TEIL EINS Die Narrensonde

1 Ein neues Kommando

A. D. 3017

»Empfehlungen des Herrn Admirals, Sir, Sie möchten unverzüglich in sein Büro kommen«, verkündete Kadett Staley.

Commander Roderick Blaine blickte sich gehetzt auf der Brücke um, wo seine Offiziere wie Ärzte, die bei einer schwierigen Operation assistieren, mit halblautem eindringlichem Murmeln die Reparaturarbeiten leiteten. Der Raum aus grauen Stahlwänden wirkte wie ein aufgestörter Ameisenhaufen, ein Durcheinander von verschiedensten Tätigkeiten, jede für sich sinnvoll, und doch chaotisch im Gesamteindruck. Über dem einen Steuermannsplatz zeigten Schirme den Planeten unten sowie die anderen Schiffe, die in der Nähe der Mac Arthur im Orbit waren, aber überall sonst waren die Deckplatten von Instrumentenkonsolen entfernt worden, Prüfgeräte waren an ihre komplizierten Innereien angeschlossen, und Techniker standen mit farbkodierten elektronischen Austauschsätzen bereit, um alles, was im geringsten verdächtig erschien, zu ersetzen.

Dumpfe Schläge und gedämpftes Schrillen hallten durch das Schiff, denn weiter achtern arbeitete ein Mechanikerteam an den Schäden am Rumpf.

Überall waren die Narben des Kampfes zu sehen, hässliche Brandschäden, wo das Langston-Feld, das das Schiff wie ein Schutzschirm umgab, vorübergehend überlastet worden war. Ein zerfetztes, faustgroßes Loch, ein hässlicher Brandkanal, verlief durch die eine Konsole quer durch; die beiden Elektroniker, die jetzt daran arbeiteten, schienen in ein Netz von Drähten verstrickt, als wären sie Bauteile des Geräts. Rod Blaine musterte die schwarzen Flecken, die seine Kampfuniform sprenkelten. Er glaubte noch den Geruch von Metalldampf und verbranntem Fleisch in der Nase zu haben, und wieder sah er Feuer und geschmolzenes Metall aus dem Rumpf sprühen und über seine linke Körperseite lodern. Sein linker Arm war noch in einer Elastikbinde stillgelegt, und an den Flecken am Ärmel konnte er ziemlich genau ablesen, was er diese letzte Woche getan hatte.

Und dabei bin ich erst eine Stunde an Bord! dachte er. Der Käptn ist an Land, und hier dieses Durcheinander! Ich kann jetzt nicht weg! Er wandte sich zu dem Kadetten um.

»Unverzüglich?«

»Jawohl, Sir. Der Funkspruch trug den Code ›Dringend‹.«

Es blieb also nichts anderes übrig, aber Rod würde ganz schön etwas zu hören kriegen, wenn der Kapitän zurück an Bord kam. Der Erste Offizier Cargill und der Erste Maschinist Sinclair waren tüchtige, zuverlässige Männer, aber Rod war der befehlshabende Offizier, und außerdem fiel Schadensbehebung in seine Kompetenz, auch wenn er gar nicht auf der Mac Arthur gewesen war, als sie die schwersten Treffer abbekommen hatte.

Rods Ordonnanz von der Flotteninfanterie hüstelte diskret und wies auf die fleckige Uniform. »Sir, wir haben doch Zeit, Sie ein wenig manierlicher herzurichten?«

»Gute Idee.« Rod warf einen Blick auf die Anzeigetafel mit den Orbitaldaten, um sicherzugehen. Jawohl, er hatte noch eine halbe Stunde Zeit, bis er ein Boot hinunter auf die Planetenoberfläche nehmen konnte. Früher zu starten würde ihn auch nicht eher in das Büro des Admirals bringen. Es würde eine Erlösung sein, diesen Overall loszuwerden. Er war seit seiner Verwundung nicht mehr aus den Kleidern gekommen.

Man musste nach einem Lazarettmaat schicken, um ihn aus dem Kampfanzug zu schälen. Der Sanitäter zupfte an dem Panzergewebe herum, das in Rods Arm eingebrannt war, und brummte tadelnd: »Halten Sie still, Sir. Sie hätten schon vor einer Woche ins Lazarett sollen.«

»Das war nicht gut möglich«, meinte Rod. Vor einer Woche hatte die Mac Arthur einen Kampf mit einem Rebellenkriegsschiff ausgefochten, das etliche Treffer zuviel erzielt hatte, bevor es sich ergeben musste. Nach dem Sieg war Rod Prisenkommandant des Feindschiffs gewesen, und dort hatte es nicht die Einrichtungen zu einer ordentlichen Versorgung seiner Wunde gegeben. Als das Panzergewebe abgelöst wurde, roch er etwas, das übler war als wochenalter Schweiß. Vermutlich beginnende Gangräne.

»Da haben wir’s.« Noch ein paar Fäden wurden weggeschnitten. Die synthetische Faser war widerstandsfähig wie Stahl. »Jetzt kommen Sie nicht mehr ohne chirurgischen Eingriff weg, Commander. Das muss alles ausgeputzt werden, bevor die Regenerationsstimulatoren wirken können. Und während wir Sie in der Krankenstation haben, können wir gleich die Nase richten.«

»Ich mag meine Nase, wie sie ist«, knurrte Rod. Er tastete nach dem etwas ramponierten Exemplar und dachte an den Kampf, bei dem sein Nasenbein gebrochen worden war. Rod fand, dass er dadurch älter wirkte, und mit vierundzwanzig Standardjahren ist einem das nur recht; außerdem war es das Mal eines verdienten, nicht ererbten Erfolgs. Rod war stolz auf seine Familie, aber mitunter war es schwer, sich dem Ruf der Blaines würdig zu erweisen.

Endlich war das Panzergewebe vollständig entfernt, der Arm mit Numbitol bedeckt und verbunden. Die Ordonnanz half ihm in eine hellblaue Galauniform mit roter Schärpe, goldgeflochtener Schnur, Epauletten — verdrückt zwar, aber auf jeden Fall besser als ein Panzergewebe-Overall. Die steife Uniformjacke war für seinen verletzten Arm trotz der Anästhetiksalbe ziemlich unangenehm, bis er draufkam, dass er den Unterarm am Pistolengriff abstützen konnte.

Als er fertig war, ging er an Bord des Landeboots, das auf dem Hangardeck der Mac Arthur lag. Kaum hatte sich die Schleuse hinter ihm geschlossen, ließ der Pilot das Boot durch das große Tor des Startlifts fallen, ohne erst die Rotation des Schiffs stoppen zu lassen. Es war ein waghalsiges Manöver, aber es sparte Zeit. Die Retrodüsen feuerten, und die kleine deltaflügelige Raumfähre stürzte sich hinunter in die Atmosphäre.


NEW CHICAGO: Bewohnter Planet, Sektor Trans-Kohlensack, etwa 20 Parsek von Sektorhauptstadt entfernt. Die Sonne ist ein gelber F9-Stern, der allgemein als Beta Hortensis bezeichnet wird.

Die Atmosphäre entspricht fast vollkommen der Erdnorm und ist ohne Hilfsgeräte oder Schutzfilter atembar. Schwerkraft 1,08 Standard. Planetenradius 1,15 und Masse 1,12 Erdstandard, das heißt, der Planet besitzt mehr als Normdichte. New Chicago hat eine Achsneigung von 41 Grad zu seiner Umlaufbahn, welche eine Haupthalbachse von 1,06 AE aufweist und gemäßigt exzentrisch ist. Die daraus resultierenden jahreszeitlichen Temperaturschwankungen beschränken die bewohnbaren Gebiete auf einen relativ schmalen Streifen in der südlichen gemäßigten Zone.

Der Planet besitzt einen Mond in Normalentfernung, der allgemein Evanston genannt wird. Die Herkunft dieses Namens ist nicht geklärt.

Die Oberfläche von New Chicago besteht zu 70 Prozent aus Meer. Das Festland ist größtenteils gebirgig und vulkanisch aktiv. Die gut entwickelte Metallindustrie aus der Zeit des Ersten Imperiums wurde fast zur Gänze in den Sezessionskriegen zerstört; der Wiederaufbau von Industriezentren hat zufriedenstellende Fortschritte gemacht, seit New Chicago A. D. 2940 in das Zweite Imperium aufgenommen wurde.

Die meisten Bewohner leben in der einzigen Großstadt, die den gleichen Namen wie der Planet trägt. Die anderen Bevölkerungszentren liegen weit verstreut, keines hat mehr als 45 000 Einwohner. Die Gesamtbevölkerung des Planeten wurde in der Volkszählung von 2990 mit 6,7 Millionen festgestellt. In den Bergen gibt es Eisenvorkommen und Erzverarbeitungsstätten sowie weitläufige landwirtschaftliche Siedlungen. Der Planet ist in Bezug auf die Ernährung autark.

New Chicago besitzt eine wachsende Handelsflotte und eignet sich aufgrund seiner Lage ausgezeichnet als Zentrum des interstellaren Handels im Sektor Trans-Kohlensack. Der Planet wird von einem Generalgouverneur regiert sowie von einem Rat, den der Vizekönig des Sektors Trans-Kohlensack ernennt. Es gibt eine gewählte Volksvertretung, und zwei Abgeordnete wurden in das Kaiserliche Parlament aufgenommen.


Rod Blaine starrte stirnrunzelnd auf den Text, der über den Schirm seines Taschencomputers lief. Die Daten stimmten soweit, aber sonst hatte sich alles geändert.

Die Rebellen hatten sogar den Namen ihrer Welt von New Chicago auf Dame Liberty geändert. Die Regierung würde von Grund auf neu aufgebaut werden müssen. Die Abgeordneten würden gewiss gestrichen werden, vermutlich würde die Welt sogar das Recht zu einer gewählten Volksvertretung verlieren.

Er legte das Gerät weg und schaute hinunter. Sie überflogen eben gebirgige Regionen, wo keinerlei Spuren des Krieges zu erkennen waren. Gott sei Dank war man ohne Flächenbombardements mit den Rebellen fertig geworden.

Manchmal aber ging es nicht anders: Stadtfestungen verschanzten sich, wurden von Satellitenbasen geschützt. Die Raumflotte hatte keine Zeit für längere Belagerungen.

Das Motto des Imperiums war, Rebellionen mit dem geringst möglichen Verlust an Menschenleben zu beenden — aber sie auf jeden Fall zu beenden. Ein Rebellenplanet, der nicht aufgab, konnte zu gleißenden Lavafeldern verbrannt werden, auf denen nur ein paar Städte übrig blieben, die von den schwarzen Kuppeln der Langston-Felder geschützt wurden. Was dann? Es gab nicht genug Schiffe, um Nahrungsmittel über interstellare Distanzen einzuführen. Seuchen und Hungersnöte waren die Folge.

Ja, dachte er, oft war das der einzige Ausweg. Als er das Kaiserliche Offizierspatent erhielt, hatte er wie alle den Eid abgelegt. Die Menschheit musste unter einer Regierung vereint werden, durch Vernunftargumente oder Gewalt, damit es nie wieder dunkle Jahrhunderte wie die der Sezessionskriege geben konnte. Jeder Kaiserliche Offizier hatte selbst gesehen, welche entsetzlichen Folgen solche Kriege mit sich brachten: darum waren die Militärakademien auch alle auf der Erde und nicht auf dem Zentralplaneten.

Als das Boot in die Nähe der Stadt kam, entdeckte er die ersten Spuren von Kampfhandlungen. Ein Gürtel verbrannten Landes, zertrümmerte Außenfestungen, gesprungene Betonbänder des Transportnetzes — dann die fast unversehrte Stadt, ein vollkommener Kreis, geschützt vom Langston-Feld. Die Stadt hatte nur geringfügige Schäden davongetragen; war erst einmal das Schutzfeld ausgeschaltet, war jeder weitere Widerstand sinnlos. Nur Fanatiker kämpften gegen die Kaiserlichen Flotteninfanteristen.

Sie überflogen die Ruine eines hohen Gebäudes, das unter einem abstürzenden Landungsboot in Trümmer zerborsten war. Wahrscheinlich hatte jemand auf die Landetruppen geschossen, und der Pilot hatte nicht umsonst sterben wollen …

Sie kreisten über der Stadt, um ihre Geschwindigkeit so weit zu drosseln, dass sie nicht beim Anflug zum Landedock sämtliche Fenster der Umgebung zerbrachen. Die Gebäude waren alt, die meisten mochten aus der Zeit der Kohlenwasserstoff-Technologie stammen, nahm Rod an. In einigen Zonen standen modernere Bauten. Von der Stadt des Ersten Imperiums war nichts mehr übrig.

Als sie auf der Landefläche auf dem Dach des Regierungsgebäudes aufsetzten, sah Rod, dass die Geschwindigkeitsverminderung gar nicht nötig gewesen wäre. Die meisten Fenster der Innenstadt waren ohnehin schon zerbrochen. Aufgeregte Menschenmassen wälzten sich durch die Straßen, die einzigen Fahrzeuge, die unterwegs waren, gehörten zu Militärkonvois. Einige Leute standen ratlos da, andere rannten durch Läden und Geschäfte. Kaiserliche Flotteninfanteristen in grauen Mänteln standen hinter dem stromführenden Schutzzaun Wache, der das Regierungsgebäude umgab.

Kaum war die Raumfähre gelandet, wurde Blaine in den Lift gedrängt und in das Stockwerk des Generalgouverneurs gebracht. Im ganzen Haus war nicht ein weibliches Wesen zu sehen, obwohl es sonst in Amtsräumen des Imperiums von Damen wimmelte; Rod war lange genug im Raum gewesen, dass ihm die Mädchen abgingen. Er nannte dem strammstehenden Infanteristen im Vorzimmer seinen Namen und wartete.

Er sah der kommenden Unterredung nicht eben freudig entgegen und verbrachte die Wartezeit damit, finster die leeren Wände anzustarren. Alle Gemälde, die Drei-D-Sternkarte mit den kaiserlichen Bannern über den jeweiligen Provinzen, die gesamte übliche Ausstattung der Amtsräume eines Generalgouverneurs auf einem Klasse-Eins-Planeten war verschwunden. Nur hässliche Flecken an den Wänden waren zurückgeblieben. Die Wache winkte ihn ins Büro. Admiral Sir Wladimir Richard George Plechanov, Ritter des Sankt-Michael- und Sankt-Georgs-Ordens, saß hinter dem Schreibtisch des Generalgouverneurs. Von Seiner Exzellenz Mr. Haruna war nichts zu sehen, und Rod glaubte für einen Augenblick, der Admiral sei allein. Dann bemerkte er Kapitän Sziller, seinen unmittelbaren Vorgesetzten und Kommandanten der Mac Arthur, der am Fenster stand. Sämtliche Scheiben waren ausgeschlagen, und die getäfelten Wände wiesen tiefe Kratzer und Dellen auf. Mobiliar und schmückende Ausstattung waren fort. Selbst das Großsiegel — Krone und Raumschiff, Adler, Sichel und Hammer — war von seinem Platz oberhalb des Duralplast-Schreibtisches verschwunden. Und soweit sich Rod erinnern konnte, hatte er noch nie einen Duralplast-Schreibtisch im Amtsraum eines Generalgouverneurs gesehen.

»Commander Blaine meldet sich befehlsgemäß zur Stelle, Sir.«

Plechanov erwiderte geistesabwesend den Salut. Sziller wandte sich nicht vom Fenster ab. Rod stand stramm, während der Admiral ihn mit steinerner Miene musterte. Endlich sagte er: »Guten Morgen, Commander.«

»Guten Morgen, Sir.«

»Nun ja. Ich glaube, ich habe Sie nicht mehr gesehen, seit ich das letzte mal Crucis Court besuchte. Wie geht’s dem Marquis?«

»Gut — jedenfalls als ich zuletzt daheim war, Sir.«

Der Admiral nickte und setzte die kritische Musterung Blaines fort. Er hat sich überhaupt nicht geändert, dachte Rod. Ein unerhört tüchtiger Mann, der eine Neigung zur Korpulenz durch Gymnastik bei hoher Schwere bekämpfte. Die Flotte setzte Plechanov ein, wenn harte Gefechte erwartet wurden. Er war keiner, der einem unzuverlässigen Offizier mit Nachsicht begegnete; in den Mannschaftsräumen ging sogar das Gerücht um, dass er dem Kronprinzen — und jetzigen Kaiser — eine Abreibung mit einem Ballschläger hatte verabreichen lassen, als Seine Hoheit als Kadett auf der Plataea diente.

»Ich habe Ihren Bericht hier, Blaine. Sie mussten sich zum Feldgenerator der Rebellen durchkämpfen. Sie haben eine Kompanie Flotteninfanteristen verloren.«

»Ja, Sir.« Fanatische Rebellenwachen hatten die Generatorstation wütend verteidigt.

Der Kampf war überaus hart gewesen.

»Und was zum Teufel hatten Sie in einer Bodenaktion verloren?« erkundigte sich der Admiral. »Cziller gab Ihnen diesen aufgebrachten Kreuzer, damit Sie unseren Truppentransporter eskortieren. Hatten Sie Befehl, mit den Booten zu landen?«

»Nein, Sir.«

»Vermutlich sind Sie der Ansicht, die Aristokratie habe sich der Flottendisziplin nicht zu fügen?«

»Natürlich glaube ich das nicht, Sir.«

Plechanov hörte ihm gar nicht zu. »Und dann dieses Abkommen, das Sie mit dem Rebellenführer geschlossen haben. Wie hieß er?« Plechanov warf einen Blick in seine Akten. »Stone. Jonas Stone. Garantierung der persönlichen Amnestie und Rückerstattung des Eigentums. Verdammt, glauben Sie vielleicht, jeder Flottenoffizier könnte nach Gutdünken rebellierenden Bürgern solche Versprechungen machen? Oder haben Sie etwa irgendeinen diplomatischen Auftrag, von dem ich nichts weiß, Commander?«

»Nein, Sir.« Rod presste die Lippen hart zusammen. Er hätte losbrüllen mögen, aber das kam natürlich nicht in Frage. Zur Hölle mit der edlen Tradition dieser Scheiß-Flotte, dachte er. Ich hab den verdammten Krieg gewonnen.

»Aber Sie haben sicher eine Begründung für Ihr Verhalten?« wollte der Admiral wissen.

