres Bruders hatte sie Abraham Seneor gebeten, die geheimen Verhandlungen mit den einflußreichen Höflingen Aragons einzuleiten, die schließlich zu ihrer Heirat mit Ferdinand, Prinz von Aragon, führten. Beim plötzlichen Tod Heinrichs IV. am 11. Dezember 1474 in Madrid war Isabella in Segovia. Als sie die Nachricht hörte, erklärte sie sich ohne Zögern zur Königin von Kastilien. Zwei Tage später zog sie, umringt von einer jubelnden Menge, ihr Schwert, hielt es mit dem Heft nach oben über ihren Kopf und führte so eine Prozession zur Kathedrale von Segovia. Das Parlament, die Cor-tes, schwor ihr sofort die Treue.
Im Jahr 1479 starb Johann II. von Aragon, und Ferdinand folgte seinem Vater nach. In den zehn Jahren nach ihrer geheimen Hochzeit hatte das königliche Paar beständig Krieg geführt, hatte Invasionen aus Portugal und Frankreich zurückgeschlagen und Aufstände bekämpft. Nachdem all diese Feldzüge gewonnen waren, konzentrierte man sich auf den Krieg gegen die Mauren.
In all den Jahren der Kämpfe hatte Abraham Seneor dem königlichen Paar treu gedient, er hatte Geld für das teure Kriegsgeschäft besorgt, ein Steuersystem entwickelt und Ferdinand und Isabella einen Weg gebahnt, der all die politischen und finanziellen Fallgruben der Vereinigung Aragons und Kastiliens überwand.
Die Herrscher hatten ihn reich belohnt und ihn zum Rabbi und Obersten Richter der Juden Kastiliens sowie zum Steuereinschätzer aller Juden des Königreiches ernannt. Seit 1488 war er Schatzmeister der Hermandad, einer Miliz, die Ferdinand zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Sicherheit in Spanien gegründet hatte.
Noch bevor nun die Juden aus vielen Teilen des Königreichs Seneor bitten konnten, bei Ferdinand für sie einzutreten, handelte er bereits. Sein erstes Treffen mit dem Monarchen war be-stimmt von gegenseitiger Zuneigung und Freundschaft, doch seine Bitte um eine Aufhebung des Vertreibungsbefehls wurde mit einer kühlen Zurückweisung erwidert, die ihn bestürzte.
Einige Wochen danach bat er um eine zweite Audienz, und diesmal brachte er seinen Schwiegersohn, Rabbi Meir Melamed, mit, der als Ferdinands Schreiber gedient hatte und Oberster Steuereintreiber des Königreichs war. Beide Männer waren vom König zu Rabbis ernannt worden, nicht von ihren Glaubensbrüdern, aber beide hatten sich bereits als erfolgreiche Fürsprecher der Juden bei Hofe hervorgetan. Begleitet wurden sie von Isaak ben Juda Abravanel, der für die Steuereintreibung in den zentralen und südlichen Teilen des Landes verantwortlich war und der der königlichen Kasse enorme Summen geliehen hatte, darunter eineinhalb Millionen Golddukaten zur Finanzierung des Krieges gegen Granada. Die drei Juden brachten noch einmal ihre Bitte vor, wobei sie sich diesmal erboten, neue Mittel für die königliche Kasse aufzubringen, und Abravanel darüber hinaus erklärte, er und seine Brüder würden der Krone gewisse beträchtliche Schulden erlassen, falls das Edikt aufgehoben würde.
Ferdinand zeigte unverhohlenes Interesse, als das Gespräch auf die angebotenen Summen kam. Die drei Bittsteller hofften auf eine sofortige Entscheidung, damit Torquemada und andere religiöse Eiferer, die jahrelang auf eine Vertreibung der Juden hingearbeitet hatten, keine Gelegenheit zu einer Beeinflussung der Entscheidung bekämen. Doch Ferdinand wollte sich ihre Bitte erst noch einmal durch den Kopf gehen lassen, und als die drei eine Woche später wieder vor den Monarchen traten, beschied ihnen der König, ihre Bitte sei abgelehnt worden. Er habe beschlossen, daß die Vertreibung durchgeführt werde.
Isabella stand an diesem Tag neben ihrem Gatten, eine finstere, dickliche Frau von durchschnittlichem Körpermaß, aber sehr königlichem Auftreten. Sie hatte herrische, blau grüne Augen und einen winzigen, verkniffenen Mund. Ihr rötlich-blondes Haar, das
Schönste an ihr, war bereits von ersten grauen Strähnen durchzogen. Sie machte den Augenblick für die drei Juden noch bitterer, indem sie König Salomo, Sprüche 21,1, zitierte: >»Wasserbächen gleicht das Herz des Königs in der Hand des Herrn; er leitet es, wohin er nur will. < Glaubt Ihr, dies ist von uns über Euch gekommen? Der Herr hat es dem König ins Herz gelegt«, beschied sie den drei Juden verächtlich, und damit war die Audienz beendet.
Überall im Königreich traten jüdische Räte zusammen. Man war verzweifelt. In Toledo bemühte sich der Rat der Dreißig, einen neuen Plan zu entwickeln.
Schließlich ergriff David Mendoza das Wort: »Ich schätze dieses Land sehr. Wenn ich diesen geliebten Ort, in dem meine Vorfahren ruhen, schon verlassen muß, dann möchte ich dorthin gehen, wo ich nie wieder beschuldigt werde, ein Kleinkind ermordet zu haben, um aus seinem zarten Leib Matzen zu machen, oder den Leib Christi durchbohrt, die Jungfrau beleidigt oder die Messe verhöhnt zu haben!«
»Wir müssen an einen Ort gehen, wo unschuldige Menschen nicht angesteckt werden wie Zunder«, sagte Rabbi Ortega, und alle murmelten zustimmend.
»Wo mag ein solcher Ort sein?« fragte Jonas Vater.
Ein Schweigen entstand. Die Männer starrten einander an.
Und doch mußten alle irgendwohin gehen, und die Leute begannen, Pläne zu schmieden.
Aaron Toledano, ein stämmiger, bedächtig sprechender Mann, kam ins Haus seines Bruders, und er und Helkias berieten sich stundenlang. Jona hörte ihnen zu und versuchte zu begreifen.
Als alles gesagt war, blieben nur noch drei mögliche Ziele übrig. Im Norden das Königreich Navarra. Im Westen Portugal. Im Osten die Küste, von wo aus die Überfahrt in entferntere Länder möglich war.
Doch binnen weniger Tage traf eine Nachricht ein, die ihre Entscheidungsmöglichkeiten erneut einschränkte.
Als Aaron diesmal zu Helkias kam, war sein Bauerngesicht düster vor Sorge. »Navarra kommt nicht in Frage. Es nimmt nur Juden auf, die sich zur Anbetung Christi bekehrt haben.«
Kaum eine Woche später erfuhren sie, daß Don Vidal ben Ben-veniste de la Cavalleria, der Mann, der Aragons Goldmünzen und Kastiliens Währung geprägt hatte, nach Portugal geritten war und dort für die spanischen Juden die Erlaubnis zur Einreise erhalten hatte. König Johann II. von Portugal sah darin eine günstige Gelegenheit und verfügte, daß sein Schatzamt von jedem einreisenden Juden einen Dukaten Steuer und ein Viertel der in sein Königreich gebrachten Ware verlangen sollte. Als Gegenleistung würde den Juden gestattet, sechs Monate zu bleiben.
Aaron schüttelte empört den Kopf. »Ich traue dem nicht. Meiner Meinung nach wird er uns am Ende weniger Gerechtigkeit widerfahren lassen, als der spanische Thron es getan hat.«
Helkias stimmte ihm zu. Und somit blieb nur die Küste übrig, wo sie sich einschiffen würden.
Helkias war besonnen und sanft, ein großer Mann. Meir war kleiner und stämmiger gewesen, wie Aaron, und Eleasar zeigte alle Anlagen für einen ähnlichen Wuchs. Jona war größer gebaut, wie sein Vater, den er mit ebensoviel Ehrfurcht wie Liebe betrachtete.
»Wohin werden wir denn segeln, Abba?«
»Ich weiß es nicht. Wir gehen dorthin, wo es viele Schiffe gibt, wahrscheinlich in den Hafen von Valencia. Dann werden wir sehen, welche Schiffe verfügbar sind und was für ein Ziel sie haben. Wir müssen darauf vertrauen, daß der Allmächtige uns den Weg zeigt und uns hilft, eine weise Entscheidung zu treffen.« Er sah Jona an. »Hast du Angst, mein Sohn?«
Jona suchte nach einer Antwort, aber es wollte ihm keine über die Lippen kommen.
»Angst zu haben ist keine Schande, mein Sohn. Es ist nur klug, sich einzugestehen, daß Reisen voller Gefahren ist. Aber wir sind drei große und starke Männer - Aaron und du und ich. Wir drei werden Eleasar und deine Tante Juana beschützen können.«
Jona freute sich, daß sein Vater ihn als Mann betrachtete. Es war, als hätte Helkias seine Gedanken gelesen. »Ich weiß, daß du in diesen letzten Jahren die Pflichten eines Mannes übernommen hast«, sagte er leise. »Und du sollst wissen, daß auch anderen dein Wesen und dein Verhalten aufgefallen sind. Schon mehrfach sind Väter von Töchtern an mich herangetreten, die alt genug sind, um unter dem Brauthimmel zu stehen.«
»Du hast schon über eine Heirat gesprochen?« fragte Jona.
»Noch nicht. Nicht in dieser Zeit. Aber sobald wir unsere neue Heimat erreicht haben, wird es Zeit sein, die dortigen Juden kennenzulernen und eine gute Partie zu arrangieren. Was du sicher begrüßen wirst.«
»Ja«, gab Jona zu, und sein Vater lachte.
