6


Das Bild hätte tatsächlich aus Dantes Inferno stammen können, nur daß es farbig und dreidimensional und wirklich war - und viel entsetzlicher, als jede menschliche Phantasie sich hätte ausmalen können.

Hartmanns Herz jagte. Seine Hände und seine Stirn waren feucht vor Schweiß, und es gelang ihm trotz aller Anstrengung nicht, die irrationale Furcht zu vertreiben, mit der ihn der Anblick des höllischen Pfuhls erfüllte. Obwohl es ihm seit länger als einer Minute nicht gelungen war, den Blick von dem schrecklichen Bild loszureißen, spürte er, daß es Net, die neben ihm stand, ebenso erging. Ihr Atem ging schnell und schwer, und sie hatte eine Hand vom Lauf ihres Gewehres gelöst und auf seinen Arm gelegt, so daß er das Beben ihrer Finger spüren konnte. Unter ihnen lag ein kreisrunder, von blutrotem Licht erfüllter Schacht, dessen Wände senkrecht in die Tiefe stürzten und der mit brennender Lava und dem Flimmern kochender Luft gefüllt war. Der ätzende Geruch des flüssigen Steines war so durchdringend, daß Hartmann kaum noch atmen konnte, und die Hitze trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Trotzdem hätte ihn dieser Anblick allein allenfalls mit Interesse erfüllt, vielleicht mit Angst vor der rein physischen Gefahr, die von dem lavagefüllten Schacht ausging.

Nein - was es ihm immer schwerer machte, einen entsetzten Schrei zu unterdrücken, herumzufahren und einfach in die Dunkelheit davonzustürzen, so weit er konnte, das war der Anblick der grotesken Kreatur, die in fünfzig oder sechzig Metern Entfernung am Rande dieses Schachtes hockte. Hartmann konnte sie nicht einmal wirklich erkennen. Das flackernde rote Licht und das Flimmern der überhitzten Luft verzerrte ihre Umrisse und ließ sie vermutlich größer und unheimlicher erscheinen, als sie war, und die ätzenden Dämpfe, die aus der Tiefe emporstiegen, trieben ihm die Tränen in die Augen, so daß er nur wie durch einen Schleier hindurch sah. Aber was er erkannte, war fast mehr, als er verkraften konnte.

Hinter dem monströsen Umriß bewegte sich eine Anzahl Ameisen, so daß er seine Größe zumindest ungefähr schätzen konnte. Es war gewaltig. Der aufgedunsene Leib, der sich nicht nur im Ganzen, sondern auf widerwärtige Weise auch in sich selbst unentwegt zu bewegen schien, hockte zwischen einem Paar gewaltiger, unentwegt pumpender Flügel, die dem schwarzen Giganten eine gewisse Ähnlichkeit mit einer monströs verkrüppelten Fledermaus verlieh. Sein Kopf war riesig und schien nur aus Augen und anderen Sinnesorganen zu bestehen. Dort, wo er das Maul erwartet hatte, entsprang ein ganzer Wald dünner, unentwegt zuckender Tentakel. Krallen blitzten im roten Licht.

»Was ist los?« drang Kyles Stimme in den Nebel von Furcht und Entsetzen, der sich über Hartmanns Denken gelegt hatte.

Hartmann antwortete nicht. So unbeschreiblich der Anblick des Titanen war, so sehr schlug er ihn auch zugleich in seinen Bann. Es war ihm unmöglich, wegzusehen. Es war ihm nicht einmal möglich, an irgend etwas anderes zu denken oder auch nur auf Kyles Frage zu reagieren. Mit einem Teil seines Bewußtseins, das keinen Einfluß mehr auf sein Handeln hatte, registrierte er mühsame, schleifende Geräusche hinter sich und begriff, daß Kyle auf die Tür zuzukriechen begann.

Erst als der Megamann endlose Minuten später neben ihm auftauchte und ihn an der Seite berührte, gelang es ihm, die Augen zu schließen und den fürchterlichen Bann abzuschütteln, in den ihn das Bild versetzt hatte.

Zitternd wie unter Schmerzen senkte er den Blick und sah auf den Megamann herab. Hartmann erschrak zutiefst. Kyles Gesicht war schweißüberströmt und fahl. In seinen Augen stand ein irres Flackern, und sein Atem ging so schwer, daß er zweimal ansetzen mußte, um überhaupt sprechen zu können. Erst jetzt begriff Hartmann, daß der Megamann sich nur auf Händen und Ellbogen durch den gesamten Raum geschleppt hatte.

»Helfen Sie mir«, sagte Kyle und streckte ihm eine zitternde Hand entgegen.

Hartmann half dem Megamann, sich halb aufzurichten, und stützte ihn, als er den Kopf über die Unterkante der Tür schob und den Schacht hinabblickte. Er suchte aufmerksam nach Spuren des gleichen Erschreckens in Kyles Gesicht, aber alles, was er sah, war eine tiefe, rein körperliche Erschöpfung.

Es dauerte eine Weile, bis Kyle ihm mit einem Nicken zu verstehen gab, daß er genug gesehen hatte. Hartmann lockerte seinen Griff, und Kyle sank erschöpft an der Wand entlang wieder zu Boden. Abermals verstrich beinahe eine Minute, bis er auch nur genug Kraft gesammelt hatte, um zu sprechen. Hartmanns Blick streifte seine verbrannten Beine. Er verstand nicht mehr, wieso Kyle überhaupt noch lebte, trotz der unvorstellbaren Veränderungen, die die Moroni mit seinem Körper vorgenommen hatten. Letztendlich bestand auch er nur aus Fleisch und Blut, und letztendlich war die Fähigkeit jedes lebenden Wesens, Verletzungen zu verkraften und Schmerzen zu ertragen, begrenzt.

»Er ist es«, murmelte Kyle.

