SIERRA MORENA 11. NOVEMBER 1495
Nun ritt Jona auf Mose wieder nach Norden, immer an der Grenze zu Portugal entlang und im Gefolge der herbstlichen Bräunung des grünen Landes. Ein halbes dutzendmal hielt er an und arbeitete ein paar Tage, um sich sein Essen zu verdienen, doch nirgendwo blieb er länger, bis er Salamanca erreichte. Hier suchte man Arbeiter für die Restauration der Kathedrale.
Dem stämmigen Aufseher sagte er, daß sein Name Ramon Cal-lico sei. »Was kannst du?« fragte der Mann, der zweifelsohne hoffte, daß Jona ein Maurer- oder Zimmermannsgeselle sei.
»Ich kann arbeiten«, erwiderte Jona, und der Aufseher nickte.
Die Ochsen und die riesigen Zugpferde, mit denen man die schweren Steine zur Kathedrale schleppte, wurden in einem Stall gleich in der Nähe gehalten. Jona stellte Mose ebenfalls in dem Stall unter, und nachts ruhte er neben seinem Esel, in den Schlaf gewiegt von den Geräuschen der Tiere in ihren Ständen.
Tagsüber wurde er Teil der kleinen Armee - Handlanger, Maurer, Steinmetzen und Viehtreiber -, die sich abmühte, einzelne Quader dunklen Steins in der bis zu zehn Fuß tiefen Mauer der Kathedrale zu ersetzen. Die Arbeit war schweißtreibend und fürchterlich, und die Luft war erfüllt vom Klagen der Tiere, den Flüchen und geschrienen Befehlen der Aufseher und Viehtreiber, dem hellen Schlagen der Hämmer und dem dumpfen Dröhnen der Schlegel sowie dem beständigen mahlenden Knirschen von schweren Steinen, die über den rauhen Boden gezogen wurden. Kleinere Quader wurden von Handlangern getragen. Größere Steine wurden von den Tieren so weit wie möglich an die Baustellen herangeschafft, und dann wurden die Männer zu Lasttieren, in langen Schlangen zerrten sie an dicken Tauen, um die Quader zu bewegen, oder sie stellten sich nebeneinander und stemmten sich gegen den Feind, den Stein.
Jona bereitete es Freude, an einem Haus der Anbetung zu arbeiten, auch wenn es für die Gebete anderer bestimmt war. Er war nicht der einzige Nichtchrist, der bei der Wiederherstellung der Kathedrale mithalf; die meisten der Handwerksmeister zum Beispiel waren Mauren, die Stein und Holz mit unglaublichem Geschick bearbeiteten. Als Jonas Vater von Padre Sebastian Alvarez gebeten worden war, ein Ziborium für eine christliche Reliquie zu entwerfen und anzufertigen, hatte Helkias die Sache mit Rabbi Ortega besprochen, doch der hatte ihm geraten, den Auftrag anzunehmen. »Es bringt Glück, anderen beim Beten zu helfen«, hatte der Rabbi gesagt und Helkias darauf hingewiesen, daß die feinen und wunderschönen Ziselierungen an den Toledaner Synagogen allesamt von Mauren ausgeführt worden seien.
Die Arbeit an der Kathedrale war kräftezehrend. Wie die anderen plagte sich Jona mürrisch und ohne Lachen, redete nur, wenn die Arbeit es erforderte, und wahrte sein Anderssein, indem er seine Gedanken für sich behielt. Manchmal arbeitete er mit einem glatzköpfigen peon zusammen, der gebaut war wie ein Steinquader, vierschrötig und breit. Seinen Familiennamen erführ Jona nie, aber die Vorarbeiter nannten ihn Leon.
Eines Morgens, Jona war bereits seit sieben Wochen in Sala-manca, war er zusammen mit Leon damit beschäftigt, Steine an die richtigen Stellen in der Mauer zu bugsieren. Als er zwischendurch den Kopf hob, sah er eine Prozession von Männern in schwarzen Kutten, die nach ihrem Morgengebet, das bereits vor dem Eintreffen der Arbeiter begonnen hatte, die Kathedrale verließen.
Leon starrte den großen, alten Mönch an der Spitze der Prozession an.
»Das ist Fray Tomas de Torquemada. Der Generalinquisitor«, flüsterte er. »Ich bin aus Santa Cruz, wo er Prior des Klosters ist.«
Jona musterte den großen, betagten Mönch mit der langen, geraden Nase, dem spitzen Kinn und dem mürrischen grüblerischen Blick. Gedankenverloren eilte Torquemada an ihnen vorbei. Etwa zwei Dutzend Männer gingen in dieser weit auseinandergezogenen Kolonne, und in ihrer Mitte entdeckte Jona einen weiteren großen Mann mit einem Buckel auf dem Rücken, den er überall wiedererkennen würde. Bonestruca, der ins Gespräch mit seinem Begleiter vertieft war, ging so nahe an Jona vorbei, daß der Junge seine buschigen Brauen und ein Bläschen auf seiner Oberlippe erkennen konnte.
Einmal hob der bucklige Mönch den Kopf und sah Jona direkt ins Gesicht, doch die grauen Augen zeigten weder Interesse noch Wiedererkennen, und während Jona noch starr vor Furcht dastand, ging Bonestruca weiter.
»Was bringt Fray Torquemada nach Salamanca?« fragte Jona, doch Leon zuckte nur die Achseln.
Später jedoch hörte Jona den Aufseher einem anderen Arbeiter erzählen, daß Inquisitoren aus allen Teilen Spaniens zu einer Versammlung in der Kathedrale zusammengekommen seien, und er fragte sich, ob das der Grund sei, warum Gott ihn gerettet und hierhergeführt hatte: damit er Gelegenheit hatte, den Mann zu töten, der seinen Vater und seinen Bruder auf dem Gewissen hatte.
Am nächsten Morgen beobachtete er wieder, wie die Inquisitoren nach dem Morgengebet die Kathedrale verließen. Er erkannte, daß sich die beste Stelle für einen Angriff auf Bonestruca links des großen Portals befand, ganz in der Nähe seines Arbeitsplatzes. Er würde nur einmal zuschlagen können, bevor man ihn überwältigte, und er rechnete sich aus, daß er, um Bonestruca zu töten, seine scharfe Hacke wie eine Axt benutzen und ihm damit die Kehle durchhacken mußte.
In dieser Nacht lag er schlaflos und aufgeregt auf seinem Strohlager im Stall. Schon als Junge hatte er manchmal davon geträumt, ein Krieger zu sein, und in den letzten Jahren war ihm oft in den Sinn gekommen, daß er es genießen würde, die Morde an seinem Vater und seinem Bruder zu rächen. Jetzt aber, da es plötzlich möglich erschien, bekam er es mit der Angst, da er nicht wußte, ob er wirklich töten konnte. Er bat den Herrn, ihm im Augenblick der Tat Kraft zu geben.
Am Morgen ging er wie gewohnt zur Kathedrale.
Als nach dem Morgengebet ein Mönch aus dem Portal trat, nahm Jona seine Hacke und ging zu der Stelle links des Eingangs. Fast sofort fingen seine Hände an zu zittern.
Fünf Mönche folgten dem ersten, und dann kam niemand mehr.
Der Aufseher starrte ihn böse an, als er sah, daß Jona blaß und untätig herumstand. »Bist du krank?«
»Nein, Senor.«
»Solltest du nicht beim Mörtelmischen helfen?« fragte er, als er die Hacke bemerkte.
»Ja, Senor.«
»Na, dann mach dich an die Arbeit«, knurrte der Mann, und Jona tat wie ihm geheißen.
An diesem Nachmittag hörte er, daß die Versammlung der Wächter des Glaubens bereits am Tag zuvor zu Ende gegangen war, und er wußte, daß er dumm und töricht war, ungeeignet als rächender Arm Gottes. Er hatte zu lange gewartet, und nun war Bonestruca weg, um wie die anderen Inquisitoren Spaniens in seiner Provinz sein schreckliches Werk zu tun.
Die Arbeit in Salamanca dauerte bis zum Frühling. Mitte März riß in Leons Rücken ein Muskel, als sie gerade einen Steinquader bewegten, und der peon wälzte sich vor Schmerzen auf dem Boden. Er wurde auf einen Karren gehoben und fortgeschafft, und Jona sah ihn nie wieder. Wenn zwei Arbeiter nötig waren, wurde er mit anderen zusammengespannt, aber mit keinem hatte er etwas gemein. Aus Angst wandte er sich von den anderen ab, und niemand wurde sein Freund.
Es waren noch nicht alle Reparaturen an der mehr als dreihundertfünfzig Jahre alten Kathedrale ausgeführt, als die Arbeiten unter hitzigen Disputen über die Zukunft des Gebäudes eingestellt wurden. Viele der Stadtbewohner behaupteten, ihr Gotteshaus sei nicht groß genug. Obwohl die Kapelle des San Martin Fresken aus dem dreizehnten Jahrhundert enthielt, zeigte die Kathedrale insgesamt nur wenig Schmuck und hielt dem Vergleich mit den berühmten Gotteshäusern anderer Städte nicht stand. Schon gab es Leute, die Geld sammelten für den Bau einer neuen Kathedrale, und die Arbeiten an dem alten Gebäude wurden ausgesetzt.
So verlor Jona seine Arbeit und zog wieder Richtung Süden. Den siebten Tag des Mai, seinen achtzehnten Geburtstag, erlebte er in der Grenzstadt Coria. Er kehrte in einem Gasthof ein und genehmigte sich einen Eintopf aus Ziegenfleisch und Linsen, doch als er mitbekam, was die drei Männer am Nebentisch besprachen, sollte ihm die Lust am Feiern gründlich vergehen.
Sie redeten von den Juden, die aus Spanien nach Portugal geflohen waren.
»Um sechs Monate in Portugal bleiben zu dürfen«, sagte einer der Männer, »zahlten sie König Johann ein Viertel ihres weltlichen Besitzes und einen Dukaten für jede Person, die die Grenze überschritt. Insgesamt einhundertzwanzigtausend Dukaten. Die sechs Monate ihres Bleiberechts waren im Februar zu Ende, und wißt ihr, was dieser dahergelaufene König dann getan hat? Er hat die Juden zu Sklaven des Staates erklärt.«
»Ach... Möge Gott König Johann verfluchen.«
Aufgrund ihres Tonfalls nahm Jona an, daß es sich um Konvertiten handelte. Die meisten Christen wären nicht so entrüstet über die Versklavung von Juden gewesen.
Er gab keinen Ton von sich, doch einer der drei schaute zu ihm herüber, und als er ihn so stumm und steif dasitzen sah, wußte er, daß Jona gelauscht hatte. Der Mann flüsterte seinen Begleitern etwas zu, und die drei standen auf und verließen das Wirtshaus.
Wieder einmal erkannte Jona, wie weise Abbas und Onkel Aa-rons Entscheidung gewesen war, nicht Portugal als Zuflucht zu wählen, sondern sich nach Osten, in Richtung Küste, zu wenden. Der Appetit war ihm vergangen, und so saß er da und sah zu, wie das Fett in seinem kalt gewordenen Eintopf gerann.
An diesem Nachmittag hörte er auf einmal das Blöken vieler Schafe und ritt direkt darauf zu. Bald kam er zu einer Herde, deren Tiere sich offenbar immer weiter verstreuten, und kurz darauf sah er auch den Grund dafür. Der alte Schäfer, ein hagerer, weißhaariger Mann, lag hilflos auf der Erde.
»Ein Schlagfluß«, stammelte der Mann.
Sein Gesicht im Gras war weiß wie seine Haare, und sein Atem kam in leise gurgelnden Stößen. Jona drehte ihn auf den Rücken, brachte ihm Wasser und versuchte, es ihm so bequem wie möglich zu machen, doch der alte Mann gab ihm zu verstehen, daß sein größter Kummer der drohende Verlust der Herde sei.
»Ich kann Eure Schafe wieder einfangen«, entgegnete Jona, bestieg Mose und ritt davon. Es war keine schwierige Aufgabe. Früher hatte er oft mit Aaron Toledanos Herde gearbeitet. Onkel Aaron hatte weniger Tiere gehabt, und so viele Ziegen wie Schafe, aber Jona war vertraut mit ihrem Verhalten. Diese Schafe waren noch nicht weit gewandert, und er hatte nur wenig Mühe, sie wieder zu einer dichten Herde zusammenzutreiben.