»Glaubst du vielleicht, ich war nie jung? Ich weiß noch genau, wie das ist.«
»Eleasar wird sehr neidisch sein. Er wird auch eine Frau wollen«, sagte Jona, und nun lachten sie beide. »Abba, ich gehe ohne Angst überallhin, solange du nur bei mir bist.«
»Auch ich habe mit dir keine Angst. Mit dir nicht. Denn der Herr wird bei uns sein.«
Der Gedanke ans Heiraten war ein neues Element in Jonas Leben. In all dem Tumult war sein Geist verwirrt, und sein Körper hatte sich verändert. Nachts träumte er von Frauen, und inmitten aller Unsicherheiten und Gefahren tagträumte er von seiner langjährigen Freundin Lucia Martin. Als die beiden noch neugierige Kinder waren, hatten sie bei mehreren Gelegenheiten ausführlich die Nacktheit des anderen erforscht. Jetzt konnte man sehen, daß Lucia unter ihrer Kleidung allmählich zur Frau reifte, und neuerdings stand eine unbekannte Verlegenheit zwischen ihnen.
Alles veränderte sich, und trotz aller Ängste und Befürchtungen freute sich Jona darauf, endlich in die Ferne zu reisen. Er stellte sich das Leben an einem neuen Ort vor, eine Art von Leben, wie die Juden es in Spanien in den letzten hundert Jahren nicht mehr hatten führen können.
In einem Buch des arabischen Autors Khordabbek, das er mitten unter den religiösen Traktaten im Studienhaus gefunden hatte, hatte er über jüdische Händler und Kaufleute gelesen:
Sie schiffen sich ein im Lande der Franken, am westlichen Meer, und steuern nach Farama. Dort laden sie ihre Waren auf den Rücken von Kamelen und ziehen über Land nach Kolzum, was eine fünftägige Reise über eine Entfernung von fünfundzwanzig Farsakh ist. Am Roten Meer gehen sie wieder an Bord eines Schiffes und segeln von Kolzum nach Eltar und Jeddah. Dann reisen sie nach Sind, Indien und China.
Er würde sehr gern Kaufmann werden. Wenn er Christ wäre, würde er lieber Ritter werden - natürlich einer, der keine Juden tötete. Bestimmt war ein Leben als Kaufmann oder Ritter voller Wunder.
Doch wenn er in die Wirklichkeit zurückkehrte, wußte Jona, daß sein Vater recht hatte. Es hatte keinen Sinn, herumzusitzen und zu träumen. Es gab viel zu tun, denn die Grundfesten ihres Lebens waren dabei einzustürzen.
Jona wußte, daß viele Leute ihre Heimat bereits verließen. (w^jlj) Auf der Straße vor Toledo waren zuerst nur vereinzelte Reisende zu sehen, dann wurde daraus ein Rinnsal und schließlich eine Flut von Juden bei Tag und Nacht, eine Vielzahl von Fremden aus weiter Ferne, die nach Westen in Richtung Portugal oder nach Osten zu den Schiffen zogen. Der Lärm, den die Durchreisenden machten, war bis in die Stadt zu hören. Sie ritten auf Pferden und Eseln, saßen auf Säcken mit ihrer Habe in Ochsenkarren, sie marschierten, schwere Lasten auf dem Rücken, unter der heißen Sonne, einige taumelten, andere stürzten. Manchmal sangen Frauen und Knaben und schlugen Trommeln und Tamburine, um sich Mut zu machen für den Marsch.
Frauen brachten am Straßenrand Kinder zur Welt, und Menschen starben unterwegs. Der Toledaner Rat der Dreißig gestattete den Durchreisenden, ihre Toten auf dem jüdischen Friedhof zu begraben, aber oft konnten sie ihnen keine andere Hilfe anbieten, nicht einmal einen Minjan, um das Kaddisch zu beten. Zu anderen Zeiten hätte man Reisenden in Not Unterstützung und Gastfreundschaft angeboten, jetzt aber brachen die Juden Toledos selber auf oder bereiteten sich auf die Abreise vor und hatten genug mit ihren eigenen Problemen zu tun.
Die Dominikaner und die Franziskaner, hoch erfreut über diese Vertreibung, für die sie gebetet und gearbeitet hatten, machten
sich voller Eifer daran, so viele jüdische Seelen wie möglich zu ernten. Auch einige Juden in Toledo, die lange Zeit Freunde von Jonas Familie gewesen waren, betraten die Kirchen der Stadt und erklärten sich zu Christen - Menschen, mit denen die Toledanos das Brot gebrochen hatten, mit denen sie in der Synagoge gebetet und mit denen sie darüber geflucht hatten, daß man sie zwang, das gelbe Abzeichen eines geächteten Volkes zu tragen. Fast ein Drittel der Juden konvertierte, die einen, weil sie die schrecklichen Gefahren der Reise fürchteten, die anderen aus Liebe zu einem Christen oder einer Christin oder weil sie Rang und Reichtum erworben hatten, die sie nicht wieder aufgeben wollten, und wieder andere, weil sie nicht mehr verachtet werden wollten.
Juden in hoher Stellung wurden zur Konversion gedrängt und gezwungen. Eines Abends kam Jonas Onkel mit einer bestürzenden Nachricht zu Helkias.
»Rabbi Abraham Seneor, sein Schwiegersohn Rabbi Meir Me-lamed und ihre Familien sind Katholiken geworden.«
Isabella hatte den Gedanken nicht ertragen können, ohne die Männer zu sein, die so viel für sie getan hatten, und es ging das Gerücht, sie habe mit Vergeltungsmaßnahmen gegen die Juden gedroht, falls die beiden sich weigerten zu konvertieren. Es war bekannt, daß die Herrscher persönlich die öffentlichen Bekehrungszeremonien arrangiert und besucht und bei der Taufe als Paten gedient hatten.
Rabbi Seneor hatte sich den Namen Fernando Nunez Coronel zugelegt, und Rabbi Melamed nannte sich nun Fernando Perez Coronel.
Einige Tage später wurde Seneor zum Gouverneur von Sego-via, zum Mitglied des Königlichen Rats und zum Schatzmeister des Kronprinzen ernannt. Melamed wurde Königlicher Oberbuchhalter und ebenfalls ständiges Mitglied des Königlichen Rats.
Isaak Abravanel weigerte sich zu konvertieren. Er und seine Brüder Joseph und Jakob erließen dem Königspaar ihre beträcht-lichen Schulden und durften als Gegenleistung das Land verlassen und eintausend Golddukaten sowie einige kostbare Besitztümer aus Gold und Silber mitnehmen.
Helkias und Aaron hatten weniger Glück, wie die große Mehrheit der Juden, die mit diesem großen Unheil zurechtzukommen suchte. Den meisten Juden wurde erklärt, daß sie weder Gold und Silber noch Geld oder Edelsteine aus dem Königreich mitnehmen dürften. Vom Thron erhielten sie den Rat, sie sollten alles verkaufen, was sie besaßen, und mit dem Erlös Gebrauchsgüter erwerben, die sie wieder verkaufen konnten, wenn sie ihre neue Heimat erreichten. Doch kurz darauf erklärte König Ferdinand, daß in Aragon wegen angeblich ausstehender Steuerschulden an die Krone ein Teil der jüdischen Ländereien, Häuser und Besitztümer beschlagnahmt würden.
Die Juden in Toledo beeilten sich nun, ihren Besitz zu verkaufen, bevor ein ähnlicher Schachzug der Monarchen dies unmöglich machte, aber diese Verkäufe waren eine Farce. Ihre christlichen Nachbarn, die wußten, daß die Juden ihren Besitz aufgeben oder ansonsten mit dem Tod rechnen mußten, drückten erbarmungslos die Preise und boten nur wenige Sueldos für Grundstücke, die eigentlich viele Maravedi oder sogar viele Reales wert gewesen wären. Ein Esel oder ein Weinberg wechselte für ein Stück gewöhnlicher Leinwand den Besitzer.
Aaron Toledano, der für seinen Ziegenhof so gut wie nichts angeboten bekam, wandte sich an seinen älteren Bruder um Rat. »Ich weiß nicht, was ich tun soll«, bekannte er hilflos.
Helkias war sein Leben lang ein wohlhabender und gefragter Handwerker gewesen, aber die Jahre des großen Unheils waren ausgerechnet in einer Zeit über ihn hereingebrochen, als er sich auch persönlich in einer finanziellen Talsohle befand. Für das Re-liquiar hatte er nur einen geringen Vorschuß bekommen. Da es vor der Ablieferung gestohlen worden war, hatte er keine Bezah-lung mehr zu erwarten, obwohl er zur Anfertigung des Ziboriums viel Geld für reinstes Gold und Silber ausgegeben hatte. Auch eine Reihe anderer wohlhabender Kunden hielt nun ihre Zahlungen für bereits gelieferte Stücke zurück, weil sie spürten, daß die Ereignisse eine Begleichung der Schuld hinfällig machen würden.
»Ich weiß auch nicht, was ich tun soll«, gestand er. Er war in einer verzweifelten Lage, doch der Einsatz und das weiche Herz eines alten und treuen Freundes sollten ihn retten.
Benito Martin war ein Alter Christ, ein Goldschmied, dem aber jenes schöpferische Genie fehlte, das Helkias seinen Ruf als Silberkünstler eingebracht hatte, und so hatte der Großteil von Martins Arbeit ursprünglich aus einfachen Vergoldungen und Reparaturen bestanden. Die beiden waren noch junge Männer gewesen, als Benito entdeckte, daß es in Toledo einen Juden gab, der aus edlen Metallen wundervolle Dinge schuf.