»Wer?« flüsterte Hartmann. Der Klang seiner eigenen Stimme kam ihm fremd vor, und beinahe erschrak er selbst über die Furcht, die er darin hörte. Er hatte das Gefühl, die Antwort auf seine eigene Frage zu wissen.

»Der Herr der Schwarzen Festung«, murmelte Kyle. »Es waren zwei, Hartmann. Das ist der andere. Verstehen Sie?«

Hartmann blickte den Megamann einen Moment lang verwirrt an, dann machte er eine Bewegung, die eine Mischung aus Nicken, Achselzucken und Kopfschütteln war. »Ich fürchte ... nicht ganz«, sagte er.

Kyle schloß die Augen und blieb einen Moment reglos und mit zuckendem Gesicht sitzen. »Nein«, flüsterte er. »Wie könnten Sie auch.«

Hartmann ahnte, daß er im Moment nicht mehr von Kyle erfahren würde, und sah zu Net hinauf. Sie stand noch immer reglos da und starrte aus schreckgeweiteten Augen in die Tiefe; und sie reagierte auch nicht, als er sie an der Schulter berührte. Erst als er seinen Griff so weit verstärkte, daß er schon weh tun mußte, erwachte sie aus dem Bann, schloß mit einem kleinen, erschrockenen Laut die Augen und ließ sich neben Kyle in die Hocke sinken.

Auch sie blieb lange Zeit völlig reglos sitzen, ehe sie die Lider wieder hob. »Mein Gott«, flüsterte sie. »Was ist das?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Hartmann. Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Megamann. »Er sagte irgend etwas vom Herrn der Schwarzen Festung. Aber ich bin nicht sicher, ob ich ihn wirklich verstanden habe.«

»Dieses ... Monster?« flüsterte Net entsetzt. »Du ... meinst, dieses Ungeheuer ist ... gehört zu der Macht, die Moron lenkt? Aber das ist doch nur ein Ungeheuer.«

Hartmanns Finger spielten nervös am Lauf seines Gewehrs. Er verstand sehr wohl, was Net mit diesen Worten meinte. Der Anblick der Kreatur war so entsetzlich, daß er vermutlich für sich allein ausgereicht hätte, manch anderen in den Wahnsinn zu treiben. Und es nutzte sehr wenig, wenn er sich selbst sagte, daß das Äußere eines lebenden Wesens nichts über seine Intelligenz oder seine Absichten verraten mußte; dieses Ding dort unten war ein Monster. Auch ihm war es nicht möglich, dieses Monster mit dem Vertreter eines Volkes zu identifizieren, das Hunderte von Planeten erobert und Dinge wie Transmitter, die Sternenschiffe und all die anderen technischen Errungenschaften Morons geschaffen hatte. Eine tiefe Angst erweckte dieser Anblick, von dessen Existenz er nie zuvor gehört hatte und das ihm doch nicht fremd war.

»Wir müssen es vernichten«, sagte Kyle plötzlich. Hartmann sah ihn nur an. »Wenn ... wenn es entkommt, dann war alles umsonst«, fuhr Kyle fort.

»Wieso?«

Kyle zögerte. Hartmann bemerkte, wie schwer es ihm fiel, die Frage der Wasteländerin zu beantworten. »Sie sind Moron«, sagte er. »Verstehst du?«

»Nicht ... ganz«, sagte Net hilflos.

»Die Arbeiter und Soldaten und selbst die Inspektoren«, erklärte Kyle langsam, als überlege er jedes einzelne Wort dreimal, ehe er es aussprach, damit ihm nicht etwas entschlüpfte, das er lieber nicht sagen wollte, »sind nur Werkzeuge. Sie sind wirklich nur große, starke Tiere. Ohne die Shait sind sie nichts. Wenn wir diesen einen dort unten vernichten, ist der Krieg vorbei. Wenn nicht, wird er vielleicht ewig weitergehen.« Hartmann reagierte immer noch nicht, aber Net nickte plötzlich verkrampft, schloß die Hände fester um ihre Waffe und machte Anstalten, aufzustehen. Auf ihrem Gesicht lag die gleiche unbeschreibliche Angst, wie sie auch Hartmann verspürte; aber auch eine fast ebenso große Entschlossenheit.

»Nein, nicht so.« Kyle hielt die Wasteländerin mit einer angedeuteten Handbewegung zurück. »Das hätte keinen Sinn.«

»Wieso nicht?«

Ein leises, humorloses Lachen erklang. »Würden Sie aus fünfzig Metern Entfernung mit einem Gewehr auf mich schießen?«

Eine Sekunde lang blickte Hartmann ihn verständnislos an, aber dann begriff er, was Kyle meinte. »Sie meinen, es ist ... genauso widerstandsfähig wie Sie?«

Kyle verneinte. »Ich schätze, daß es mir so überlegen ist wie ich Ihnen«, sagte er. Er lachte wieder auf die gleiche, bittere Art, als er das Erschrecken auf Hartmanns Gesicht gewahrte. »Sie haben herausgefunden, wie man Lebewesen wie mich konstruiert«, sagte er mit sanftem Tadel. »Glauben Sie, sie hätten diese Technik nur bei Fremden angewandt?«

»Den anderen haben deine Leute auch getötet«, gab Net zu bedenken.

Kyle schüttelte heftig den Kopf. »Nicht getötet«, korrigierte er. »Vernichtet.«

Hartmann erinnerte sich schaudernd daran, in welchem Zustand der Leichnam des Moroni gewesen war. Die Jared-Ratten hatten ihn regelrecht in Stücke gerissen. Aber er hatte bisher geglaubt, daß dies nur aus Blutgier geschehen war; oder aus einem uraltem Haß zwischen den beiden verfeindeten Völkern heraus.