»Ja, Sir.«

»Also?« Rod spürte, wie sich beim Sprechen seine Kehle verengte. »Sir, als Kommandant des Prisenschiffs Defiant erhielt ich einen Funkspruch von der Rebellenstadt. Zu diesem Zeitpunkt war das Langston-Feld der Stadt intakt, Kapitän Cziller an Bord der Mac Arthur war in einen Kampf mit den Verteidigungssatelliten verwickelt, und die Hauptmacht der Flotte war durch die Rebellenschiffe gebunden. Die Nachricht war von einem Rebellenführer unterzeichnet. Mr. Stone versprach, den Kaiserlichen Streitkräften Einlass in die Stadt zu ermöglichen, wenn ihm Straffreiheit und Rückerstattung seines Eigentums garantiert würde. Er stellte eine Frist von einer Stunde und bestand auf einem Mitglied der Aristokratie als Bürgen. Wenn sein Angebot ehrlich gemeint war, würde der Krieg zu Ende sein, sobald die Infanterie den Feldgenerator der Stadt besetzt hatte. Da keine Möglichkeit bestand, höheren Ortes um Anweisungen zu ersuchen, führte ich die Landung der Truppen selbst und gab Mr. Stone mein persönliches Ehrenwort.«

Plechanov runzelte die Stirn. »Ihr Wort. Als Lord Blaine. Nicht als Offizier der Flotte.«

»Auf etwas anderes wäre er nicht eingegangen, Admiral.«

»Ich verstehe.« Plechanov war sehr nachdenklich geworden. Wenn er Blaines Wort nicht anerkannte, wäre Rod erledigt, in der Flotte, in der Regierung, überall.

Andererseits würde dann das Oberhaus von Admiral Plechanov eine Erklärung fordern.

»Was brachte Sie zu der Annahme, dass sein Angebot vertrauenswürdig wäre?«

»Sir, es war im kaiserlichen Code abgefasst und war von einem Offizier des Flottennachrichtendienstes gegengezeichnet.«

»Sie haben also Ihr Schiff aufs Spiel gesetzt für …«

»Für die Chance, den Krieg zu beenden, ohne dass der Planet vernichtet werden muss.

Jawohl, Sir. Ich könnte auch noch darauf hinweisen, dass in Mr. Stones Nachricht das Gefangenenlager der Stadt beschrieben wurde, in dem die kaiserlichen Offiziere und Bürger interniert waren.« »Ja, ja.« Plechanov hob die Hände in einer abrupten, ärgerlichen Geste. »Schon gut. Ich habe nichts übrig für Verräter, selbst nicht für einen, der uns hilft. Aber ich werde Ihr Abkommen anerkennen, das heißt, ich muss auch offiziell billigen, dass Sie mit den Landungsbooten hinunterflogen. Mir braucht es nicht zu gefallen, und es gefällt mir auch nicht, hören Sie. Es war ein ganz idiotisches Wagnis.«

Aber eins, das sich ausgezahlt hat, dachte Rod. Er stand immer noch stramm, aber er spürte, wie sich der Knoten in seinem Magen löste.

»Ihr Vater schätzt auch ein riskantes Spiel. Hat uns auf Tanith beinahe beide den Kopf gekostet«, knurrte der Admiral. »Es ist schon ein Wunder, dass Ihre Familie es zu elf Marquis’ gebracht hat, und ein noch größeres, wenn Sie lange genug leben, um der zwölfte zu werden. Also gut, Sie können sich setzen.«

»Danke, Sir«, sagte Rod mit kühler Höflichkeit.

Die Miene des Admirals wurde etwas umgänglicher. »Habe ich Ihnen schon einmal erzählt, dass Ihr Vater mein Vorgesetzter auf Tanith war?« fragte Plechanov im Gesprächston.

»Nein, Sir. Er hat es mir erzählt.« Rods Stimme war immer noch kühl.

»Er war außerdem der beste Freund, den ich je in der Flotte hatte, Commander. Sein Einfluss hat mir diese Position verschafft, und er ersuchte, dass Sie unter meinem Kommando dienen könnten.«

»Ja, Sir.« Das wusste ich, sagte sich Rod. Jetzt frage ich mich nach dem Grund.

»Sie würden mich gerne fragen, was Sie meiner Meinung nach hätten tun sollen, nicht wahr, Commander?«

Rod zuckte überrascht zusammen. »Ja, Sir.«

»Was wäre geschehen, wenn dieser Vorschlag nicht ehrlich gemeint gewesen wäre?

Wenn er eine Falle gewesen wäre?«

»Die Rebellen hätten meine Truppen aufreiben können.«

»Ja.« In Plechanovs Stimme lag stählerne Ruhe. »Aber Sie fanden, es sei das Risiko wert, wenn Sie so den Krieg mit geringen Verlusten auf beiden Seiten beenden könnten?«

»Ja, Sir.«

»Und wenn Ihre Leute umgekommen wären, was hätte dann meine Flotte noch ausrichten können, ohne Infanterie?« Der Admiral donnerte beide Fäuste auf den Schreibtisch. »Gar nichts hätte ich tun können!« brüllte er. »Jede Woche, die ich die Flotte hier zurückhalten muss, bedeutet eine weitere Gelegenheit für die Gegner des Imperiums, einen unserer Planeten anzugreifen! Es wäre zu spät gewesen, einen zweiten Truppentransporter mit mehr Infanterie anzufordern. Wenn Sie Ihre Truppen verloren hätten, Blaine, hätte ich diesen Planeten zurück in die Steinzeit bombardiert.

Aristokrat oder nicht, versetzen Sie nie wieder jemanden in eine solche Lage! Haben Sie mich verstanden?«

»Ja, Sir …« Er hat recht. Aber — was hätte die Infanterie genützt, solange das Feld der Stadt intakt war? Rod ließ die Schultern sinken. Irgend etwas. Irgend etwas hätte man tun können. Aber was?

»Es ist gut ausgegangen«, sagte Plechanov kalt. »Vielleicht haben Sie richtig gehandelt.

Vielleicht nicht. Aber wenn Sie noch einmal so ein Risiko eingehen, verlieren Sie Ihren Degen. Ist das klar?« Er nahm einen Computer-Ausdruck von Rods militärischer Laufbahn vom Schreibtisch auf. »Ist die Mac Arthur raumtüchtig?«

»Sir?« Die Frage war in demselben Ton wie die Drohung gekommen, und Rod brauchte einen Moment, um geistig umzuschalten. »Raumtüchtig, ja, Sir. Aber nicht gefechtsbereit. Und ich würde sie ohne größere Überholung jedenfalls nicht mehr zu lange einsetzen wollen.« Während der hektischen Stunde, die er an Bord gewesen war, hatte Rod sich die Zeit zu einer umfassenden Inspektion genommen, was einer der Gründe war, warum er noch nicht zum Rasieren gekommen war. Jetzt begannen ihm ungemütliche Zweifel zu kommen. Der Kommandant der Mac Arthur stand am Fenster und hatte sich offensichtlich nicht ein Wortentgehen lassen. Warum fragte der Admiral nicht ihn?

Während Blaine noch überlegte, was hier gespielt wurde, kam Plechanov zu einem Entschluss. »Also, Bruno? Sie sind Kommodore. Was schlagen Sie vor?«

Bruno Cziller wandte sich vom Fenster ab und drehte sich um. Rod blickte verblüfft auf: Cziller trug nicht mehr das kleine silberne Abbild der Mac Arthur, das ihn als ihren Kommandanten auswies. Statt dessen glänzten auf seiner Brust Komet und Sonnenkorona des Flottenstabsoffiziers, an seinen Ärmeln die breiten Goldstreifen des Titularadmirals.

»Wie geht es, Commander?« erkundigte Cziller sich formell. Dann grinste er. Dieses schiefe, undurchschaubare Grinsen war überall auf der Mac Arthur bekannt. »Sie sehen ganz in Ordnung aus. Zumindest von rechts. Also, Sie waren eine Stunde an Bord.

Welche Schäden haben Sie festgestellt?«

Verwirrt begann Rod über den augenblicklichen Zustand der Mac Arthur zu berichten sowie von den Reparaturarbeiten, die er angeordnet hatte. Cziller nickte und stellte immer wieder Fragen, meinte endlich: »Sie finden also, das Schiff ist raumtauglich, aber nicht gefechtsbereit. Ist das richtig?«

»Ja, Sir. Jedenfalls nicht gegen ein Schiff schwererer Klasse.«

»Das stimmt leider. Admiral, mein Vorschlag: Commander Blaine ist für eine Beförderung an der Reihe, und wir könnten ihm die Führung der Mac Arthur geben. Er soll sie nach Neuschottland zu einer Generalüberholung bringen, dann zur Imperiumshauptstadt. Er kann Senator Fowlers Nichte mitnehmen.«

Er sollte die Mac Arthur bekommen? Rod hörte es staunend, undeutlich wie in einem Traum. Er wagte es nicht zu glauben, aber das war die Chance, es Plechanov und allen anderen zu zeigen.

»Er ist zu jung. Wird das Schiff nie als erstes Kommando behalten dürfen«, meinte Plechanov. »Trotzdem, es ist vermutlich die beste Lösung. Er kann ja nicht allzu viel anstellen, wenn er über Neukaledonia nach Sparta fliegt. Gut, sie gehört Ihnen, Kapitän.« Als Rod nicht sagte, brüllte Plechanov ihn an: »Sie, Blaine. Sie sind zum Kapitän und Kommandanten der Mac Arthur befördert. Mein Schreiber wird Ihre Order in einer halben Stunde fertig haben.«

Cziller grinste schief. »So sagen Sie doch was«, meinte er.

»Danke, Sir. Ich — ich dachte, Sie wären mit mir nicht zufrieden.«

»Wer sagt, dass ich’s wäre?« gab Plechanov zurück. »Wenn es nach mir ginge, würde ich Sie irgend jemandem als Ersten Offizier zuteilen. Vermutlich werden Sie mal ein guter Marquis sein, aber für die Flotte haben Sie nicht ganz die richtige Einstellung. Aber das macht wohl nicht viel aus, da Sie sowieso Ihre Laufbahn nicht bei uns fortsetzen werden.«

»Ich kann es nicht mehr, Sir«, sagte Rod leise.

Irgendwo ganz tief in seinem Innern tat es immer noch weh. Der große George, der mit zwölf beim Hantelturnen ein Zimmer auszufüllen schien, der mit kaum sechzehn die Statur eines massiven Keils hatte — sein Bruder George war in einer Schlacht auf der fernen Grenze des Imperiums gefallen. Immer, wenn Rod seine Zukunft plante oder sehnsüchtig an zu Hause dachte, kam die Erinnerung wie ein tiefer Nadelstich. Tot.

George?

George hätte die Ländereien und Titel erben sollen. Rod hatte sich nichts mehr gewünscht als eine Flottenkarriere mit der Chance, eines Tages Großadmiral zu werden. Jetzt aber würde er in weniger als zehn Jahren seinen Platz im Parlament einnehmen müssen.

»Sie werden zwei Passagiere haben«, sagte Cziller. »Den einen haben Sie bereits getroffen. Sie kennen Lady Sandra Bright Fowler, nicht? Senator Fowlers Nichte.«

»Ja, Sir. Ich hatte sie jahrelang nicht gesehen, aber ihr Onkel diniert öfters bei uns in Crucis Court … und dann fand ich sie in diesem Gefangenenlager. Wie geht es ihr?« »Nicht sehr gut«, sagte Cziller. Sein Grinsen war verschwunden. »Wir schicken sie heim, und ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass Sie sich gut um sie kümmern müssen. Sie wird bis Neuschottland mit Ihnen kommen, oder auch bis zur Hauptstadt.

Das liegt bei ihr. Ihr zweiter Passagier ist dagegen ein anderes Kapitel.«

Rod blickte gespannt auf. Cziller sah Plechanov an, bekam ein zustimmendes Nicken und fuhr fort: »Seine Exzellenz, der Handelsherr Horace Hussein Bury, Magnat, Aufsichtsratsvorsitzender von Imperial Autonetics und ein großes Tier in der Händlerinteressengemeinschaft, der Imperial Traders Association. Er bleibt bis Sparta bei Ihnen, und damit meine ich, er bleibt an Bord des Schiffs, haben Sie das verstanden?«

»Nun, nicht ganz, Sir«, antwortete Rod.

Plechanov schnaubte. »Cziller hat es klar genug ausgedrückt. Wir glauben, dass Bury hinter dieser Rebellion steckte, aber wir haben nicht genug Beweise, um ihn in Haft zu nehmen. Er würde sofort an den Kaiser appellieren. Schön, wir bringen ihn nach Sparta, als Gast der Flotte. Aber mit wem sollen wir ihn schicken, Blaine? Er ist Multimillionär, wenn nicht mehr. Wie viele Männer würden einen ganzen Planeten als Bestechung zurückweisen? Bury könnte sich so was leisten.«

»Ich — ja, Sir«, sagte Rod.

»Und setzen Sie nicht einen so schockierten Blick auf«, knurrte Plechanov. »Ich habe keinen meiner Offiziere der Bestechlichkeit beschuldigt. Aber es ist Tatsache, dass Sie reicher sind als Bury. Er könnte Sie nicht mal in Versuchung führen. Das ist der Hauptgrund, warum ich Ihnen das Kommando über die Mac Arthur gebe: damit ich mir wegen unseres millionenschweren Freundes keine Sorgen zu machen brauche.«

»Ich verstehe. Auf jeden Fall danke ich Ihnen, Sir.« Und ich werde euch beweisen, dass es kein Fehler war. Plechanov nickte, als hätte er Blaines Gedanken gelesen. »Vielleicht wird aus Ihnen doch noch ein guter Flottenoffizier. Dies ist Ihre Chance. Ich brauche Cziller hier, damit er mir hilft, diesen Planeten zu verwalten. Die Rebellen haben den Generalgouverneur getötet.«

»Mr. Haruna ist tot?« Rod war betroffen. Er erinnerte sich gut an den verrunzelten alten Herrn, der schon reichlich über hundert gewesen war, als er in Rods Heim auf Besuch kam. »Er ist — war ein alter Freund meines Vaters.«

»Er war nicht der einzige, den sie umbrachten. Sie hatten die Köpfe ihrer Opfer vor dem Regierungssitz auf Pfähle gespießt. Wahrscheinlich dachte jemand, das würde die Leute dazu bringen, länger zu kämpfen — weil sie’s nicht mehr wagen konnten, sich zu ergeben. Nun, jetzt haben sie allen Grund, Angst zu haben. Ihr Abkommen mit Stone.

Noch weitere Bedingungen?«

»Ja, Sir, eine: Das Abkommen ist null und nichtig, wenn er nicht mit dem Nachrichtendienst zusammenarbeitet. Er muss die Namen sämtlicher Verschwörer nennen.«

Plechanov warf Cziller einen bedeutsamen Blick zu. »Setzen Sie Ihre Leute darauf an, Bruno. Es ist zumindest ein Anfang. Und Sie, Blaine, bringen Ihr Schiff in Ordnung und rauschen ab.« Der Admiral stand auf, die Unterredung war beendet. »Sie haben eine Menge zu tun, Kapitän. Machen Sie sich an die Arbeit.«

2 Die Passagiere

Horace Hussein Chamoun al Shamlan Bury zeigte auf die letzten der Gegenstände, die er mitnehmen wollte, und entließ die Diener. Er wusste, dass sie draußen vor seiner Suite nur darauf warten würden, die Reichtümer unter sich aufzuteilen, die er zurücklassen musste, aber es amüsierte ihn, sie bis dahin warten zu lassen. Der Kitzel des Stehlens würde sie entschädigen.

Als er allein war, schenkte er sich ein großes Glas Wein ein. Es war eine minderwertige Sorte, die nach der Blockade geliefert worden war, aber das merkte er kaum. Auf Levant war Wein offiziell verboten, was dazu führte, dass die Horden von Weinhändlern ihren Kunden alles andrehen konnten, was nur irgendwie Alkohol enthielt — selbst so reichen wie der Familie Bury. Horace Bury hatte teure Spirituosen eigentlich nie richtig schätzen gelernt. Er kaufte sie, um seinen Reichtum zu zeigen, um Gäste zu bewirten; er selbst war nicht heikel. Kaffeesorten waren dagegen ein ganz anderes Kapitel.

Horace Bury war von kleiner Statur wie die meisten Menschen von Levant, besaß einen dunklen Teint und eine lange Nase, dunkle, glühende Augen und scharfe Gesichtszüge sowie ein hitziges Temperament, von dem jedoch nur seine engsten Bekannten etwas ahnten. Da er jetzt allein war, gestattete er sich eine ärgerliche Grimasse. Auf dem Schreibtisch lag das Maser-Fernschreiben von der Admiralität, und er wusste nur zu gut, was die höflichen Phrasen von Plechanovs Sekretär zu bedeuten hatten, mit denen er ersucht wurde, New Chicago zu verlassen, wofür jedoch leider keine Zivilpassage zu Verfügung stünde. Man war misstrauisch geworden, und er fühlte, wie sich trotz des Weins kalte Wut in seinem Innern zusammenballte. Nach außen hin wirkte er immer noch ruhig, während er einen Punkt nach dem anderen überdachte.

Was wusste der Flottengeheimdienst? Man hatte einen Verdacht, aber keine Beweise.

Die übliche Missgunst der Flotte gegen die Händlervereinigung machte sich hier wieder einmal bemerkbar, verstärkt durch Hass, sagte er sich, denn etliche der Stabsoffiziere waren Juden, und die Juden hassten die Levantiner seit Jahrtausenden. Aber die Flotte konnte keine Beweise haben, sonst würde er nicht als Gast an Bord der Mac Arthur gehen, sondern als Gefangener. Das hieß, dass Jonas Stone den Mund gehalten hatte.

Er tat gut daran, ihn zu halten. Bury hatte ihm hunderttausend Kronengegeben und noch mehr versprochen. Aber er traute Stone nicht auf die Dauer: Vor zwei Tagen hatte Bury in der unteren Kosciusko-Gasse ein nächtliches Treffen mit bestimmten Männern gehabt und ihnen fünfzigtausend Kronen gezahlt. Es sollte also nicht lange dauern, bis Stone endgültig den Mund hielt. Mochte er seine Geheimnisse im Grab ausplaudern.