Er suchte den Juden auf und verbrachte so viel Zeit bei ihm, wie es ging, ohne ihm zur Last zu fallen. Er lernte viel Neues über die Bearbeitung von Gold und Silber, und das Vorbild dieses Meisters spornte ihn an, die Gestaltung seiner eigenen Arbeiten neu zu überdenken.
Und während Benito Martin so sein Handwerk neu erlernte, lernte er auch einen Menschen kennen.
Helkias hatte ihn freundlich aufgenommen und zu einem Austausch von beruflichen Fertigkeiten und menschlichen Erfahrungen eingeladen. Aus Benitos Bewunderung war mit der Zeit eine wahre und treue Freundschaft geworden, so tief, daß Martin in besseren Zeiten seine Kinder in die Synagoge geführt hatte, um die Familie Toledano am Pessach-Fest zu besuchen, oder in die Sukka während des Laubhüttenfestes. Seine Tochter Lucia war zu Jonas bester Freundin geworden, und sein Sohn Enrique war Eleasars liebster Spielkamerad.
Jetzt schämte sich Benito Martin angesichts der in Toledo um sich greifenden Ungerechtigkeit, und eines Abends besuchte er Helkias, um mit ihm einen Spaziergang zu machen. Es war noch so früh, daß sie am Hochufer entlangschlendern und den Einbruch der Nacht betrachten konnten.
»Dein Haus liegt so wunderbar, und deine Werkstatt ist so sinnvoll angelegt, daß sie gute Ergebnisse geradezu herausfordert. Ich habe schon lange ein Auge auf sie geworfen.«
Helkias schwieg.
Als Benito sein Angebot nannte, blieb der Silberschmied stehen.
»Ich weiß, es ist sehr niedrig, aber...«
Unter gewöhnlichen Umständen wäre es ein sehr niedriges Angebot gewesen, aber die Umstände waren nicht gewöhnlich. Hel-kias wußte, daß es alles war, was Benito dafür aufbringen konnte, und es war viel mehr als das, was raffgierige Spekulanten ihm geboten hatten.
Er ging auf den Mann zu, küßte seine rasierte christliche Wange und hielt ihn lange in seinen Armen.
Jona fiel auf, daß die Augen seines Vaters wieder leuchteten. Hel-kias saß mit Aaron zusammen, und die beiden überlegten, wie sie ihre Familie retten konnten. Die Not war groß, doch Helkias war entschlossen, ihr mit all seiner Tatkraft zu begegnen.
»Normalerweise dauert die Reise nach Valencia zehn Tage. Jetzt, da die Straßen verstopft sind von Menschen, die alle zeitig ankommen wollen, dauert dieselbe Reise zwanzig Tage, man braucht doppelt so viel Essen, und auch die Gefahren verdoppeln sich.«
Aaron hatte auf seinem Hof zwei Packesel und ein Paar guter Pferde, die er und seine Frau Juana reiten wollten. Benito Martin hatte an Helkias' Stelle zwei zusätzliche Pferde und ein Paar Esel für viel weniger Geld gekauft, als man von einem Juden verlangt hätte, und Helkias bezahlte seinem Nachbarn Marcelo Troca eine unglaubliche Summe, damit er die vier Tiere auf dessen Weide grasen lassen konnte.
Helkias sagte seinem Bruder, daß sie Mittel und Wege finden mußten, um noch mehr Geld aufzutreiben. »Wenn wir den Hafen erreichen, werden die Schiffskapitäne uns gegenüber alles andere als mildtätig sein. Für unsere Überfahrt brauchen wir viel Geld. Und wenn wir dann unseren Zufluchtsort erreichen, brauchen wir Geld für unseren Lebensunterhalt, bis wir für unser tägliches Brot wieder arbeiten können.«
Die einzig mögliche Geldquelle waren die unbezahlten Schulden von Helkias' Kunden, und Jona setzte sich mit seinem Vater zusammen und stellte eine Liste all dieser Kunden und der geschuldeten Summen auf.
Die größte Schuld war die des Grafen Fernan Vasca von Tem-bleque. »Er ist ein anmaßender Edelmann, der mich zu sich bestellte, als wäre er der König, und mir jedes Stück genau beschrieb, das ich ihm anfertigen sollte. Jetzt aber läßt er sich Zeit, auch nur einen Sueldo seiner Schuld zu bezahlen. Wenn ich diese Schuld eintreiben kann, haben wir mehr als genug.«
An einem strahlenden Julitag ritt Jona mit seinem Vater nach Tembleque, einem Dorf außerhalb Toledos. Er war es nicht gewohnt, auf einem Pferd zu reiten, aber die Tiere waren fügsam, und er saß stolz wie ein Ritter auf dem abgenutzten Sattel. Die Landschaft war wunderschön, und trotz der Sorgen, die Helkias belasteten, konnte er unterwegs ein Lied anstimmen. Er sang ein Lied des Friedens.
Oh, der Wolf wird zu Gast sein bei dem Lamme
Und der Panther bei dem Böcklein lagern.
Kuh und Bärin werden sich befreunden,
Der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind...
Jona liebte es, die tiefe Stimme diese wohlklingenden Zeilen singen zu hören. So wird es auch auf dem Ritt nach Valencia sein, dachte er voller Freude.
Während sie so dahinritten, erzählte Helkias seinem Sohn, daß er sich seinem Freund Rabbi Ortega anvertraut habe, als Graf Vasca ihn zum ersten Mal nach Tembleque bestellte, denn der Rabbi konnte ihm einiges Interessante über den Grafen berichten.
Rabbi Ortega habe einen Neffen, einen jungen Gelehrten namens Asher ben Yair, der nicht nur in der Tora bewandert sei, sondern auch in mehreren Sprachen. »Es ist schwer für einen Gelehrten, seinen Lebensunterhalt zu verdienen«, sagte Helkias, »und als Asher eines Tages hörte, daß ein Edelmann in Temble-que einen Schreiber anstellen wolle, ritt er deshalb dorthin und bot seine Dienste an.«
Der Graf von Tembleque sei schon immer stolz auf sein kriegerisches Können gewesen, erzählte Helkias seinem Sohn. Er hatte gegen die Mauren gekämpft und war weit gereist, um an Ritterturnieren teilzunehmen, von denen er viele gewonnen hatte. Aber er war immer auf der Suche nach etwas Neuem gewesen, und im Frühjahr 1486 erfuhr er von einem Turnier ganz anderer Art, einem poetischen Turnier, bei dem die Teilnehmer mit Gedichten anstelle von Lanzen und Schwertern gegeneinander antraten.
Das Turnier hieß juegos flores - die Blumenspiele. Begonnen hatte man damit im Frankreich des vierzehnten Jahrhunderts, als einige junge Edelmänner in Toulouse beschlossen, Dichter einzuladen, um sich von ihnen ihre Werke vortragen zu lassen. Dem Gewinner winkte als Siegespreis ein Veilchen aus reinem Gold.
Das Turnier wurde in regelmäßigen Abständen in Frankreich abgehalten, bis Violante de Bar, Königin von Katalonien und Aragon und Frau König Johanns L, den Dichterwettbewerb und einige der französischen Preisrichter im Jahr 1388 nach Barcelona gebracht hatte. Bald darauf übernahm der spanische Hof in aller Form die juegos flores und veranstaltete sie jedes Jahr mit großem Zeremoniell. Als der Graf Vasca davon erfuhr, hatte sich der königliche Hof selbst zum Preisgericht des jährlichen Dichterwettbewerbs aufgeschwungen. Nun gab es als dritten Preis ein Veilchen aus Silber, der zweite Preis war eine goldene Rose. Der erste Preis aber, und hier zeigte sich eine typische katalanische Eigenart, sollte eine einzelne, echte Rose sein, mit der Begründung, daß nichts von Menschenhand Gemachtes eine von Gott geschaffene Blume übertreffen könne.
Vasca fand den Gedanken herrlich, an den Hof gerufen zu werden, um ein solches Ehrenzeichen überreicht zu bekommen, und so schmiedete er Pläne für eine Teilnahme an dem Dichterwettbewerb. Daß er weder lesen noch schreiben konnte, hielt ihn nicht ab, denn er war wohlhabend genug, um jemanden mit entsprechenden Fähigkeiten in seine Dienste zu nehmen, und so hatte er Asher ben Yair eingestellt und ihm befohlen, ein Gedicht zu verfassen. Zum Thema des Gedichts sagte Vasca, es müsse von einem großen und edlen Krieger handeln, und schon bald waren sich der Graf und sein Schreiber darüber einig, daß der Graf Fernan Vasca selbst wohl der würdigste Ritter sei, der in einem solchen Werk beschrieben werden könnte.
Als das Gedicht vollendet war und dem Grafen vorgelesen wurde, erregte es durchaus sein Wohlgefallen. Ihm genügte es, daß seine Tapferkeit und sein kriegerisches Können mit Ehrerbietung und nicht geringer Übertreibung behandelt wurden, und so schickte er eine Abschrift davon nach Barcelona.
Doch Vascas Gedicht konnte das höfische Schiedsgericht nicht beeindrucken. Als der Graf die Nachricht erhielt, daß drei andere die Preise gewonnen hatten, hatte sich Asher ben Yair in weiser Voraussicht bereits von seinem Onkel, Rabbi Ortega, verabschiedet und war nach Sizilien aufgebrochen, wo er glaubte, eine Anstellung als Lehrmeister junger Juden zu finden.