»Außerdem würde es nichts nutzen«, fuhr Kyle fort, »selbst wenn Sie ihn mit dieser Waffe töten könnten. Ich muß es tun. Ich oder ein anderer Jared. Seinen Körper allein zu zerstören wäre sinnlos.«

Wieder verzichtete Hartmann auf eine Antwort, aber Kyle schien zu ahnen, was hinter seiner Stirn vorging. Der Megamann nickte. »Wir sind uns ähnlicher, als Sie glauben«, sagte er, »zumindest in einigen Punkten.«

Net machte eine Handbewegung, als wolle sie seine Worte beiseite wischen. »Und was sollen wir tun?« fragte sie in fast ärgerlichem Tonfall. »Dich zu ihm hintragen?«

»Natürlich nicht«, erwiderte Kyle. Er blickte auf seine Beine herab, und wieder füllten sich seine Augen mit Schmerz, ein Anblick, der Hartmann gleichermaßen mit Mitgefühl wie einer sonderbaren Unruhe erfüllte. Natürlich hatte er von den unheimlichen Regenerationskräften des Megamanns gehört, und auch wenn er selbst noch nie Zeuge dieses an Zauberei grenzenden Vorganges geworden war, so war ihm bisher doch gar nicht der Gedanke gekommen, daß es irgend etwas anderes als schmerzlos sein könnte.

»Auch er muß verletzt sein«, fuhr Kyle nach einer Weile fort. »Oder sehr verstört.«

Hartmann sah ihn fragend an.

Der Megamann fuhr mit einer erklärenden Geste auf sich selbst fort. »Normalerweise spürt er meine Nähe. Ich käme niemals nahe genug an ihn heran, um ihn mit den Händen zu berühren.«

»Und das müssen Sie?«

»Ja«, bestätigte Kyle.

Net stand auf und warf einen Blick nach draußen. Hartmann sah kurz zu ihr auf, aber da sie keine Anzeichen von Beunruhigung oder auch nur Nervosität zeigte, konzentrierte er seine Aufmerksamkeit wieder ganz auf Kyle. Der Megamann starrte noch immer ins Leere.

»Finden Sie nicht, daß es Zeit für die eine oder andere Erklärung wird, Kyle?« fragte Hartmann leise.

»Erklärung?« Kyle blinzelte, und Hartmann fragte sich, ob er nun ein so guter Schauspieler war - oder wirklich nicht verstanden hatte, was Hartmann überhaupt meinte.

»Erklärung«, bestätigte Hartmann. Er machte eine heftige Handbewegung. »Verdammt, Kyle - Sie reden unentwegt von Dingen, von denen ich nicht einmal die Hälfte verstehe. Ich weiß ja nicht einmal wirklich, was Sie sind. Sie erzählen mir etwas von Jared und Shait und dem Hyperraum und ...« Er suchte einen Moment lang verzweifelt nach Worten. »... und verlangen von mir, daß ich mein und Nets und vielleicht das Leben jedes einzelnen Menschen auf diesem Planten aufs Spiel setze, um etwas zu tun, von dem ich nicht einmal weiß, warum ich es tun soll!«

Er spürte selbst, wie hölzern diese Worte klangen. Sie sagten nicht das, was er hatte sagen wollen.

»Ich verstehe Sie, Hartmann«, sagte Kyle ruhig. Er seufzte. »Vielleicht haben Sie recht. Ich hätte Ihnen vieles erklären müssen, Ihnen und Captain Laird und den anderen. Aber die Zeit war so kurz, und es ging alles so schnell ... Ich verspreche Ihnen, daß Sie die Wahrheit erfahren werden, wenn ... wir das hier überstehen.«

»Nein«, sagte Hartmann zornig. »Sofort. Oder ich verspreche Ihnen, Kyle, daß Net und ich unserer Wege gehen und Sie hier liegen lassen.«

Kyle sah ihn durchdringend an - und plötzlich lachte er ganz leise. »Aber wohin wollen Sie denn gehen, Hartmann?« fragte er. Hartmann schlug zu, so hart er konnte. Kyles Kopf flog zurück und prallte gegen die Wand, und Net sah überrascht zu ihnen herab, sagte aber nichts, sondern runzelte nur die Stirn.

»Es reicht, Kyle«, sagte Hartmann. Sein Atem ging schnell. Seine Hand schmerzte, so heftig hatte er zugeschlagen, und aus Kyles Mundwinkel lief Blut. Er bezweifelte, daß der Megamann den Schlag überhaupt richtig gespürt hatte - aber das spielte auch keine Rolle. Wichtig war die Absicht, die dahinter stand, und die hatte Kyle garantiert verstanden.

»Das war nicht nötig, Hartmann«, sagte Kyle nach einer Weile.

Hartmann ballte zornig die Faust, hob den Arm - und ließ die Hand mit einem erschöpften Seufzer wieder sinken. Plötzlich kam er sich unsagbar dumm und hilflos vor. »Es tut mir leid«, murmelte er. »Ich ... habe die Beherrschung verloren.«

»Es ist nicht nötig, mich zu schlagen«, sagte Kyle, während er sich mit dem Handrücken das Blut von der Unterlippe wischte. Eine Sekunde lang sah er auf den roten Fleck auf seiner Hand herab und runzelte die Stirn, als begriffe er nicht einmal dessen Bedeutung.

»Ich sagte bereits - es tut mir leid!« wiederholte Hartmann, bereits wieder zornig werdend.