Der alte Mann stammelte, daß sein Name Geronimo Pico sei.
»Wie kann ich Euch sonst noch helfen?«
Der Schäfer hatte starke Schmerzen und drückte sich wie zum Schutz die Arme an die Brust. »Die Schafe müssen zurückgebracht werden... zu Don Emilio de Valladolid, in der Nähe von Plasencia«, keuchte er.
»Auch Ihr müßt zurückgebracht werden«, sagte Jona. Er hob den Schäfer auf den Esel und nahm den derben Krummstab des Alten in die Hand. Sie kamen nur langsam vorwärts, denn Jona mußte immer wieder weit ausschweifen, um die Herde zusammenzuhalten. Es war später Nachmittag, als er sah, daß der alte Schäfer von Moses Rücken glitt. Irgendwie merkte er an dem schweren Sturz und dem kraftlosen Hingestrecktsein des Körpers sofort, daß der alte Mann gestorben war.
Trotzdem rief er ein paarmal Geronimo Picos Namen, tätschelte ihm die alten Wangen und rieb die Handgelenke, bevor er sich endgültig eingestehen mußte, daß der Mann tot war.
»Ach, verdammt... «
Nachdem er, ohne recht zu wissen, warum, das Kaddisch für den Fremden gebetet hatte, legte er die Leiche auf Moses Rücken, mit dem Gesicht nach unten und baumelnden Armen, und trieb noch einmal die Herde zusammen, bevor er weiterzog. Plasencia war nicht weit entfernt; schon bald darauf kam er zu einem Mann und einer Frau, die auf einem Feld arbeiteten.
»Der Hof von Don Emilio de Valladolid?«
»Ja«, sagte der Mann. Dann sah er die Leiche an und bekreuzigte sich. »Geronimo der Schäfer.«
»Ja.«
Er beschrieb Jona den Weg zum Hof. »Vorbei an dem großen, vom Blitz gespaltenen Baum, über den Bach, und dann siehst du ihn schon zur Rechten.«
Es war ein großes, gutgepflegtes Gehöft, und Jona trieb die Schafe auf den Innenhof. Drei Arbeiter kamen gelaufen, die keine weiteren Erklärungen brauchten, als sie die Leiche sahen; leise murmelnd vor Trauer und Bedauern, hoben sie den Schäfer vom Esel und trugen ihn davon.
Der Grundbesitzer war ein rotgesichtiger, tranäugiger Mann in feinen Kleidern, die voller Flecken waren. Verärgert über die Störung seines Abendmahls kam er vor die Tür und sprach mit seinem Aufseher. »Gibt es einen Grund für dieses Schafsgeblöke?«
»Der Schäfer ist tot. Der da hat ihn zusammen mit der Herde zurückgebracht.«
»Schafft mir die vermaledeiten Tiere vom Haus weg.«
»Ja, Don Emilio.«
Der Aufseher war ein schlanker Mann mittlerer Größe mit graumelierten braunen Haaren und ruhigen braunen Augen. Er und seine Söhne halfen Jona, die Herde auf eine Wiese zu treiben, und die Jungen lachten dabei und riefen sich derbe Sprüche zu. Der eine, ein schlaksiger Knabe von etwa sechzehn Jahren, hieß Adolfo, der andere war einige Jahre jünger als sein Bruder und hieß Gaspar. Der Aufseher ließ die beiden zwei Schüsseln Essen holen - eine dicke, heiße Weizengrütze -, und dann saßen er und Jona bei den Schafen auf der Erde und aßen schweigend.
Der Aufseher rülpste und betrachtete den Fremden. »Ich bin Fernando Ruiz.«
»Ramon Callico.«
»Du scheinst zu wissen, wie man mit Schafen umgeht, Ramon Callico.« Fernando Ruiz wußte, daß viele Männer die Leiche von Geronimo dem Schäfer einfach liegengelassen und die wertvolle Herde davongetrieben hätten, so schnell die Tiere laufen konnten. Der junge Mann, der nun vor ihm saß, hatte nichts dergleichen getan, was bedeutete, daß er entweder verrückt oder ehrlich war, und Wahnsinn sah Fernando nicht in seinen Augen.
»Wir brauchen einen Schäfer. Mein Sohn Adolfo könnte es gut, aber er ist noch ein Jahr zu jung für eine solche Verantwortung. Möchtest du dich um diese Schafe kümmern?«
Die grasenden Tiere waren friedlich, nur hin und wieder blökte eins leise, ein Geräusch, das Jona sehr beruhigend fand.
»Ja, warum nicht?«
»Aber du mußt sie von hier wegbringen.«
»Mag Don Emilio seine Schafe nicht?«
Fernando lächelte. Sie waren allein auf der Wiese, aber er beugte sich vor und flüsterte.
»Don Emilio mag überhaupt nichts«, sagte er.
Vierunddreißig Monate sollte Jona so gut wie alleine mit der Herde verbringen, und er wurde dabei so vertraut mit den Tieren, daß er jeden Bock und jedes Mutterschaf kannte, wußte, welche ruhig und fügsam und welche stur oder verschlagen, welche gesund und welche krank waren. Es waren große, dumme Schafe mit einer langen, feinen Wolle, die alles bedeckte bis auf die schwarze Nase und die friedvollen Augen. Er fand sie schön. Immer wenn das Wetter mild war, trieb er sie durch einen Bergbach, um den Dreck wegzuspülen, der die fettige weiße Wolle verklebte und sie gelb färbte.
Fernando gab ihm einige einfache Vorräte mit und einen Dolch, der nicht sehr gut war, da seine Klinge aus schlechtem Stahl bestand. Jona durfte die Schafe überallhin führen, wo es Gras zum Weiden gab, solange er nur im Frühling zur Schur und im Herbst zum Kastrieren und zum Schlachten einiger der jungen Böcke auf Don Emilios Hof zurückkehrte. Gemächlich neben der Herde herreitend, trieb er sie in die Ausläufer der Sierra de Gredos. Onkel Aaron hatte einen Schäferhund gehabt, der ihm beim Hüten half, aber Jona hatte Mose. Mit jedem Tag wurde der Esel geschickter im Bewachen der Herde. Anfangs verbrachte Jona Stunden auf dem Rücken des Esels, aber schon bald trabte Mose selbständig hinter streunenden Tieren her wie ein Schäferhund und trieb sie mit Schreien zur Herde zurück.
Jedesmal, wenn er die Tiere auf den Hof zurückbrachte, nahm ihn Adolfo, Fernandos Sohn, unter seine Fittiche und brachte ihm bei, was es über Schafe zu wissen gab. Jona lernte zu scheren, obwohl er nie so schnell oder geschickt darin wurde wie Fernando und seine Jungen. Auch kastrieren und schlachten konnte er bald, aber wenn es ans Häuten ging, war er mit dem Messer nicht viel besser als mit der Wollschere.
»Denk dir nichts. Übung macht den Meister«, sagte Adolfo. Wenn Jona die Schafe zum Hof brachte, kam Adolfo mit einem Krug Wein auf die abgelegene Weide, wo die Herde gehalten wurde, und dann setzten er und Jona sich zusammen und besprachen all die Schwierigkeiten, die das Schafehüten mit sich brachte, den Mangel an Frauen, die Einsamkeit und die Bedrohung durch Wölfe. Adolfo riet Jona, nachts zu singen, um sie von der Herde fernzuhalten.
Das Hüten war eine ideale Beschäftigung für einen Flüchtling. Es gab nur sehr wenige Dörfer in der Sierra, und Jona mied sie, wie er auch um die verstreuten kleinen Höfe einen großen Bogen machte. Er weidete die Schafe auf den grasbewachsenen Lichtungen, die wie Sonnenflecken die unteren Hänge einsamer Berge sprenkelten, und wenn einmal ein Mensch seinen Weg kreuzte, sah der nur einen ungepflegten Schäfer und Einsiedler.
Auch böse Männer mieden ihn, denn er war groß und stark, mit einer wilden Kraft in den Augen. Seine kastanienbraunen Haare hingen ihm bis auf die Schultern, und sein Bart hatte sich voll und kräftig entwickelt. In der Hitze des Sommers ging er fast nackt, denn seine Kleidung, die er als Ersatz für die Stücke, die ihm zu klein geworden waren, gebraucht gekauft hatte, war abgetragen. Wenn einmal ein Schaf umkam, häutete er es ungeschickt und labte sich mit großem Vergnügen an Lamm oder Hammel, bis das Fleisch schlecht wurde, was im Sommer sehr schnell passierte. Bliesen im Winter rauhe Winde, wickelte er sich gegen die Kälte Schaffelle um Arme und Beine. Er fühlte sich sehr wohl in den Hügeln. Wenn er nachts auf einer Kuppe ruhte, war das Himmelszelt mit seinen großen, leuchtenden Sternen sein Zuhause.
Der Hirtenstab, den er von Geronimo Pico geerbt hatte, war ein armseliges Ding, und eines Morgens schnitt er sich von einem Nußbaum einen langen Ast mit einer natürlichen Krümmung am Ende. Sorgfältig schälte er die Rinde ab und schnitzte ein Muster in das Holz, welches an die geometrischen Figuren erinnerte, die maurische Handwerker zur Verzierung der Toledaner Synagoge benutzt hatten. Dann fuhr er mit den Händen durch die Wolle der Schafe, bis seine Finger troffen von ihrem Fett, und rieb es oft stundenlang ins Holz, bis der geschmeidige Stab eine dunkle Patina angenommen hatte.
Manchmal fühlte er sich wie ein wildes Tier, aber tief drinnen klammerte er sich an seine zivilisiertere Herkunft; er betete jeden Morgen und jeden Abend und rief sich immer wieder den Kalender ins Bewußtsein, um die Festtage heiligen zu können. Manchmal schaffte er es, sich vor dem Sabbat zu baden. In der Sommerhitze war es einfach, denn jeder, der ihn in einem Bach oder Fluß planschen sah, dachte, er tue es zur Abkühlung und nicht der Religion wegen. Wenn es kühl war, wusch er sich zitternd mit einem nassen Lappen, in den kältesten Wochen des Winters aber gestattete er sich zu stinken, denn schließlich war er keine Frau, die ihren Gatten erst empfangen durfte, wenn sie die Mikwe besucht hatte.
Tatsächlich wünschte er sich in jener Zeit oft, er könnte wie die Frauen einfach untertauchen und seine Seele reinwaschen, denn er war besessen von den Freuden des Fleisches. Es war schwierig, eine Frau zu finden, der er trauen konnte. In einer Schenke gab es eine Dirne, bei der er Wein kaufte, und zweimal gab er ihr eine Münze, damit sie in ihrer dunklen, stinkenden Kammer für ihn die Beine spreizte. Und manchmal, wenn die Tiere grasten, ohne ihn zu beachten, gab er sich der Lüsternheit hin und beging die Sünde, für die der Herr Onan das Leben genommen hatte.
Manchmal stellte er sich vor, wie anders sein Leben sein könnte, wenn nicht das Unglück über seine Familie hereingebrochen wäre und ihn aus dem Haus seines Vaters vertrieben hätte. Inzwischen wäre er wohl ein Silberschmiedgeselle, verheiratet mit einer Frau aus guter Familie, vielleicht selbst schon Vater.
Statt dessen hatte er, obwohl er sich nach Kräften bemühte, ein Mensch zu bleiben, manchmal das Gefühl, zu etwas Niedrigem und Tierischem zu werden, nicht nur der letzte Jude in Spanien, sondern das letzte menschliche Wesen auf der Welt - ein Gedanke, der ihn ein paarmal dazu verführte, törichte Risiken einzugehen. Wenn er nachts vor dem Feuer saß, umringt von den Tieren seiner Herde, verscheuchte er die Wölfe, indem er Fetzen erinnerter Wendungen herausschrie, alte Gebete, die zusammen mit den Funken des berstenden Holzes in den schwarzen Himmel stiegen. Jeder Inquisitior oder Denunziant, der sich vom Schein seines Feuers anlocken ließ, hätte seine verwegene Stimme gehört, mit der er Worte in Hebräisch oder Ladino in die Nacht brüllte. Aber es kam nie jemand.