Gab es sonst noch etwas zu tun? fragte er sich. Nein. Wie das Geschick es fügte, so würde alles geschehen, Ruhm sei Allah … Er verzog das Gesicht. Diese Art zu denken war ein Erbteil seiner Vorfahren. Er empfand nur Verachtung für sich selbst, wenn er in diesen närrischen Aberglauben verfiel. Mochte sein Vater Allah für seine Taten preisen; Erfolg hatte nur der Mann, der nichts dem Zufall überließ, und in seinen neunzig Standardjahren hatte er nur wenige Dinge noch nicht getan.

Das Imperium hatte Levant zehn Jahre nach Horaces Geburt erreicht, und anfangs war sein Einfluss noch gering. In jenen Tagen sahen die Richtlinien der Imperiumspolitik etwas anders aus, so dass der Planet mit einem Status aufgenommen wurde, der dem fortgeschrittener Welten nahezu gleichkam. Horace Burys Vater begriff bald, dass sich durch den Imperialismus gut verdienen liefe. Indem er einer der einheimischen Verwaltungsbeamten wurde, gelang es ihm, ungeheuren Reichtum zusammenzutragen: Er verkaufte Audienzen beim Gouverneur und verhökerte Gerechtigkeit wie Krautköpfe auf dem Markt, doch immer blieb er vorsichtig, immer sorgte er dafür, dass andere vom Zorn der energischen Männer des Kaiserlichen Kolonialdienstes getroffen wurden.

Sein Vater investierte seine Gewinne klug, und er benutzte seinen Einfluss, um Horace Hussein auf Sparta erziehen zu lassen. Er hatte ihm sogar einen Namen gegeben, den ein Kaiserlicher Flottenoffizier ihm vorgeschlagen hatte; erst später erfuhren sie, dass Horace ein im Imperium durchaus nicht üblicher, sondern vielmehr lächerlicher Name war. Bury ertränkte die Erinnerungen an die ersten Jahre in den Schulen der Hauptstadt mit einer zweiten Karaffe Wein. Er hatte gelernt — ja! Und dann hatte er das Geld seines Vaters eingesetzt, und sein eigenes. Horace Bury ließ sich nicht ungestraft lächerlich machen. Dreißig Jahre hatte es gedauert, aber schließlich hatten seine Agenten den Offizier gefunden, dem er diesen Namen verdankte. Die stereografische Aufnahme seines Todeskampfes lag in einem Safe in Burys Haus auf Levant. Er hatte doch zuletzt gelacht.

Jetzt kaufte und verkaufte er Menschen, die über ihn lachten, wie er Stimmen im Parlament kaufte, Schiffe kaufte, und wie er beinahe diesen Planeten New Chicago gekauft hatte. Und beim Propheten — bei Hölle und Verdammnis, er würde ihn noch besitzen! Die Herrschaft über New Chicago würde seiner Familie Einfluss hier jenseits des Kohlensacks bringen, wo das Imperium schwach war und jeden Monat neue Welten entdeckt wurden. Von da an war vieles, war alles möglich!

Es hatte ihm gut getan, seinen Gedanken kurz freies Spiel zu lassen. Jetzt rief er seine Agenten zu sich, den Mann, der hier seine Interessen vertreten würde, und Nabil, der ihn als Diener im Kriegsschiff begleiten sollte. Nabil war klein, viel kleiner als Horace, jünger als er wirkte, mit einem Frettchengesicht, das zu vielen Masken fähig war, und er nannte nützliche Künste mit Dolch und Gift sein eigen, die er auf zehn verschiedenen Welten erworben hatte. Horace Hussein Bury lächelte. Die Imperialisten wollten ihn also an Bord ihrer Kriegsschiffe gefangen halten? Solange es keine Schiffe nach Levant gab, gut und schön. Aber sobald sie einmal einen belebteren Hafen erreichten, würden sie sich wundern.


Drei Tage hatte Rod mit der Mac Arthur zu tun. Lecke Tanks, ausgebrannte Bauteile, all das musste erneuert werden. Ersatzteile gab es nur wenige, und die Mannschaft der Mac Arthur arbeitete stundenlang im Raum, um die Wracks der Union-Kriegsflotte, die New Chicagoumkreisten, nach Brauchbarem auszuschlachten.

Allmählich wurde die Mac Arthur wieder gefechtstüchtig. Blaine arbeitete mit Jack Cargill, dem ersten Offizier und jetzigen Kommandantenstellvertreter, und mit Commander Jock Sinclair, dem ersten Maschinisten, am meisten zusammen. Wie viele Maschinenoffiziere stammte auch Sinclair von Neuschottland, und wie alle raumfahrenden Schotten pflegte er seinen kernigen Akzent. Irgendwie hatten sie ihren seltsamen Dialekt durch die Sezessionskriege hindurch bewahrt, als Symbol des Nationalstolzes vielleicht — selbst auf Planeten, wo das Gälische eine vergessene Sprache war. Rod hegte insgeheim den Verdacht, dass die Schotten unter sich diese Sprechart übten, um vom Rest der Menschheit nicht verstanden werden zu können.

Neue Rumpfplatten wurden eingeschweißt, gewaltige Streifen Panzermaterial von Union-Schiffen abmontiert und mühsam über beschädigten Stellen befestigt. Sinclair vollbrachte wahre Wunder, um in New Chicago zu Verfügung stehende Ersatzteile für die Mac Arthur anzupassen, bis er ein solches Flickwerk von improvisierten und adaptierten Teilen zustande gebracht hatte, dass die Konstrukteure das Schiff nicht mehr wiedererkannt hätten. Die Brückenoffiziere arbeiteten rund um die Uhr, denn sie mussten versuchen, all die Veränderungen dem Hauptcomputer des Schiffs verständlich zu machen.

Zwischen Cargill und Sinclair kam es beinahe zu Handgreiflichkeiten wegen einiger Improvisationen, wobei Sinclair darauf beharrte, das Wichtigste sei es, das Schiff raumtüchtig zu machen, während der Erste Offizier sich beklagte, dass nur Gott selbst noch wüsste, was mit dem Schiff alles angestellt worden sei.

»Hach, so ’ne Gotteslästerung möcht’ ich nich’ gehört haben«, knurrte Sinclair gerade, als Rod in Hörweite kam. »Isses nich’ genug, wenn ich klar hab, was wer gemacht haben?«

»Nein, außer Sie wollen auch Koch spielen, Sie größenwahnsinniger Klempner! Heute früh konnte der Offizierskoch keinen Kaffee machen, weil einer von euch bastelwütigen Räubern den Mikrowellenkocher mitgehen hat lassen. Aber bei Gott, das werdet ihr zurückbringen …«

»Och ja, wir werden’s aus dem Dreiertank rausreißen, sobald Sie mir Ersatzteile für die Pumpe besorgen, die’s augenblicklich ersetzt. Was machen Se sich unglücklich, Mann?

Das Schiff kann wieder kämpfen. Is’ da Kaffee wichtiger?«

Cargill holte tief Luft und fing von neuem an, mit einer Geduld, die man kleinen Kindern oder Schwachsinnigen gegenüber aufbringt: »Das Schiff kann kämpfen. Gut, aber nur, bis jemand ein Loch reinschießt. Dann muss es wieder instand gesetzt werden. Nehmen wir an, ich hätte das hier zu reparieren«, sagte er und legte eine Hand auf etwas, das Rod als einen Luftkonverter zu erkennen glaubte. »Das verdammte Ding sieht bereits jetzt halb geschmolzen aus. Woher soll ich im Ernstfall wissen, ob es beschädigt ist, oder was daran beschädigt ist? Angenommen …«

»Höh, Mann, nu’ regen Se sich man nich auf …«

»Hören Sie mit dem Blödsinn auf! Sie reden ganz normal, wenn Sie nicht aufpassen!«

»Das ist nicht wahr!«

In diesem Augenblick hielt Rod es für ratsam, in Erscheinung zu treten. Er schickte den Ersten Maschinisten an sein Ende des Schiffs und Cargill nach vorn. Die Differenzen zwischen den beiden waren kaum beizulegen, bevor die Mac Arthur nicht in den Werften von Neuschottland gründlich überholt werden konnte.

Blaine verbrachte auf Anweisung des Schiffsarztes eine Nacht in der Krankenstation.

Als er das Lazarett verließ, war sein Arm in einem gewaltigen, gepolsterten Starrverband stillgelegt. Das Ding kam ihm wie ein an der Brust angewachsener Polster vor. Die nächsten paar Tage war er recht reizbar und misstrauisch, doch er ertappte niemanden, der in seiner Hörweite zu lachen gewagt hätte. Am dritten Tag, nachdem er sein neues Kommando übernommen hatte, hielt Blaine eine Schiffsinspektion ab. Alle Arbeiten wurden gestoppt, das Schiff wurde in Rotation versetzt, und dann gingen Blaine und Cargill los.

Rod war versucht, seine noch frischen Erfahrungen als verantwortlicher Offizier der Mac Arthur auszunützen. Er kannte all die Stellen, wo ein aufsichthabender Offizier Schlampereien durchgehen lassen mochte. Dies war jedoch seine allererste Inspektion, das Schiff nur provisorisch instand gesetzt, und Cargill war zudem ein zu guter Offizier, um etwas zu übersehen, was behoben werden konnte. So machte Blaine mehr einen gemütlichen Rundgang, überprüfte die wichtigen Geräte, ließ sich aber ansonsten von Cargill führen. Dabei nahm er sich vor, dies nicht zu einem Präzedenzfall werden zu lassen. Sobald mehr Zeit zur Verfügung stand, würde er sich jeden Winkel genau ansehen.


Eine volle Kompanie Flotteninfanterie bewachte den Raumhafen von New Chicago. Seit der Langston-Feldgenerator der Stadt eingenommen war, hatte es keine neuen Kampfhandlungen mehr gegeben. Tatsächlich schien ein Großteil der Bevölkerung die Kaiserlichen Streitkräfte mit einer Art erschöpfter Erleichterung zu begrüßen, die überzeugender war als Paraden und Hurrageschrei. Die Revolte von New Chicago hatte das Imperium vollkommen überrumpelt; ein Wiederaufflammen sollte niemanden mehr überraschen.

Deshalb marschierten Infanteriepatrouillen über den Raumhafen und bewachten die kaiserlichen Schiffe. Als Sally Fowler mit ihren Dienern durch den heißen Sonnenschein zum Fährboot ging, spürte sie die Blicke der Männer im Rücken. Es kümmerte sie nicht.

Sie war Senator Fowlers Nichte, sie war es gewohnt, angestarrt zu werden.

Hübsch, dachte einer der Wachposten. Aber so ausdruckslos. Man sollte denken, dass sie glücklich wäre, aus diesem Dreckloch von Gefangenenlager draußen zu sein, aber sie sieht gar nicht danach aus. Der Schweiß floss ihm in Bächen die Rippen hinunter und zwischen die Arschbacken, und er dachte, die schwitzt nicht. Sie ist wie aus Eis geformt, vom besten Bildhauer, den’s je gab.

Das Fährboot war groß und zu zwei Dritteln leer. Sallys Blick streifte zwei kleine, dunkelhäutige Männer — Bury und sein Diener, und wer wer war, lag auf der Hand — und vier jüngere Männer, in deren Gesichtern Angst, Erwartung und Ehrfurcht stand. Sie gehörten offensichtlich dem für New Chicagos Hinterland typischen Schlag an.

Vermutlich neue Rekruten, dachte sie.

Sie wählte einen der letzten Sitze im hinteren Teil des Bootes. Ihr war nicht nach einer Unterhaltung zumute. Adam und Annie musterten sie besorgt und setzten sich dann auf der anderen Seite des Zwischengangs hin. Sie wussten, was in Sally vorging.

»Schön, hier fortzukommen«, meinte Annie.

Sally antwortete nicht. Sie fühlte nichts als eine große Leere in sich.

Sie war in diesem Zustand, seit die Infanteristen das Gefangenenlager gestürmt hatten.

Dann hatte sie wieder gutes Essen bekommen, ein heißes Bad, saubere Kleider. Alle hatten sie zuvorkommend behandelt … doch nichts von all dem war bis zu ihr durchgedrungen. Sie hatte nichts wahrgenommen. Die Monate im Gefangenenlager hatten irgend etwas in ihr ausgebrannt. Vielleicht für immer, dachte sie dumpf. Es bedrückte sie eigentlich kaum.


Als Sally Fowler die Kaiserliche Universität auf Sparta mit dem Grad eines Magisters in Anthropologie verließ, konnte sie ihren Onkel überzeugen, dass es für sie vorteilhafter wäre, wenn sie anstelle von Graduiertenkursen eine Reise durch das Imperium machte, neu eingegliederte Provinzen besuchte und primitive Kulturen aus erster Hand studierte.

Wahrscheinlich würde sie sogar ein Buch schreiben.

»Schließlich«, hatte sie argumentiert, »was kann ich hier schon lernen? Jenseits des Kohlensacks gibt es interessantes Material für mich!«

Sie hatte das Bild ihrer triumphierenden Heimkehr vor Augen, sah sich gescheite wissenschaftliche Artikel veröffentlichen, die ihr in der Fachwelt einen Namen verschaffen würden. Ihr lag nichts daran, untätig darauf zu warten, dass irgendein junger Aristokrat sie heiratete. Natürlich hatte Sally die Absicht, einmal zu heiraten, aber nicht bevor sie mehr zu bieten hatte als ihre ererbten Güter. Sie wollte aus eigener Kraft etwas leisten, um dem Imperium zu dienen, und das hieß für sie nicht einfach, Söhne zur Welt zu bringen, die dann in Kriegsschiffen ihr Leben opferten.

Erstaunlicherweise hatte ihr Onkel zugestimmt. Hätte Sally besser über Menschen Bescheid gewusst als nur durch theoretische Psychologie, dann hätte sie vielleicht begriffen, warum. Benjamin Bright Fowler, der jüngere Bruder ihres Vaters, hatte nichts geerbt und seine Stellung als Senatspräsident allein durch Tüchtigkeit und Energie gewonnen. Da er keine eigenen Kinder hatte, betrachtete er das einzige überlebende Kind seine Bruders als seine Tochter — und er hatte genug von den vielen jungen Mädchen, deren einzige Bedeutung in ihrem Geld und ihren Beziehungen lag. So hatten sich also Sally und eine Studienkollegin von Sparta nach den Provinzen eingeschifft.

Adam und Annie, Sallys Diener, begleiteten die beiden Mädchen auf ihrer Studienreise.

Immer wieder wurden primitive menschliche Kulturen entdeckt. Manche Welten waren dreihundert Jahre oder länger nicht mehr von interstellaren Schiffen besucht worden, und oft hatten die Kriege die Bevölkerung so dezimiert, dass die Menschen in Barbarei zurückverfallen waren.

Sie waren unterwegs zu einer primitiven Kolonialwelt und wollten auf New Chicago nur auf ein anderes Schiff überwechseln, als die Revolution ausbrach. Sallys Freundin Dorothy war an dem Tag außerhalb der Stadt gewesen. Man hatte sie nie gefunden. Die Unionssoldaten des Komitees für Volkssicherheit hatten Sally aus ihrer Hotelsuite gezerrt, ihr alle Wertsachen abgenommen und sie ins Lager gesteckt.

In den ersten Tagen herrschte Ordnung im Lager. Adelige, Beamte und ehemalige kaiserliche Militärs sorgten dafür, dass man im Lager sicherer war als in den Straßen von New Chicago. Doch Tag für Tag wurden Aristokraten und Regierungsbeamte aus dem Lager geholt, und niemand sah sie je wieder; an ihrer Stelle wurden mehr und mehr gewöhnliche Kriminelle ins Lager gebracht. Irgendwie fanden Adam und Annie sie in dem Durcheinander, und außerdem waren die übrigen Bewohner ihres Zelts Bürger des Imperiums und nicht Verbrecher. So hatte sie die ersten Tage überlebt, dann Wochen, schließlich Monate in der endlosen schwarzen Nacht unter dem Langston-Feld der Stadt.

Anfangs war alles für sie ein Abenteuer gewesen, beängstigend, unangenehm, aber mehr nicht. Dann waren die Rationen gekürzt worden, wieder und immer wieder, und die Gefangenen begannen zu verhungern. Gegen Ende konnte von Ordnung nicht mehr die Rede sein, selbst die primitivsten sanitären Vorsichtsmaßnahmen wurden nicht mehr eingehalten. Ausgemergelte Leichen lagen tagelang bei den Toren aufgestapelt, bis sie abgeholt wurden. Das Abenteuer war zu einem nicht enden wollenden Alptraum geworden. Sallys Name war am Tor angeschlagen: Das Komitee für Volkssicherheit suchte sie. Die übrigen Lagerinsassen schworen, Sally Fowler sei tot, und da die Wachen nur selten ins Lagerinnere vordrangen, wurde ihr erspart, was immer den anderen Angehörigen prominenter Familien widerfahren war.

Als die Umstände immer schlimmer wurden, kam Sally eine Art innere Kraft zu Hilfe. Sie versuchte, den anderen in ihrem Zelt ein Vorbild zu sein. Die Leute sahen sie als ihre Anführerin an, und Adam war ihr erster Minister. Wenn sie weinte, hatten alle Angst.

Deshalb konnte Sally, ein Mädchen von zweiundzwanzig Standardjahren mit zerzaustem, dunklem Haar, schmutzigen, zerrissenen Kleidern und rauen Händen, sich nicht einmal in einer Ecke zusammenkauern und weinen. Sie musste den Alptraum klaglos ertragen.

In jene Hölle waren Gerüchte vorgedrungen, dass kaiserliche Kriegsschiffe den Himmel über der dunklen Kuppel beherrschten — und Gerüchte, dass die Gefangenen niedergemetzelt werden sollten, bevor die Schiffe durchbrechen konnten. Sie hatte gelächelt und so getan, als glaube sie nicht, dass das je geschehen könnte. So getan?

Ein Alptraum war nicht wirklich.

Dann hatte die Infanterie das Lager gestürmt, angeführt von einem großen, blutbesudelten Mann von höfischem Betragen, der einen Arm in einer Schlinge trug.