»Nein, Hartmann, das stimmt nicht«, sagte Kyle. »Es tut Ihnen nicht leid. Aber Sie haben Angst. Große Angst. Vor mir.« Wieder verging eine Sekunde, in der er Hartmann nur auf diese beunruhigend vertraute Weise ansah: »Warum?«

»Hören Sie auf, Kyle«, flüsterte Hartmann. »Ich habe mich entschuldigt. Was wollen Sie noch?«

»Daß Sie aufhören, mich zu fürchten, Hartmann.« Kyle hob die Hand und deutete zur Tür hinauf. »Sie haben dieses Ungeheuer gesehen, und Sie fürchten es wie den Tod - mit Recht. Aber ich sehe diese Angst nicht zum ersten Mal in Ihrem Blick. Sie haben Angst vor uns. Vor den Jared. Aber das müssen Sie nicht. Wir sind nicht wie die Shait.«

»O nein, ich weiß nicht!« antwortete Hartmann aufgebracht. Er wollte das nicht sagen. Er wußte nicht einmal genau, was er sagen würde, bis zu dem Moment, in dem er die Worte aussprach. Aber sie waren in ihm, ein Ausdruck einer Furcht, die ihn vom allerersten Moment an, in dem er Kyle und den Jared begegnet war, nicht mehr losgelassen hatte. Plötzlich, als hätte er eine Tür in seinem Geist geöffnet und wäre selbst gar nicht mehr in der Lage, sie wieder zu schließen, sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus. Erregt gestikulierte er zur Tür hinauf. »Sie sehen nicht so scheußlich aus, nicht wahr? Sie sind kein Ungeheuer. O nein! Sie benutzen menschliche Körper - oder die, die Ihnen gerade in den Kram passen! Aber waren es nicht Ihre eigenen Worte, Kyle, daß das Äußere eines Individuums nichts über seine wirklichen Absichten und sein wirkliches Wesen verraten muß? Wer sagt mir, daß Sie nicht genauso wie sie sind? Wer sagt mir, daß ich euch nicht dabei helfe, die Erde zu befreien, sondern sie für euch zu erobern statt für die Shait!«

Er wußte nicht, welche Reaktion er erwartet hatte - Zorn vielleicht oder eine wohlwollende Herablassung. Aber alles, was er in Kyles Augen las, war ein Ausdruck tiefer Trauer. Doch nicht einmal dieses Gefühl vermochte ihn vollends zu überzeugen. Er wußte nicht, wer dieses Wesen war, von dem sie alle kaum mehr als seinen Namen kannten.

»Es tut mir leid, Hartmann«, sagte Kyle. »Ich wußte nicht, daß Sie uns so sehr fürchten. Hätte ich es geahnt, so hätte ich vielleicht ... anders gehandelt.«

»Sie - oder das Ding, das von Ihnen Besitz ergriffen hat?« stieß Hartmann beinahe haßerfüllt hervor.

Der Ausdruck von Trauer in Kyles Augen vertiefte sich. »Ich verstehe Sie, Hartmann«, sagte er. »Sie haben uns zehn Jahre Ihres Lebens für Ihre Feinde gehalten. Sie haben uns bekämpft. Sie haben Männer losgeschickt, um uns zu vernichten. Und Sie haben gesehen, wie diese Männer nicht zurückkamen, sondern zu einem Teil unserer Gemeinschaft wurden. Ich kann Ihnen nicht verübeln, daß Sie uns hassen. Auch wenn es falsch ist.«

»Da draußen tut sich etwas«, sagte Net. Hartmann blickte erschrocken zu ihr herauf, stand aber nicht auf, sondern wandte sich wieder an Kyle.

»Wer sind diese Wesen?« fragte er. »Ich will es wissen! Jetzt!«

»Um das zu verstehen«, antwortete Kyle, »müßten Sie das Wesen der Jared verstehen.«

»Und das kann ich nicht, solange ich nicht selbst einer bin, wie?« höhnte Hartmann.

Kyle nickte, dann sagte er ernst. »Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Ich ...« Er zögerte. Wieder hatte Hartmann den sehr sicheren Eindruck, daß er verzweifelt nach Worten suchte, vielleicht um etwas zu erklären, was mit Worten nicht zu erklären war. Er konnte den Kampf, der sich hinter der Stirn des Megamanns abspielte, beinahe sehen. Und plötzlich begriff er eines ganz deutlich: Was immer Kyle auch geworden war, als er mit der mutierten Ameisenkönigin in Köln verschmolz - ein Teil von ihm war Mensch geblieben. Und es war dieser Teil, der ihn zögern ließ, ihm irgendeine überzeugend klingende Lüge, eine weitere Halbwahrheit zu präsentieren.

Er wußte nur nicht, ob dieser Mensch gebliebene Teil von Kyle stark genug sein würde, daß er ihm trauen konnte.

»Es ... bewegt sich«, sagte Net nervös. Ihre Hand fingerte am Abzug des Gewehres herum. »Ich glaube, es ... es geht.« Sie zögerte eine Sekunde, dann: »Könnte es ... hierher kommen? Es hat Flügel.«

»Das sind keine Flügel«, sagte Kyle, ohne daß er Hartmann aus den Augen ließ. Wieder an ihn gewandt, fuhr er fort: »Ich könnte Sie zwingen, zu tun, was ich von Ihnen verlange, Hartmann. Eine einzige Berührung, und Sie und Net würden alles tun, was ich will.«

Er hob die Hand, und obwohl Hartmann die Bewegung vorausgeahnt hatte und ihr zuvorzukommen versuchte, war er nicht schnell genug. Kyles Fingerspitzen berührten flüchtig seinen Arm, und im gleichen Moment schien etwas wie eine schwarze Woge über Hartmanns Geist hereinzubrechen und ihn zu verschlingen. Es war wie eine Springflut, die eine Kerzenflamme auslöschte. Hartmanns Wille wurde niedergeworfen und zermalmt; etwas ungeheuer Starkes hing plötzlich über ihm wie die Schuhsohle eines Riesen, der sich anschickte, einen Käfer zu zertreten, der auf dem Rücken lag und hilflos mit den Beinen strampelte. Und plötzlich sah Hartmann noch einmal in aller Deutlichkeit, was mit den Ameisensoldaten in der schwarzen Festung geschehen war.

Aber der zermalmende Tritt, auf den er wartete, kam nicht. Nach einer endlos andauernden Sekunde zog Kyle die Hand wieder zurück, und im gleichen Moment verschwand der schwarze Sog aus Hartmanns Kopf.

Mit einem erschrockenen Keuchen prallte er zurück und preßte die Hand, die Kyle berührt hatte, an sich, als hätte er sich verbrannt.