In seinen Bittgebeten versuchte er vernünftig zu sein. Nie bat er Gott, er möge den Erzengel Michael schicken, den Wächter Israels, damit er herniederfahre aus dem Paradies und die erschlage, die mordeten und Böses taten. Aber er bat Gott, ihm, Jona ben Helkias Toledano, zu erlauben, dem Erzengel zu dienen. Er sagte sich und Gott und den Tieren auf den stillen Hügeln, daß er gerne noch einmal die Gelegenheit hätte, zum starken rechten Arm des Erzengels zu werden, zum Zerstörer der Zerstörer, zum Mörder der Mörder, zum Vernichter derjenigen, die vernichteten.
Als Jona zum dritten Mal die Herde im Herbst auf den Hof zurücktrieb, fand er die Familie von Fernando Ruiz in Trauer. Der Aufseher, noch kein alter Mann, war eines Nachmittags auf dem Weg zur Besichtigung eines abgeernteten Felds plötzlich tot umgefallen. Der ganze Hof war in Aufruhr. Don Emilio de Vallado-lid hatte keine Ahnung, wie er das Gut selbst führen sollte, und war noch nicht einmal in der Lage gewesen, einen neuen Aufseher zu bestimmen. Er war schlechter Laune und schrie viel.
Jona betrachtete den Tod von Fernando Ruiz als Zeichen dafür, daß es für ihn Zeit war weiterzuwandern. Ein letztes Mal trank er auf der Schafsweide Wein mit Adolfo. »Es tut mir sehr leid«, sagte er. Er wußte, was es hieß, einen Vater zu verlieren, und Fernando war ein sehr guter Mensch gewesen.
Dann sagte er Adolfo, daß er weggehe. »Wirst du dich um die Schafe kümmern?«
»Ja. Ich werde der neue Schäfer«, sagte Adolfo.
»Soll ich mit Don Emilio reden?«
»Ich sage es ihm selber. Ihm ist es egal, solange ich nur die Schafe von seiner empfindlichen Nase fernhalte.«
Jona umarmte Adolfo und übergab ihm, zusammen mit der Herde, den hübschen Hirtenstab, den er sich geschnitzt hatte. Dann bestieg er Mose und lenkte den Esel vom Gutshof und von Plasencia weg.
In dieser Nacht wachte er in der Dunkelheit auf und lauschte, weil er glaubte, etwas gehört zu haben. Dann erkannte er, daß es das Fehlen jedes Geräuschs war, das ihn beunruhigt hatte, daß er das leise Blöken der Schafe vermißte, und er drehte sich um und schlief wieder ein.
Der Winter stand vor der Tür, und Jona ritt auf Mose in wärmere Gefilde. Er wollte das Meer im Süden der Sierra Nevada sehen, aber als er sich Granada näherte, waren die klaren Nächte bereits kalt. Da er keine Lust verspürte, sich im Winter über die schneebedeckten Gipfel des Hochgebirges zu wagen, ritt er in die Stadt hinein, um ein wenig seines Ersparten für sein und des Esels leibliches Wohl auszugeben.
Besorgnis erfüllte ihn, als er die Mauern Granadas erreichte, denn hoch über dem abweisenden Tor hingen die verfaulten Köpfe hingerichteter Verbrecher. Doch selbst diese grausige Zurschaustellung schreckte Wegelagerer offenbar nicht ab, denn als Jona auf ein Wirtshaus zuritt, in dem er Essen und Wein zu finden hoffte, traf er auf zwei stämmige Männer, die eben dabei waren, einen Zwerg auszurauben.
Der kleine Mann war nur halb so groß wie sie, mit einem sehr großen Kopf, einem kräftigen Oberkörper, langen Armen und winzigen Beinen. Argwöhnisch beobachtete er, wie die beiden aus verschiedenen Richtungen auf ihn zukamen, der eine mit einem hölzernen Knüppel in der Hand, der andere mit einem Messer.
»Gib uns deine Börse, wenn dir deine kleinen Eier lieb sind«, sagte der Mann mit dem Messer, das er drohend gegen sein Opfer richtete.
Ohne nachzudenken, packte Jona seine angeschärfte Hacke und glitt von seinem Esel. Doch bevor er dazwischentreten konnte, schwang der zweite Räuber seinen Knüppel und schlug ihm damit auf den Kopf. Jona ging zu Boden und lag verletzt und benommen da, während der Mann sich mit dem Knüppel über ihn beugte, um ihm den Rest zu geben.
Nur halb bei Bewußtsein sah Jona, wie der Zwerg plötzlich ein gefährlich aussehendes Messer aus seinem Umhang zog und mit seinen kleinen Beinen flink ein paar Haken schlug. Seine langen Arme zuckten geschmeidig, die Messerspitze schnellte vor wie die Zunge einer Schlange. Blitzschnell tauchte er unter den fuchtelnden Armen des bewaffneten Räubers hindurch, der aufschrie und sein Messer fallen ließ, als die Klinge des kleinen Kämpfers ihm den Arm aufschlitzte.
Die Wegelagerer drehten sich um und rannten davon, und der kleine Mann hob einen Stein auf und schleuderte ihn mit Schwung den Flüchtenden nach. Mit dumpfem Knall traf der Stein einen der beiden im Rücken. Dann wischte der Gnom sich das Messer an der Hose ab und beugte sich über Jona.
»Alles in Ordnung?«
»Wird schon wieder«, hörte Jona sich mit hohler Stimme sagen. Er versuchte sich aufzurichten. »Wenn ich erst mal da drin bin und einen Becher Wein getrunken habe.«
»Ach, da drin bekommt Ihr keinen anständigen Wein. Ihr müßt schon Euren Rücken aus dem Dreck erheben und auf den des Esels steigen und mit mir kommen«, sagte der kleine Mann, und Jona ergriff die ausgestreckte Hand und wurde von einem überraschend starken Arm in die Höhe gezogen.
»Mein Name ist Mingo Babar.«
»Ich bin Ramon Callico.«
Erst während er sich auf Mose aus der Stadt hinaus und einen steilen Pfad hoch fuhren ließ, kam Jona der Gedanke, daß dieser Mann, der eben noch fast zum Opfer geworden war, selbst ein
Räuber und Mörder sein könnte. Doch obwohl er sich gegen einen Angriff wappnete, passierte nichts. Der Mann trippelte mit schwankendem, spinnenähnlichem Gang vor dem Esel her, und seine Hände an den Enden der langen Arme schleiften über den Pfad wie zwei zusätzliche Füße.
Kurz darauf rief ein Posten, der hoch über ihnen auf einem Felsen saß, leise: »Mingo, bist du das?«
»Ja, Mingo. Mit einem Freund.«
Wenige Schritte dahinter kamen sie an einem Loch im Hügel vorbei, aus dem der warme Schein einer Lampe fiel. Dann eine weitere Öffnung und dahinter noch mehr. Rufe drangen aus den Höhlen.
»Hallo, Mingo!«
»Einen guten Abend, Mingo!«
»Willkommen, Mingo!«
Der kleine Mann erwiderte jeden Gruß. Vor einer ähnlichen Öffnung im Hügel hielt er den Esel an. Jona stieg ab und folgte Mingo ins Halbdunkel. Der Zwerg führte ihn zu einer Schlafmatte, auf der Jona erschöpft niedersank.
Am nächsten Morgen wachte er auf und staunte. Einen solchen Raum hatte er noch nie gesehen - als hätte sich ein Räuberhauptmann in einer Bärenhöhle wohnlich eingerichtet. Der Schein von Öllampen mischte sich mit dem grauen Tageslicht vom Eingang, und Jona sah leuchtendbunte Teppiche, die nackten Fels und Erde bedeckten. Überall standen schwere, reichverzierte Holzmöbel, und eine Überfülle an Musikinstrumenten und funkelnden Kupfergerätschaften hing oder lehnte an den Wänden.
Jona hatte lange und gut geschlafen. Die Erinnerung an das Abenteuer des vergangenen Abends kam schnell zurück, und erleichtert stellte er fest, daß sein Kopf wieder klar war.
Eine füllige Frau von normaler Größe saß in der Nähe und po-lierte seelenruhig ein Kupfergefäß. Er grüßte sie und wurde mit einem freundlichen, zähneblitzenden Lächeln belohnt.
Als Jona vor die Höhle trat, sah er Mingo, der unter den wachsamen Augen von zwei Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, die fast so groß waren wie er, ein Lederhalfter bearbeitete. »Einen guten Morgen.«
»Guten Morgen, Mingo.«
Jona sah, daß sie sich hoch oben auf dem Hügel befanden. Unter ihnen lag die Stadt Granada, ein Häusermeer aus rosafarbenen und weißen Würfeln, das Ganze umgeben von einem Kranz aus Bäumen. »Eine schöne Stadt«, sagte Jona, und Mingo nickte.
»Ja. Granada wurde von den Mauren erbaut, und so kommt es, daß die Behausungen im Inneren wunderschön verziert sind, von außen aber eher schlicht wirken.«
Oberhalb der Stadt, auf der Kuppe eines Hügels, der viel kleiner war als der Hügel mit den Höhlen, erhob sich eine Anlage mit rosenroten Türmen und Zinnen, die Jona ob ihrer Anmut und Erhabenheit den Atem verschlug.
»Was ist das?« fragte er und deutete hinüber.
Der Zwerg lächelte. »Nun, das ist die Zitadelle und der Palast, den man als die Alhambra kennt.«
Gleich an diesem ersten Tag wurde Jona bewußt, daß er in einer Gruppe einzigartiger Menschen gelandet war, und er stellte viele Fragen, die Mingo gutmütig und geduldig beantwortete.
Die Höhlen befanden sich in einem Hügel mit dem Namen Sacromonte. »Der heilige Berg«, sagte Mingo, »und er heißt so, weil hier Christen in der Frühzeit ihrer Religion den Märtyrertod starben.« Der Mann berichtete, daß sein Volk, Zigeuner eines Stammes, der sich Roma nannte, in den Höhlen lebte, seit es nach Spanien eingewandert war. Damals war Mingo noch ein kleiner Junge gewesen.
»Woher kommen die Roma?« fragte Jona.
»Von dort«, antwortete Mingo und beschrieb mit seinem Arm einen weiten Kreis, der die ganze Welt umschloß. »Vor Urzeiten - das ist lange, lange her - kamen sie aus einem Land weit im Osten, wo der Ganges fließt, ein großer, heiliger Fluß. In jüngerer Zeit sind sie durch Frankreich und Spanien gezogen, bevor sie hierherkamen. Aber als sie dann Granada erreichten, ließen sie sich hier nieder, denn die Höhlen eignen sich vorzüglich als Behausungen.«
In der Tat waren die Höhlen trocken und luftig. Einige waren kaum größer als eine Kammer, andere dagegen waren wie zwanzig Zimmer hintereinander und reichten tief in den Hügel hinein. Sogar Jona, der keine Ahnung von militärischen Dingen hatte, sah sofort, daß die Anlage sich im Fall eines Überfalls sehr gut verteidigen ließ. Mingo sagte, daß viele der Höhlen durch Felsspalten oder natürliche Gänge miteinander verbunden seien, was vielfältige Verstecke oder Fluchtmöglichkeiten bot, sollte dergleichen je nötig werden.
Die füllige Frau in Mingos Höhle war seine Gattin Mana. Als sie ihnen Essen brachte, erzählte der kleine Mann Jona stolz, daß er und Mana vier Kinder hätten, von denen zwei bereits erwachsen seien und woanders lebten.
Mingo spürte, welche Frage Jona auf der Zunge lag, und er grinste.
»Alle meine Kinder sind normal groß«, sagte er.
An diesem Tag lernte Jona viele Roma kennen. Einige kamen von einer Weide im Tal hochgeschlendert, wo sie Pferde hielten. Jona nahm an, daß sie als Pferdezüchter und -händler ihr Brot verdienten.