Alsbald hatte Graf Vasca nach Helkias Toledano geschickt, einem Juden, der in dem Ruf eines herausragenden Bearbeiters von edlen Metallen stand. Als Helkias in Tembleque eintraf, fand er Vasca noch immer erzürnt darüber, daß er von einem Haufen verweichlichter Verseschmiede so vor den Kopf gestoßen worden war. Er erzählte Helkias von den juegos flores und ihren einfallsreichen Preisen und gestand ihm dann, daß er beschlossen habe, einen mannhafteren Wettbewerb, ein echtes Ritterturnier, ins Leben zu rufen, mit einem ersten Preis, der viel erstaunlicher und großartiger sein sollte als alle, die in Barcelona verliehen wurden.
»Ich wünsche, daß Ihr eine Rose aus Gold mit einem silbernen Stiel anfertigt.«
Jonas Vater nickte nachdenklich.
»Aber hört mir gut zu: Sie muß ebenso schön sein wie eine Rose der Natur.«
Helkias lächelte. »Nun gut, aber...«
Der Graf hob die Hand, offenbar nicht willens, sich auf einen langen Disput mit einem Juden einzulassen, und wandte sich ab. »Geht einfach und macht es. Nach dem nächsten Osterfest muß die Rose fertig sein.« Und damit war Helkias entlassen.
Helkias war daran gewöhnt, daß schwierige Kunden unvernünftige Forderungen stellten, doch dieser Fall war besonders heikel, weil Graf Vasca in dem Ruf stand, jene zu mißhandeln, die ihn verstimmten. Doch er machte sich an die Arbeit und saß viele Stunden vor Rosenbüschen und zeichnete. Als ihn endlich eine seiner Darstellungen befriedigte, begann er, Gold und Silber mit dem Hammer zu bearbeiten. Nach vier Tagen hatte er etwas, das einer Rose schon sehr ähnelte, doch das Ergebnis enttäuschte ihn dennoch, und er zerbrach die Blume wieder und schmolz das Metall ein.
Immer und immer wieder versuchte er es, und jedesmal gelangen ihm Siege im kleinen, doch wenn es um den Gesamteindruck ging, mußte er Niederlagen hinnehmen. Zwei Monate waren seit dem Tag seines Treffens mit Vasca vergangen, und noch immer war er der Erfüllung seines Auftrags nicht näher gekommen.
Doch er bemühte sich weiter und studierte die Rose, als wäre sie der Talmud. Er sog ihren Duft und ihre Schönheit ein und zerpflückte die Blüte Blatt für Blatt, um ihren inneren Aufbau zu erkennen; er betrachtete die Stiele, wie sie sich bogen und wanden und der Sonne zuwuchsen; und er beobachtete, wie Knospen entstanden und reiften und sich zart öffneten und entfalteten. Mit jedem Versuch, die einfache und doch so verblüffende Schönheit der Blume nachzubilden, spürte er stärker das Wesen und die Seele der Rose, und in all den Versuchen und Mißerfolgen wandelte er sich allmählich von dem Handwerker, der er gewesen war, zu dem Künstler, der er sein würde.
Schließlich hatte er eine Blume aus leuchtendem Gold erschaffen. Ihre Blütenblätter öffneten sich mit einer frischen Weichheit, die sich dem Auge erschloß, ohne daß man sie mit den Fingern ertastete. Es war eine lebensechte Blume, als hätte ein Meistergärtner eine vollkommene goldfarbene Rose gezüchtet. Der Stiel und die Verästelungen und Dornen und Blätter waren aus glänzendem Silber, was den Eindruck des Lebensechten eigentlich verdarb, doch bis zu dem von Graf Vasca geforderten Ablieferungstag waren es noch fünf Monate, und so ließ Helkias die Zeit ihr Werk verrichten. Das Gold behielt seine Farbe, während das Silber beschlug und nachdunkelte, bis es einen Farbton hatte, der die Blume naturgetreu machte.
Graf Vasca war sichtlich überrascht und erfreut gewesen, als er sah, was Helkias geschaffen hatte. »Diese Rose werde ich nicht als Siegerpreis weggeben. Ich habe eine bessere Verwendung dafür«, sagte er. Anstatt Helkias zu bezahlen, gab er ihm einen umfangreichen Auftrag für weitere Gegenstände, und dann noch einen dritten. Letztendlich war er so zu Helkias' größtem Schuldner geworden, und nun, da man die Juden aus Spanien vertrieb, war diese Schuld Vascas ein Hauptgrund für Helkias' ernste Notlage.
Die Burg, die nun vor ihnen auftauchte, war groß und abweisend. Das Gatter des großen Tors zum Bergfried war heruntergelassen. Helkias und Jona sahen hoch zum Wachhäuschen oben auf der hohen Mauer.
»He da, Wache!« rief Helkias, und sofort erschien ein behelmter Kopf.
»Ich bin Helkias Toledano, der Silberschmied. Ich möchte mit Seiner Exzellenz dem Grafen Vasca sprechen.«
Der Kopf verschwand und erschien kurz darauf wieder.
»Seine Exzellenz der Graf ist nicht hier. Ihr müßt wieder gehen.«
Jona unterdrückte ein Stöhnen, aber sein Vater blieb hartnäckig. »Ich komme in einer wichtigen geschäftlichen Angelegenheit. Wenn der Graf nicht hier ist, muß ich mit seinem Verwalter sprechen.«
Wieder verschwand der Wachposten. Jona und sein Vater saßen auf ihren Pferden und warteten.
Schließlich wurde, mit einem Quietschen und dann einem Knarren, das Gatter hochgezogen, und sie ritten in den Burghof.
Der Verwalter war ein schlanker Mann, der einen Falken in einem Käfig mit Fleischstreifen fütterte. Katzenfleisch. Jona sah den Schwanz, der noch ganz war.
Der Mann würdigte ihn kaum eines Blickes. »Er ist im Norden auf der Jagd«, sagte er ungehalten.
»Ich bitte um die Bezahlung von Stücken, die ich auf seine Bestellung hin angefertigt und ihm geliefert habe«, sagte Helkias, und nun sah der Verwalter ihn an.
»Ich bezahle nur, wenn er es befiehlt.«
»Wann kommt er zurück?«
»Wann es ihm beliebt.« Der Mann wurde etwas zugänglicher, vielleicht um sie loszuwerden. »An Eurer Stelle würde ich in sechs Tagen wiederkommen.«
Auf dem Rückweg nach Toledo blieb Helkias stumm und hing seinen sorgenschweren Gedanken nach. Jona versuchte, ein wenig von der Hochstimmung des Hinritts zu retten.
»Oh, der Wolf wird zu Gast sein bei dem Lamme...«, stimmte er an, aber sein Vater achtete nicht auf ihn, und so ritten sie größtenteils schweigend den Rest des Wegs.
Sechs Tage später ritt Helkias noch einmal zur Burg, und diesmal sagte ihm der Verwalter, daß der Graf erst in vierzehn Tagen, am sechsundzwanzigsten Tag des Monats, zurückkehren werde.
»Das ist zu spät«, entgegnete Aaron verzweifelt, als Helkias es ihm sagte.
»Ja, das ist zu spät«, sagte Helkias.
Aber tags darauf verbreitete sich die Kunde, daß die Monarchen in ihrer Gnade den Juden einen zusätzlichen Tag für die Abreise aus Spanien gewährt hätten, so daß sich das letztmögliche Datum vom ersten auf den zweiten August verschob.
»Glaubst du...?« fragte Aaron.
»Ja, wir können es schaffen! Ich werde vor der Burg auf ihn warten, wenn er ankommt. Gleich nachdem er mich bezahlt hat, können wir aufbrechen«, sagte Helkias.
»Aber dann müssen wir die Reise nach Valencia in sieben Tagen schaffen!«
»Wir haben keine andere Wahl, Aaron«, entgegnete Helkias. »Ohne Geld sind wir verloren.«
Als Aaron seufzte, legte Helkias ihm die Hand auf den Arm. »Wir schaffen das schon. Wir treiben uns und die Tiere bis zum Äußersten, und den Weg werden wir schon finden.«
Doch noch während er das sagte, dachte er mit Unbehagen daran, daß der zweite August der neunte Tag des jüdischen Monats Aw war, ein berüchtigtes Datum und vielleicht ein schlechtes Omen, denn der neunte Aw war das Datum der Zerstörung des Tempels in Jerusalem, der Beginn der erzwungenen Wanderschaft vieler Juden durch die Welt.
Nun brauchten Jona und Eleasar kein Silber mehr zu polieren. Da Helkias wußte, daß er seine Stücke nicht mehr zu einem angemessenen Preis würde verkaufen können, überließ er Benito Martin für einen geringen Betrag seinen ganzen Bestand. Am Mittelfinger der rechten Hand trug Jona ein breites Silberband, das sein Vater ihm geschenkt hatte, als er zum ersten Mal zur Tora gerufen wurde. Helkias hatte auch für seinen Erstgeborenen einen solchen Ring angefertigt, doch als man ihm Meirs Leiche brachte, fehlte dieses Silberband.
»Zieh deinen Ring vom Finger«, befahl Helkias nun Jona, und der Junge gehorchte widerstrebend. Sein Vater fädelte den Ring auf eine dünne, aber starke Schnur, die er Jona um den Hals band, damit der Ring unter seinem Hemd verborgen war.
»Falls es einmal soweit kommt, daß wir den Ring verkaufen müssen, verspreche ich, dir so bald wie möglich einen neuen zu machen. Aber wenn Gott will, wirst du diesen Ring an einem anderen Ort wieder tragen können«, sagte er.
Helkias ging mit seinen beiden Söhnen auf den jüdischen Friedhof vor den Toren der Stadt. Es war ein herzzerreißender Moment, denn auch andere Familien, die Spanien verließen, besuchten die Gräber ihrer Lieben, um sich zu verabschieden, und ihr Klagen und Schluchzen ängstigten Eleasar so sehr, daß auch er zu weinen anfing, obwohl er sich an seine Mutter gar nicht und an Meir kaum noch erinnern konnte.