Damit hatte der Alptraum geendet, und Sally wartete darauf, aufzuwachen. Man hatte sie gebadet, ihr zu essen gegeben, sie mit Kleidern versorgt — warum wachte sie nicht auf? Sie fühlte sich in einem Nichts aus Watte gefangen.

Jetzt drückte die Beschleunigung sie schwer in ihren Sitz. Die Schatten in der Kabine waren scharfrandig und schwarz. Die Rekruten von New Chicago drängten sich an die Fenster, aufgeregt tuschelnd. Anscheinend waren sie jetzt im Weltraum. Adam und Annie ließen sie jedoch nicht aus den Augen. Die beiden waren ziemlich dick gewesen, als sie in New Chicago landeten. Jetzt wirkten ihre Gesichter faltig und schlaff. Sally wusste, sie hatten ihr zuviel von ihren eigenen Rationen zugesteckt. Trotzdem schienen sie alles besser überstanden zu haben als sie selber.

Ich wünschte, ich könnte weinen, dachte sie. Ich sollte weinen. Um Dorothy. Ich habe immer darauf gewartet, dass sie mir sagen würden, Dorothy sei gefunden worden.

Nichts. Sie war in dem Alptraum verschwunden.

Eine Lautsprecherstimme sagte, etwas, das sie nicht verstand, weil sie gar nicht hinhören wollte.

Dann hob sich das Gesicht von ihr, und sie schwebte.

Sie schwebte.

Sollte sie wirklich davonkommen dürfen?

Abrupt wandte sie sich zum Fenster. New Chicago schimmerte wie irgendeine erdähnliche Welt in den verschiedensten Blautönen, marmoriert mit weißen Wolkenstreifen, ein immer kleiner werdender Ball. Sie starrte hinaus auf die schrumpfende Welt, das Gesicht in den Händen verborgen. Niemand sollte ihre wilde Grimasse sehen. In diesem Augenblick hätte sie New Chicago bis aufs Urgestein verbrennen lassen mögen, wäre es in ihrer Macht gestanden.


Nach der Inspektion hielt Rod auf dem Hangardeck die religiöse Andacht ab. Sie waren kaum mit der letzten Hymne fertig, als der wachhabende Kadett meldete, dass die Passagiere an Bord kämen. Blaine beobachtete, wie die Mannschaft an die Arbeit zurückeilte. Es würde keine dienstfreien Sonntage geben, solange sein Schiff nicht wieder gefechtstüchtig war, ganz egal, was die Flottentradition für Sonntage im Orbit bestimmen mochte. Während die Männer vorbeigingen, hielt Blaine Augen und Ohren offen nach Anzeichen von Unzufriedenheit, aber er hörte nur belanglose Plauderei und nicht mehr als das zu erwartende Maß an Gemurre.

»Na schön, ich weiß, was ein Splitter ist«, sagte Maschinenwärter Jackson eben zu seinem Begleiter. »Ich kann’s verstehen, wie man ’nen Splitter ins Auge kriegen kann.

Aber wie um Himmels willen soll man einen Balken im Auge haben und das nicht merken? Kommt mir blödsinnig vor.«

»Hast recht. Was ist überhaupt ein Balken

»Was ein Balken ist? Also hör mal — ah, du bist von Tabletop, nicht? Also, ein Balken, das ist ein großes Stück zugesägtes Holz — Holz. Das kommt von Bäumen. Ein Baum, nun, das ist ein großer, dicker …«

Die Stimmen verklangen. Rod kehrte rasch auf die Brücke zurück. Wäre Sally Fowler der einzige Passagier gewesen, hätte er sie von Herzen gern auf dem Hangardeck empfangen, aber er wollte diesem Bury von Anfang an die Situation klarmachen. Der Mann sollte gar nicht erst auf die Idee kommen, dass der Kapitän eines Kriegsschiffs Seiner Majestät sich herabließ, einen Kaufmann willkommen zu heißen. Von der Brücke aus beobachtete Rod über die Monitorschirme, wie das keilförmige Boot seine Bahngeschwindigkeit anglich und an Bord gezogen wurde, wie es langsam zwischen den großen, rechteckigen Hangartoren in die Mac Arthur glitt. Seine Hand blieb in der Nähe der Schalter für die Bordsprechanlage, denn dieses Manöver war nicht ungefährlich.


Kadett Whitebread empfing die Passagiere. Als erster stieg Bury aus, gefolgt von einem kleinen, dunkelhäutigen Mann, den vorzustellen der Handelsherr nicht für nötig befand.

Beide trugen für eine Raumreise brauchbare Kleidung, weite Hosen mit knappen, elastischen Gelenkabschlüssen, Jacken mit Gürtel, sämtliche Taschen mit Reiß- oder Klettenverschluss versehen. Bury schien wütend zu sein. Er schimpfte mit seinem Diener, und Whitbread fand es ratsam, die Entgegnungen des Mannes aufzunehmen und sie später vom Schiffscomputer übersetzen zu lassen. Der Kadett ließ den Kaufmann von einem Maat nach vorne führen und wartete selbst auf Miss Fowler. Er hatte sie bisher erst auf Fotos gesehen.

Bury wurde im Quartier des Kaplans untergebracht, Sally in der Kabine des Ersten Offiziers. Der angebliche Grund, warum sie das größte Quartier bekam, war, dass Annie, ihre Dienerin, die Kabine mit ihr teilen musste. Die männlichen Bedienten konnten bei der Mannschaft untergebracht werden, aber eine Frau, selbst wenn sie so alt wie Annie war, konnte schwerlich mitten unter Männern schlafen. Wenn Raumfahrer lange genug keinen Planetenurlaub mehr bekommen hatten, entwickelten sie neue Normen hinsichtlich weiblicher Attraktivität. Der Nichte eines Senators würde niemand nahe treten, aber eine Haushälterin war etwas anderes. Das alles war sehr plausibel, und wenn die Kabine des Ersten Offiziers gleich neben Kapitän Blaines Quartier lag, während die des Kaplans sich ein Deck tiefer und zwei Schotte weiter achtern befand, so würde doch niemand darauf hinzuweisen wagen. »Passagiere an Bord, Sir«, meldete Kadett Whitbread.

»Gut. Alle bequem untergebracht?« »Nun, Miss Fowler gewiss, Sir. Den Kaufmann hat Maat Allot zu seiner Kabine gebracht …«

»In Ordnung.« Blaine lehnte sich im Kommandositz zurück. Lady Sandra — nein, sie wollte Sally genannt werden, erinnerte er sich — war ihm in den wenigen Augenblicken, die er sie im Lager gesehen hatte, ziemlich elend vorgekommen. Nach Whitbreads Miene zu schließen, schien sie sich etwas erholt zu haben. Rod hätte sich damals am liebsten versteckt, als sie aus einem der Lagerzelte trat und auf ihn zuschritt. Er war verdreckt und blutverschmiert gewesen — doch dann war sie näher gekommen. Sie bewegte sich wie eine Dame des Hofes, aber sie war abgemagert, halb verhungert und hatte dunkle Schatten unter den Augen. Diese Augen — sie waren leer und ausdruckslos gewesen. Nun, jetzt hatte sie zwei Wochen Zeit gehabt, wieder zu sich zu finden, und sie brauchte New Chicago nie wiederzusehen.

»Ich nehme an, Sie werden Miss Fowler den Beschleunigungsdrill demonstrieren?« fragte Rod.

»Jawohl, Sir«, erwiderte Whitbread eifrig. Und die Null-Grav-Übung auch, dachte er.

Blaine musterte den Kadetten amüsiert. Es war nicht schwierig, seine Gedanken zu lesen. Mochte er ruhig Hoffnungen in dieser Richtung hegen, gewisse Vorteile bot ein höherer Rang doch. Außerdem kannte er selbst das Mädchen seit seiner Kindheit.

»Gespräch vom Gouverneurssitz«, meldete der Funkmaat.

Czillers heitere, gleichmütige Stimme holte Rod aus seinen Reminiszenzen. »Hallo, Blaine! Bereit zum Ankerlichten?« Der Kommodore lümmelte bequem in einem Schreibtischsessel und sog an einer seiner riesigen, berüchtigten Pfeifen.

»Ja, Sir.« Rod hatte noch etwas anderes auf der Zunge, schluckte es aber lieber hinunter. »Die Passagiere gemütlich untergebracht?« Rod hätte schwören mögen, dass sein früherer Kapitän sich über ihn lustig machte.

»Ja, Sir.«

»Und Ihre Besatzung? Keine Beschwerden?«

»Sie wissen verdammt gut … Wir werden zurechtkommen, Sir.« Blaine würgte seinen Ärger hinunter. Es war schwer, wütend auf Cziller zu sein, der ihm schließlich sein Schiff gegeben hatte, aber, zum Kuckuck, er verlangte doch etwas zuviel! »Wir leiden nicht gerade unter Platzmangel, aber es wird gehen.«

»Hören Sie, Blaine, ich hab’ Ihnen all die Leute nicht weggenommen, um Sie zu ärgern.

Ich brauche die Männer hier als Garnisonskräfte, zur Verwaltung, und Sie werden eher neue Leute bekommen als wir hier. Übrigens habe ich Ihnen zwanzig Rekruten hinaufgeschickt, junge Burschen vom Land, die sich auf den Weltraum freuen wie auf ein Abenteuer. Na, vielleicht gefällt’s ihnen wirklich. Mir jedenfalls hat es immer gefallen.«

Ahnungslose, unbedarfte Burschen, denen man jeden Handgriff würde vormachen müssen, aber das konnten die Unteroffiziere besorgen. Zwanzig Männer waren besser als nichts. Rod war jetzt etwas besser zumute.

Cziller spielte mit den Papieren auf seinem Schreibtisch. »Und ich werde Ihnen ein paar Trupps von Ihren Infanteristen zurückgeben, obwohl ich bezweifle, dass Sie auf Neuschottland jemanden finden, gegen den Sie sie loslassen müssten.«

»Aye aye, Sir. Danke, dass Sie mir Whitbread und Staley gelassen haben.« Mit Ausnahme dieser beiden hatten sich Cziller und Plechanov jeden Kadett von Bord geholt und einen Großteil der Unteroffiziere dazu. Aber — sie hatten ihm die besten Männer gelassen. Es waren genug, um einen einigermaßen normalen Betrieb im Schiff aufrechtzuerhalten, wenn auch viele Kojen aussahen, als wäre eine Schlacht verloren worden. »Schon gut. Die Mac ist ein gutes Schiff, Blaine. Die Admiralität wird sie Ihnen wohl nicht lassen, aber vielleicht haben Sie Glück. Ich muss praktisch mit bloßen Händen einen Planeten verwalten. Es gibt hier nicht einmal Geld! Nur Republikanerpapier! Die Rebellen haben die Imperiumskronen alle eingezogen und eigene Banknoten gedruckt. Wie zur Hölle sollen wir jetzt richtiges Geld in Umlauf bringen?«

»Ja, Sir.« Durch den vollen Kapitänsrang war Rod jetzt theoretisch Cziller gleichgestellt.

Die Ernennung zum Titularadmiral war nur eine Formsache, damit dienstältere Kapitäne als Cziller seinen Befehlen als Kommodore ohne Gesichtsverlust nachkommen konnten.

Blaines Kapitänspatent musste jedoch noch von einer Beförderungskommission der Flotte bestätigt werden, und er war jung genug, um dieser Prüfung mit Besorgnis entgegenzusehen. Vielleicht war er in sechs Wochen wieder nur Commander.

»Übrigens«, sagte Cziller, »ich habe doch eben erwähnt, dass es kein Geld auf dem Planeten gibt, aber das stimmt nicht ganz. Wir haben hier einige sehr reiche Männer.

Einer von ihnen ist dieser Jonas Stone, der Mann, der Ihre Truppen in die Stadt einließ.

Er behauptet, er hätte sein Geld vor den Rebellen verstecken können. Nun ja, warum nicht? Er war schließlich einer von ihnen. Aber wir haben auch einen einfachen Bergarbeiter aufgegriffen, der stockbesoffen war und ein Vermögen an Imperiumskronen bei sich trug. Er wollte nicht sagen, woher er das Geld hatte, aber wir glauben, dass es von Bury stammt.«

»Ja, Sir.«

»Behalten Sie also Seine Exzellenz im Auge. Schön, Ihre Papiere und die neuen Leute werden binnen einer Stunde an Bord sein.« Cziller warf einen Blick auf seinen Taschencomputer. »Genauer, in dreiundvierzig Minuten. Sie können sofort die Umlaufbahn verlassen, sobald sie an Bord sind.« Cziller steckte den Computer ein und begann seine Pfeife zu stopfen. »Überbringen Sie Mac-Pherson von den Docks meine Grüße, und merken Sie sich eins: Wenn die Arbeit am Schiff sich verzögert, und das wird sie, dann schicken Sie keine Beschwerdeberichte an den Admiral. Das macht nur Mac Pherson wütend. Verständlich. Holen Sie statt dessen Jamie an Bord und trinken Sie Scotch mit ihm. Sie vertragen nicht so viel wie er, aber tun Sie Ihr Bestes, das ist viel nützlicher als irgendwelche Berichte.«

»Gut, Sir«, sagte Rod zögernd. Er begriff plötzlich, wie viel ihm noch fehlte, um ein guter Kommandant zu sein. In der technischen Seite seines Berufs kannte er sich aus, vielleicht sogar besser als Cziller, aber die unzähligen kleinen Tricks, die man nur durch Erfahrung lernen konnte …

Cziller musste seine Gedanken gelesen haben. Wohl jeder Offizier, der unter ihm gedient hatte, hegte hin und wieder den Verdacht, dass Cziller diese beunruhigende Gabe besaß. »Beruhigen Sie sich, Kapitän. Bevor Sie die Hauptstadt erreichen, kann man Sie nicht abberufen, und bis dahin haben Sie auf der Mac lange genug Erfahrung sammeln können. Und vergeuden Sie nicht Ihre Zeit mit Prüfungsvorbereitungen. Davon haben Sie nichts.« Cziller zog an seiner ungeheuerlichen Pfeife und ließ einen dicken Rauchschwall aus dem Mund quellen. »Sie haben viel zu tun, ich will Sie nicht länger aufhalten. Aber wenn Sie in Neuschottland sind, versäumen Sie nicht, sich den Kohlensack anzusehen. Es gibt kaum einen Anblick im Universum, der ihm gleichkommt. Manche sagen, es sei das Angesicht Gottes.« Czillers Bild verblasste, und sein schiefes Grinsen schien noch, wie das der berühmten Cheshire-Katze, Augenblicke auf dem Schirm zurückzubleiben.

3 Kapitänsdinner

Die Mac Arthur verließ die Umlaufbahn um New Chicago mit einer Beschleunigung von einem Standard-g. Im gesamten Schiff war die Besatzung damit beschäftigt, alles von der Orbitorientierung — unten gleich außenbords, weil da die Rotation des Schiffes einen Schwereersatz schuf — auf die Orientierung des beschleunigten Fluges umzustellen, wobei unten natürlich gleich achtern war. Im Gegensatz zu Handelsschiffen, die oft lange Strecken von inneren Planeten zu den Aldersonschen Sprungpunkten antriebslos dahintreiben, wird auf Kriegsschiffen im allgemeinen kontinuierlich beschleunigt.

Als sie zwei Standardtage unterwegs waren, gab Blaine ein festliches Dinner.

Kostbare Tischwäsche und Leuchter, schweres Silbergeschirr und geschliffene Kristallgläser wurden hervorgeholt, die Schöpfungen kunstfertiger Meister von vielleicht einem halben Dutzend verschiedener Welten. Diese Kostbarkeiten gehörten nicht Blaine selbst, sondern der Mac Arthur. Die gesamte Einrichtung war umgestellt worden und jetzt an den Schotten achtern befestigt, mit Ausnahme des großen Tisches, der einfach in die Bordwand versenkt wurde, die vorher ›unten‹ gewesen war, jetzt hingegen die Wand der zylindrischen Offiziersmesse darstellte.

Dieser ebenfalls leicht zylindrisch gekrümmte Esstisch war Sally Fowler nicht geheuer gewesen. Sie hatte ihn zum ersten Mal vor zwei Tagen gesehen, als die Mac Arthur noch rotierte und die Rumpfaußenwand ein gewölbtes Deck war. Blaine bemerkte ihre Erleichterung, als sie die Messe normal durch den Treppenschacht betrat und einen ebenen Fußboden vorfand.

Bei Bury bemerkte er keinerlei derartige Regung; der Mann war leutselig, völlig unbefangen und unterhielt sich offensichtlich bestens. Bury hatte vermutlich viel Zeit im Raum verbracht, sagte sich Rod, vielleicht mehr als er selber.

Das Dinner war die erste offizielle Gelegenheit für Blaine, die Passagiere zu sehen. Als er sich am Kopf der Tafel niederließ und zusah, wie die Stewards in makellos weißen Uniformen den ersten Gang hereintrugen, musste er ein Lächeln unterdrücken. Alles gab es auf der Mac Arthur für ein festliches Bankett — außer Lebensmitteln.

»Ich fürchte, das Essen wird dem Exterieur nicht entsprechen«, meinte er zu Sally.

»Aber warten wir’s ab.« Kelley und die Stewards hatten den ganzen Nachmittag mit dem Unteroffizier, der als Chefkoch diente, gewichtige Beratungen abgehalten, aber Rod hatte nicht viel Hoffnung.

Natürlich gab es genug zu essen auf dem Schiff, aber eben nur den üblichen Fraß: Bioplast-Gemüse, Hefesteaks, Mais von New Washington. Blaine hatte keine Gelegenheit gehabt, sich auf New Chicago eigene Vorräte zu besorgen, und seine alten waren bei dem Kampf mit den Verteidigungssatelliten zerstört worden. Kapitän Cziller hatte sein persönliches Eigentum natürlich mitgenommen, außerdem in weiser Voraussicht auch den früheren Chef koch und den Geschützmaat vom Geschützturm Drei, der der Kapitänskoch gewesen war.