Einige hatten Anstellungen in der Nachbarschaft, andere arbeiteten an Tischen vor den Höhlen, wo sie Kochtöpfe, Gerätschafften und Werkzeuge flickten, die sie in den Häusern und Ge-schafften Granadas eingesammelt hatten. Jona bereitete es großes Vergnügen, den Metallarbeitern zuzusehen, denn das Schlagen ihrer Hämmer erinnerte ihn an Helkias Toledanos Werkstatt.
Die Roma waren liebenswürdig und gastfreundlich, und sie akzeptierten Jona sofort, weil Mingo ihn mitgebracht hatte. Während des ganzen Tages kamen Angehörige des Stammes zu dem kleinen Mann, um mit ihm über ihre Probleme zu sprechen. Jona war nicht überrascht, als er zur Mittagszeit erfuhr, daß Mingo der Häuptling der Roma war, der Woiwode, wie sie es nannten.
»Und wenn du sie nicht regierst, arbeitest du dann mit den Pferden, oder flickst du Kessel wie die anderen Männer?«
»Ich habe das alles natürlich in meiner Jugend gelernt. Aber bis vor kurzem habe ich da unten gearbeitet«, sagte er und deutete in Richtung Granada.
»In der Stadt? Was für eine Art von Arbeit?«
»In der Alhambra. Ich war ein Schelm.«
»Wie meinst du das, ein Schelm?«
»Ich war der Narr am Hof des Sultans.«
»Ist das wahr?«
»Es ist die reine Wahrheit, mein Freund, denn ich war der Hofnarr des Sultans Boabdil, auch bekannt als Mohammed XI., der letzte maurische Kalif von Granada.«
Hatte man sich erst einmal an den ungestalten Körper gewöhnt, konnte man für das beeindruckende Wesen dieses Mannes nur Bewunderung empfinden. Sein Gesicht strahlte Würde aus, und die Männer und Frauen des Stammes begegneten ihm mit Hochachtung und Zuneigung. Um so unbehaglicher war Jona deshalb zumute, als er nun erfuhr, daß ein so freundlicher und kluger Mensch sich als Narr seinen Lebensunterhalt hatte verdienen müssen.
Mingo sah ihm seine Verlegenheit an. »Es war eine Arbeit, die mir viel Vergnügen bereitet hat, das kann ich dir versichern. Ich war ein sehr guter Narr. Mein mißgestalteter Zwergenkörper hat meinem Volk geholfen zu gedeihen, denn bei Hofe erfuhr ich von allen Gefahren, die die Roma meiden sollten, wie auch von Möglichkeiten der Beschäftigung für sie.«
»Was für ein Mensch ist Boabdil?« fragte Jona.
»Ein grausamer. In seiner Zeit als Sultan brachte man ihm nur wenig Liebe entgegen. Er lebte im falschen Land, denn die militärische Macht des Islam gibt es heute nicht mehr. Die Moslems waren vor fast achthundert Jahren aus Afrika nach Iberien gekommen und hatten ganz Spanien islamisch gemacht. Bald darauf begehrten als erste die christlichen Basken gegen sie auf, um ihre Unabhängigkeit zurückzugewinnen, und die Franken vertrieben die Mauren aus dem nordöstlichen Spanien. Für sie war das der Anfang vom Ende. Im Lauf der folgenden Jahrhunderte gewannen christliche Armeen einen Großteil Iberiens für den Katholizismus zurück.
Der maurische Sultan von Granada, Muley Hacen, weigerte sich, den katholischen Monarchen Tribut zu zahlen, und begann im Jahr 1481 einen Krieg gegen die Christen, bei dem ihm die befestigte Stadt Zahara in die Hände fiel. Boabdil, sein Sohn, entzweite sich mit seinem Vater und suchte eine Zeitlang Zuflucht am Hof der katholischen Monarchen, doch dann starb Muley Hacen, im Jahre 1485, und mit Hilfe loyaler Untertanen schaffte es Boabdil, den Thron zu übernehmen.
Und nur wenige Monate später«, ergänzte Mingo, »kam ich in die Alhambra, um ihm beim Regieren zu helfen.«
»Wie lange hast du ihm als Hofnarr gedient?« fragte Jona.
»Fast sechs Jahre. Nachdem Ferdinand und Isabella Ronda, Marbella, Loja und Malaga eingenommen hatten, gab es in ganz Spanien nur noch eine einzige islamische Stadt - Granada. Ihnen war es ein Dorn im Auge, daß der Moslem Boabdil auf einem Thron saß, und zu seinen Füßen Mingo Babar, der ihm geistreiche Ratschläge ins Ohr flüsterte. Granada wurde belagert, und schon bald durchlebten wir hungrige Tage in der Alhambra. Ein Teil der Bevölkerung kämpfte tapfer trotz leerer Mägen, aber am Ende des Jahres war klar, daß unser Schicksal besiegelt war.
Ich erinnere mich an eine kalte Winternacht, in der ein großer silberner Mond im Fischteich schimmerte. Nur Boabdil und ich waren im Thronsaal.
>Nun mußt du mein Leben lenken, weiser Mingo. Was soll ich tun?< fragte der Sultan.
>Ihr müßt Eure Waffen niederlegen und die katholischen Monarchen zu einem Festmahl einladen, Majestät. Erwartet sie im Myrtenhof, um sie feierlich zu begrüßen und in die Alhambra zu geleiten<, sagte ich.
Boabdil sah mich an und lächelte. >Gesprochen wie ein wahrer Narr<, sagte er. >Denn jetzt, da die Tage meines Herrschens so gut wie vorüber sind, ist mir meine Würde kostbarer als Rubine. Sie sollen kommen und mich hier im Thronsaal sitzen sehen wie einen Herrscher, und in diesen letzten Augenblicken werde ich Stolz zeigen, wie ein wahrer Kalif. <
Genau das tat er. Am 2. Januar 1492 unterzeichnete er die Unterwerfungsurkunde in seinem Thronsaal. Als er ins Exil nach Afrika floh, woher seine berberischen Vorfahren vor so langer Zeit gekommen waren, hielten ich und andere es für weise, die Al-hambra ebenfalls zu verlassen«, schloß Mingo.
»Hat sich für Granada viel verändert, seit die Christen wieder an der Macht sind?« fragte Jona.
Mingo zuckte die Achseln. »Die Moscheen sind jetzt Kirchen. Darin sind sich alle Religionen gleich: Sie glauben, daß sie allein das Ohr Gottes besitzen.« Er grinste. »Für den Herrn muß das ziemlich verwirrend sein!« sagte er.
An diesem Abend sah Jona, daß die Roma gemeinsam aßen. Männer und Frauen saßen einträchtig an den Feuern und kochten und brieten Fleisch und Geflügel, schöne Stücke, die troffen vor köst-lichem Saft und die Luft mit ihrem Aroma erfüllten. Man aß gut bei den Roma, und die prallen Schläuche, die herumgereicht wurden, waren voll wohlschmeckenden, vollmundigen Weins. Nach dem Essen wurden Instrumente aus den Höhlen geholt, Trommeln, Gitarren, Zimbeln, Violen und Lauten, und nun erklang eine wilde Musik, die so neu war für Jona wie die freie und sinnliche Anmut, mit der die Roma tanzten. Es erfüllte ihn mit großem Glück, nach so langer Zeit der Einsamkeit wieder Männer und Frauen um sich zu haben.
Die Roma waren ein gutaussehendes Völkchen. Sie trugen leuchtendbunte Kleidung und besaßen eine tiefbraune Haut, hübsche dunkle Augen und lockige schwarze Haare. Er fühlte sich hingezogen zu diesen fremdartigen Menschen, die offenbar all die einfachen Freuden der Welt kannten und zu genießen wußten.
Voller Dankbarkeit sprach Jona mit Mingo über ihre Liebenswürdigkeit und Gastfreundlichkeit.
»Es sind gute Menschen, die keine Angst haben vor den gadje, wie wir alle Fremden nennen«, sagte Mingo. »Auch ich war ein gadje, ich bin kein geborener Roma. Ist dir vielleicht aufgefallen, daß ich anders aussehe als sie?«
Jona nickte. Er wußte, daß Mingo nicht seine Größe meinte. Sein Haupthaar war stellenweise grau, denn er war kein junger Mann mehr, aber größtenteils war es fast gelb, viel heller als die Haare der anderen Roma, und seine Augen hatten die Farbe des strahlenden Himmels.
»Ich wurde dem Stamm übergeben, als er in der Nähe von Reims lagerte. Ein Edelmann kam zu ihnen mit einem Säugling, der mit langen Armen und kurzen Beinen auf die Welt gekommen war. Der Fremde schenkte den Zigeunern eine prallgefüllte Börse, damit sie mich bei sich aufnahmen.
Das war mein Glück«, fuhr Mingo fort. »Wie du weißt, ist es üblich, ein Kind, das so mißgestaltet auf die Welt kommt wie ich, zu erdrosseln. Aber die Roma hielten ihre Neuerwerbung in Ehren. Sie verheimlichten mir nie meine Herkunft. Ja, sie beharren sogar darauf, daß ich zweifellos von hoher Geburt sein müsse, vielleicht sogar ein Sproß des französischen Königshauses. Der Mann, der mich ablieferte, trug feine Kleidung sowie Rüstung und Bewaffnung, und er hatte eine aristokratische Redeweise.«
Jona fand, daß der kleine Mann tatsächlich noble Gesichtszüge hatte. »Hast du nie mit Bedauern daran gedacht, welch anderes Leben du hättest führen können?«
»Nie«, sagte Mingo. »Mag sein, daß aus mir ein Baron oder ein Herzog hätte werden können, aber es war ebensogut möglich, daß man mich gleich nach der Geburt erdrosselt hätte.« Seine blauen Augen waren ernst. »Ich bin kein gadje geblieben. Mit der Milch der Amme, die mir zur Mutter wurde, trank ich die Seele der Roma in meinen Körper. Alle hier sind meine Verwandten. Ich würde sterben, um meine Roma-Brüder und -Schwestern zu beschützen, so wie sie auch für mich sterben würden.«
Jona blieb viele Tage bei dem Volk, er sonnte sich in der Wärme ihrer Kameradschaft, und nachts schlief er allein in einer leeren Höhle.
Um dem Stamm seine Gastfreundschaft zu vergelten, setzte er sich zu den Kesselflickern und half ihnen bei ihrer Arbeit. Sein Vater hatte ihm geduldig die Grundzüge der Metallbearbeitung beigebracht, und die Roma waren hoch erfreut, von ihm einige von Helkias' Techniken zur Verbindung von Metallteilen mit dichten, glatten Nähten lernen zu können. Auch Jona lernte von den Handwerkern, indem er ihnen Techniken abschaute, die jahrhundertelang vom Vater auf den Sohn übergegangen waren.
Eines Abends, nach der Fröhlichkeit ihres Musizierens und Tanzens, nahm Jona selbst eine Gitarre zur Hand und begann zu spielen. Anfangs war er zögerlich, doch bald erinnerten sich seine
Finger an alte Fertigkeiten. Er spielte die Musik der Pijutim, der gesungenen Psalmen der Synagoge: Jotzer, die erste Anrufung vor dem morgendlichen Schema; Sulat, die nach dem Schema gesungen wird; Kerowa, die Begleitung der ersten drei Anrufungen der Amidah; und dann die betörende Selicha, den Reuegesang des Versöhnungstags.
Als Jona zu Ende gespielt hatte, berührte Mana sanft seinen Arm, während die übrigen sich verstreuten und in ihren Höhlen verschwanden. Er sah, daß Mingo ihn mit seinen weisen, ernsten Augen musterte.
»Ich glaube, das waren hebräische Melodien. Traurig gespielt.«
»Ja.« Ohne zu verraten, daß er nicht konvertiert war, erzählte Jona ihm von seiner Familie und dem schrecklichen Ende, das sein Vater Helkias und sein Bruder Meir gefunden hatten.