Helkias hatte jahrelang um seine Frau und seinen Erstgeborenen getrauert. Obwohl seine Augen feucht waren, gab er keinen Laut von sich, sondern drückte seine beiden Söhne an sich, trocknete ihre Tränen und küßte sie, bevor er ihnen auftrug, die Gräber herzurichten und kleine Steine zu suchen, die sie als Zeichen ihres letzten Besuchs darauflegten.
»Es ist schrecklich, ihre Gräber zurückzulassen«, sagte Helkias später zu Benito. Martin hatte einen Schlauch mit Wein mitgebracht, und die beiden Freunde saßen zusammen und redeten, wie sie es früher so oft getan hatten. »Aber am schlimmsten ist es, das Grab meines Sohnes zu verlassen, ohne zu wissen, wer ihn auf dem Gewissen hat.«
»Wenn es möglich wäre, das Reliquiar ausfindig zu machen, könnte uns der Fundort eine Menge verraten.«
Helkias' Mund zuckte. »Es war aber nicht möglich. Inzwischen haben die Diebe, die mit solchen Dingen handeln, es bestimmt schon verkauft. Vielleicht ist es in einer Kirche irgendwo weit weg von hier«, sagte er und trank einen großen Schluck Wein.
»Trotzdem... vielleicht auch nicht«, sagte Benito. »Wenn ich mit den Priestern der Kirchen aus der Umgebung reden würde, könnte ich vielleicht etwas erfahren.«
»Das wollte ich auch schon tun«, gab Helkias zu, »aber... ich bin Jude. Ich hatte zu große Angst vor Kirchen und Priestern, um es zu tun.«
»Dann laß mich es jetzt für dich tun«, sagte Martin, und Hel-kias nickte dankbar. Er ging zu seinem Zeichentisch, nahm die Skizzen des Ziboriums und gab sie Martin, damit der sie den Priestern zeigen konnte.
Martin hatte noch etwas auf dem Herzen. »Helkias, die Stimmung in der Stadt ist gegen dich. Es geht das Gerücht, daß du dich weigerst, Toledo zu verlassen, und auch nicht konvertieren willst. Dieses Haus auf dem Hochufer ist sehr ungeschützt. Um Zuflucht in der Menge hinter den Mauern des jüdischen Viertels zu suchen, ist es zu spät, weil die anderen Juden es bereits verlassen haben. Vielleicht solltest du also mit deinen Söhnen zu mir kommen, in die Sicherheit eines christlichen Hauses.«
Helkias wußte, daß es Gerede geben würde, wenn ein Erwachsener und zwei Knaben, wenn auch nur für kurze Zeit, ins Haus der Martins zögen. Er dankte Benito, schüttelte aber den Kopf. »Bis zu dem Augenblick unserer Abreise wollen wir den Aufenthalt in dem Haus genießen, in dem meine Söhne geboren wurden«, sagte er.
Dennoch ging Helkias, nachdem Benito sich verabschiedet hatte, mit seinen Söhnen zu dem Pfad, der vom Hochufer nach unten führte. Ein Stückchen abseits des Wegs zeigte er ihnen einen schmalen, L-förmigen Tunnel, der in eine kleine Höhle führte.
Falls es je nötig sein würde, sagte er Jona und Eleasar, würde ihnen die Höhle ein sicheres Versteck bieten.
Jona war sich deutlich bewußt, daß er viele Dinge in Toledo zum letzten Mal tat.
Das Frühlingsfischen hatte er verpaßt. Das Frühjahr war zum Angeln nämlich die beste Zeit, denn die Luft war noch frisch, aber die erste Wärme der Sonne ließ Eintagsfliegen und anderes geflügeltes Kleingetier schlüpfen, das sich über der Wasseroberfläche des Flusses tummelte und Fische anlockte.
Mittlerweile war es heiß, aber er kannte einen tiefen Tümpel direkt hinter einem natürlichen Damm aus Felsen und Ästen und wußte, daß die Fische dort beinahe bewegungslos am Grund ruhten und nur darauf warteten, daß eine Mahlzeit an ihnen vorbeitrieb.
Er suchte sich die Haken zusammen, die sein Vater, ein Meister im Bearbeiten jeglichen Metalls, für ihn gemacht hatte, ging dann hinter die Werkstatt und holte die kurze Rute mit der starken Schnur.
Er war kaum drei Schritte gegangen, als Eleasar hinter ihm hergelaufen kam.
»Jona, nimmst du mich mit?«
»Nein.«
»Jona, ich möchte aber mitkommen.«
Falls ihr Vater sie hörte, würde er ihnen vielleicht befehlen, zu Hause zu bleiben. Jona warf einen ängstlichen Blick zur Tür der Werkstatt. »Eleasar, verdirb es mir nicht. Wenn du zeterst, hört Vater es und kommt heraus.«
Eleasar sah ihn unglücklich an.
»Wenn ich zurückkomme, bringe ich dir den ganzen Nachmittag lang das Gitarrespielen bei.«
»Den ganzen Nachmittag?«
»Den ganzen.«
Kurz darauf war Jona wieder allein und stieg den Pfad zum Fluß hinunter.
Unten angekommen, band er einen Haken an die Schnur, schlenderte dann einige Minuten am Ufer entlang und drehte Steine um. Einige Krebse ließ er davonhuschen, bis er einen gefunden hatte, der klein genug als Köder war. Er fing ihn und steckte ihn auf den Haken.
Es war seine Lieblingsstelle zum Fischen, und im Lauf der Jahre war er sehr oft hier gewesen. Der Tümpel wurde überragt von einem großen Felsen, der sehr leicht zu erreichen war, weil sich seine flache Oberseite beinahe auf gleicher Höhe mit dem Pfad befand, während ein überhängender Baum den Fischen im Tümpel und dem Fischer auf dem Stein Schatten spendete.
Der Haken mit dem Köder tauchte mit einem Platschen ins Wasser. Jona wartete hoffnungsvoll, doch als kein Fisch anbeißen
wollte, setzte er sich mit einem Seufzen auf den Stein. Eine leichte Brise wehte, der Stein war kühl, und die leisen Geräusche des Flusses waren angenehm und beruhigend. Irgendwo weit flußabwärts riefen zwei Männer einander zu, und in der Nähe zwitscherte ein Vogel.
Er merkte gar nicht, wie schläfrig er war, nur die Geräusche wurden immer schwächer, und schließlich schlief er ein.
Er schrak hoch, als ihm jemand die Rute unter dem Bein herauszog.
»Du hast einen Fisch«, sagte der Mann.
Jona fürchtete sich. Der Mann war so groß wie Abba, ein Priester oder Mönch in schwarzer Kutte und Sandalen. Und sein Rücken war auf eine Art verformt, wie Jona es noch nie gesehen hatte.
»Es ist ein sehr großer Fisch. Willst du die Rute?«
»Nein, Ihr könnt ihn einholen«, entgegnete Jona widerstrebend.
»Lorenzo«, rief jemand vom Pfad her, und als Jona sich umdrehte, sah er einen zweiten Mann in schwarzer Kutte dort warten.
Der Fisch schoß auf den natürlichen Damm an der Spitze des Tümpels zu, aber der große Mann hob die Spitze der Rute an. Er war ein guter Fischer, das merkte Jona. Er riß die Rute nicht so scharf hoch, daß die Schnur überdehnt wurde, sondern zog den Fisch heran, indem er die Schnur langsam und Stück für Stück einholte, bis der Fang, eine stattliche Brasse, die am Haken hin und her zappelte, auf dem Stein lag.
Der Mann lächelte. »Doch nicht so groß, mh? Zuerst sehen sie alle sehr groß aus.« Er hielt ihm den Fisch hin. »Willst du ihn?«
Natürlich wollte Jona den Fisch, aber er spürte, daß der Mann ihn auch wollte. »Nein, Senor«, sagte er.
»Lorenzo«, rief der andere Mönch. »Bitte, wir haben keine Zeit. Er sucht uns sicher schon.«
»Schon gut!« rief der große Mann gereizt und schob den Zeigefinger in eine Kieme, um den Fisch besser tragen zu können. Sanfte Augen, so tief wie der Tümpel, sahen Jona an. »Möge Christus dir Glück bringen«, sagte er.
Am nächsten Morgen verfärbte sich der Himmel grünlich schwarz, Blitze zuckten und Donner grollte laut, dann legte sich der Sturm wieder, doch es regnete zwei Tage lang. Jonas Onkel Aaron und Tante Juana kamen zu Besuch, und Juana sagte, es sei ungewöhnlich, daß es im Monat Tammus so heftig regne.
»Aber es ist schon vorgekommen«, meinte ihr Mann. »Natürlich ist es schon vorgekommen«, erwiderte Juana, und niemand wagte die Bemerkung, daß es ein schlechtes Omen sei. Die Luft war warm trotz der vielen Feuchtigkeit, und am zweiten Tag ließ der Regen nach und hörte schließlich ganz auf.
Benito Martin war an beiden Tagen mit den zusammengerollten und gegen die Feuchtigkeit in ein Stück Leder gewickelten Skizzen des Reliquiars durch den Regen geritten. In sieben Kirchen und zwei Klöstern hatte er die Zeichnungen aufgerollt. Inzwischen wußte jeder Priester und Mönch in Toledo von dem Verlust des Ziboriums der kleinen Abtei, aber niemand schien einen Hinweis darauf geben zu können, was mit dem Reliquiar nach dem Diebstahl geschehen war.