Der erste Gang wurde hereingebracht, eine ungeheure Platte mit einer schweren Abdeckung, die aus gehämmertem Gold zu sein schien. Goldene Drachen jagten einander um den Rand, während die Glücks-Hexagramme aus dem I Ching unbeteiligt über ihnen schwebten. Platte und Deckel stammten von Xanadu und waren soviel wert wie ein Beiboot der Mac Arthur. Schütze Kelley hatte sich hinter Blaine aufgebaut, ein eindrucksvoller Anblick in seiner weißen Galauniform mit der roten Schärpe: ein perfekter Haushofmeister, in dem man nur schwer den Mann wiedererkennen konnte, bei dessen Gebrüll neue Rekruten in Ohnmacht fielen, oder den Feldwebel, der die Infanteristen der Mac Arthur im Kampf gegen die Unionisten geführt hatte. Nun lüftete Kelley den Deckel mit geübter Grandezza.

»Fantastisch!« rief Sally. Wenn sie nur höflich sein wollte, dann hatte sie das gut überspielt. Kelley strahlte geschmeichelt. Auf der Platte thronte das Modell der Mac Arthur aus Pastetenteig, in jeder Einzelheit so fein ausgearbeitet wie ein Kunstwerk aus dem kaiserlichen Palast. Die übrigen Gerichte waren ähnlich kunstfertig angerichtet und zumindest äußerlich eines Banketts würdig, auch wenn sie nur Hefeprodukte und derartiges fades Zeug enthielten. Rod vergaß seine anfängliche Besorgnis wegen des Menüs und brachte es fertig, den Anlass zu genießen.

»Und was haben Sie jetzt vor, Mylady?« fragte Sinclair. »Waren Sie schon einmal auf Neuschottland?« »Nein, ich habe nur rein berufliche Reisen gemacht, Commander Sinclair. Es wäre wohl kaum sehr schmeichelhaft für Ihre Heimat, hätte ich sie besucht, nicht?« Sie lächelte, aber in ihren Augen lag die trostlose Leere des Weltraums.

»Und warum sollte Ihr Besuch für uns nicht schmeichelhaft sein? Es gibt keinen Ort im Imperium, der sich nicht geehrt fühlen würde.«

»Nett von Ihnen — aber sehen Sie, ich bin Anthropologin, die sich auf primitive Kulturen spezialisiert hat. Und das ist Neuschottland wohl kaum«, wandte sie ein.

»Sehr richtig«, stimmte Bury zu. »Übrigens bin ich in letzter Zeit ziemlich vielen Anthropologen begegnet. Ist dieses Fach jetzt so beliebt?«

»Mehr als früher — und es ist schade, dass man erst jetzt mehr Interesse darauf verwendet. Auf so vielen Welten, die ins Imperium aufgenommen wurden, sind Fehler begangen worden, Kulturen zerstört worden. Wir hoffen, dass wir jetzt klüger geworden sind.«

»Ich glaube«, meinte Blaine, »dass es immer eine Art kultureller Schock sein wird, wenn eine Welt ohne Vorbereitung ins Imperium aufgenommen wird — selbst wenn es keine anderen Probleme gibt. Vielleicht hätten Sie auf New Chicago bleiben sollen. Kapitän Cziller sagte, es würde Schwierigkeiten bei der Verwaltung geben.«

»Das konnte ich nicht.« Bedrückt blickte sie auf ihren Teller, schaute dann mit einem gezwungenen Lächeln auf. »Die wichtigste Regel in unserem Beruf ist, dass wir unvoreingenommen sein müssen gegenüber dem Volk, das wir studieren wollen. Und ich hasse diese Welt«, schloss sie heftig. Das kurze Durchbrechen einer Emotion tat ihr unerwartet gut. Selbst Hass war besser als — Leere.

»Klar«, meinte Sinclair. »Das würde wohl jeder, nach Monaten in so einem Gefangenenlager.«

»Das allein ist es nicht, Commander. Dorothy verschwand. Sie war die Kollegin, die mit mir reiste. Sie — sie ist einfach verschwunden.« Schweigen entstand. Sally meinte verlegen: »Bitte, lassen Sie sich durch mich nicht den Abend verderben.«

Blaine überlegte eben, wie er das Thema wechseln konnte, als Whitbread ihm eine Gelegenheit dazu lieferte. Zuerst sah Blaine nur, dass der junge Kadett irgend etwas unter der Tischkante tat — aber was? Er zupfte am Tischtuch und prüfte die Festigkeit des Gewebes. Und vorhin hatte er die Kristallgläser untersucht.

»Ja, Mr. Whitbread«, sagte Rod, »der Stoff ist sehr stark.«

Whitbread lief rot an und blickte auf. Blaine hatte nicht die Absicht, den Burschen in Verlegenheit zu bringen. »Tischwäsche, Silber, Teller, Platten, Gläser, alles muss möglichst haltbar sein«, bemerkte er zu der Tafelrunde im allgemeinen. »Gewöhnliches Glas würde die erste Raumschlacht nicht überstehen. Diesem Kristallmaterial dagegen ist nicht so leicht beizukommen. Es wurde aus der Cockpitscheibe einer Raumfähre des Ersten Imperiums geschnitten. Jedenfalls hat man mir das erzählt. Fest steht, dass wir heute ein solches Material gar nicht mehr herstellen können. Das Tuch ist auch nicht echtes Leinen, sondern eine Kunstfaser, ebenfalls aus dem Ersten Imperium. Die Abdeckungen der Platten bestehen aus Kristalleisen, das elektrolytisch auf gehämmertes Gold aufgebracht wird.«

»Die Kristallgläser sind mir als erstes aufgefallen«, bemerkte Whitbread schüchtern.

»Mir ging’s vor Jahren ebenso.« Blaine lächelte den Kadetten zu. Sie waren Offiziere, aber gleichzeitig unsichere, junge Burschen, die Rod an seine Zeit im Geschützraum erinnerten. Weitere Gänge wurden hereingebracht, dirigiert von Kelley, und die Gespräche wandten sich sachlichen Themen zu. Schließlich ging das Dinner zu Ende, die Tafel wurde abgeräumt bis auf Kaffee und verschiedene Weine.

»Der Toast«, sagte Rod formell.

Whitbread, der um drei Wochen jünger als Staley war, hob sein Glas. »Kapitän, Mylady.

Auf Seine Kaiserliche Majestät.« Die Offiziere tranken auf das Wohl ihres Souveräns, wie es seit über zweitausend Jahren in der Flotte Brauch war.

»Werden Sie mir erlauben, Ihnen meine Heimatwelt zu zeigen?« erkundigte sich Sinclair eifrig.

»Bestimmt. Danke — ich weiß nur nicht, wie lange wir dort bleiben werden.« Sally schaute fragend zu Blaine.

»Das weiß ich auch noch nicht genau. Wir haben eine Generalüberholung geplant, und wie lange das dauert, wird von den Docks abhängen.«

»Also, wenn es nicht zu lange ist, bleibe ich Ihrem Schiff treu. Sagen Sie, Commander, herrscht eigentlich reger Verkehr zwischen Neuschottland und der Hauptstadt?« »Och, ich würd’ sagen, mehr als von anderen Welten diesseits des Kohlensacks, aber das heißt nicht viel. Passagierschiffe, jedenfalls gut ausgestattete, sind spärlich. Vielleicht kann Ihnen Mr. Bury mehr sagen; seine Schiffe laufen Neuschottland an.«

»Aber nicht zur Passagierbeförderung, wie Sie sagten. Unser Geschäft ist es, den interstellaren Handel zu ärgern, wissen Sie.« Bury sah die fragenden Blicke und erklärte: »Die Autonetics-Gesellschaft ist auf den Transport von Robotfabriken spezialisiert. Wenn wir irgend etwas auf einem Planeten billiger herstellen können, als andere es importieren können, stellen wir unsere Fabriken auf. Unsere Hauptkonkurrenz sind die interstellaren Frachtunternehmen.«

Bury schenkte sich ein zweites Glas Wein ein, wobei er darauf bedacht war, die Sorte zu wählen, die nach Blaines Worten kaum mehr vorrätig war. (Es musste eine gute Marke sein, sonst hätte der Kapitän den geringen Vorrat nicht bedauert.) »Aus diesem Grund war ich auch auf New Chicago, als die Rebellion ausbrach.«

Sinclair und Sally Fowler quittierten seine Erklärung mit einem Nicken; Blaines Haltung und Miene waren zu ausdruckslos, zu nichtssagend, und Whitbread stieß Staley an — wart, bis ich’s dir erzähle — so dass Bury erraten konnte, was er wissen wollte. Ein Verdacht, aber keine Beweise, nichts Offizielles. »Ihr Beruf muss äußerst interessant sein«, bemerkte er zu Sally, bevor das Schweigen sich zu lange ausdehnen konnte.

»Möchten Sie uns nicht etwas darüber erzählen? Haben Sie viele primitive Welten besucht?«

»Keine einzige«, antwortete sie betrübt. »Ich habe meine Kenntnisse darüber nur aus Büchern. Wir hatten vor, Harlekin zu besuchen, aber die Rebellion …« Sie brach ab.

»Ich war einmal auf Makassar«, sagte Blaine.

Ihre Miene hellte sich sofort auf. »Ich hab’ einen umfangreichen Artikel über diese Welt gelesen. Sehr primitiv, nicht wahr?«

»Ja, und das ist sie immer noch. Die Kolonie war von Anfang an nicht sehr groß. Die gesamte Industrie wurde in den Sezessionskriegen total vernichtet, und danach kam vierhundert Jahre lang niemand mehr hin. Als wir den Kontakt wieder herstellten, hatten sich die Leute zu einer Eisenzeitkultur hochgearbeitet. Schwerter. Kettenpanzer.

Hölzerne ozeantüchtige Segelschiffe.«

»Aber wie waren die Menschen?« fragte Sally eifrig. »Wie lebten sie?« Rod zuckte verlegen die Achseln. »Ich war nur ein paar Tage dort. Das ist kaum lange genug, um eine Welt kennenzulernen. Es ist schon Jahre her, ich war etwa in Staleys Alter. Ich erinnere mich, dass ich vor allem nach einer guten Kneipe Ausschau hielt.« Schließlich bin ich kein Anthropologe, hätte er beinahe hinzugefügt. Das Gespräch plätscherte träge dahin, und Rod, der ziemlich müde war, suchte nach einem höflichen Vorwand, die Tafel aufzuheben. Die anderen schienen endlos sitzen bleiben zu wollen.

»Sie studieren doch die kulturelle Entwicklung«, sagte Sinclair eben ernsthaft und mit kaum einer Spur seines kernigen Akzents. »Das ist sicher wichtig. Aber kann’s nicht auch eine körperliche Weiterentwicklung geben? Das Erste Imperium war sehr ausgedehnt und die Besiedlungszentren lagen weit voneinander entfernt. Platz genug für beinahe alles. Könnten wir nicht irgendwann, in einem vergessenen Winkel des alten Imperiums, auf eine Welt von Supermenschen stoßen?«

Die beiden Kadetten hörten plötzlich aufmerksam zu. »Wie würde eine physische Weiterentwicklung der Menschen aussehen, Mylady?« fragte Bury.

»Die gängige Lehrmeinung behauptet, dass eine physische Evolution bei Intelligenzwesen nicht möglich ist«, antwortete sie. »Zivilisierte Gesellschaften schützen ihre schwächeren Mitglieder. Hochstehende Kulturen stellen Rollstühle und Brillen und Hörgeräte her, sobald sie die Werkzeuge dafür besitzen. Wenn eine solche Zivilisation Krieg führt, müssen die Männer üblicherweise alle möglichen Leistungstests bestehen, bevor man ihnen erlaubt, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Ich nehme an, das hilft, den Krieg zu gewinnen.« Sie lächelte. »Aber mit dem Überleben der Tüchtigsten ist es dann nicht mehr weit her.«

»Aber nehmen wir mal an«, meinte Whitbread, »dass eine Zivilisation noch weiter zurückgeworfen wird als Makassar? Bis zu einer Steinzeitkultur, Wilden mit Keulen und Feuersteinäxten. Dann müsste es doch eine Evolution geben, nicht?«

Drei Gläser Wein hatten Sallys düstere Stimmung besiegt; nichts war ihr jetzt lieber, als von ihrem Beruf sprechen zu können. Ihr Onkel hatte ihr oft gesagt, dass sie für eine Dame zuviel redete, und sie versuchte auch im allgemeinen, sich im Zaum zu halten, aber der Wein und aufmerksame Zuhörer vermochten sie immer in Fahrt zu bringen. Es tat gut, nach Wochen trostloser Leere wieder aus sich herausgehen zu können.

»Gewiss«, antwortete sie. »Aber nur, bis sich ein Gesellschaftssystem entwickelt. Die natürliche Auslese würde nur so lange wirken, bis sich genügend Menschen zusammentun, um sich gegen die Umwelt zu schützen. Aber für Evolution ist das kaum lange genug. Es gibt eine Welt, Mr. Whitbread, auf der ritueller Kindermord praktiziert wird. Die Ältesten untersuchen die Säuglinge und töten alle, die nicht ihrem Standard der Perfektion entsprechen. Das ist genaugenommen keine Evolution, aber man könnte auf diese Art zu ähnlichen Ergebnissen gelangen — nur hält sich so etwas auch nie lange genug.«

»Wir züchten Pferde. Und Hunde«, wandte Rod ein.

»Ja. Aber wir haben noch nie eine neue Spezies gezüchtet. Und keine Gesellschaft vermag irgendwelche Zuchtregeln lange genug aufrechtzuerhalten, um die menschliche Spezies zu ändern. In einer Million Jahre vielleicht … Sicher, es hat gezielte Versuche gegeben, Supermenschen zu züchten. Im sauronischen System zum Beispiel.«

Sinclair knurrte. »Diese Bestien. Die haben uns die Sezessionskriege eingebrockt. Das hätte für uns alle das Ende …« Er brach ab, als Kadett Whitbread sich auffällig räusperte.

Sally benützte das augenblickliche Schweigen, um einzuwerfen: »Das ist noch so eine Welt, bei der ich nicht unvoreingenommen sein könnte. Obwohl die Leute sich jetzt betont loyal geben …« Sie blickte sich um. Alle hatten einen sonderbaren Gesichtsausdruck aufgesetzt, und Sinclair versuchte sich hinter seinem Weinglas zu verstecken. Kadett Horst Staleys kantiges Gesicht hätte aus Stein gemeißelt sein können. »Was ist los?« fragte sie betroffen.

Langes Schweigen, bis Whitbread schließlich sagte: »Mr. Staley stammt aus dem sauronischen System, Mylady.«

»Ich — ich, es tut mir schrecklich leid«, stammelte Sally. »Da bin ich wohl ganz schrecklich ins Fettnäpfchen getreten, was? Wirklich, Mr. Staley, ich …«

»Wenn meine jungen Herren keine dickere Haut besitzen und sich durch so etwas stören lassen, kann ich sie auf meinem Schiff nicht brauchen«, sagte Rod. »Und Sie waren nicht allein bei diesem Fauxpas.« Er warf Sinclair einen vielsagenden Blick zu.

»Wir beurteilen Männer nicht danach, was ihre Heimatwelten vor hunderten Jahren getan haben. — Aber was wollten Sie vorhin über Evolution sagen?«

»Dass — dass sie im Fall einer intelligenten Spezies im wesentlichen abgeschlossen sein müsste«, antwortete Sally dankbar. »Die Arten entwickeln sich, um in ihrer Umwelt bestehen zu können, sich ihr anzupassen. Eine intelligente Spezies passt dagegen die Umwelt ihren Bedürfnissen an. Sobald eine Art das Intelligenzstadium erreicht, besteht keine Notwendigkeit für Evolution mehr.«

»Schade, dass wir keine anderen Intelligenzen zum Vergleich haben«, meinte Bury leichthin. »Nur ein paar Fantasiewesen.« Er erzählte eine lange Geschichte über einen unwahrscheinlich intelligenten Achtfüßler, der an einen Zentauren gerät, und alle lachten pflichtschuldigst. »Nun, Kapitän, ich glaube, es war für uns alle ein unterhaltsamer Abend«, Schloss Bury.

»Ja.« Rod erhob sich und bot Sally seinen Arm, worauf auch die anderen aufstanden.

Sie war wieder sehr schweigsam, als er sie durch den Gang zu ihrer Kabine führte, und nicht mehr als formell höflich, als er sich verabschiedete. Rod kehrte dann wieder auf die Brücke zurück. Der Schiffscomputer musste noch von einer Menge Reparaturarbeiten informiert werden.

4 Priorität

Die Reise durch den Hyperraum kann sonderbar und verwirrend sein. Die Entfernung zwischen zwei Sternen zu überwinden dauert nur unmessbar kurze Zeit — doch da es zwischen zwei bestimmten Sternen immer nur eine Hyperroute oder Sprunglinie gibt (die man sich als Gerade vorstellen kann, wenn es auch keine Gerade im üblichen Sinn ist), und da die Endpunkte der Routen weit abseits von den Raumverzerrungen liegen, die Sterne und große Planetenmassen verursachen, wird es klar, dass ein Schiff die meiste Zeit damit verbringt, von einem Sprungpunkt zum nächsten zu kriechen.

Weitaus ärgerlicher ist jedoch die Tatsache, dass bei weitem nicht alle Sterne durch Hyperrouten erreichbar sind. Sprunglinien entstehen entlang der Äquipotentiallinien des thermonuklearen Flusses, so dass das Vorhandensein weiterer Sterne in einem geometrischen Muster bewirken kann, dass überhaupt keine Hyperroute auftritt. Von den vorhandenen Sprunglinien sind längst noch nicht alle kartiert, denn es ist ziemlich schwierig, sie aufzuspüren.

Die Passagiere der Mac Arthur mussten feststellen, dass eine Reise an Bord eines kaiserlichen Kriegsschiffes einem Gefängnisaufenthalt gleichkam. Die Mannschaft hatte ihren Pflichten nachzugehen, und auch während der Freiwachen mussten noch Reparaturen durchgeführt werden. Die Passagiere blieben ihrer eigenen Gesellschaft überlassen, wenn man von den wenigen gesellschaftlichen Kontakten absah, die die Schiffsroutine zuließ. Für Unterhaltung, wie sie auf Luxuskreuzern geboten wurde, war weder Zeit noch Platz.

Es war recht langweilig. Als die Mac Arthur sich auf ihren letzten Sprung vorbereitete, freuten sich die Passagiere auf die Landung in Neukaledonia wie auf eine Entlassung aus dem Gefängnis.