Mingo war erschüttert. »Das Leben ist wunderbar, aber es ist auch unweigerlich grausam.«
Jona nickte. »Es wäre mein größter Wunsch, das Reliquiar meines Vaters von den Dieben zurückzuholen.«
»Das dürfte ziemlich aussichtslos sein, mein Freund. Deiner Beschreibung nach zu urteilen, ist das ein einzigartiges Stück. Ein Kunstwerk höchsten Ranges. In Kastilien konnten sie es wohl kaum verkaufen, da jedermann über den Diebstahl Bescheid wußte. Wenn es überhaupt wiederverkauft wurde, dann ist es jetzt bestimmt nicht mehr in Spanien.«
»Wer würde denn mit solchen Dingen handeln?«
»Das ist eine besondere Form des Diebstahls. Im Lauf der Jahre habe ich von zwei Gruppen gehört, die gestohlene Reliquien und dergleichen kaufen und verkaufen. Eine ist oben im Norden tätig, und dort kenne ich niemanden mit Namen. Die andere sitzt hier unten im Süden und wird angeführt von einem Mann namens Anselmo Lavera.«
»Wo könnte ich diesen Lavera finden?«
Mingo schüttelte ernst den Kopf. »Ich habe nicht die gering-ste Ahnung. Und auch wenn ich es wüßte, würde ich es dir nur ungern sagen, denn das ist ein sehr böser Mann.«
Er beugte sich vor und sah Jona in die Augen. »Du mußt dankbar sein, daß du nicht bei der Geburt erdrosselt wurdest. Du mußt die bittere Vergangenheit vergessen und dir die Zukunft versüßen. Ich wünsche dir eine geruhsame Nacht, mein Freund.«
Mingo nahm an, daß Jona ein Konvertit sei. »Auch die Roma gehören einer vorchristlichen Religion an«, gestand er ihm, »einem Glauben, welcher die Boten des Lichts verehrt, die gegen die Boten der Finsternis kämpfen. Aber wir finden es einfacher, den Gott des Landes anzubeten, in dem wir uns aufhalten, weshalb wir zum Christentum übergetreten sind, als wir nach Europa kamen. Und, um die Wahrheit zu sagen, wurden die meisten von uns auch Moslems, als wir ins Herrschaftsgebiet der Mauren zogen.«
Mingo befürchtete, Jona könne sich nicht ausreichend verteidigen, falls er angegriffen wurde. »Deine kaputte Hacke ist... eben nur eine kaputte Hacke. Du mußt lernen, mit der Waffe eines Mannes zu kämpfen. Ich will dir beibringen, wie man mit einem Messer umgeht.«
So begann der Unterricht. Für den schlechten Dolch, den Jona von Fernando Ruiz erhalten hatte, als er Schäfer wurde, hatte Mingo nur Spott übrig. »Nimm das«, sagte er und gab ihm ein Messer aus maurischem Stahl.
Er zeigte Jona, wie er das Messer mit der Handfläche anstelle des Handrückens nach oben halten mußte, damit er mit steigendem, reißendem Hieb zustechen konnte. Und er schärfte ihm ein, schnell zuzustechen, bevor der Gegner erraten konnte, aus welcher Richtung der Hieb kam.
Er schärfte Jona ein, stets Augen und Körper des Gegners zu beobachten, damit er jede Bewegung vorausahnen konnte, bevor sie ausgeführt wurde, und lehrte ihn, geschmeidig zu werden wie eine Wildkatze, die dem Gegner wenig Angriffsfläche und keine Ausweichmöglichkeiten bot. Die Beharrlichkeit und Eindringlichkeit, mit der Mingo ihn unterwies, erinnerte ihn an einen Rabbi, der ein ilui, ein biblisches Wunderkind, die Schrift lehrt. So lernte er schnell und gut zu Füßen eines kleinen, merkwürdig gestalteten Meisters, und schon bald dachte und handelte er wie ein Messerkämpfer.
Ihre Zuneigung wuchs und gedieh, bis sie war wie eine Freundschaft vieler Jahre und nicht nur einiger kurzer Monate.
Eines Tages erhielt Mingo die Nachricht, er solle in die Al-hambra kommen, weil der neue christliche Haushofmeister, ein Mann namens Don Ramon Rodriguez, sich mit ihm zu besprechen wünsche.
»Würde es dich freuen, die Alhambra aus der Nähe zu sehen?« fragte er Jona.
»Natürlich würde es das, mein Freund!«
So ritten sie am nächsten Morgen miteinander den Sacromonte hinunter, der große und muskulöse junge Mann, dessen abgespreizte Beine zu lang waren und dessen Gewicht viel zu schwer für seinen armen kleinen Esel, und das winzige Männchen, das auf einem prächtigen grauen Hengst saß wie ein Frosch auf einem Hund.
Unterwegs erzählte Mingo Jona die Geschichte der Alhambra. »Mohammed I., den man wegen seines roten Haares Ibn al-Ahmar nannte, erbaute im dreizehnten Jahrhundert hier den ersten befestigten Palast. Ein Jahrhundert später wurde für Jusuf I. der Myrtenhof gebaut. Nachfolgende Kalifen erweiterten Zitadelle und Palast. Der Löwenhof wurde von Mohammed V. errichtet, und der Turm der Infantinnen wurde von Mohammed VII. hinzugefügt.«
Als sie die hohe, rosenfarbene Mauer erreichten, hielt Mingo ihre Reittiere an. »Dreizehn Türme erheben sich aus der Mauer.
Das ist das Tor der Gerechtigkeit«, sagte er und deutete auf die Darstellung einer Hand und eines Schlüssels, die in die Doppelbögen des Tors eingemeißelt waren. »Die fünf Finger stellen die Verpflichtung dar, fünfmal täglich zu Allah zu beten - bei Tagesanbruch, zur Mittagszeit, am Nachmittag, am Abend und in der Nacht.«
»Du weißt eine Menge über den moslemischen Glauben«, bemerkte Jona, und Mingo lächelte, erwiderte aber nichts.
Als sie durch das Tor ritten, erkannte jemand Mingo und grüßte ihn, ansonsten aber beachtete man sie nicht. Die Festung war der reinste Bienenstock, denn mehrere tausend Menschen waren eifrig damit beschäftigt, die Schönheit und Wehrhaftigkeit ihrer vierzehn Hektar zu erhalten. Die beiden stellten Pferd und Esel in den Stallungen unter, und Mingo führte Jona zu Fuß auf einem langen, mit Glyzinien überwachsenen Wandelgang durch die riesige königliche Anlage.
Jona war von Ehrfurcht und Staunen erfüllt. Von innen betrachtet war die Alhambra noch viel überwältigender als aus der Ferne, ein scheinbar endloses Traumgebilde aus Türmen, Bögen und Kuppeln, voller leuchtender Farben und verziert mit spitzenfeinem Stuck, Gittergewölben, leuchtenden Mosaiken und zarten Arabesken. In den inneren Höfen und Sälen bedeckte aus Gips geformtes Laubwerk in zartem Rot, Blau und Gold Decken und Wände. Die Böden waren aus Marmor, die Sockel mit grünen und gelben Fliesen getäfelt. In den Patios und inneren Gärten prangten Blumen und plätscherten Springbrunnen, und in den Bäumen sangen Nachtigallen.
Mingo zeigte ihm, daß einige Fenster eine gute Aussicht auf den Sacromonte und die Höhlen der Roma boten, während man von anderen auf die bewaldete, wasserdurchtoste Schlucht hinuntersah. »Die Mauren verstehen sich aufs Wasser«, sagte Mingo. »Fünf Meilen entfernt in den Hügeln haben sie den Fluß Darro angezapft und ihn mit Hilfe eines wundersam erdachten Wasserwerks in diesen Palast umgeleitet, wo er Becken und Brunnen füllt und jedes Schlafzimmer mit fließendem Wasser versorgt.« Er übersetzte eine arabische Inschrift an einer Wand: »Wer durstgepeinigt zu mir kommt, wird Wasser finden rein und frisch, süß und unvermischt.«
Ihre Schritte hallten, als sie durch den Saal der Botschafter gingen, wo Sultan Boabdil die Urkunde seiner Unterwerfung unter Ferdinand und Isabella unterzeichnet hatte und in dem noch immer Boabdils Thron stand. Mingo zeigte Jona ein Badehaus, die banos arabes. »Hier räkelten sich unbekleidete Frauen des Harems und wuschen sich, während der Sultan von dem Balkon dort oben zusah und sich seine Bettgenossin auswählte. Wenn Boab-dil jetzt noch regierte, würde man uns für unser Hiersein töten. Sein Vater ließ sechzehn Angehörige der Familie der Aben-cerrajes hinrichten und ihre Köpfe auf dem Brunnen des Harems aufstapeln, weil ihr Oberhaupt sich mit einer seiner Frauen eingelassen hatte.«
Jona saß auf einer Bank und lauschte dem Plätschern der Springbrunnen, während Mingo sich zu seiner Besprechung mit dem Haushofmeister begab. Schon kurz darauf kehrte der kleine Mann wieder zurück. Während sie zu den Stallungen gingen, berichtete Mingo, er habe erfahren, daß Königin Isabella und König Ferdinand mit ihrem ganzen Hof in die Alhambra einziehen wollten. »In letzter Zeit haben sie sich über die Trübsinnigkeit ihres Hofes beklagt. Der Haushofmeister hat Nachforschungen angestellt und herausgefunden, daß ich praktizierender Christ bin, und deshalb werde ich wieder in den Palast gerufen, um den siegreichen Monarchen als Hofnarr zu dienen.«
»Macht es dir Freude, diesem Ruf zu folgen?«
»Es freut mich, daß Roma jetzt wieder als Pferdepfleger, Gärtner und peones in die Alhambra zurückkehren. Was das Amt als
Hofnarr angeht... nun, es ist schwierig, die Monarchen bei Laune zu halten. Man bewegt sich auf einem Grat, der so schmal ist wie die Schneide eines Schwerts. Von einem Narren wird erwartet, daß er frech und wagemutig ist und Beleidigungen von sich gibt, die zum Lachen reizen. Aber die Beleidigungen müssen geistreich und harmlos sein. Bewegt man sich innerhalb der gesetzten Grenzen, wird man geliebt und verwöhnt. Doch überschreitet man die Grenzen, gibt es Prügel oder vielleicht sogar den Tod.«
Er nannte Jona ein Beispiel. »Den Kalifen plagte das schlechte Gewissen, denn beim Tod seines Vaters, Muley Hacen, waren die beiden Todfeinde gewesen. Eines Tages hörte Boabdil mich von einem undankbaren Sohn erzählen und nahm an, daß ich von ihm gesprochen hätte. Wutentbrannt zog er sein Schwert und richtete es auf mein Geschlecht.
Ich sank auf die Knie, doch die Spitze des Schwerts folgte mir.
>Stecht mich nicht, Majestät<, rief ich. >Denn der kleine Stecher, den ich habe, ist der einzige, den ich brauche, während der große Stich, den ihr mir zufügen wollt, ein wirklich schlimmer Stecher wäre!< Darauf sagte mir Boabdil, daß mein ganzer Körper nur ein elender kleiner Wespenstich sei, und als er sich dann schüttelte vor Lachen, wußte ich, daß ich am Leben bleiben würde.«
Mingo sah Jonas Gesichtsausdruck und lächelte. »Hab keine Angst um mich, mein Freund«, sagte er. »Ein Narr zu sein erfordert Mühe und Weisheit, und ich bin der König der Spaßmacher.«
Als sie dann wieder auf ihren Tieren saßen, ritten sie an maurischen Aufsehern vorbei, die den Bau eines Palastflügels beaufsichtigten. »Die Mauren glauben nicht, daß sie je aus Spanien vertrieben werden, so wie die Juden es nicht glauben konnten, bis es geschah«, sagte Mingo. »Aber der Tag wird kommen, an dem man auch den Mauren befehlen wird, das Land zu verlassen. Die Christen erinnern sich noch viel zu gut an die vielen Glaubens-brüder, die im Kampf gegen den Islam fielen. Die Mauren haben den Fehler gemacht, das Schwert gegen die Christen zu erheben, so wie die Juden den Fehler gemacht haben, Macht über die Christen anzunehmen, ähnlich Vögeln, die höher und höher fliegen, bis die Sonne sie verbrennt.«
Als Jona schwieg, sah Mingo ihn an. »Es gibt Juden in Granada.«
»Juden, die Christen geworden sind?«
»Konvertiten wie du selbst. Was sonst?« erwiderte Mingo verärgert. »Wenn du sie kennenlernen willst, geh auf den Marktplatz, zu den Ständen der Seidenhändler.«
Iona hatte lange Zeit Konvertiten gemieden, da er im Umgang mit ihnen keinen Nutzen für sich sah. Dennoch verspürte er eine tiefe Sehnsucht nach der Gesellschaft von Juden, und so sagte er sich, es könne nicht schaden, einen Blick auf jene zu werfen, die einst den Sabbat gekannt hatten, auch wenn sie ihn jetzt nicht mehr kannten.