Benitos letzter Besuch hatte der Kathedrale gegolten, wo er sich hingekniet und ein Gebet gesprochen hatte.
Als er sich nach dem Beten wieder erhob, sah er, daß er von
einem großen, buckligen Mönch beobachtet wurde. Martin hatte gerüchteweise schon gehört, daß er für die Inquisition tätig war, konnte sich aber nicht an seinen Namen erinnern.
Auch hier zeigte er die Skizzen den Priestern, die zuhauf die Kathedrale bevölkerten. Dreimal hatte er sie bereits hergezeigt, mit dem inzwischen vertrauten Mangel an Erfolg, als er den Kopf hob und wieder dem Blick des großen Mönchs begegnete.
Der Mann krümmte den Zeigefinger.
»Laßt mich sehen.«
Benito gab ihm die Zeichnungen, und der Mönch betrachtete sie eingehend. »Warum zeigt Ihr sie Priestern?«
»Das sind Skizzen eines Reliquiars, das gestohlen wurde. Der Silberschmied, der es angefertigt hat, möchte herausfinden, ob jemand Bescheid weiß über seinen Verbleib.«
»Der Jude Toledano.«
»Ja.«
»Euer Name?«
»Ich bin Benito Martin.«
»Seid Ihr ein Konvertit?«
»Nein, Vater, ich bin ein Alter Christ.«
»Ist Helkias Toledano Euer Freund?«
Es hätte einfach sein sollen zu sagen: Ja, wir sind Freunde.
Benito mochte die Kathedrale sehr. Er kam oft hierher, weil der wunderbare gewölbte Raum ihm das Gefühl gab, als könnten seine Gebete ungehindert in die Höhe steigen, direkt in die Ohren Gottes, doch dieser Mönch verdarb ihm die Freude an dem schönen Gebäude.
»Ich bin Goldschmied. Wir haben uns einige Male über Angelegenheiten unseres Berufs unterhalten«, erwiderte er vorsichtig.
»Habt Ihr Verwandte, die Konvertiten sind?«
»Nein, die habe ich nicht.«
»Hat der Silberschmied Toledo bereits verlassen?«
»Er wird bald fort sein.« »Hat er mit Euch über jüdische Gebete gesprochen?«
»Nein. Kein einziges Mal.«
»Wißt Ihr, ob er mit einem anderen Christen über das Beten gesprochen hat?«
»Nein.«
Der Mönch gab ihm die Zeichnungen zurück. »Ihr seid Euch bewußt, daß Ihre Majestäten es den Christen ausdrücklich verboten haben, Juden Unterstützung zu gewähren?«
»Ich habe keine Unterstützung gewährt«, sagte Benito, doch das hörte der Mönch vermutlich gar nicht mehr, denn er hatte sich bereits abgewandt.
Bonestruca war sein Name, das fiel Benito jetzt wieder ein.
Der Regen hörte auf, als er am Haus der Toledanos ankam.
»Nun, mein Freund«, sagte Helkias.
»Nun, mein Freund. Und es soll wirklich morgen sein?«
»Ja, morgen«, sagte Helkias, »ob der Graf von Tembleque nun zurückkehrt oder nicht, damit ich mein Geld abholen kann. Wenn wir noch länger warten, wird es zu spät.«
Er teilte Benito mit, daß sie die Esel frühmorgens beladen würden. Er und seine Söhne suchten sorgfältig die wenigen Habseligkeiten aus, die sie mitnehmen konnten. »Was wir hierlassen, steht dir zur freien Verfügung.«
»Ich danke dir.«
»Wofür denn?«
Martin berichtete ihm von seiner enttäuschenden Mission, und Helkias dankte ihm und zuckte die Achseln. Das Ergebnis kam nicht unerwartet.
Dann sagte Benito: »Kennst du den Mönch mit dem Buckel auf dem Rücken, den großen Dominikaner?«
»Ich habe ihn gelegentlich in der Stadt gesehen.«
»Er ist ein Inquisitor. Als er sah, daß ich die Skizzen herumzeigte, gab er mir zu verstehen, daß er das mißbilligt. Er hat mir
Fragen nach dir gestellt, zu viele Fragen. Ich habe Angst um dich, Helkias. Hattest du je mit diesem Mönch zu tun - irgendwelche Schwierigkeiten oder Unannehmlichkeiten?«
Helkias schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie ein Wort mit ihm gewechselt. Aber deine Sorge ist unnötig. Morgen abend sind wir schon weit weg von hier.«
Benito schämte sich, daß ein Mönch ihm solche Angst hatte einjagen können.
Er fragte, ob er Eleasar für den Rest des Nachmittags mit zu sich nehmen dürfe, damit der Junge sich von seinem geliebten Spielkameraden, dem kleinen Enrique, verabschieden konnte. »Er kann auch über Nacht bleiben, wenn du es erlaubst.«
Helkias nickte, denn er wußte, daß die beiden Jungen sich nie wiedersehen würden.
Jona und sein Vater waren bis weit in den Abend bei Kerzenlicht beschäftigt, um alles für die Abreise vorzubereiten.
Jona arbeitete gern mit Helkias. Eleasar würde über Nacht wegbleiben, und er fand es nicht unangenehm, mit seinem Vater allein zu sein. Sie teilten ihre Habseligkeiten in Stapel, einen mit Sachen, die sie zurücklassen mußten, und einen kleineren mit Dingen, die sie im Morgengrauen auf die Esel laden würden -Kleidung, Nahrungsmittel, ein Gebetbuch und einen Satz Werkzeuge seines Vaters.
Bevor es allzu spät wurde, schickte Helkias Jona ins Bett. »Morgen reisen wir. Dazu brauchst du deine ganze Kraft.«
Aber Jona war, eingelullt von den Geräuschen seines Vaters, der den Boden fegte, eben erst eingeschlafen, als sein Vater ihn grob und heftig schüttelte. »Mein Sohn. Du mußt aus dem Haus. Durch das hintere Fenster. Beeil dich.«
Jetzt konnte Jona ihn hören, den Lärm vieler Männer, die die Straße hochkamen. Einige sangen ein grimmiges Lied. Andere schrien. Sie waren nicht mehr weit entfernt.
»Wohin...?«
»Geh in die Höhle unter dem Abbruch. Und bleib dort, bis ich dich hole.« Die Finger des Vaters gruben sich in seine Schulter. »Hör auf mich. Geh jetzt. Geh sofort. Und laß die Nachbarn dich nicht sehen.« Helkias warf ein halbes Brot in einen kleinen Sack und gab ihn dem Jungen. »Jona. Wenn ich nicht komme... bleib so lang, wie du kannst, und dann geh zu Benito Martin.«
»Komm doch mit mir, Abba«, sagte der Junge ängstlich, aber Helkias schob seinen Sohn durchs Fenster, und Jona war allein in der Nacht.
Vorsichtig schlich er sich an der Rückseite der Häuser entlang, aber irgendwo mußte er die Straße überqueren, um zur Klippe zu gelangen. Als er die Häuser hinter sich gelassen hatte, näherte er sich in der Dunkelheit der Straße und sah zum ersten Mal die näher rückenden Lichter. Sie waren erschreckend nah. Offenbar handelte es sich um eine große Gruppe Männer, und die Lichter der Fackeln tanzten funkelnd auf ihren Waffen. Er versuchte, nicht zu schluchzen, aber es war ohne Bedeutung, denn ihr Lärm war jetzt schon sehr laut.
Und plötzlich rannte Jona.
Die Enge und die Form des Tunnels dämpften die Geräusche, aber hin und wieder drang etwas an sein Ohr, ein unterdrücktes Brüllen, ein Heulen wie vom Wind eines entfernten Gewitters.
Leise weinend lag er auf dem Boden aus Fels
und Erde, als wäre er aus großer Höhe heruntergefallen. Er spürte nicht einmal die Steinchen und Kiesel unter seinem Körper.
Nach einer Weile sank er in einen tiefen Schlaf, eine willkommene Flucht aus seinem kleinen Felsgefängnis.
Als er wieder aufwachte, hatte er keine Ahnung, wie lange er geschlafen hatte oder wieviel Zeit seit seiner Flucht in die Höhle vergangen war.
Er wußte, daß ihn das Gefühl geweckt hatte, etwas Kleines krabble ihm übers Bein. Zuerst dachte er an Giftschlangen und erstarrte, aber dann hörte er ein vertrautes leises Rascheln und entspannte sich wieder, denn vor Mäusen hatte er keine Angst.
Seine Augen hatten sich inzwischen an die samtige Schwärze gewöhnt, dennoch blieb sie undurchdringlich. Er hatte keine Ahnung, ob es Tag oder Nacht war. Als er Hunger verspürte, nagte er an dem Brot, das sein Vater ihm gegeben hatte.
Als er das nächste Mal einschlief, träumte er von seinem Vater, und im Traum musterte er das vertraute Gesicht, die strahlend-blauen, tief in den Höhlen liegenden Augen über der starken Nase, den breiten, vollippigen Mund über dem buschigen Bart, der so grau war wie die lockige Aureole der Haare. Sein Vater sagte etwas zu ihm. Aber Jona konnte die Worte nicht verstehen, oder er erinnerte sich nicht an sie, als der Traum vorüber war; und beim Aufwachen fand er sich in seinem Tierbau wieder.