NEUKALEDONIA: Sternsystem jenseits des Kohlensacks, mit Zentralgestirn Typ F8, Katalogbezeichnung Murcheson A. Der entferntere Zwillingsstern Murcheson B gehört nicht zum System Neukaledonia. Murcheson A besitzt sechs Planeten in fünf Bahnen, und zwar vier innere Planeten, auf die ein relativ breiter Zwischenraum folgt, in dem die Brocken eines nichtkonsolidierten Planeten zu finden sind, und zwei äußere Planeten auf gemeinsamer Bahn in trojanischer Position. Die vier inneren Planeten tragen die Bezeichnungen Conchobar, Neuirland, Neuschottland und Fomor in der Reihenfolge ihres Sonnenabstands, die lokal als Cal, Old Cal oder einfach Sonne bezeichnet wird.

Die beiden mittleren Planeten sind besiedelt; beide wurden von Wissenschaftlern des Ersten Imperiums terrageformt, nachdem Jasper Murcheson, der mit Alexander IV. verwandt war, den Kronrat überzeugt hatte, dass das System Neukaledonia am besten geeignet wäre, eine neue kaiserliche Universität zu gründen. Man weiß heute, dass Murcheson vor allem daran lag, einen bewohnten Planeten in der Nähe des roten Superriesen zu wissen, der als Murchesons Auge bekannt ist. Da ihm das Klima von Neuirland nicht zusagte, verlangte er die Terraformung auch von Neuschottland.

Fomor ist ein relativ kleiner Planet mit einer kaum feststellbaren Atmosphäre und wenigen interessanten Eigenschaften. Es gibt jedoch mehrere Fungoide dort, die biologisch mit anderen Fungi verwandt sind, die im Sektor Trans-Kohlensack gefunden werden. Wie sie nach Fomor gekommen sind, hat eine endlose Kontroverse im Journal der Kaiserlichen Gesellschaft für Xenobiologie ausgelöst, da das System Neukaledonia sonst keine einheimischen Lebensformen aufzuweisen hat.

Die beiden äußeren Planeten haben eine gemeinsame Umlaufbahn und werden Dagda und Mider genannt, im Einklang mit der keltischen Nomenklatur des Systems. Dagda ist ein Gasriese, und das Imperium unterhält Auftankstationen auf den zwei Monden der Planeten, Angus und Brigit. Handelsschiffe werden informiert, dass Brigit ein Flottenstützpunkt ist und ohne Genehmigung nicht angelaufen werden darf.

Mider ist ein kalter Metallklumpen, mit intensiver Erzgewinnung, und für Kosmologen ein Zankapfel, da seine Entstehungsgeschichte anscheinend in keine der beiden konkurrierenden Theorien der Planetenbildung passt.

Neuschottland und Neuirland, die beiden einzigen besiedelten Planeten des Systems, besaßen eine reiche Wasserdampf- und Methanatmosphäre, jedoch keinen freien Sauerstoff. Massive Bioimpfungen machten unter erheblichem Kostenaufwand bewohnbare Welten aus ihnen. Gegen Ende des Projekts verlor Murcheson seinen Einfluss im Rat, doch hatte man bereits so viel investiert, dass das Vorhaben doch abgeschlossen wurde. Nach weniger als hundert Jahren intensiver Arbeit wurden die Kuppelkolonien zu offenen Kolonien — eine der glorreichsten Leistungen des Ersten Imperiums.

Beide Welten erlitten während der Sezessionskriege erhebliche Bevölkerungsverluste; Neuirland hatte sich den Rebellenkräften angeschlossen, während Neuschottland unerschütterlich loyal blieb. Nachdem das Wissen um die Interstellarreise im Sektor jenseits des Kohlensacks verlorengegangen war, setzte Neuschottland allein den Kampf fort, bis es vom Zweiten Imperium wiederentdeckt wurde. Aus diesem Grund wurde Neuschottland zum Sektorzentrum erklärt.


Die Mac Arthur zitterte und tauchte außerhalb der Bahn Dagdas im realen Raum auf.

Einige Minuten noch saß ihre Besatzung auf den jeweiligen Hyperraumposten, desorientiert, benommen und gegen die Verwirrung ankämpfend, die auf jede zeitlose Transition folgt.

Warum? Ein Kreis von Physikern der Kaiserlichen Universität auf Sigismund vertreten die These, dass Hyperraumsprünge nicht gar keine Zeit dauern, sondern eine transfinite Zeitspanne, und dass daraus die charakteristische Verwirrung von Menschen wie Computern resultiert. Andere Theorien wiederum behaupten, dass der Sprung eine Ausdehnung oder Schrumpfung des umgebenden Raums verursacht, die die Funktion des menschlichen Nervensystems wie auch der elektronischer Bauteilebeeinträchtigt; oder, dass nicht alle Teile des Schiffes gleichzeitig wieder auftauchen; oder dass nach dem Übergang Trägheit und Masse im subatomaren Bereich nicht übereinstimmen.

Niemand weiß, was zutrifft, doch der Effekt ist nicht wegzuleugnen.

»Steuermann«, sagte Blaine heiser. Seine Augen stellten sich nur schwerfällig auf die Brückeninstrumente ein.

»Aye aye, Sir.« Die Stimme klang dumpf und benommen, aber der Navigator reagierte automatisch.

»Nehmen Sie Kurs auf Dagda. Bringen Sie sie in Fahrt.«

»Aye, aye.« In den Anfängen der Hyperraumreisen hatten die Schiffscomputer versucht, sofort nach dem Wiederauftauchen zu beschleunigen. Man brauchte nicht lange, um darauf zukommen, dass Computer noch mehr durcheinander waren als Menschen.

Daraufhin wurden stets alle automatischen Anlagen bei Annäherung an die Transition ausgeschaltet. Jetzt leuchteten auf Blaines Instrumentenborden nacheinander Anzeigelämpchen auf, als die Besatzung die Mac Arthur langsam wieder reaktivierte und die Systeme überprüfte.

»Wir landen auf Brigit, Mr. Renner«, fuhr Blaine fort. »Sorgen Sie für Geschwindigkeitsangleichung. Mr. Staley, Sie assistieren dem Steuermann.«

»Aye, aye, Sir.« Die Brücke erwachte wieder zum Leben. Die Männer der Besatzung rafften sich auf und kehrten an ihre Normalraumstationen zurück. Als die Beschleunigung einsetzte und das Äquivalent von Schwerkraft schuf, brachten Stewards Kaffee für alle. Während die elektronischen Augen der Mac Arthur den Raum nach Feinden absuchten, nahmen Besatzungsmitglieder ihre Kontrollgänge wieder auf. Auf dem Bord für Pannenanzeige leuchteten alle Lichter grün, als eine Sektion nach der anderen einen glatten Übergang meldete. Blaine nickte zufrieden und trank seinen Kaffee. So war es immer, und noch nachhundert Sprüngen hatte er dieses Gefühl — dass diese keine messbare Zeit beanspruchenden Reisen irgendwie grundlegend falsch waren, dass sie etwas an sich hatten, das die Sinne und der menschliche Geist einfach nicht akzeptieren konnten. Die Dienstroutine half den Männern über dieses Gefühl hinweg, denn auch sie war etwas, das dem Intellekt, dem bewussten Denken nicht mehr unterlag.

»Mr. Whitbread, meine Empfehlungen an den Ersten Funkmaat, er möge uns im Flottenhauptquartier auf Neuschottland als eingetroffen melden. Holen Sie sich von Staley unsere Vektordaten, und lassen Sie die Tankstation auf Brigit benachrichtigen, dass wir herunterkommen. Melden Sie der Flotte, wo wir hinwollen.«

»Gut, Sir. Signal in zehn Minuten, Sir?«

»Ja.«

Whitebread schnallte sich von seinem Kontrollsitz hinter dem Kapitän los und schwankte in die Navigationsabteilung. »Ich brauche die volle Maschinenkraft für ein Signal in zehn Minuten, Horst.« Als er die Brücke verließ, hatte er sich schon wieder etwas erholt.

Junge Männer waren im allgemeinen schnell wieder auf dem Posten, was einer der Gründe war, weshalb die kommandierenden Offiziere von Kriegsschiffen meist recht jung waren.

»Achtung«, verkündete Staley über die Bordsprechanlage. Seine Stimme war in allen Räumen des Schiffs zu hören. »Achtung. Ende der Beschleunigung in zehn Minuten.

Kurze Periode freien Falls in zehn Minuten!«

»Wozu das?« vernahm Blaine. Er blickte auf und sah Sally Fowler im Eingang zum Brückenraum stehen. Seine Einladung, die Passagiere könnten jederzeit auf die Brücke kommen, wenn keine Alarmsituation vorläge, hatte sich bewährt. Bury machte von der Erlaubnis kaum je Gebrauch. »Warum jetzt schon freier Fall?« fragte sie. »Wir brauchen die Energie für ein Funksignal«, erklärte Blaine. »Auf diese Entfernung ist ein Großteil der Maschinenkraft nötig, um den Maserstrahl zu produzieren. Wir könnten die Maschinen überlasten, wenn wir müssten, aber es ist üblich, sie während einer Nachrichtenübermittlung auszuschalten, wenn wir es nicht sehr eilig haben.«

»Oh.« Sie ließ sich in Whitbreads leerstehendem Konturensitz nieder. Rod schwenkte seinen Kommandosessel zu ihr herum und wünschte sich wieder einmal, dass die Schwerelosigkeitsanzüge für Mädchen nicht ganz so formlos wären, und dass vielleicht Minihöschen wieder in Mode kämen. Augenblicklich waren die Röcke auf Sparta wadenlang, und die Provinzen hielten sich an das Diktat aus der Hauptstadt. Für Raumreisen entwarfen die Modeschöpfer eine Art Pluderhosen, die zwar sehr bequem waren, aber kaum attraktiv.

»Wann werden wir in Neuschottland sein?« fragte sie.

»Kommt darauf an, wie lange wir bei Dagda zu tun haben. Sinclair möchte einige Außenarbeiten erledigen, während wir Boden unter den Füßen haben.« Er holte seinen Taschencomputer hervor und schrieb rasch einige Zahlen mit dem dazugehörigen Stift.

»Mal sehen. Wir sind jetzt etwa eineinhalb Milliarden Kilometer von Neuschottland entfernt, das heißt … äh … sagen wir hundert Stunden bis zur Wende. Also zweihundert Stunden Flugzeit, plus die Zeit, die wir im Dagda-System verbringen. Und natürlich die Zeit, die wir brauchen, um bis zu Dagda zu kommen. Das ist nicht mehr so weit, rund zwanzig Stunden von hier.«

»Das heißt, dass wir noch mindestens vierzehn Tage unterwegs sein werden«, sagte sie.

»Ich dachte, sobald der Sprung geschafft ist …« Sie brach ab und lachte. »Es ist schon blödsinnig. Warum erfindet man nicht eine Methode für interplanetarische Sprünge? Es kommt mir einfach lächerlich vor, dass wir fünf Lichtjahre in überhaupt keiner Zeitzurückgelegt haben, aber es jetzt Wochen dauert, um nach Neuschottland zu kommen, das dicht vor uns steht.«

»Fallen wir Ihnen denn schon auf die Nerven? Das Problem hat in Wirklichkeit noch eine schwerwiegendere Seite. Ein Sprung verbraucht nämlich nur einen unbedeutenden Bruchteil unseres Wasserstoffs — nun ja, ganz so wenig ist es auch nicht, aber verglichen mit der Menge, die wir brauchen, um bis Neuschottland zu kommen, ist es unbedeutend. Wir haben zum Beispiel nicht genug Treibstoff an Bord, um den Planeten direkt anzufliegen, zumindest würde es auf einer sparsamen Bahn länger als ein Jahr dauern, doch für einen weiteren Sprung hätten wir mehr als genug. Dazu ist nämlich nur die Energie für den Übergang in den Hyperraum erforderlich.«

Sally organisierte sich vom Steward eine Tasse Kaffee. Sie gewöhnte sich langsam an den Flottenkaffee, der ein Gebräu war, wie man es in der ganzen Galaxis nicht wiederfand. »Wir müssen uns also damit abfinden«, meinte sie.

»Leider. Ich habe schon Fahrten erlebt, wo es schneller war, einen Aldersonpunkt anzufliegen, einen Sprung zu machen, von dem neuen System wieder anderswohin zu springen, und so weiter, bis man wieder an einer anderen, günstigeren Stelle im ursprünglichen System auftauchte — alles das brauchte weit weniger Zeit als im Normalraum quer durch das ursprüngliche System zu fliegen. Hier geht das leider nicht.

Die Raumgeometrie macht uns einen Strich durch die Rechnung.«

»Schade«, lächelte sie. »Wir würden um den gleichen Preis sehr viel mehr vom Universum sehen.« Sie sagte nicht, dass ihr langweilig sei, aber Rod nahm es an, und er bedauerte, so wenig dagegen tun zu können. Er konnte ihr immer nur sehr kurz Gesellschaft leisten, und zu sehen gab es auch wenig Interessantes.

»Achtung. Alles klar für freien Fall!« dröhnten die Lautsprecher. Sally hatte kaum Zeit, sich festzuschnallen, bevor der Antrieb aussetzte.


Der Erste Funkmaat Lud Shattuck spähte in das Zielokular, während seine dicken, doch erstaunlich feinfühligen Finger an den Einstellschrauben drehten. Außen am Rumpf der Mac Arthur drehte sich gehorsam ein Teleskop mit, bis es einen winzigen Lichtpunkt erfasste. Noch einmal bewegte es sich unter Shattucks Führung, bis der Punkt genau im Zentrum des Zielfelds lag.

Shattuck grunzte befriedigt und berührte einen Schaltknopf. Eine Maserantenne richtete sich automatisch nach dem Teleskop aus, während der Schiffscomputer berechnete, wo der Lichtpunkt sein würde, wenn das Signal ihn erreichte. Eine codierte Nachricht lief von einem Magnetband ab, und achtern verschmolzen die Maschinen der Mac Arthur Wasserstoff zu Helium. Energie schoss über die Antenne in den Raum hinaus, Energie, die durch das dünne Magnetband im Signalraum moduliert wurde.

Rod aß allein in seiner Kabine zu Abend, als die Antwort eintraf. Der wachhabende Funkmaat warf einen Blick auf den Vorsatzcode und brüllte nach Shattuck. Vier Minuten später klopfte Kadett Whitbread an die Tür seines Kapitäns.

»Ja«, meldete sich Rod gereizt.

»Nachricht von Admiral Cranston, Sir.«

Rod blickte ärgerlich auf. Er hatte nicht allein essen wollen, aber die Offiziersmesse hatte Sally Fowler zum Dinner eingeladen, und wenn Blaine sich seinen Offizieren aufgedrängt hätte, die mit Recht Sallys Gesellschaft einmal allein genießen wollten, hätte Mr. Bury ebenfalls eingeladen werden müssen. Und nun blieb er nicht einmal bei dieser tristen Mahlzeit ungestört. »Hat das nicht Zeit?«

»Oberkommando-Priorität, Sir.«

»Ein heißer Blitz für uns? Vom Oberkommando?« Rod stand abrupt auf, das Proteinaspik war vergessen. »Lesen Sie vor, Mr. Whitbread.«

»Jawohl, Sir. MACARTHUR VON IMPFLOT NEUSCHOTT. OK OK 8175 …« »Sie können den Codevorsatz weglassen, Kadett. Ich nehme an, Sie haben die Authentizität der Meldung überprüft.«

»Ja, Sir. Äh, also, Sir, Datum, Code … NACHRICHT BEGINNT SIE WERDEN MIT HÖCHSTMÖGLICHER GESCHWINDIGKEIT WIEDERHOLE HÖCHSTMÖGLICHER GESCHWINDIGKEIT KURS AUF BRIGIT NEHMEN UND MIT PRIORITÄT DOPPEL A EINS TREIBSTOFF AUFNEHMEN STOP SIE WERDEN IN KÜRZESTMÖGLICHER ZEIT AUFTANKEN STOP ABSATZ

MACARTHUR WIRD HIERAUF KURS NEHMEN NACH -äh, Sir, es sind da einige Koordinaten im System Cal angegeben — BEZIEHUNGSWEISE MIT BELIEBIGEM VEKTOR IHRER WAHL UNBEKANNTES OBJEKT ABFANGEN UND UNTERSUCHEN WELCHES AUS NORMALRAUM WIEDERHOLE NORMALRAUM IN SYSTEM NEUKALEDONIA EINDRINGT STOP OBJEKT BEWEGT SICH MIT GALAKTISCHEM VEKTOR — äh, mit einem Kurs ungefähr aus der Richtung des Kohlensacks, Sir — UND NUMERISCHER GESCHWINDIGKEIT VON ETWA SIEBEN PROZENT DER LICHTGESCHWINDIGKEIT STOP OBJEKT WIRD RASCH LANGSAMER STOP ASTRONOMEN DER KAISERLICHEN UNIVERSITÄT STELLEN FEST DASS SPEKTRUM DES FREMDOBJEKTS DEM BLAUVERSCHOBENEN SPEKTRUM DER SONNE NEUKAL ENTSPRICHT STOP DARAUS IST ZU SCHLIESSEN DASS FREMDKÖRPER VON LICHTSEGEL ANGETRIEBEN WIRD STOP ABSATZ

UNIVERSITÄTSASTRONOMEN ÜBERZEUGT DASS OBJEKT EINE KONSTRUKTION INTELLIGENTER WESEN IST STOP ZU IHRER INFORMATION KEINE BEKANNTEN MENSCHLICHEN KOLONIEN IN SCHEINBAREM URSPRUNGSGEBIET DES FREMDOBJEKTS STOP ABSATZ

KREUZER LERMONTOV ZUR UNTERSTÜTZUNG AUSGELAUFENABER KANN ERST EINUNDSIEBZIG STUNDEN NACH FRÜHESTEM TERMIN FÜR MACARTHUR GESCHWINDIGKEITSANGLEICHUNG MIT OBJEKT ERREICHEN STOP GEHEN SIE MIT ÜBERLEGUNG VOR STOP SIE MÜSSEN FREMDOBJEKT ALS FEINDLICH ANSEHEN BIS GEGENTEIL BEWIESEN STOP SIE HABEN BEFEHL VORSICHT ZU GEBRAUCHEN ABER KEINE FEINDSELIGKEITEN EINZULEITEN WIEDERHOLE KEINE FEINDSELIGKEITEN EINZULEITEN STOP ABSATZ

KLAMMER AUF HOLEN SIE SICHS CZILLER STOP WÜNSCHTE ICH WÄRE DABEI STOP GOTT MIT IHNEN STOP CRANSTON KLAMMER ZU ENDE DER NACHRICHT PRÜFCODE — äh, das ist alles, Sir.« Whitbread musste tief Luft holen.