An einem stillen Morgen ritt er auf Mose in den geschäftigen Trubel der Stadt. Mingo hatte ihm gesagt, der Markt Granadas habe dank der regen Bau- und Restaurierungstätigkeit in der Al-hambra neuen Auftrieb erhalten. Es war ein großer Basar, und Jona genoß es, den Esel durch die Gassen zu lenken. Die Sehenswürdigkeiten, Gerüche und Geräusche des Marktes betörten ihn, er ritt an Ständen vorbei, die Brote und Kuchen feilboten, große Fische ohne Köpfe und kleine Fische mit noch klaren und frischen Augen, ganze Ferkel, Schinken, Bruststücke und starrende Köpfe von fetten Keilern, Lamm und Hammel, gekocht und roh, Säcke mit Schurwolle, alle Arten von Geflügel, die großen Vögel so aufgehängt, daß die farbenfrohen Schwänze jedem Betrachter ins Auge stachen und Käufer anlockten, Aprikosen, Pflaumen, rote Granatäpfel, gelbe Melonen... Es gab zwei Seidenhändler.
An dem einen Stand zeigte ein mißmutig dreinblickender Kerl seine Ware zwei Männern, die das Tuch kritisch befingerten.
Am anderen Stand verhandelte ein Mann mit einem Turban mit einem halben Dutzend interessierter Käufer, aber es war das Gesicht an seiner Seite, das Jonas Aufmerksamkeit erregte und fesselte. Die junge Frau stand an einem Tisch und schnitt Stücke von einem Ballen, den ein Junge entrollte. Bestimmt hatte Jona schon lieblichere und hübschere Gesichter gesehen als ihres, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, wann oder wo das gewesen sein mochte.
Der Mann mit dem Turban erklärte eben, daß die Güte der Seide abhängig sei von der Art der Blätter, die die Raupen gefressen hatten.
»Die Blattnahrung der Raupen in dem Landstrich, aus dem diese perlglänzende Seide kommt, verleiht dem Faden einen sehr feinen Glanz. Seht Ihr es? Der fertige Stoff erhält dadurch einen leichten Goldschimmer.«
»Aber Isaak, er ist so teuer«, sagte der Kunde.
»Natürlich hat er seinen Preis«, gab der Händler zu. »Aber es ist eben ein sehr seltener Stoff, erschaffen von eifrigen Raupen und begnadeten Webern.«
Jona hörte nicht zu. Er versuchte, mit der wogenden Menge zu verschmelzen, stand gleichzeitig aber wie gebannt da, denn er genoß es sehr, jener Frau zuzusehen. Sie war jung, doch in der vollen Blüte ihrer Weiblichkeit, ihre Haltung aufrecht, ihr schlanker Körper fest und wohlgeformt. Das dichte, bronzefarbene Haar trug sie lang und offen. Ihre Augen waren nicht dunkel, und Jona meinte zu sehen, daß sie auch nicht blau waren, doch er war nicht nahe genug, um den genauen Farbton zu erkennen. Ihr jetzt in die Arbeit vertieftes Gesicht war von der Sonne gebräunt, doch als sie die Seide mit Hilfe der Länge ihres Unterarms vom Ellbogen bis zu den Knöcheln ihrer geballten Faust abmaß, rutschte der Ärmel ihres Kleides hoch, und er sah, daß die Haut dort, wo der Stoff sie vor der Sonne schützte, heller war als die Seide.
Sie hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Einen kurzen
Augenblick lang sahen sie sich in die Augen. Dann wandte sie den Blick wieder ab, und beinahe ungläubig bemerkte Jona eine köstliche Rötung an ihrem lieblichen Hals.
Inmitten von Gackern und Glucken und dem Gestank von Hühnerkot und Federn erfuhr Jona von einem Geflügelhändler, daß der Seidenhändler mit dem Turban Isaak Saadi heiße.
Lange trieb er sich in der Nähe des Seidenstands herum, bis keine Kunden ihn mehr umringten. Nur wenige kauften, aber den Leuten machte es Freude, die Seide anzusehen und zu berühren. Doch schließlich waren alle Neugierigen verschwunden, und er näherte sich dem Mann.
Wie sollte er ihn ansprechen? Kurzerhand beschloß Jona, in seinem Gruß verschiedene Elemente ihrer beider Kulturen zu verschmelzen. »Der Friede sei mit Euch, Senor Saadi.«
Der Mann antwortete freundlich auf seinen ehrerbietigen Ton: »Auch mit Euch sei der Friede, Senor.«
Hinter dem Mann - der bestimmt ihr Vater war - beschäftigte sich die junge Frau mit den Seidenballen und sah die beiden nicht an.
Er wußte unwillkürlich, daß Verstellung hier nicht angebracht war. »Ich bin Jona Toledano. Ich frage mich, ob Ihr mir vielleicht jemanden nennen könnt, der Arbeit für mich hat.«
Senor Saadi runzelte die Stirn. Er starrte Jona argwöhnisch an und musterte seine armselige Kleidung, die gebrochene Nase und die zottelige Haar- und Barttracht. »Ich kenne niemanden, der einen Gehilfen braucht. Woher kennt Ihr meinen Namen?«
»Ich habe bei dem Geflügelhändler nachgefragt. Ich schätze den Seidenhandel sehr.« Er lächelte schwach über seine Torheit. »In Toledo war der Seidenhändler Zadoq de Paternina ein enger Freund meines Vaters, Helkias Toledano, möge er in Frieden ruhen. Kennt Ihr Zadoq de Paternina?«
»Nein, aber ich kenne seinen Ruf. Geht es ihm gut?«
Jona zuckte die Achseln. »Er gehörte zu jenen, die Spanien verließen.«
»War Euer Vater ein Geschäftsmann?«
»Mein Vater war ein hervorragender Silberschmied. Leider kam er ums Leben... bei einem unerfreulichen Zwischenfall.«
»Oh, oh, oh. Möge er in Frieden ruhen.« Senor Saadi seufzte. In der Welt, in der sie beide aufgewachsen waren, war es ein eherner Grundsatz, daß man jedem jüdischen Fremden, der einen ansprach, die Gastfreundschaft anbot. Aber Jona wußte, daß dieser Mann ihn für einen Konvertiten hielt, und in diesen Tagen einen Fremden einzuladen konnte bedeuten, sich einen Spitzel der Inquisition ins Haus zu holen.
»Ich wünsche Euch Glück. Geht mit Gott«, sagte Saadi verlegen.
»Das wünsche ich Euch auch.« Jona wandte sich zum Gehen, doch schon nach zwei Schritten war der ältere Mann ihm gefolgt.
»Habt Ihr eine Unterkunft?«
»Ja, ich habe einen Platz zum Schlafen.«
Isaak Saadi nickte. »Ihr müßt zum Essen in mein Haus kommen.« Jona hörte die unausgesprochenen Worte: Immerhin jemand, der Zadoq de Paternina kennt. »Am Freitag, zeitig vor Sonnenuntergang.«
Bei diesen Worten hob das Mädchen den Blick von der Seide, und Jona sah, daß sie lächelte.
Er besserte seine Kleidung aus und ging zu einem Bach und wusch sie, und dann schrubbte er Gesicht und Körper mit gleicher Beflissenheit. Mana stutzte ihm Haare und Bart, während Mingo, der inzwischen wieder viel Zeit in der Pracht der Alham-bra verbrachte, seine Vorbereitungen mit großer Belustigung beobachtete.
»All das, nur um mit einem Lumpenhändler zu essen«, spottete der kleine Mann. »Ich mache kein solches Aufhebens, selbst wenn ich mit königlichen Hoheiten speise!«
In einem anderen Leben hätte Jona koscheren Wein als Gastgeschenk gekauft. Am Freitag nachmittag ging er auf den Markt. Für Trauben war es bereits zu spät im Jahr, und so erstand er einige große, von süßem Saft triefende Datteln.
Vielleicht würde das Mädchen gar nicht anwesend sein. Vielleicht war sie nur eine Dienstmagd im Geschäft und nicht Tochter des Geschäftsbesitzers, sagte sich Jona, während er, Senor Saadis Wegbeschreibung folgend, zu dessen Heim ging. Es erwies sich als kleines Haus im Albaicin, dem alten arabischen Viertel, das von jenen aufgegeben worden war, die nach der Niederlage der Mauren gegen die katholischen Monarchen die Flucht ergriffen hatten. Jona wurde von Saadi, der das Gastgeschenk der Datteln mit formeller Dankbarkeit annahm, umständlich begrüßt.
Das Mädchen war da, sie war die Tochter des Hauses, und sie hieß Ines. Ihre Mutter wurde Suleika Denia genannt und war eine dünne, stille Frau mit furchtsamen Augen. Ines' ältere Schwester, eine dickliche Frau mit schweren Brüsten, hieß Felipa und hatte eine hübsche kleine Tochter von sechs Jahren namens Adriana. Saadi erzählte, daß Joaquin Chacon, Felipas Ehemann, unterwegs sei, um in den Häfen im Süden Seide einzukaufen.
Die vier Erwachsenen musterten ihn nervös. Nur das kleine Mädchen lächelte.
Suleika servierte den beiden Männern die Datteln, und dann beschäftigten sich die Frauen mit der Vorbereitung des Mahls.
»Euer Vater, möge er in Frieden ruhen... Ihr sagtet, er war Silberschmied?« fragte Isaak Saadi und spuckte Dattelkerne in seine Hand.
»Ja, Senor.«
»In Toledo, sagtet Ihr?«
»Ja.«
»Und nun sucht Ihr also Anstellung? Habt Ihr denn nicht die Werkstatt übernommen, als Euer Vater starb?«
»Nein«, erwiderte Jona. Er ging nicht näher darauf ein, doch Saadi hatte keine Hemmungen weiterzufragen.
»War es vielleicht kein gutes Geschäft?«
»Mein Vater war ein wunderbarer Silberschmied und sehr gefragt. Sein Name ist in diesem Gewerbe wohlbekannt.«
»Aha.«
Kurz bevor die Dunkelheit hereinbrach, blies Suleika Denia in die glühenden Kohlen in einem Metallbehälter und hielt einen Holzspan daran, mit dem sie drei Öllampen entfachte. Dann zündete sie im angrenzenden Zimmer Kerzen an. Sabbatkerzen? Es war nicht zu sagen. Suleika Denia kehrte Jona den Rücken zu, und er hörte keinen Laut. Anfangs wußte er nicht, ob sie den Bund erneuerte oder nur für zusätzliche Beleuchtung sorgte, doch dann sah er sie beinahe unmerklich schwanken.
Die Frau betete über den Sabbatkerzen!
Saadi hatte bemerkt, daß Jona sie beobachtete. Das schmale, kantige Gesicht des Gastgebers war angespannt. Sie saßen beieinander und unterhielten sich stockend. Als der Duft gebratenen Gemüses und geschmorten Geflügels durchs Haus zog, wurde es draußen dunkel, und nur die Kerzen und Öllampen erhellten die Zimmer. Bald darauf führte Isaak Saadi Jona zu Tisch, während das Mädchen Ines Brot und Wein auftrug.
Als sie am Tisch saßen, fiel Jona auf, daß sein Gastgeber noch immer verunsichert wirkte.
»Lassen wir unseren Gast und neuen Freund das Tischgebet sprechen«, sagte Saadi und schob so geschickt Jona die Verantwortung zu.