Er erinnerte sich an das letzte, was sein Vater zu ihm gesagt hatte, an die strenge Ermahnung, Jona solle nur ja in der Höhle bleiben, bis er, Helkias, komme und ihm sage, daß alles in Ordnung sei, und so aß er den Rest des Brotes und lag dann untätig in der Dunkelheit. Er war sehr durstig, und ihm fiel ein, daß Meir ihm beigebracht hatte, einen kleinen Kiesel in den Mund zu nehmen, wenn es kein Wasser gab, und daran zu saugen, um die Speichelbildung im Mund anzuregen. Er tastete seine Umgebung ab, und als er einen Kiesel in der richtigen Größe gefunden hatte, nahm er ihn und wischte ihn mit den Fingern sauber. Kaum hatte er ihn in den Mund gesteckt, bildete sich Speichel, und er saugte wie ein Kleinkind an der Mutterbrust. Als er merkte, daß er erneut in den tiefen Graben des Schlafes versank, spuckte er den Kiesel wieder aus.
So verging die Zeit. Nagender Hunger, verzehrender Durst und eine schreckliche zunehmende Schwäche plagten ihn, und nur der Schlaf bot gelegentlich Erlösung.
Irgendwann spürte Jona, wenn er noch länger in der Höhle bliebe, würde er verhungern, und so begann er, langsam und steif aus seinem Loch zu kriechen.
Als er um die Ecke des L-förmigen Tunnels bog, traf ihn die strahlende Helligkeit wie ein Schlag, und er blieb eine Weile liegen, bis er in dem gleißenden Licht wieder etwas sehen konnte.
Draußen merkte er am Stand der Sonne, daß es Nachmittag war. Der Tag war still, bis auf das laute Zwitschern der Vögel. Vorsichtig stieg er den schmalen Pfad hoch und erkannte, wie bitter
nötig er bei seinem verzweifelten Abstieg in der nächtlichen Dunkelheit die schützende Hand des Herrn gehabt hatte.
Auf dem Heimweg begegnete er niemandem. Als er die Häusergruppe erreichte, sah er voller Freude, daß alles unberührt und wie immer wirkte.
Bis...
Sein Haus war das einzige verwüstete. Die Tür war nicht mehr da, man hatte sie aus den Angeln gerissen. Die Einrichtung war zerstört oder gestohlen. Alles, was irgendeinen Wert hatte - Meirs maurische Gitarre zum Beispiel -, war verschwunden. Die Fensterbänke waren verkohlt, rußschwarze Fächer breiteten sich auf dem Stein über den Öffnungen aus.
Drinnen waren nur Verwüstung und Trostlosigkeit und der Geruch des Feuers.
»Abba!«
»Abba!«
»Abba!«
Aber es kam keine Antwort, und Jona erschrak über den Lärm seines eigenen Schreiens. Er ging nach draußen und rannte zu Benito Martins Haus.
Die Familie Martin begrüßte ihn mit freudigem Staunen.
Benito war blaß. »Wir dachten, du bist tot, Jona. Wir glaubten, daß sie dich in den Abgrund geworfen haben. In den Tajo.«
»Wo ist mein Vater?«
Martin ging zu dem Jungen, und während sie sich in einer freudlosen Umarmung hin und her wiegten, gestand er Jona alles, ohne ein Wort zu sagen.
Als die Worte schließlich kamen, erzählte Martin eine grausige Geschichte.
Ein Mönch hatte auf der plaza mayor von Toledo eine Menschenmenge um sich versammelt. »Es war ein buckliger Domini-kaner, ein großer Mann namens Bonestruca. Er hatte mich vor ein paar Tagen über deinen Vater ausgefragt, als ich ihm in der Kathedrale die Zeichnungen des Reliquiars zeigte.«
Der bucklige Mönch. Jona erinnerte sich an einen großen Mann mit sanften Augen.
»Auf der plaza rottete sich eine Horde zorniger Männer zusammen, als er gegen die Juden predigte, die das Land bereits verlassen haben. Die Juden hätten sich davongemacht, ohne anständig bestraft worden zu sein, erzählte er ihnen. Dann nannte er deinen Vater beim Namen und beschuldigte ihn, als Jude ein verhextes Ziborium angefertigt zu haben, mit dem er schreckliches Unheil über die Christen bringen wollte. Er bezeichnete ihn als Antichrist, der das Angebot verschmäht habe, zum Erlöser zu kommen, der Ihn straflos verhöhnt habe und sich nun mit heiler Haut aus dem Staub machen wolle. Erst trieb er sie bis zur Raserei, doch als sie sich zu deinem Haus aufmachten und deinen Vater erschlugen, blieb er zurück.«
»Wo ist Abbas Leichnam?«
»Wir haben ihn hinter dem Haus begraben. Jeden Morgen und jeden Abend bete ich für seine unsterbliche Seele.«
Martin ließ dem weinenden Jungen Zeit zu trauern. »Warum ist er nicht mitgekommen, als er mich wegschickte?« stammelte Jona. »Warum ist er nicht auch geflohen?«
»Ich glaube, er ist geblieben, um dich zu schützen«, sagte Martin langsam. »Wenn niemand im Haus gewesen wäre, hätten die Männer gesucht, bis sie deinen Vater gefunden hätten. Und dann... hätten sie auch dich gefunden.«
Bald darauf brachten Benitos Frau Theresa und seine Tochter Lucia Brot und Milch, aber Jona in seinem Kummer bemerkte sie gar nicht.
Benito drängte den Jungen zum Essen, und Jona konnte nicht anders, als unter den besorgten Blicken des Mannes und der beiden Frauen alles gierig hinunterzuschlingen, kaum daß er den er-sten Bissen gekostet hatte. Eleasar war nicht da, und auch Enrique Martin nicht, und Jona nahm an, daß die beiden kleinen Jungen irgendwo in der Nähe spielten.
Doch dann kam Enrique allein nach Hause.
»Wo ist mein Bruder?«
»Der Kleine ist bei seinem Onkel, Aaron dem Käser, und seiner Tante Juana«, sagte Martin. »Sie haben Eleasar am Morgen nach dem Unglück hier abgeholt und Toledo sofort verlassen.«
Jona sprang in höchster Erregung auf. »Ich muß sofort nach Valencia, zu ihnen«, rief er, aber Benito schüttelte den Kopf. »Sie gehen nicht nach Valencia. Aaron hat nicht viel Geld. Ich... habe ihm die Summe gegeben, die ich deinem Vater für das Silber schuldete, aber... Er glaubte, sie würden eher ein Schiff für die Überfahrt finden, wenn sie in eins der kleinen Fischerdörfer gingen. Sie haben die beiden Pferde von Marcelo Trocas Weide mitgenommen, damit sie unterwegs immer zwei Tiere schonen können.« Er zögerte. »Dein Onkel ist ein guter Mann, und stark. Ich glaube, sie schaffen es.«
»Ich muß gehen!«
»Zu spät, Jona. Es ist zu spät. In welches Fischerdorf willst du denn gehen? Und du warst drei Tage in deiner Höhle, mein Junge. Das letzte der jüdischen Schiffe wird in vier Tagen Segel setzen. Auch wenn du Tag und Nacht galoppierst und dein Pferd dir nicht eingeht, könntest du die Küste nie in vier Tagen erreichen.«
»Wohin bringt Onkel Aaron Eleasar?«
Benito schüttelte bekümmert den Kopf. »Aaron wußte noch nicht, wohin sie segeln würden. Es hängt davon ab, welche Schiffe verfügbar sind, mit welchem Ziel. Du mußt in diesem Haus bleiben, Jona. In ganz Spanien werden Soldaten jetzt nach Juden suchen, die den Ausweisungsbefehl nicht befolgt haben. Jeder Jude, der nicht bereit ist, sich von Christus retten zu lassen, wird getötet.«
»Aber... was soll ich dann tun?«
Benito ging zu ihm und faßte ihn bei den Händen.
»Hör mir gut zu, mein Junge. Der Mord an deinem Vater hatte mit dem an deinem Bruder zu tun. Es ist kein Zufall, daß dein Vater der einzige Jude war, der hier erschlagen wurde, oder daß sein Haus als einziges von den menudos verwüstet wurde, während nicht einmal eine Synagoge geschändet wurde. Du mußt dich von der Gefahr fernhalten. Aus Liebe zu meinem Freund, deinem Vater, und zu dir gewähre ich dir den Schutz meines Namens.«
»Deines Namens?«
»Ja. Du mußt konvertieren. Du wirst bei uns leben, als einer von uns. Ich gebe dir den Namen, den einst mein Vater trug. Du wirst Tomas Martin heißen. Bist du einverstanden?«
Jona sah ihn verwirrt an. Ein Handstreich des Schicksals hatte ihn aller Verwandten beraubt, hatte ihm alle genommen, die er liebte. Er nickte.
»Dann will ich jetzt einen Priester suchen gehen und ihn hierherbringen«, sagte Benito und machte sich unverzüglich auf den Weg.
Wie gelähmt von den Dingen, die Benito ihm erzählt hatte, saß Jona im Haus der Martins. Eine Weile war Lucia bei ihm und hielt seine Hand, aber er war zu überwältigt von seinen Gefühlen, um auf seine Freundin eingehen zu können, und so ließ sie ihn bald allein.
Vor allem schmerzte ihn, daß er seinen geliebten jüngeren Bruder Eleasar, der ja noch am Leben war, nie mehr wiedersehen würde.
Auf Benitos Zeichentisch lagen Federkiel, Tinte und Papier. Jona ging zum Tisch, nahm die Feder und griff nach einem Blatt Papier, doch schon stand Theresa Martin neben ihm.
»Papier ist teuer«, sagte sie mürrisch und betrachtete ihn mißmutig. Theresa Martin hatte sich nie so über die Freundschaft mit den Toledanos gefreut, wie ihr Gatte und ihre Kinder es getan hatten, und es war offensichtlich, daß sie nicht gerade glücklich war über die Entscheidung ihres Gatten, einen Juden in die Familie aufzunehmen.