»Ja. Und ganz schön viel, Mr. Whitbread.« Blaine griff nach dem Schalter seiner Sprechanlage. »Offiziersmesse.«

»Hier Offiziersmesse, Kapitän«, meldete sich Kadett Staley.

»Holen Sie mir Cargill.«

Der Erste Offizier meldete sich mit hörbar geringer Begeisterung. Blaine störte ihn bei seiner Dinnerparty. Rod dagegen konnte eine innere Genugtuung deswegen nicht unterdrücken. »Jack, kommen Sie auf die Brücke. Sie müssen unserem Vogel Dampf machen. Ich brauche den Minimalzeitkurs nach Brigit, und ich meine Minimalzeit! Sie können die Tanks leeren, aber bringen Sie uns flott hin.«

»Aye, aye, Sir. Den Passagieren wird das nicht gefallen.«

»Zum Kuckuck mit den … Äh, meine Empfehlung an die Passagiere, und es tut mir leid, ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten, aber es handelt sich um einen dringenden Admiralitätsauftrag. Es tut mir leid wegen Ihrer Abendgesellschaft, Jack, aber Sie müssen die Passagiere in die Hydraulikliegen packen und dieses Schiff schleunigst in Bewegung bringen. Ich werde in einer Minute auch auf der Brücke sein.« »Jawohl, Sir.«

Einen Moment lang schwieg der Lautsprecher, dann dröhnte Staley s Stimme durch das ganze Schiff: »Achtung, Achtung! Alles sofort klarmachen für längere Beschleunigungsperiode mit mehr als zwei Grav. Abteilungschefs, melden, wenn Vorbereitungen für erhöhte Beschleunigung abgeschlossen.«

»Also dann«, sagte Blaine. Er wandte sich an Whitbread. »Tippen Sie diese verdammten Vektordaten in den Computer, damit wir sehen, wo zur Hölle dieser Fremde auf einmal herkommt.« Er merkte, dass er ziemlich sinnlos fluchte, und bemühte sich, seine Aufregung zu meistern. Eindringlinge — fremde Wesen? Gott im Himmel, welch ein Abenteuer! Er hatte das Kommando über das erste Schiff, das Kontakt mit fremden Intelligenzen bekam … »Also schauen wir mal, woher sie kommen, ja?«

Whitbread trat an die Eingabekonsole neben Blaines Schreibtisch. Der Bildschirm zeigte einige wilde Zacken, dann leuchteten Zahlen auf.

»Verflixt noch mal, Whitbread, ich bin kein Mathematiker! Geben Sie mir die graphische Darstellung!«

»Sofort, Sir.« Whitbread hantierte wieder an den Eingabetasten herum. Der Schirm wurde zu einem schwarzen Raum, in dem Lichtpunkte und bunte Lichtlinien schwammen. Die dicken Lichtpunkte waren Sterne, je nach Spektraltyp gefärbt, Geschwindigkeitsvektoren waren dünne grüne Striche, Beschleunigungsvektoren waren lila, extrapolierte Kursbahnen stumpfrote Kurven. Die lange grüne Linie …

Blaine starrte ungläubig auf den Schirm und legte einen Finger an den Höcker seiner Nase. »Vom Splitter. Ich will doch verdammt sein. Vom Splitter. Durch den Normalraum.« Zum Stern des Fremden führte keine bekannte Sprunglinie. Es war ein kleiner, einzeln stehender Fleck, ein gelber Punkt in der Nähe des Superriesen, der Murchesons Auge hieß. In Rods Kopf drehten sich Visionen von Oktopoiden.

Wenn sie feindlich gesinnt waren? dachte er unvermittelt. Old Mac konnte in ihrem jetzigen Zustand nicht mit einem fremden Raumschiffkämpfen, nicht, bevor wichtige Reparaturen ausgeführt waren. Reparaturen, die man aufgeschoben hatte, weil sie im Orbit oder auf festem Boden gemacht werden sollten, und die man jetzt bei mehr als zwei Ge würde erledigen müssen. Aber — die größte Chance der menschlichen Geschichte gehörte der Mac Arthur — und ihm. Zusammen würden sie es schaffen.

5 Das Angesicht Gottes

Blaine begab sich eilends auf die Brücke und schnallte sich in seinem Kommandosessel fest. Kaum war er fertig, drückte er eine Taste der Sprechanlage. Kadett Whitbread, noch in der Kapitänskabine, starrte verdattert aus dem Bildschirm.

Blaine setzte auf eine Erinnerung aus seiner eigenen Kadettenzeit. »Lesen Sie’s mir vor.« »Äh — Sir?«

»Sie haben doch das Reglement bei den Bestimmungen für Kontakt mit fremden Wesen aufgeschlagen, oder? Lesen Sie sie mir vor, bitte.« Blaine hatte sie, wie die meisten Kadetten, vor langer Zeit selbst nachgelesen, zur Unterhaltung und aus Neugier.

»Ja, Sir.« Whitbread überlegte sichtlich, ob der Kapitän seine Gedanken gelesen hatte, und kam zu dem Schluss, dass dies ein Privileg von Kapitänen war. Aus solchen Tricks entstanden dann die Legenden. »›Abschnitt 4500: Erster Kontakt mit nichtmenschlichen Intelligenzwesen. Anmerkung: Unter Intelligenzwesen sind Geschöpfe zu verstehen, die in zielstrebiger Verhaltensweise Werkzeuge gebrauchen und sich untereinander verständigen können. Unteranmerkung: Offiziere werden angewiesen, bei der Anwendung dieser Definition ihre Urteilskraft zu gebrauchen. Die Schwarmratte von Makassar zum Beispiel gebraucht Werkzeuge und verständigt sich, um ihr Nest zu erhalten, ist aber kein Intelligenzwesen. Absatz eins: Beim Zusammentreffen mit nichtmenschlichen Intelligenzwesen hat der befehlshabende Offizier unverzüglich das nächste Flottenkommando von der Existenz dieser Fremdwesen zu informieren.

Sämtliche anderen Aktionen sind der Erledigung dieser Aufgabe unterzuordnen. Absatz zwei: Nachdem die in Absatz eins dargelegte Aufgabe erfüllt ist, werden die Offiziere versuchen, eine Verständigung mit den Fremden anzubahnen, vorausgesetzt jedoch, dass sie hierbei ihr Kommando nicht in Gefahr bringen, außer, sie wurden von höheren Befehlsstellen dazu autorisiert. Wiewohl die Offiziere keinerlei Feindseligkeiten einleiten dürfen, muss angenommen werden, dass nichtmenschliche Intelligenzwesen feindlich gesinnt sein können. Absatz drei …‹« Whitbread wurde von der letzten Beschleunigungswarnung unterbrochen. Blaine entließ den Kadetten mit einem Nicken und lehnte sich in seiner Andruckliege zurück. Die Bestimmungen würden ohnehin wahrscheinlich keine große Hilfe sein. Sie betrafen im wesentlichen einen unvermuteten ersten Kontakt. In diesem Fall war die Admiralität jedoch bereits informiert und wusste recht gut, dass die Mac Arthur ein fremdes Raumschiff abzufangen versuchte.

Der Beschleunigungsdruck nahm langsam zu, langsam genug, dass die Besatzung sich daran gewöhnen konnte — erst in einer vollen Minute waren drei Grav erreicht. Blaine spürte, wie er mit dreifachem Normalgewicht in seine Beschleunigungsliege gepresst wurde. Die Männer, die im Schiff unterwegs sein mussten, würden sich vorsichtig, wie unter schweren Lasten bewegen. Bei dieser Beschleunigung war man noch nicht völlig hilflos, zumindest ein junger Mann nicht. Für Bury würde es unangenehm sein, aber solange er in seiner Grav-Liege blieb, konnte ihm nichts passieren.

Blaine selbst war in seinem Konturensitz sehr gut aufgehoben. Er besaß Kopf- und Armstützen mit Bedienungsinstrumenten in Fingerreichweite, ein zurückklappbares Pultbrett, eine Drehautomatik, so dass die gesamte Brücke mühelos übersehen werden konnte, und sogar einen eigenen Harnschlauch. Kriegsschiffe sind für lange Beschleunigungsperioden eingerichtet.

Blaine hantierte an den Bedienungstasten für den Computerschirm, um eine dreidimensionale Darstellung zu bekommen. Damit nicht jedes Besatzungsmitglied seinen Spielereien zusehen konnte, schaltete er auf Privatleitung. Um ihn herum gingen die Brückenoffiziere ihren Pflichten nach; Cargill und Steuermann Renner saßen in der Astrogationsabteilung, Kadett Staley neben dem Steuermann, um ihm, wenn nötig, zu assistieren, im wesentlichen aber, um den Umgang mit der Schiffssteuerung zu lernen.

Blaines Finger bewegten sich über die Tasten des Computerschirms.

Ein langer grüner Geschwindigkeitsvektor, ein kurzer lilafarbener, der in die entgegengesetzte Richtung zeigte — und dazwischen ein kleiner weißer Fleck. Gut. Das fremde Raumschiff kam geradewegs aus der Richtung des Splitters und bremste seinen Flug in das System Neukaledonia ab … es war wohl etwas größer als der Mond der Erde. Ein Objekt von Schiffsgröße wäre in diesem Maßstab ein unsichtbarer Punkt gewesen. Gut, dass Whitbread das nicht aufgefallen war. Es würde Gerüchte, erregtes Geflüster, ja bei den neuen Rekruten vielleicht Panik geben … Blaine verspürte selbst den metallischen Geschmack von Furcht. Mein Gott, das Ding war riesig!

»Aber sie müssen wohl ein so großes Schiff haben«, murmelte Rod in sich hinein.

Fünfunddreißig Lichtjahre im Normalraum! Es hatte nie eine menschliche Zivilisation gegeben, die mit einem Objekt dieser Größenordnung hätte umgehen können. Und wie stellte sich die Admiralität vor, ein solches Ding zu ›untersuchen‹? Oder gar, es ›abzufangen‹? Sollte er vielleicht mit seiner Infanterie darauf landen?

Was in Hannigans Hölle war ein ›Lichtsegel‹? »Kurs nach Brigit, Sir«, verkündete Navigator Renner.

Blaine riss sich von seinen Überlegungen los und berührte wieder die Schirmtasten.

Unterhalb einer Zahlentabelle erschien jetzt der Kurs des Schiffes in graphischer Darstellung. Mühsam sagte Rod »genehmigt« und wandte sich wieder dem Problem dieses unmöglich großen Objekts zu, das ihm sein Schirm gezeigt hatte. Plötzlich holte er seinen Taschencomputer hervor und begann hastig mit dem Lichtstift auf die Eingabefläche zu schreiben. Buchstaben und Zahlen erschienen, und er nickte …

Natürlich konnte Lichtdruck als Antrieb verwendet werden. Die Mac Arthur machte tatsächlich genau das — aus der Wasserstoff-Fusion entstanden Photonen, die als gewaltiger Lichtkegel ausgestoßen wurden. Mit einer reflektierenden Fläche konnte man auch Licht von einer äußeren Quelle für den Antrieb verwenden, mit doppeltem Wirkungsgrad. Natürlich sollte der Spiegel so groß wie möglich sein, und so leicht wie möglich, und im Idealfall sollte er alles Licht reflektieren, das einfiel.

Blaine grinste in sich hinein. Da hatte er Angst gehabt, einen manövrierfähigen Planeten mit seinem halb reparierten Kreuzer angreifen zu müssen! Natürlich hatte der Computer ein Objekt dieser Größe wie einen runden Himmelskörper dargestellt. In Wirklichkeit würde es sich vermutlich um ein Tausende Kilometer breites, verspiegeltes Stoffstück handeln, das mit verstellbaren Leinen an den Körper befestigt war, der das eigentliche Raumschiff darstellte.

Tatsächlich müsste mit einer Albedo von eins — Blaine rechnete hastig. Das Lichtsegel müsste eine Fläche von ungefähr acht Millionen Quadratkilometern aufweisen. Wenn es kreisförmig war, würde es einen Durchmesser von rund dreitausend Kilometern haben …

Seinen Schub gewann es aus dem Lichtdruck also … Blaine ließ sich vom Computer den Abbremswert des fremden Schiffes geben, verglich diese negative Beschleunigung mit dem gesamten reflektierten Licht, dividierte und … ah: Segel und Schiffskörper zusammen konnten eine Masse von höchstens 450 000 Kilogramm haben.

Das klang nicht mehr so gefährlich.

Genaugenommen klang es überhaupt nicht nach einem funktionstüchtigen Raumschiff, einem, das fünfunddreißig Lichtjahre im Normalraum überwinden konnte. Die fremde Besatzung musste bei so wenig Platz wahnsinnig werden — falls die Wesen nicht winzig waren, oder geringe Bewegungsfreiheit gern hatten, oder die letzten paar hundert Jahre in einer Art Ballon mit extrem dünnen Wänden verbracht hatten … nein. Man wusste einfach noch zu wenig, um irgendwelche Theorien aufzustellen. Andererseits gab es im Augenblick nichts Besseres zu tun. Rod strich nachdenklich über den Buckel an seiner Nase.

Er wollte eben den Schirm abschalten, als ihm etwas auffiel. Er stellte auf stärkere Vergrößerung ein und starrte das Ergebnis lange Zeit an. Dann fluchte er leise.

Das fremde Schiff fiel geradewegs auf die Sonne zu.


Die Mac Arthur bremste sich mit fast drei Grav direkt in die Umlaufbahn um Brigit ein; dann sank sie langsam hinunter in das schützende Langston-Feld des Stützpunkts auf dem kleinen Mond — eine schmale schwarze Nadel, die ein grellweißer Lichtfaden mit einem ungeheuren schwarzen Polster verband. Der Faden wurde immer kürzer. Hätte das Feld nicht die Schubenergie absorbiert, wären durch die Hitze riesige Krater in den Schneeballmond geschmolzen worden.

Die Besatzung der Auftankstation stürzte an ihre Aufgaben. Flüssiger Wasserstoff, elektrolytisch aus dem weichen Eis Brigits gewonnen und nach der Verflüssigung destilliert, begann in die Tanks der Mac Arthur zu strömen. Zur selben Zeit trieb Sinclair seine Leute nach draußen. Der kurze Landaufenthalt und die geringe Schwere mussten ausgenutzt werden. Überall krochen geschäftige Gestalten über den Rumpf.

Bootsmänner brüllten mit Lagerverwaltern herum, und jedes brauchbare Ersatzteil auf Brigit wurde mit Beschlag belegt.

»Commander Frenzi bittet, an Bord kommen zu dürfen, Sir«, meldete der wachhabende Offizier.

Rod verzog das Gesicht. »Schicken Sie ihn herauf.« Er wandte sich wieder an Sally Fowler, die schüchtern in dem Konturensitz saß, der für den diensthabenden Kadetten bestimmt war. »Verstehen Sie denn nicht, wir werden die ganze Zeit stark beschleunigen müssen, um den Abfangpunkt rechtzeitig zu erreichen. Wie man sich bei hohen Ge fühlt, wissen Sie ja jetzt! Außerdem ist der Auftrag nicht ungefährlich!«

»Pah. Sie haben Befehl bekommen, mich nach Neuschottland zu bringen«, schmollte sie. »Es wurde nichts davon gesagt, dass Sie mich auf einem schmutzigen Schneeball aussetzen sollten.«

»Das war nur eine ganz allgemein gehaltene Order. Hätte Cziller gewusst, dass uns möglicherweise ein Kampf bevorsteht, dann hätte er Sie nie an Bord gelassen. Die Entscheidung liegt jetzt bei mir als Kapitän dieses Schiffes, und ich habe nicht die Absicht, Senator Fowlers Nichte zu einer möglichen Kampfhandlung mitzunehmen.«

»Oh.« Sie überlegte einen Augenblick lang. Die direkte Methode hatte nicht funktioniert.

»Rod. Bitte — hören Sie mich an. Für Sie ist das doch ein fantastisches Abenteuer, nicht wahr? Was glauben Sie, was ich dabei empfinde? Ob es nun wirklich fremde Wesen sind oder Menschen von einer vergessenen Kolonie, die das Imperium wiederfinden wollen — es geht um mein Fachgebiet. Dafür wurde ich ausgebildet, und ich bin der einzige Anthropologe an Bord. Sie brauchen mich.«

»Nicht unbedingt. Es wäre zu gefährlich.«

»Sie erlauben doch auch Mr. Bury, an Bord zu bleiben.«

»Nicht erlauben Ich habe ausdrücklichen Befehl von der Admiralität, ihn nicht vom Schiff zu lassen. Was ihn betrifft, habe ich keine Wahl, aber bei Ihnen und Ihren Dienstboten …«

»Wenn Sie sich wegen Adam und Annie Sorgen machen, dann lassen wir sie hier. Sie würden die Beschleunigung ohnedies nicht vertragen. Aber ich vertrage alles, was Sie vertragen, Kapitän Lord Roderick Blaine! Ich hab’ Sie nach einem Hyperraumsprung gesehen, benommen vor sich hinstarrend, verwirrt, unentschlossen — und ich war imstande, meine Kabine zu verlassen und hier auf die Brücke zu kommen! Erzählen Sie mir also nicht, wie hilflos ich wäre! Werden Sie mich nun mitkommen lassen, oder …«

»Oder was?«

»Nichts, natürlich. Ich weiß, dass ich Sie nicht zwingen kann. Bitte, Rod?« Sie zog alle Register, versuchte sogar einen flehenden Augenaufschlag, und das war des Guten zuviel — Rod brach in herzhaftes Gelächter aus.

»Commander Frenzi, Sir«, meldete der Infanterist, der am Brückenzugang Wache hielt.

»Kommen Sie rein, Romeo, kommen Sie rein«, sagte Rod herzlicher, als ihm zumute war. Frenzi war fünfunddreißig, gut zehn Jahre älter als Blaine, und Rod hatte drei Monate unter ihm gedient, die elendste Zeit seiner bisherigen Laufbahn. Der Mann war für den Verwaltungsdienst bestens geeignet, aber ein lausiger Schiffsoffizier.