Jona wußte, wenn Saadi ein ernsthafter Christ wäre, hätte er Jesus für das Essen gedankt, das sie gleich zu sich nehmen würden. Der sicherste Weg, den Jona auch einschlagen wollte, wäre es, einfach Gott für das Mahl zu danken. Doch als er den Mund öffnete, dachte er an die Frau, die ihre eigenen Gebete nur unvollkommen verschleiert hatte, und schlug, fast ohne es zu wol-len, den anderen Weg ein. Er hob sein Weinglas und stimmte in heiserem Hebräisch den Gesang an, mit dem man den Sabbat, die Königin der Tage, begrüßt und Gott für die Frucht des Rebstocks dankt.
Während die anderen drei Erwachsenen am Tisch ihn stumm anstarrten, trank er einen Schluck Wein und gab das Brot an Saadi weiter. Der ältere Mann zögerte, doch dann riß er ein Stück vom Laib und sang den Dank für die Früchte der Erde.
Die Worte und Melodien öffneten eine Tür zu Jonas Erinnerung, und in seine Freude mischte sich Schmerz. So war es nicht Gott, den er in den Berachot anrief, sondern seine Eltern, seine Brüder, seinen Onkel, seine Tante und seine Freunde - die Verstorbenen.
Als die Gebete zu Ende gesprochen waren, schaute nur Felipa gelangweilt drein, anscheinend ärgerte sie sich über etwas, das ihre Tochter sie flüsternd gefragt hatte. Isaak Saadis wachsames Gesicht war traurig, aber entspannt, und Suleikas Augen waren feucht, während Ines, wie Jona bemerkte, ihn mit Interesse und Neugier musterte.
Saadi hatte eine Entscheidung getroffen. Er stellte eine Öllampe ins Fenster, und die drei Frauen trugen Speisen auf, von denen Jona seit langem geträumt hatte: zartes geschmortes Hühnchen und Gemüse, einen Reispudding mit Rosinen und Safran, in Wein eingelegte Granatapfelkerne. Bevor das Mahl zu Ende war, traf der erste ein, den das Licht im Fenster eingeladen hatte. Es war ein großer, gutaussehender Mann mit einem roten Mal wie eine zerdrückte Beere knapp unterhalb des Kiefers auf dem Hals.
»Das ist unser guter Nachbar, Mica Benzaquen«, sagte Saadi zu Jona. »Und dieser junge Mann ist Jona ben Helkias Toledano, ein Freund aus Toledo.«
Benzaquen hieß Jona willkommen.
Kurz darauf erschienen ein Mann und eine Frau und wurden
Jona als Fineas ben Sagan und seine Frau Sancha Portal vorgestellt, und dann kamen Abram Montelran und seine Frau Leona Patras. Anschließend noch zwei Männer, Nachman Redondo und Pedro Serrano. Immer wieder ging nun die Tür auf, bis sich neun weitere Männer und sechs Frauen in dem kleinen Haus drängten. Jona fiel auf, daß alle Arbeitskleidung trugen, denn sie wollten keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem sie sich für den jüdischen Sabbat festlich kleideten.
Er wurde von Saadi allen Anwesenden als ein Freund vorgestellt, der auf Besuch sei.
Einer der Nachbarjungen wurde als Wachposten vor die Tür geschickt, während im Haus die Leute bereits zu beten begonnen hatten, so wie es jüdischer Brauch war.
Es gab keine Tora; Mica Benzaquen stimmte die Gebete aus dem Gedächtnis an, und alle fielen, ängstlich, aber auch voller Freude, ein. Ihre Stimmen waren kaum mehr als ein Flüstern, damit der Klang der Liturgie nicht nach draußen dringen und sie verraten konnte. Sie rezitierten die achtzehn Segenssprüche und das Schema. Dann sangen sie in einer gewaltigen Abfolge von Melodien Hymnen, Gebete und die wortlosen traditionellen Gesänge, die man Niggun nennt.
Das Gefühl der Zusammengehörigkeit und das Erlebnis des gemeinsamen Betens, das für Jona früher so alltäglich gewesen und jetzt so verboten und kostbar war, hatten eine tiefgreifende Wirkung auf ihn. Viel zu schnell war es vorüber. Die Leute umarmten sich und wünschten sich gegenseitig einen friedlichen Sabbat. Dabei schlossen sie auch den Fremden ein, für den sich Isaak Saadi verbürgt hatte.
»Nächste Woche in meinem Haus«, flüsterte Mica Benzaquen Jona zu, und der nickte dankbar.
Isaak Saadi zerstörte den Zauber. Während die Leute einzeln oder in Paaren das Haus verließen, lächelte er Jona an. »Wollt Ihr uns«, fragte er, »am Sonntag morgen in die Kirche begleiten?«
»Nein, das kann ich nicht.«
»Dann vielleicht am Sonntag darauf.« Saadi sah Jona an. »Das ist wichtig. Es gibt Leute, die uns sehr aufmerksam beobachten, wenn Ihr versteht«, sagte er.
In den folgenden Tagen behielt Jona den Stand des Seidenhändlers scharf im Auge. Es schien sehr lange zu dauern, bis Isaak Saadi den Stand seiner Tochter alleine überließ. Wie zufällig schlenderte Jona zu ihr. »Guten Tag, Senorita.«
»Guten Tag, Senor. Mein Vater ist nicht hier...«
»Ja, das sehe ich. Aber es macht nichts. Ich bin nur vorbeigekommen, um ihm noch einmal für die Gastfreundschaft Eurer Familie zu danken. Könnt Ihr ihm vielleicht meinen Dank ausrichten?«
»Ja, Senor«, sagte sie. »Wir... Ihr wart in unserem Haus sehr willkommen.« Sie errötete heftig, vielleicht weil er sie anstarrte, seit er an den Stand getreten war. Sie hatte große Augen, eine gerade Nase und einen Mund, der nicht so vollippig war wie der manch anderer, der aber deutlich ihre Gefühle verriet, nicht zuletzt in den sinnlichen Winkeln. Im Haus ihres Vaters hatte er sich nicht getraut, sie zu lange anzusehen, denn ihre Familie hätte daran Anstoß nehmen können. Damals im Lampenlicht waren ihm ihre Augen grau erschienen. Jetzt bei Tageslicht war ihm, als wären sie doch blau, vielleicht lag es aber auch am Schatten, den der Stand warf. »Vielen Dank, Senorita.«
»Gern geschehen, Senor Toledano.«
Am nächsten Freitag nahm Jona wieder an der Sabbatfeier der kleinen Gruppe Konvertiten teil, die diesmal im Hause von Mica Benzaquen stattfand. Immer wieder warf er verstohlene Blicke zu Ines Denia hinüber, die bei den Frauen saß. Sogar im Sitzen hatte sie eine ausgezeichnete Haltung. Und ein so interessantes Gesicht. In der folgenden Woche ging er immer wieder auf den Markt und beobachtete sie aus der Ferne, aber er wußte, daß sein Herumlungern ein Ende haben mußte. Einige der Händler warfen ihm schon böse Blicke zu, vielleicht verdächtigten sie ihn, einen Diebstahl zu planen.
Tags darauf ging er nicht mehr am Morgen, sondern am späten Nachmittag auf den Markt, und zu seinem Glück kam er gerade zu dem Zeitpunkt an, als Felipa ihre Schwester im Seidenstand ablöste. Ines schlenderte mit ihrer kleinen Nichte Adriana über den Platz, um Essen einzukaufen, und Jona lenkte seine Schritte so, daß er ihnen über den Weg lief.
»Hola, Senorita!«
»Hola, Senor.« Der sinnliche Mund zeigte ein warmes Lächeln. Sie wechselten ein paar Worte, und dann trödelte er herum, während sie Linsen, Reis, Rosinen, Datteln und einen Granatapfel kaufte. Anschließend begleitete er sie zu einem anderen Gemüsehändler, wo sie zwei Weißkohlköpfe erstand.
Nun war ihre Tasche schwer. »Wenn Ihr gestattet.«
»Nein, nein... «
»Aber natürlich«, beharrte er fröhlich.
Er trug ihr die gefüllte Einkaufstasche nach Hause. Unterwegs unterhielten sie sich, aber danach wußte er nicht mehr, worüber sie gesprochen hatten. Er hatte ein großes Verlangen nach ihrer Gesellschaft.
Jetzt, da er wußte, zu welcher Zeit er auf den Markt gehen mußte, war es einfacher, Begegnungen mit ihr zu arrangieren. Zwei Tage später traf er sie wieder auf dem Marktplatz, als sie gerade mit dem Kind spazierenging.
Bald traf er sich regelmäßig mit Ines und dem kleinen Mädchen.
»Guten Nachmittag«, sagte er feierlich, sooft er sie sah, und sie erwiderte mit ähnlicher Feierlichkeit:
»Guten Nachmittag, Senor.«
Schon nach ein paar Begegnungen erkannte Adriana, das kleine Mädchen, ihn wieder. Von da an rief sie immer Jonas Namen und kam zu ihm gelaufen.
Er hatte durchaus den Eindruck, daß Ines sich für ihn interessierte. Er war erstaunt über die Klugheit in ihrem Gesicht, gerührt von ihrem scheuen Liebreiz, gequält von Gedanken an den jungen Körper unter ihrer züchtigen Kleidung. Eines Nachmittags gingen sie zur plaza mayor, wo ein Pfeifer an einer sonnenbeschienenen Wand saß und spielte.
Jona wiegte sich zur Musik und fing an, sich zu bewegen, wie er die Roma tanzen gesehen hatte. Plötzlich konnte er mit seinen Schultern, Hüften und Füßen Dinge ausdrücken, wie die Zigeuner es taten. Dinge, die er noch nie zuvor ausgedrückt hatte. Erstaunt sah sie ihm mit einem halben Lächeln zu, doch als er die Hand nach ihr ausstreckte, weigerte sie sich. Trotzdem stellte er sich vor, wenn ihre junge Nichte nicht dabei wäre... Wenn sie nicht auf einem öffentlichen Platz, sondern an einem verschwiegeneren Ort wären... Wenn...
Er hob das kleine Mädchen auf, und Adriana kreischte, als er mit ihr im Kreis herumwirbelte.
Danach setzten sie sich in die Nähe des Musikanten und unterhielten sich, während Adriana mit einem kleinen, glatten roten Stein spielte. Ines erzählte ihm, daß sie in Madrid geboren sei, wo ihre Eltern vor fünf Jahren zum Christentum übergetreten seien.
In Toledo war sie noch nie gewesen. Als er ihr sagte, daß seine Lieben alle tot oder aus Spanien geflohen seien, traten ihr Tränen in die Augen, und sie legte ihm die Hand auf den Arm. Es war das einzige Mal, daß sie ihn berührte. Er saß bewegungslos da, aber sie zog ihre Hand sehr schnell wieder weg.
Am nächsten Nachmittag ging Jona wieder auf den Markt, wie es ihm zur Gewohnheit geworden war. Er schlenderte zwischen den Ständen herum und wartete darauf, daß Felipa Ines im Seiden-stand ablöste. Doch als er beim Stand des Geflügelhändlers vorbeikam, sah er, daß Suleika Denia dort war und sich mit dem Verkäufer unterhielt. Der Geflügelhändler bemerkte Jona und sagte etwas zu Suleika. Ines' Mutter drehte sich um und sah Jona streng an, als wären sie sich nie begegnet. Sie stellte dem Geflügelhändler eine Frage, und als sie seine Antwort gehört hatte, drehte sie sich wieder um und ging direkt zum Seidenstand ihres Gatten Isaak Saadi.
Gleich darauf kehrte sie zurück. Nun war ihre Tochter bei ihr, und Jona kam zu Bewußtsein, was er bis jetzt verdrängt hatte, indem er nur auf ihre stolze Körperhaltung, das Geheimnis ihrer großen Augen oder den Liebreiz ihres sinnlichen Mundes geachtet hatte.
Sie war sehr schön.
Jona sah, wie sie schnell davongingen, wobei die Mutter ihre Tochter am Arm hielt wie ein alguacil, der einen Gefangenen in die Zelle führt.