»Ich könnte es tun«, sagte Kyle noch einmal. »Aber ich werde es nicht. Ich wollte nur, daß Sie das wissen, Hartmann.«

»Wie großzügig!« spottete Hartmann. Aber der Hohn in seiner Stimme klang nicht einmal in seinen eigenen Ohren überzeugend. Entsetzt starrte er Kyle an. Seine Angst vor dem Megamann war nicht schlimmer oder schwächer geworden, aber sie schien mit einem Mal eine andere Qualität bekommen zu haben. Er zitterte am ganzen Leib.

»Was muß ich noch tun, damit Sie mir vertrauen?« fragte Kyle leise.

Ohne daß er in der Lage gewesen wäre, die Bewegung zu verhindern, wich Hartmann zwei Schritte von Kyle zurück. Der Ausdruck von Trauer im Blick des Jared nahm noch einmal zu. Er schien zu begreifen, daß er einen Fehler gemacht hatte.

»Wer sind Sie, Kyle?« fragte Hartmann leise. »Was sind die Jared? Was sind sie wirklich!«

Und Kyle sagte es ihm.


*


Sie hatte es niemals zugegeben, aber im Grunde war Charity fast froh, daß Skudder und sie nach ihrem Erwachen nicht einfach ihre Zimmer verlassen hatten und in den Bunker hinausspaziert waren.

Es wäre ein Schock gewesen. So hatten Kias und Stone sie vorgewarnt, als sie den Gang verließen und im Aufzug nach oben fuhren.

Während der letzten Tage, die Skudder und sie in dieser Bunkerstation verbracht hatten, war ihr die Anlage immer gespenstischer vorgekommen. Die riesige, für weit über zehntausend Menschen konzipierte unterirdische Stadt war verlassen gewesen. Sie hatte niemals viele Bewohner gehabt; aus den ursprünglich sechshundert Männern und Frauen waren vierhundert geworden, dann zweihundert und zum Schluß weniger als fünfzig. Eine Anzahl, die sich in den schier endlosen Gängen und Hallen hoffnungslos verlor, so daß man das Gefühl haben konnte, sich durch eine überdimensionale Gruft zu bewegen, die längst von jedem menschlichen Leben verlassen war.

Doch mittlerweile platzte der Bunker vor Leben geradezu aus den Nähten. Aber es war zumeist kein menschliches Leben.

Die Jared hatten den Bunker übernommen. Allein auf dem kurzen Weg nach oben begegneten ihnen Dutzende von Ameisen, aber auch eine ganze Anzahl anderer, zu Jared gewordener Geschöpfe. Einige davon waren Menschen. Manche trugen sogar noch die olivgrünen Uniformen der Bundeswehr, aber ein einziger Blick in ihre erschlafften Gesichter und die leeren Augen machte Charity klar, daß sie nur noch wie Menschen aussahen. Es gab auch noch andere Geschöpfe, darunter welche, wie sie Charity noch nie zuvor im Leben gesehen hatte - und eigentlich auch nicht sehen wollte. Sie war fast erleichtert, als sie endlich die Kommandozentrale des Bunkers betraten.

Auch hier warteten sechs oder acht Jared auf sie - zwei Männer in den Uniformen von Hartmanns schlafender Armee und eine Anzahl Ameisen, die sich emsig an irgendwelchen Gerätschaften zu schaffen machten oder sich mit ihren hohen, zwitschernden Stimmen unterhielten. Die Monitore an der Wand hinter Krämers überdimensionalem Schreibtisch waren zusammengeschaltet worden, so daß ein großes, aus zwei Dutzend einzelner Teile bestehendes Bild entstand. Eine kleine Gestalt mit einem gewaltigen Kahlkopf stand vor diesem Bild und betrachtete es gebannt - und auch Charity hielt für einen Moment mitten im Schritt inne, als ihr Blick auf die Monitorwand fiel.

Draußen herrschte Nacht, aber keine Dunkelheit. Der Himmel im Norden loderte in einem dunkelroten, blutigen Licht, und in fast regelmäßigen Abständen flammte es jenseits des Horizonts grellweiß auf.

»Großer Gott!« flüsterte Skudder. »Was ist das?«

Gurk drehte sich halb vom Bildschirm weg und sah spöttisch zu ihm hinauf. »Hallo, Indio!« sagte er fröhlich. »Endlich ausgeschlafen?« Er deutete auf den Bildschirm. »Imposant, nicht wahr? Dabei hast du das beste schon verpaßt. Ein paar von den Dingern sind ganz schön nahe herangekommen. Ich hab's richtig mit der Angst zu tun gekriegt.« Er kicherte. »Diese Anlage ist wirklich nicht schlecht. Aber unsere neuen Freunde können nicht besonders gut damit umgehen, fürchte ich.«

Skudder blickte den Zwerg finster an. »Wovon, zum Teufel, sprichst du überhaupt?«

»Wir werden angegriffen«, sagte Charity tonlos, während sie neben Gurk trat und den Bildschirm mit wachsendem Schrecken ansah. Das Bild war von einer geradezu brutalen Schönheit. Rot und Schwarz mischten sich zu einem unheimlichen, pulsierenden Schein, der irgendwie lebendig wirkte. Das rote Licht dort draußen war der Schein von glühendem Fels und brennender Erde, und das Flackern hinter dem Horizont ...

»Keine Sorge«, sagte Stone, der ihre Gedanken erraten zu haben schien. »Es sind nur taktische Sprengköpfe. Die meisten explodieren hoch genug in der Atmosphäre, um keinen Schaden anzurichten.«

Wie um seine Worte unter Beweis zu stellen, fuhr plötzlich ein dünner, blutroter Lichtblitz über den Schirm, und den Bruchteil einer Sekunde später flammte es irgendwo hinter dem Horizont grellweiß auf.