Auf dem Tisch lag eine Zeichnung des Silberkelchs, den Helkias angefertigt hatte, eine der Skizzen, die er Martin gegeben hatte. Jona nahm sie und fing auf der leeren Rückseite an zu schreiben. Die erste Zeile schrieb er in Hebräisch und die übrige Botschaft in Spanisch, schnell und ohne Pause.
An meinen geliebten Bruder Eleasar ben Helkias Toledano. Erfahre, daß ich, Dein Bruder, nicht von jenen erschlagen wurde, die unserem Vater das Leben genommen haben. Ich schreibe Dir, geliebter Eleasar, für den Fall, daß mir unbekannte Ereignisse Dich und unsere Verwandten davon abgehalten haben, aus Spanien abzureisen. Oder falls Du am Neunten des Aw schon auf jenen Tiefen des Meeres segelst, über die wir in glücklicheren Kindertagen nachgegrübelt haben, wird vielleicht die Zeit kommen, da Du als Mann zum Hause unserer Kindheit zurückkehrst und diesen Brief in unserem Versteck findest, auf daß Du erfahren mögest, was hier geschehen ist.
Falls Du zurückkehrst, sei um Deiner Sicherheit willen gewahr, daß eine mächtige Person, die ich nicht kenne, einen besonderen Haß gegen die Familie Toledano hegt. Den Grund dafür verstehe ich nicht. Unser Vater, möge er ruhen im ewigen Frieden der Rechtschaffenen, glaubte, unser Bruder Meir ben Helkias wurde nur umgebracht, um den Diebstahl des Reliquienkelchs zu ermöglichen, den die Abtei zur Himmelfahrt Maria in Auftrag gegeben hatte. Der gute Freund unseres Vaters, dessen Namen ich nicht schreiben möchte für den Fall, daß dieser Brief von solchen gelesen wird, die ihm übelwollen, ist überzeugt, daß der Tod unseres Vaters in Verbindung steht mit Meirs Tod, mit dem Gold- und Silberkelch, den er angefertigt hat, und irgendwie auch mit einem Dominikanermönch mit dem Namen Bonestruca. Du mußt sehr wachsam sein. Auch ich muß sehr wachsam sein.
Hier gibt es keine Juden mehr, nur noch Alte Christen und Neue Christen. Bin ich allein in Spanien? Alles, wofür unser Vater gearbeitet hat, ist verschwunden. Allerdings gibt es noch jene, die ihre Schulden nicht bezahlt haben. Auch wenn Du zurückkehren und diese Zeilen finden solltest, dürfte es Dir schwerfallen, diese Schulden einzutreiben.
Samuel ben Sahula schuldet unserem Vater dreizehn Maravedi ^ für drei große Sederteller, einen Kidduschbecher und ein kleines Silberbecken für die rituellen Waschungen. Don Isaak ibn Arbet schuldet uns sechs Maravedi^ für einen Sederteller und zwei Maravedi für sechs kleine Silberbecher. Ich weiß nicht, wohin diese Männer gegangen sind; so der Herr will, werden sich vielleicht eines Tages Eure Wege kreuzen. Graf Fernan Vasca von Tembleque schuldet unserer Familie neunundsechzig Real und sechzehn Maravedi für drei große Schüsseln, vier kleine Silberspiegel und zwei große Silberspiegel, eine goldene Blume mit silbernem Stiel, acht kurze Kämme für Frauenhaar und einen langen Kamm sowie ein Dutzend Kelche mit Schalen aus massivem Silber und Sockeln aus Elektrum. Abbas Freund möchte mich zu seinem christlichen Sohn machen, aber ich muß unseres Vaters jüdisches Kind bleiben, sollte es auch mein Verderben sein. Auch wenn man mich fängt, werde ich nicht konvertieren. Falls es zum Schlimmsten kommt, dann wisse, daß ich vereinigt bin mit unserem Meir und unseren geliebten Eltern und mit ihnen zu Füßen des Allmächtigen ruhe. Wisse aber auch, daß ich meinen Platz im Himmlischen Königreich aufs Spiel setzen würde, wenn ich nur einmal noch meinen kleinen Bruder umarmen könnte. Ach, ich würde Dir wieder ein Bruder sein! Für jede Gedankenlosigkeit, für jede Kränkung, die ich Dir durch achtlose Worte oder Taten zugefügt haben mag, bitte ich Dich, mein verschwundener und geliebter Bruder, um Verzeihung, und ich erflehe Deine Liebe in Ewigkeit. Denke an uns, Eleasar, und bete für unsere Seelen. Vergiß nicht, daß Du ein Sohn des Helkias bist, Sproß des Stammes Levi. Sag jeden Taß das Schema auf und denke daran, daß es mit Dir betet. Dein trauernder Bruder
Jona ben Helkias Toledano
»Mein Mann wird das Haus deines Vaters jetzt natürlich nicht mehr kaufen. Das Haus ist zerstört.« Stirnrunzelnd betrachtete Theresa das Papier. Sie konnte nicht lesen, aber sie erkannte die jüdischen Schriftzeichen in der ersten Zeile. »Du wirst Unglück über unser Haus bringen.«
Der Gedanke bedrückte Jona und brachte ihm wieder zu Bewußtsein, daß schon in kurzer Zeit Benito mit einem Priester und geweihtem Wasser für seine Taufe zurückkehren würde.
Erregt nahm er das Blatt und ging nach draußen.
Die Sonne ging unter, der Tag kühlte ab. Niemand hielt ihn auf, als er vom Haus der Martins fortging.
Seine Füße trugen ihn zurück zu den Ruinen, die einmal sein Zuhause gewesen waren. Hinter dem Haus sah er, wo die Erde über dem Grab seines Vaters aufgeworfen war. Merkwürdig tränenlos sagte er das Trauerkaddisch auf, und als er die Grabstelle mit einem Stein kennzeichnete, schwor er sich, falls er überleben sollte, würde er eines Tages die Überreste seines Vaters in geweihte Erde überführen.
Ihm fiel der Traum ein, den er in der Höhle gehabt hatte, und jetzt war ihm, als hätte sein Vater ihm in diesem Traum zu sagen versucht, er solle bleiben, wer er sei, Jona ben Helkias Toledano vom Stamme Levi.
Trotz der hereinbrechenden Dunkelheit durchsuchte er das ganze Haus.
Alle silbernen Mesusa, die kleinen Kapseln mit Zitaten aus der Schrift, waren von den Türpfosten gerissen worden. Alles von Wert war aus der Werkstatt verschwunden, sogar die Bodendielen waren aufgerissen worden. Die Eindringlinge hatten alles
Geld gefunden, das Helkias für die Flucht aus Spanien hatte zusammenraffen können. Aber das Versteck mit einer Handvoll kleiner Münzen hinter einem losen Stein in der Nordwand des Hauses hatten sie nicht entdeckt - achtzehn Sueldo, die sich Jona und Eleasar als ihren persönlichen Schatz zusammengespart hatten. Es war zwar nicht viel, aber einige Kleinigkeiten konnte er sich dafür kaufen, und so formte er aus einem schmutzigen Lumpen einen Beutel und steckte die Münzen hinein.
Auf dem Boden lag ein Stück Pergament, das jemand aus einer Mesusa gerissen und achtlos weggeworfen hatte, und er las die Inschrift: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen dir ins Herz geschrieben sein.
Zuerst wollte er das Pergament in den Beutel mit den Münzen stecken. Doch plötzlich dachte er mit kaltem, klarem Verstand, und es kam ihm, daß es seinen Tod bedeuten konnte, wenn man diesen Fetzen bei ihm fand. Er faltete das Fragment zusammen und steckte es zusammen mit dem Brief an seinen Bruder hinter den Stein, wo er und Eleasar ihre Münzen aufbewahrt hatten. Dann verließ er das Haus.
Kurz darauf kam er an Marcelo Trocas Wiese vorüber. Onkel Aaron hatte die Pferde mitgenommen, aber die beiden Esel, die sein Vater gekauft hatte, waren noch dort angebunden und fraßen Abfälle. Als Jona auf den größeren der beiden zuging, scheute der und trat nach ihm. Aber der andere, ein kleineres und schwächlich aussehendes Tier, sah ihn friedlich an und erwies sich als fügsamer. Als Jona den Esel losband und bestieg, trottete er, den Stößen von Jonas Fersen gehorchend, brav davon. Er hatte offenbar zu viele Abfälle gefressen und ließ ständig übelriechende Winde ab, aber sonst schien er ein angenehmer Reisegenosse zu sein.
Es war gerade noch so hell, daß der Esel den steilen Pfad sicheren Schritts zurücklegen konnte. Als sie den Fluß überquer-ten, ragten die Ausbisse purpurnen Schiefers wie drohend schwarze Zähne im letzten Tageslicht auf.
Jona hatte kein festes Ziel. Sein Vater hatte gesagt, der Allmächtige würde ihnen immer den richtigen Weg weisen. Nun, der gegenwärtige war nicht gerade vielversprechend, doch nachdem Jona sich ein Stückchen vom Fluß entfernt hatte, senkte er die Zügel und ließ sich vom Esel und dem Herrn führen, wohin sie wollten. Er fühlte sich weder wie ein stolzer Kaufmann noch wie ein Ritter. Ohne Freund auf einem furzenden Esel ins Unbekannte zu reiten war nicht gerade das Abenteuer, das er sich erträumt hatte.
Einen Augenblick lang hielt er sein Reittier an und schaute noch einmal zurück nach Toledo, das jetzt hoch über ihm lag. In einigen Fenstern leuchteten warm die Öllampen, und jemand ging mit einer Fackel die vertraute schmale Straße am Hochufer entlang. Aber es war niemand, der ihn liebte, und so drückte er dem Esel die Knie in die Flanken und drehte sich nicht wieder um.