Er bezweifelte, daß Ines ihrer Familie von ihren Begegnungen erzählt hatte. Sooft er sie nach Hause begleitet hatte, hatte sie sich die Einkaufstasche zurückgeben lassen, bevor das Haus in Sicht kam, und sie hatten sich getrennt. Vielleicht hatte einer der Händler auf dem Markt etwas zu ihrer Mutter gesagt. Oder eine unschuldige Bemerkung des kleinen Mädchens hatte Suleikas Zorn über sie gebracht.
Gewiß hatte er Ines nicht entehrt. So schlimm konnte es für ihre Mutter doch nicht sein, sagte er sich, zu erfahren, daß sie miteinander spazierengegangen waren.
Doch als er an den nächsten beiden Tagen wieder auf den Markt kam, war Ines nicht am Seidenstand. Felipa arbeitete an ihrer Stelle.
In dieser Nacht fand er keinen Schlaf vor brennendem Verlangen, denn er malte sich aus, wie es wäre, bei einer geliebten Frau
zu liegen. Wie es wäre, Ines zum Eheweib zu haben und die Körper zu vereinigen gemäß dem Gebot, fruchtbar zu sein und sich zu vermehren. Wie fremdartig und gleichzeitig schön das wäre.
Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und beschloß, mit ihrem Vater zu reden.
Doch als er auf den Markt ging, um seinen Entschluß in die Tat umzusetzen, erwartete ihn bereits Mica Benzaquen, der Nachbar von Isaak Saadis Familie.
Auf den Vorschlag des älteren Mannes hin spazierten sie zur
plaza mayor.
»Jona Toledano, mein Freund Isaak Saadi glaubt, daß seine jüngere Tochter Eure Aufmerksamkeit geweckt hat«, sagte Ben-zaquen taktvoll.
»Ines. Ja, das stimmt.«
»Ja, Ines. Ein Juwel von unschätzbarem Wert, nicht?«
Jona nickte und wartete.
»Züchtig und geschickt im Geschäft wie zu Hause. Ihrem Vater ist es eine Ehre, daß der Sohn von Helkias, dem Silberschmied von Toledo, möge er in Frieden ruhen, Isaaks Familie mit seiner Freundschaft beschenkt. Aber Senor Saadi hat einige Fragen. Seid Ihr einverstanden?«
»Natürlich.«
»Zum Beispiel: Familie?«
»Ich stamme ab von Rabbis und Schriftgelehrten sowohl auf meiner Mutter Seite wie auch der meines Vaters. Mein Großvater mütterlicherseits ... «
»Natürlich, natürlich. Vorfahren von hohem Ansehen. Aber lebende Verwandte, vielleicht mit einem Gewerbe, in das der junge Mann eintreten könnte?«
»Ich habe einen Onkel. Er hat während der Vertreibung Spanien verlassen. Ich weiß nicht, wo...«
»Oh, das ist bedauerlich.«
Aber der junge Mann, bemerkte Benzaquen, habe doch Senor Saadi gegenüber gewisse Fertigkeiten erwähnt, die ihm sein Vater, der Silberschmied, beigebracht habe. »Seid Ihr dann ein Silberschmiedmeister?«
»Als mein Vater starb, stand ich kurz davor, ein fahrender Geselle zu werden.«
»Oh... dann wart Ihr also noch in der Ausbildung. Bedauerlich, bedauerlich... «
»Ich lerne schnell. Ich könnte das Seidengewerbe erlernen.«
»Das glaube ich sehr gerne. Aber Isaak Saadi hat bereits einen Schwiegersohn im Seidengeschäft«, erwiderte Benzaquen dünn.
Jona wußte, daß er noch vor wenigen Jahren eine äußerst gute Partie für die Familie Saadi gewesen wäre. Jeder wäre begeistert gewesen, vor allem Isaak Saadi; jetzt aber war es so, daß er als Bräutigam nicht in Frage kam. Und dabei wußten sie noch gar nicht, daß er ein ungetaufter Flüchtling war.
Benzaquen starrte seine gebrochene Nase an. »Warum geht Ihr nicht zur Kirche?«
»Ich war... beschäftigt.«
Benzaquen zuckte die Achseln. Er warf nur einen flüchtigen Blick auf die fadenscheinige Kleidung des jungen Mannes und machte sich nicht mehr die Mühe, ihn nach seinem Vermögen zu fragen.
»In Zukunft müßt Ihr, wenn Ihr mit einer unverheirateten jungen Frau spazierengeht, ihr gestatten, ihre Einkaufstasche selbst zu tragen«, sagte er streng. »Ansonsten könnten Bewerber, die... annehmbarer sind, glauben, die Frau sei zu schwach, um die anstrengenden Pflichten eines Eheweibs zu erfüllen.«
Er wünschte leise einen guten Tag.
Mingo verbrachte inzwischen einen Großteil seiner Zeit in der Alhambra und kehrte nur für ein oder zwei Nächte pro Woche auf den Sacromonte zurück. Eines Abends überbrachte er Jona beunruhigende Nachrichten.
»Da die Monarchen in Kürze für einen längeren Aufenthalt in die Alhambra kommen, hat die Inquisition vor, alle marranos und moriscos in der Umgebung der Festung eingehend zu prüfen, damit auch nicht der geringste Hinweis auf abtrünnige Christen die königlichen Augen beleidige.«
Jona hörte schweigend zu.
»Sie suchen nach Häretikern, bis sie genügend von ihnen aufgetrieben haben. Bestimmt wird es ein Autodafe geben, damit sie ihren Eifer und ihre Tüchtigkeit beweisen können, vielleicht sogar mehr als eins, und Angehörige des Hofes, wenn nicht gar gekrönte Häupter, werden anwesend sein. Was ich dir damit sagen will, mein lieber Freund Jona«, sagte er sanft, »ist, daß es weise wäre, wenn du bald woandershin gehst, an einen Ort, an dem nicht jedes Vaterunser deines Lebens einer strengen Prüfung unterzogen wird.«
Jona hatte das Gefühl, daß der Anstand ihm gebot, diejenigen zu warnen, mit denen er erst kürzlich gebetet hatte. Vielleicht hegte er tief drinnen auch die wilde Hoffnung, daß Isaak Saadis Fami-lie ihn als ihren Retter betrachten und ihm mit mehr Wohlwollen begegnen würde.
Doch als er das kleine Haus im Albaicin erreichte, war es leer.
Leer waren auch das Nachbarhaus, in dem die Familie Benzaquen gewohnt hatte, und die Häuser der anderen Neuen Christen. Die Konvertitenfamilien hatten offenbar ebenfalls von dem bevorstehenden Besuch von Ferdinand und Isabella erfahren und begriffen, welche Gefahr ihnen drohte. Alle waren geflohen.
Allein vor den verlassenen Häusern, kauerte Jona sich in den Schatten einer Platane und zeichnete vier Punkte in den Staub. Der eine stellte die Alten Christen Spaniens dar, der zweite die Mauren, der dritte die Neuen Christen.
Und der vierte Punkt stellte Jona ben Helkias Toledano dar.
Er wußte, daß er kein Jude mehr war, wie sein Vater einer gewesen war und alle Generationen seiner Familie zuvor. In seinem Herzen sehnte er sich danach, ein solcher Mensch zu sein, aber er war bereits ein anderer geworden.
Seine wahre Religion bestand nun darin, ein Jude zu sein, der überlebte. Er hatte sich einem Leben verschrieben, in dem er, allein und von allen anderen verschieden, mit sich selbst eine Gruppe bildete.
Wenige Schritte von dem Haus entfernt fand er den kleinen roten Stein, mit dem Adriana gespielt hatte. Er hob ihn auf und steckte ihn in seine Börse als ein Erinnerungsstück an die Tante der Kleinen, der von nun an all seine Träume gelten sollten.
Mingo kehrte eilends aus der Alhambra zu den Höhlen zurück, um zu berichten, was er Neues erfahren hatte.
»Ab sofort wird gegen die Neuen Christen vorgegangen. Du mußt noch heute von hier weg, Jona.«
»Was ist mit den Roma?« fragte ihn Jona. »Sind sie vor Schaden sicher?«
»Meine Leute sind Pferdepfleger und Gärtner. Wir haben unter uns niemanden, der so ehrgeizig ist wie die maurischen Architekten und Baumeister oder die jüdischen Geldverleiher und Ärzte. Die gadje haben keinen Grund, auf uns neidisch zu sein. Die meisten von ihnen sehen uns kaum. Wenn die Inquisition sich mit uns befaßt, sieht sie nur peones, die gute Christen sind.«
Mingo machte noch einen anderen Vorschlag, der Jona Kummer bereitete. »Du solltest deinen Esel hierlassen. Das Tier hat nicht mehr lange zu leben, und wenn du ihn unterwegs scharf reitest, würde er bald krank werden und sterben.«
Im Herzen wußte Jona, daß er recht hatte.
»Ich schenke dir den Esel«, sagte er schließlich, und Mingo nickte.
Mit einem Apfel ging Jona hinunter auf die Weide, gab ihn Mose und kraulte den Esel zärtlich zwischen den Ohren. Der Abschied fiel ihm schwer.
Und noch einen letzten Dienst erwies ihm der kleine Mann. Er sorgte dafür, daß Jona mit zwei Männern der Roma reiten konnte - den Manigo-Brüdern, Ramon und Macot -, die Pferde an Händler in Baena, Jaen und Andujar ausliefern sollten. »Macot Manigo will ein Paket nach Tanger schicken, und zwar mit einem Schiff, das in Andujar auf ihn wartet. Es gehört maurischen Schmugglern, mit denen wir seit Jahren Handel treiben. Er wird versuchen, dir einen Platz auf dem Schiff zu verschaffen, das dich den Guadalquivir hinunterbringen wird.«
Für den Abschied blieb nur wenig Zeit. Mana wickelte ihm Brot und Käse in ein Tuch. Von Mingo erhielt er zwei hübsche Abschiedsgeschenke, einen Dolch aus ziseliertem maurischem Stahl, der nicht stumpf wurde, und die Gitarre, die Jona gespielt und bewundert hatte.
»Mingo«, sagte er, »du mußt aufpassen, daß du die katholischen Monarchen nicht zu sehr reizt.«
»Und du mußt dir keine Sorgen um mich machen. Ich wün-sche dir ein gutes Leben, mein Freund.« Jona fiel auf die Knie und umarmte Mingo, den Häuptling der Roma, ein letztes Mal.
Die Pferdehändler waren gutmütige Männer mit dunkler Haut und einer solchen Geschicklichkeit im Umgang mit Tieren, daß sie sich nichts dabei dachten, eine Herde mit zwanzig Pferden zu treiben. Er hatte sich mit ihnen bereits in seiner Zeit auf dem Sacromonte angefreundet, und jetzt erwiesen sie sich als angenehme Reisegefährten. Macot war ein guter Koch, und sie hatten genügend Wein dabei. Ramon besaß eine Laute, und jeden Abend spielten er und Jona, um sich und Macot die Sattelmüdigkeit mit Musik zu vertreiben.
In den langen Stunden des Reitens dachte Jona viel über jene zwei Männer nach, die die Natur beide so merkwürdig geformt hatte und die dabei doch so verschieden waren wie Tag und Nacht - Mingo und Bonestruca. Und immer wieder erfüllte es ihn mit Verwunderung, daß der große bucklige Mönch so haßerfüllt und hassenswert geworden war, während der Zigeunerzwerg Mingo soviel Güte in seinem kleinen Körper versammelte.
Jonas eigener großer Körper war wund vom zu langen Reiten, und seine Seele schmerzte vor Verlassenheit, denn nachdem er bei den Roma soviel Wärme und Herzlichkeit erlebt hatte, fiel es ihm sehr schwer, wieder zum einsamen Wanderer zu werden. Und auch an Ines Saadi Denia dachte er oft, obwohl er wußte, er würde es hinnehmen müssen, daß ihre Lebenswege von nun an in ganz verschiedene Richtungen führten.
Doch es gab noch einen anderen Verlust, über den er sich ein wenig länger nachzugrübeln gestattete. Mehr als drei Jahre war ein Lasttier sein einziger und ständiger Gefährte gewesen, ein williger und anspruchsloser Freund. Es würde lange dauern, bis er die Trauer über den Verlust des Esels, den er Mose nannte, überwunden hatte.