»Verdammt, Stone, das sind Atombomben!« sagte Charity entsetzt. »Es interessiert mich nicht, ob es kleine oder große Bomben sind. Wir ... werden angegriffen!«

Stone nickte ungerührt. »Was haben Sie denn erwartet? Sie wissen, wo wir sind. Sie versuchen, uns zu erwischen - genauso, wie ich es umgekehrt machen würde, wenn ich wüßte, wo sich dieser Shait verkrochen hat.«

Charity preßte die Lippen aufeinander. Stones Wortwahl gefiel ihr nicht besonders, und seinem Blick nach zu urteilen war dieses Gefühl sehr deutlich auf ihrem Gesicht abzulesen. »Wie lange geht das schon so?« fragte sie gepreßt.

Stone zuckte mit den Schultern. »Drei Stunden. Aber ich glaube nicht, daß wir Grund zur Sorge haben. Ihnen wird bald die Munition ausgehen.«

»Wie kommen Sie auf die Idee?«

»Ganz einfach«, antwortete Stone. »Ich kenne ihre militärischen Möglichkeiten. Zumindest den größten Teil. Sie haben keine Atomwaffen und keine Nuklearwaffen. Fragen Sie mich nicht, warum. Vielleicht hängt es mit ihrer eigenen Überempfindlichkeit radioaktiver Strahlung gegenüber zusammen.«

»Und womit haben Sie selbst dann Köln bombardiert?« fragte Charity.

Stone fuhr zusammen, als hätte sie ihm unversehens vor das Schienbein getreten. Aber er fing sich sofort wieder. »Beutestücke«, antwortete er. »Alte US- und Nato-Bestände. Dasselbe, womit sie uns im Moment bepflastern. Ein paar alte Cruise Missiles, von denen die Hälfte nicht mehr funktioniert.« Er machte eine wegwerfende Geste. »Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich rede. Ich habe drei Jahre lang überall auf der Erde nach genau diesen Dingen suchen lassen. Sehr viel haben wir nicht gefunden. Entweder waren sie gut versteckt, oder sie haben damals bei der Schlacht gegen die Moroni alles verbraucht.«

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen glauben«, murmelte Charity.

Stone machte ein beleidigtes Gesicht. »He!« sagte er. »Sie scheinen zu vergessen, daß ich ebenso mit beiden Füßen in der Zielscheibe stehe wie Sie; nicht einmal einen Meter neben Ihnen.« Er blinzelte ihr zu, und Charitys Blick wurde noch finsterer. »Ich hätte sehr wenig Grund, Sie zu belügen.«

Ein erzwungen aufmunterndes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Achtzig Prozent dieser Raketen waren auf Köln gerichtet. Sie versuchen verzweifelt, das Nest zu treffen. Glauben Sie mir - wenn Sie irgend etwas Wirkungsvolles hätten, hätten sie es bereits eingesetzt.«

Charity zögerte immer noch. Etwas in Stones Worten irritierte sie. Und es dauerte nur einen Moment bis sie wußte, was es war. »Sie selbst haben mir doch erzählt, daß sie niemals eine Jared-Kolonie vernichten würden.«

Stone nickte. »Solange sie irgendeine andere Wahl haben, nicht«, sagte er. »Aber die haben sie nicht mehr. Der Shait sitzt auf diesem Planeten fest, solange der Transmitter nicht arbeitet. Und es sieht nicht so aus, als würde er in absehbarer Zeit wieder funktionieren. Er hat nur noch die Wahl, mit allen Regeln zu brechen - oder unterzugehen.«

»Gouverneur Stone hat recht«, mischte sich eine andere Stimme ein.

Charity drehte sich herum und blickte ins Gesicht eines vielleicht dreißigjährigen, dunkelhaarigen Mannes, der bisher schweigend über eines der Computerterminals gebeugt dagestanden hatte. Er trug eine zerknitterte Bundeswehruniform und ein T-Shirt mit dem Aufdruck: Uncle Scrooge For President. »Diese Basis ist sicher. Wir können alles abwehren, womit sie uns angreifen. Schlimmstenfalls könnten wir sogar einen Volltreffer verkraften, solange er nicht im Megatonnen-Bereich liegt.« Er grinste schief. »Aber das möchte ich lieber nicht ausprobieren.« Charity sah den Mann mit neuer Aufmerksamkeit an. Etwas in seinem Blick irritierte sie. Und dann wußte sie es. »Sie sind kein Jared!« sagte sie überrascht.

Der Dunkelhaarige grinste noch breiter. »Ich? Fällt mir nicht ein.« Er grinste noch breiter. »Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle?« Er salutierte übertrieben zackig. »Sergeant John Harris, Royal Navy. Abkommandiert zur Nato-Sondereinheit Backfire vor ...« Er überlegte angestrengt einige Sekunden lang und zuckte dann mit den Schultern. »Na ja, vor ungefähr sechzig Jahren, schätze ich.« Ein nachdenklicher Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. »Was meinen Sie - ob ich eine Chance habe, den Sold für diese Zeit nachgezahlt zu bekommen?«

Charity mußte gegen ihren Willen lächeln. Aber nur eine Sekunde lang, dann wurde sie sofort wieder ernst. »Ich glaube nicht, daß wir uns kennen.«

Harris nickte heftig. »Sie haben mich auch erst vor zwei Tagen in die Mikrowelle geschoben, um mich wieder aufzutauen«, sagte er. »Aber ich habe in dieser Zeit eine Menge über Sie gehört, Captain Laird.« Er drehte sich zu Skudder herum. »Und über den Häuptling da auch.«

Ein Anflug von Ärger erschien auf Skudders Gesicht, aber dann registrierte er Harris' Grinsen, und plötzlich lächelte auch er.

»Vor zwei Tagen?« vergewisserte Charity sich. »Hier?«

Sie drehte sich zu Kias herum. »Ich dachte ...«

Kias beantwortete ihre Frage, bevor sie sie auch nur ganz ausgesprochen hatte. »Nicht alle wurden zu Jared«, sagte er. »Einige wenige befinden sich noch in den Schlafkammern. Harris war einer von ihnen.«

Charity war nicht sehr überzeugt. Sie hatte die verwüsteten Tiefschlafkammern gesehen. Und in diesem Moment erinnerte sie sich wieder an etwas, das sie beinahe vergessen hatte: an das Grauen in den Augen eines jungen Soldaten, der sein Gesicht an eine Glasscheibe preßte und sie verzweifelt um Hilfe anflehte.

Sie verscheuchte den Gedanken. »Gibt es noch mehr von ihnen?« fragte sie, an Stone gewandt.

»Hundertfünfzig ... zweihundert«, sagte Stone und zuckte mit den Schultern. »Die meisten sind verletzt oder krank. Keine Chance, sie wieder aufzuwecken. Außer Sergeant Harris ...« Wieder überlegte er einen Moment. »Vielleicht vierzig oder fünfzig.«

»Zusammen mit den verbliebenen Einheiten General Hartmanns können Sie eine Truppe von gut hundert Einheiten aufstellen«, sagte Kias. »Wir würden es begrüßen, wenn Sie das Kommando übernehmen würden, Captain Laird. Ich glaube nicht, daß sie einer Jared-Einheit zuverlässig folgen würden.«

Charity bedachte die Ameise mit einem eisigen Blick. »Ich wäre dir äußerst dankbar, wenn du menschliche Wesen nicht mit dem Wort Einheit bezeichnen würdest«, sagte sie kalt. »Und was das Kommando angeht - was sagt Hartmann dazu?«

Eine unbehagliche Stille begann sich für Sekunden auszubreiten. Selbst Gurk wich ihrem Blick aus, als sie auf ihn herabsah.

»Was ist mit Hartmann?« fragte Charity noch einmal. »Wo ist er, Stone?«

Stone sah weg, und Kias erklärte: »General Hartmann und seine Begleiter sind nicht von dem Kommandounternehmen gegen die Schwarze Festung zurückgekehrt.«

Ein lähmender Schrecken ergriff Charity. »Seine Begleiter?«

»Kyle und diese kleine Wildkatze«, sagte Stone. »Net heißt sie, glaube ich.«

»Nicht zurückgekehrt?« Charity rang mühsam um ihre Fassung. »Das heißt ... tot.«

»Nicht unbedingt«, erwiderte Kias. »Zumindest die Kyle-Ein ...« Er brach ab und korrigierte sich hastig: »Kyle ist noch am Leben. Da er das letzte Mal gemeinsam mit General Hartmann und der Wasteländerin gesehen wurde, ist anzunehmen, daß auch sie noch leben. Wir wüßten es, wenn Kyles körperliche Existenz beendet worden wäre.«

Selbst Stone wirkte überrascht. »Er lebt noch? Dann wißt ihr auch, wo er ist.«

»Ich fürchte, nein«, antwortete Kias nach einem spürbaren Zögern.

»Was soll das heißen?« fragte Charity.

Kias druckste eine Weile herum, dann sagte er: »Ich kann es nicht genau erklären. Er lebt, aber es gelingt uns nicht, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Es ist, als ... verhindere es irgend etwas. Oder als wäre er sehr weit entfernt.«

»Sehr weit«, wiederholte Charity und sah den Jared durchdringend an. »Wie weit muß eine von euren ... Einheiten entfernt sein, damit ihr sie nicht mehr erreichen könnt?«

»Auch das weiß ich nicht«, gestand Kias. »Um ehrlich zu sein - so etwas ist uns noch nicht passiert. Auf jeden Fall sehr weit. Nicht mehr auf diesem Planeten.«

»Oh«, sagte Charity leise. »Du meinst, ihm ist ... dasselbe passiert wie uns? Er geriet in ein Transmitterfeld und ist jetzt irgendwo in der Galaxis?«

»Nicht unbedingt«, antwortete Kias. »Ein Teil der Moron-Flotte konnte der Zerstörung durch die Black-Hole-Bombe entgehen. Möglicherweise befindet sich Kyle an Bord eines dieser Schiffe.«

Charity starrte den Jared an, und zum allerersten Mal, solange sie diese unheimliche Lebensform kannte, wich eine von ihnen ihrem Blick aus. »Hast du noch mehr schlechte Nachrichten?« fragte sie ernsthaft.

»Ich halte das nicht unbedingt für eine schlechte Nachricht«, mischte sich Stone ein. Er machte eine wedelnde Handbewegung zur Decke hinauf. »Wo immer Kyle auch ist - er ist einer von ihnen. Und nach allem, was ich über ihn weiß, wird er den Ameisen das Leben verdammt schwermachen, ganz egal, wo er gerade herumfliegt.«

»Du mußt es ja wissen«, sagte Skudder böse. »Und wenn ich an deiner Stelle wäre, Daniel, dann würde ich beten, daß er nie wieder zurückkommt. Ich glaube nicht, daß er besonders gut auf dich zu sprechen ist.«

Stone sah den Indianer einen Moment lange verunsichert an und wechselte dann abrupt das Thema. Er deutete mit einer herausfordernden Handbewegung auf Kias. »Sie haben sein Angebot gehört. Akzeptieren Sie es?«

»Witzbold!« antwortete Charity. »Soll ich mich jetzt vielleicht bedanken, daß Sie mir gerade zwanzig Sekunden Zeit zum Überlegen gegeben haben?«

»Ich fürchte, sehr viel mehr Zeit haben wir nicht«, sagte Stone.

Charity sah ihn finster an. Und die Tatsache, daß er schon wieder einmal recht hatte, änderte nichts an ihrer Verärgerung. Statt direkt zu antworten, drehte sie sich herum und sah wieder auf die Monitorwand. Das rote Glühen brennender Felsen und geschmolzener Erde hatte sich nicht geändert. Der Anblick erfüllte sie mit einer Mischung aus Entsetzen, Schmerz und einer tiefen Trauer. Sie hatte die Welt dort draußen gesehen, einen geschändeten, halb zerstörten Planeten, der vor einem halben Jahrhundert schon einmal einen nuklearen Feuersturm erlebt hatte und der langsam anfing, sich wieder zu erholen. Und nun schien alles von vorne zu beginnen. Doch vielleicht blieb das atomare Höllenfeuer diesmal auf einen kleinen Teil des Planeten beschränkt. Auch wenn der Gedanke, daß sie selbst sich im Zentrum dieses kleinen Teiles befand, alles andere als erhebend war.

»Wie stellen Sie sich das vor?« fragte sie und drehte sich wieder zu Stone herum. »Soll ich mein Gewehr nehmen und hinausgehen und auf jeden Moroni schießen, den ich sehe?«

In Stones Augen blitzte es ungeduldig auf. »Ich habe es Ihnen doch erklärt«, sagte er. »Die Schlacht zwischen den Jared und den Moroni geht uns nichts an. Wir könnten nichts an ihrem Verlauf ändern, selbst wenn wir wollten.«

»Aber wir wollen nicht, wie?« fragte Skudder böse.

Stone spießte ihn mit Blicken regelrecht auf. »Es sind Millionen, Skudder«, sagte er. »Wenn nicht Milliarden. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob wir hundert oder hunderttausend Soldaten haben. Wir würden einfach zermalmt werden, wenn wir versuchten, uns zwischen sie zu stellen. Wir brauchen Sie, um dieses ... Ding zu vernichten. Und vielleicht für ein, zwei andere Dinge.«

Er warf einen fast entschuldigenden Blick in Kias' Richtung. »Eines ist leider wahr, bei allem Respekt für unsere neuen Verbündeten: Sie können nicht besonders gut mit technischen Gerätschaften umgehen. Ich habe es selbst gesehen.«

Charity warf einen bezeichnenden Blick auf das halbe Dutzend Ameisen, das an verschiedenen Pulten herumstand und so rasch und geschickt an den Computern und Datenterminals arbeitete, daß sie das Wirbeln und Huschen ihrer Finger manchmal kaum noch richtig sehen konnte.

Stone verstand, was sie mit diesem Blick meinte. »Lassen Sie sich nicht davon täuschen«, sagte er. »Kias wird es Ihnen bestätigen: Sie haben keinerlei technisches Verständnis. Man kann ihnen beibringen, gewisse Dinge zu tun, so wie Sie auch einen Hund abrichten können, Ihre Zeitung zu holen. Aber sobald es um kompliziertere Dinge geht, sind sie ziemlich hilflos.«

Das, was Charity sah, schien Stones Worte Lügen zu strafen. Gleichzeitig wußte sie aber, daß er recht hatte. Sie selbst hatte oft und lange genug gegen Wesen wie diese gekämpft, um zu wissen, daß sie wenig mehr als Tiere waren. Wäre es anders gewesen, dann hätten sich Menschen wie sie kaum ein halbes Jahrhundert lang gegen die unvorstellbare Übermacht der Invasoren aus dem Weltall halten können.

Trotzdem schüttelte sie nach einem weiteren Moment des Überlegens den Kopf. »Es wäre sinnlos, Stone«, murmelte sie. »Selbst wenn ich es wollte - ich kann nicht mit dreißig oder vierzig Männern in den Krieg ziehen. Nicht einmal mit hundert. Sie waren auch einmal Soldat. Genau wie ich. Sie wissen das.«

»Sie werden so viele Männer bekommen, wie Sie wollen«, antwortete Stone. »Wir haben an die vierzig ausgebildete Soldaten hier im Bunker, noch immer. Und jeder einzelne wird sich Ihnen freiwillig anschließen. Ich schätze, daß wir noch einmal die gleiche Anzahl aus den Schlafkammern erwecken können. Ich kann Ihnen auch binnen kurzer Zeit noch sehr viel mehr Leute besorgen«

Charity sah ihn fragend an, und Stone deutete auf den Jared. »Kias hat Schiffe in alle Teile der Welt geschickt, um nach weiteren Überlebenden zu suchen.« Er lächelte auf eine Art, die Charity nicht besonders gefiel. »Vergessen Sie nicht, daß ich ziemlich genau über die Aktivitäten der sogenannten Rebellen Bescheid weiß. Sagen Sie ja, und ich bringe Ihnen innerhalb weniger Tage fünfhundert Freiwillige, die mit bloßen Händen gegen die Moroni kämpfen, wenn Sie es Ihnen befehlen.«

»Das werden sie auch müssen«, sagte Skudder. Er machte eine weit ausholende Handbewegung, die den ganzen Bunker einschloß. »Ich bin einer von deinen sogenannten Rebellen. Ich bin bestimmt kein Dummkopf, aber ich verstehe nichts von alledem hier. Und ich bin schon eine ganze Weile in dieser Basis.«

Stone nickte. »Ich verstehe, was du meinst. Aber das ist kein Problem.«

»Gouverneur Stone sagt die Wahrheit«, sagte Kias. »Wenn Sie unser Angebot annehmen, werden wir dieses Problem binnen kurzer Zeit lösen.« Er zögerte einen Moment.

»Wir brauchen Sie, Captain Laird.«

»Ja« bemerkte Skudder. »Als Kanonenfutter.«

»Es ist ebenso Ihre Welt wie die unsere«, sagte Kias leise.

»Falsch«, verbesserte ihn Charity kalt. »Es ist sehr viel mehr unsere Welt als eure. Ich hoffe, daß ihr das nicht vergeßt, wenn das alles hier vorbei ist.«

Kias schwieg dazu, und auch Stone sah sie eine Sekunde lang irritiert an, dann hellte sich sein Gesicht auf. »Heißt das, Sie stimmen zu?«

»Nein«, antwortete Charity. »Ich werde darüber nachdenken.«

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