Frenzi spähte mit vorgerecktem Unterkiefer in den Brückenraum. »Ah, Blaine. Wo ist Kapitän Cziller?«

»Auf New Chicago«, sagte Rod freundlich. »Ich bin jetzt Kommandant der Mac Arthur

Er ließ seinen Sitz herumschwenken, damit Frenzi die vier Streifen an seinen Ärmeln sehen konnte.

Frenzis Gesicht wurde zu einer Maske. Seine Lippen verzogen sich. »Meinen Glückwunsch.« Pause. »Sir.«

»Danke, Romeo. Ich muss mich selber erst daran gewöhnen.«

»Nun, dann werde ich jetzt rausgehen und den Männern sagen, sie brauchten sich mit dem Auftanken nicht beeilen, ja?« meinte Frenzi. Er wandte sich zum Gehen. »Was zum Teufel soll das heißen, nicht beeilen? Ich habe Priorität Doppel-A-Eins. Wollen Sie die Meldung sehen?«

»Ich hab’ sie gesehen. Meine Station bekam eine Kopie übermittelt, Blaine — äh, Kapitän. Aber aus der Nachricht geht deutlich hervor, dass Admiral Cranston der Ansicht ist, Cziller sei noch der Kommandant der Mac Arthur. Ich möchte zu bedenken geben, Sir, dass er wohl kaum diesem Schiff den Auftrag erteilt hätte, ein vermutlich fremdes Raumschiff abzufangen, hätte er gewusst, dass sein Kommandant ein — ein junger Offizier ist, dessen erstes Kommando dies ist.«

Bevor Blaine antworten konnte, sagte Sally: »Ich habe die Nachricht gesehen, Commander, und sie war an die Mac Arthur, gerichtet, nicht an Cziller. Die Auftankpriorität gilt dem Schiff …«

Frenzi musterte sie kalt. »Die Lermontov wird für diesen Auftrag ausreichen, denke ich.

Entschuldigen Sie mich, Kapitän, ich muss in die Station zurück.« Er warf Sally noch einen gehässigen Blick zu. »Ich wusste gar nicht, dass wir Frauen in Zivil als Kadetten anheuern.«

»Zufällig bin ich Senator Fowlers Nichte und auf Anweisung der Admiralität an Bord dieses Schiffs, Commander«, erklärte sie eisig. »Ich bin erstaunt über Ihren Mangel an Manieren. In meiner Familie ist man eine solche Behandlung nicht gewöhnt, und ich bin sicher, dass meine Bekannten bei Hof schockiert sein werden über eine derartige Taktlosigkeit von Seiten eines kaiserlichen Offiziers.«

Frenzi lief rot an und blickte nervös um sich. »Ich bitte um Entschuldigung, Mylady.

Seien Sie versichert, dass mir jede Absicht einer Kränkung fern lag … ich war einfach nicht gefasst, wir bekommen nicht oft Damen an Bord von Kriegsschiffen zu sehen, gewiss nicht so junge und hübsche Damen wie Sie, und bitte tragen Sie mir nichts nach …« Er stotterte immer noch Entschuldigungen, als er sich von der Brücke zurückzog. »Und warum haben Sie ihm nicht die Meinung sagen können?« erkundigte sich Sally.

Rod grinste sie an, sprang dann hastig auf. »Er wird Cranston verständigen, dass ich hier das Kommando habe! Uns bleiben — mal sehen, ungefähr eine Stunde, bis die Nachricht Neuschottland erreicht, noch eine bis die Antwort hier sein kann.« Rod schlug auf die Tasten der Sprechanlage. »An alle Mann. Hier spricht der Kapitän. Start in einhundert fünfundzwanzig Minuten. Start in einhundertfünfundzwanzig Minuten. Wer nicht rechtzeitig an Bord ist, wird zurückgelassen.«

»So ist’s richtig«, rief Sally begeistert. »Soll er doch seine Meldungen abschicken.«

Während Blaine sich umdrehte, um seine Besatzung zur Eile anzutreiben, fand Sally es am klügsten, sich unsichtbar zu machen, und verschwand in ihre Kabine.

Rod hatte noch einen Sprechfunkanruf zu erledigen. »Commander Sinclair!

Verständigen Sie mich sofort, wenn es irgendwelche Verzögerungen bei Ihnen draußen gibt.« Wenn Frenzi ihm mit Verschleppungstaktiken kam, konnte Blaine, wenn er es darauf anlegte, ihn vielleicht erschießen lassen. Versuchen würde er es sicher … vor langer Zeit hatte Rod tagtäglich davon geträumt, Frenzi erschießen lassen zu können.

Meldungen von verschiedenen Trupps kamen herein. Cargill kehrte mit einem Bündel Überstellungsbefehlen und befriedigter Miene auf die Brücke zurück. Die Bootsmänner der Mac Arthur hatten sich, Kopien der Prioritätsbestätigung in der Hand, die besten Männer auf Brigit ausgesucht.

Neue und alte Besatzungsmitglieder hasteten durch das Schiff, rissen beschädigte Teile heraus und bauten eilig Ersatzteile aus den Lagern von Brigit ein, überprüften die Funktion und machten sich an die nächste Aufgabe. Weitere Ersatzteile wurden nur an Bord gebracht und verstaut, um später anstelle von Sinclairs zweifelhaft aussehenden Notlösungen eingebaut zu werden … wenn überhaupt sich noch jemand zurechtfand damit. Es war schwer genug, herauszubekommen, was jeweils in diesen geheimnisvollen schwarzen Kästchen drin war. Rod erspähte einen Mikrowellenheizer und ließ ihn in die Offiziersmesse bringen; das würde Cargill besänftigen.

Als das Auftanken beinahe abgeschlossen war, legte Rod seinen Druckanzug an und ging nach draußen. Nicht, dass seine Aufsicht nötig gewesen wäre, aber es war gut, wenn die Besatzung merkte, dass der ›Alte‹ sich selbst um alles kümmerte. Sobald er unter offenem Himmel war, hielt Rod Ausschau nach dem fremden Schiff.

Das Angesicht Gottes blickte ihn aus dem Weltraum an.

Der Kohlensack war ein Staub- und Gasnebel, nicht besonders groß — vierundzwanzig bis dreißig Lichtjahre im Durchmesser —, aber ziemlich dicht, und Neukaledonia stand ihm nahe genug, dass er hier ein Viertel des Himmels verdunkelte. Die Erde und der Zentralplanet des Imperiums, Sparta, beziehungsweise ihre Sonnen, lagen jenseits davon und waren von hier nie zu sehen. Das Dunkel des Nebels verbarg einen Großteil des Imperiums, doch es lieferte einen grandiosen, samtenen Hintergrund für zwei nahe beisammenstehende, helle Sterne.

Selbst ohne diesen Hintergrund wäre Murchesons Auge leicht als der hellste Stern dieses Himmels zu erkennen gewesen — eine große, rote Riesensonne, die fünfunddreißig Lichtjahre entfernt ihre Bahn zog. Der weiße Fleck an ihrem Rand war ein gelber Zwergstern — der kleinere, weniger helle und interessante dieses Doppelsternsystems: der Splitter. Der Kohlensack hatte von hier gesehen den Umriss eines Mannes mit Kapuze, Kopf und Schultern — und der rote Superriese war sein wachsames, missmutiges Auge.

Das Angesicht Gottes. Im ganzen Imperium war dieser Ausblick berühmt, dieses außergewöhnliche Bild des Kohlensacks von Neukaledonia aus. Auf den Fotos war es nicht mehr als eben der Kohlensack. Wenn man aber selbst in der Kälte des Raums stand und hinauf schaute, war es etwas anderes.

Und vom Splitter im Auge Gottes kam etwas auf ihn zu, das er nicht sehen konnte.

6 Das Lichtsegel

Mit nur einem Grav schwenkte die Mac Arthur auf den exakten Abfangkurs ein, aber es war trotzdem nicht angenehm. Rod wurde von elastischen Gurten in seinem Sitz festgehalten, denn die Schwere änderte sich ständig, wenn auch nicht stark. Er nahm an, dass sich bald alle nach diesen letzten Minuten normaler Schwere sehnen würden, auch wenn jetzt bei manchen der Magen protestieren mochte.

Kevin Renner war Maat auf einem interstellaren Handelsschiff gewesen, bevor er der Steuermann der Mac Arthur geworden war. Er war ein hagerer Mann mit schmalem Gesicht, zehn Jahre älter als Blaine. Als Rod mit seinem Beschleunigungssitz hinter ihn rollte, verglich Renner eben verschiedene Kurven auf einem Bildschirm. Sein selbstzufriedenes Lächeln war für einen Flottenoffizier beinahe ungehörig.

»Haben Sie unseren Kurs, Leutnant Renner?« »Gewiss, Sir«, antwortete Kevin Renner genüsslich. »Direkt in die Sonne mit vier Ge!«

Blaine verspürte das unwiderstehliche Bedürfnis, diesem Grinsen auf den Grund zu kommen. »Also, dann mal los.«

Im ganzen Schiff ertönten Warnsignale, und dann beschleunigte die Mac Arthur.

Mannschaft und Passagiere spürten, wie ihr zunehmendes Gewicht sie immer tiefer in die Konturensitze, Andruckliegen und Hydraulikbetten presste, und noch mehrere Tage hatte mancher das Gefühl, viel zuviel zu wiegen. »Sie haben einen Witz gemacht, ja?« fragte Blaine. Der Navigator blickte ihn prüfend an. »Sie wussten, dass wir es mit einem Lichtsegelantrieb zu tun haben, Sir?« »Natürlich.« »Dann sehen Sie mal her.« Renners flinke Finger ließen eine grüne Kurve auf dem Bildschirm entstehen, eine steil nach rechts ansteigende Parabel. »Das pro Quadratzentimeter Segelfläche einfallende Licht nimmt proportional zum Quadrat der Entfernung von der Sonne ab. Die Beschleunigung, negativ oder positiv, hängt direkt von der vom Segel reflektierten Lichtmenge ab.«

»Selbstverständlich, Mr. Renner. Kommen Sie zur Sache.«

Renner ließ eine zweite Parabel aufleuchten, eine blaue, die der ersten jedoch ziemlich ähnlich war. »Auch der Sonnenwind kann ein Lichtsegel bewegen. Der Schub variiert nach einer ähnlichen Funktion. Der wichtige Unterschied besteht darin, dass der Sonnenwind sich aus Kernpartikeln zusammensetzt. Sie bleiben am Segel haften, wo sie auftreffen. Ihr Impuls wird also direkt übertragen — und der Impulsvektor ist immer radial von der Sonne weg gerichtet.«

»Man kann nicht dagegen ankreuzen«, erkannte Blaine unvermittelt. »Gegen das Licht kann man kreuzen, wenn man das Segel schräg stellt, aber der Sonnenwind treibt einen immer gerade von der Sonne weg.«

»Richtig. Also, Kapitän, nehmen Sie nun mal an, dass Sie mit sieben Prozent der Lichtgeschwindigkeit in ein System hineinschießen, was Ihnen der Himmel ersparen möge — und Sie wollen halt machen. Was würden Sie tun?«

»Soviel Masse loswerden wie möglich«, überlegte Blaine. »Hmm. Ich sehe nicht ein, warum das ein Problem sein soll. Sie müssen ja mit derselben Methode losgeflogen sein.«

»Das glaube ich nicht. Dazu sind sie zu schnell. Aber lassen wir das für den Augenblick.

Was zählt, ist, dass sie zu schnell sind, um stoppen zu können, bevor sie nicht sehr, sehr nahe an die Sonne herangekommen sind. Sie stürzen sich tatsächlich geradewegs in die Sonne. Vermutlich werden sie zu kreuzen versuchen, wenn sie stark genug abgebremst worden sind … vorausgesetzt, die Sonde ist bis dahin nichtgeschmolzen, oder die Leinen sind nicht gerissen oder das Segel ist nicht zerrissen. Aber bei dieser Geschwindigkeit bleibt ihnen keine Wahl, als sich sehr nahe heranzuwagen.«

»Hm«, sagte Blaine.

»Ich brauche wohl nicht hinzuzufügen«, bemerkte Renner, »dass wir, wenn wir unseren Kursvektor angleichen, ebenfalls gerade auf die Sonne zufliegen …«

»Mit sieben Prozent der Lichtgeschwindigkeit?« »Mit sechs. Bis dahin ist die fremde Sonde etwas langsamer geworden. Wir werden hundertfünfundzwanzig Stunden bei zumeist vier Ge brauchen, erst gegen Ende brauchen wir etwas weniger zu beschleunigen.«

»Das wird für alle verdammt unangenehm werden«, sagte Blaine. Unvermittelt fragte er sich — jetzt, da es zu spät war —, ob Sally Fowler eigentlich von Bord gegangen war.

»Insbesondere für die Passagiere. Können Sie mir nicht einen angenehmeren Kurs geben?«

»Ja, Sir«, sagte Renner sofort. »Ich könnte in einhundertsiebzig Stunden an dem Ding längsseits gehen, ohne dass wir je zweieinhalb Ge überschreiten — und dabei würden wir auch etwas Treibstoff sparen, weil die Sonde dann länger Zeit hat, langsamer zu werden. Wenn wir den augenblicklichen Kurs beibehalten, landen wir mit trockenen Tanks auf Neuirland, wenn wir die fremde Sonde in Schlepptau nehmen wollen.«

»Mit trockenen Tanks. Aber Sie haben diesen Kurs vorgezogen.« Rod begann den Steuermann und sein ewiges Grinsen, das anzudeuten schien, dass der Kapitän etwas Offensichtliches und Wichtiges übersah, von Herzen unsympathisch zu finden.

»Erklären Sie mir, warum«, sagte er.

»Mir fiel ein, dass diese Fremden feindselig gesinnt sein könnten.«

»Ja. Und?«

»Wenn wir längsseits gehen und sie irgendwie unsere Maschinen zerstören …«

»Dann würden wir mit sechs Prozent der Lichtgeschwindigkeit in die Sonne fallen.

Richtig. Sie wollen also soweit als möglich von Cal entfernt den Kurs angleichen, damit uns in einem solchen Fall mehr Zeit für Gegenmaßnahmen bliebe.« »Ja, Sir, genau.«

»Verstehe. Sie amüsieren sich anscheinend gut bei dieser Sache, nicht wahr, Mr.

Renner?«

»Ich hätte sie mir um keinen Preis entgehen lassen wollen, Sir. Und Sie?«

»Machen Sie weiter, Mr. Renner.« Blaine ließ seinen Beschleunigungssitz vor einen anderen Computerschirm rollen und begann, den Kurs des Navigators zu überprüfen.

Schließlich schlug er vor, ungefähr eine Stunde lang auf ein Ge herunterzugehen, damit sich alle vor dem Zusammentreffen mit dem fremden Objekt noch etwas erholen könnten. Renner stimmte mit geradezu kindischer Begeisterung zu und machte sich an die notwendigen Korrekturen.

»Ich habe gerne Freunde an Bord meines Schiffes«, pflegte Kapitän Cziller seinen Kadetten zu erklären, »aber ich würde alle zusammen gegen einen tüchtigen Steuermann eintauschen.« Renner war tüchtig. Renner war aber auch ein Wichtigtuer.

Rod war es zufrieden; er wusste, er würde jeden noch so nervenzermürbenden Wichtigtuer in Kauf nehmen, wenn er nur tüchtig war.


Bei vier Grav ging niemand mehr herum, niemand hob auch nur ein Schräubchen. Die Ersatzteile blieben im Laderaum, und die Mac Arthur musste mit Sinclairs geheimnisvollen Provisorien zurechtkommen. Die meisten Männer der Besatzung erledigten ihre Aufgaben von ihren Druckliegen oder fahrbaren Sitzen aus, und wer gar nichts zu tun hatte, war darüber heilfroh.

In den Mannschaftsquartieren wurden komplizierte Wortspiele veranstaltet, Geschichten erzählt und die wildesten Vermutungen über das fremde Raumschiff angestellt. Gut die Hälfte der Bildschirme an Bord zeigten dasselbe: eine kleine Sonnenscheibe und dahinter Murchesons Auge vor der Schwärze des Kohlensacks.

Die Kontrollinstrumente für Sallys Kabine verrieten, dass ziemlich viel Sauerstoff verbraucht wurde. Rod murmelte erbittert düstere Worte in sich hinein. Beinahe hätte er sie angerufen, verschob es aber doch lieber und stellte statt dessen die Verbindung mit Burys Kabine her.

Bury lag im Andruckbad: eine hochelastische Mylarhaut verhinderte, dass ihn die hydraulische Flüssigkeit benetzte. Er war so weit eingesunken, dass nur Hände und Gesicht herausschauten. Sein Gesicht wirkte alt — es verriet fast sein wahres Alter.

»Kapitän, Sie haben entschieden, mich nicht auf Brigit abzusetzen. Statt dessen setzen Sie einen Zivilisten der Gefahr möglicher Kampfhandlungen aus. Darf ich fragen, warum?«

»Natürlich, Mr. Bury. Ich nahm an, dass es Ihnen wenig angenehm sein würde, auf einer Eiskugel festzusitzen, ohne Aussicht, bald ein Schiff zu bekommen. Vielleicht habe ich mich geirrt.«

Bury lächelte — versuchte es jedenfalls. Jeder an Bord sah doppelt so alt aus, wie er war, wenn vier Grav an der Gesichtshaut zerrten. Bury schien sein Lächeln anzustrengen wie Gewichtheben. »Nein, Kapitän, Sie haben sich nicht geirrt. Ich habe Ihre Order in der Offiziersmesse gelesen. Wir sind also unterwegs zu einem Rendezvous mit einem nichtmenschlichen Raumschiff.«

»Es sieht ganz danach aus.«

»Vielleicht haben diese Wesen interessante Handelsobjekte. Wenn sie von einer nicht erdähnlichen Welt stammen, wäre es um so interessanter. Man kann immer hoffen.

Kapitän, würden Sie mich über die Ereignisse auf dem laufenden halten?«

»Ich werde vermutlich nicht die Zeit dazu finden«, sagte Blaine, eine der am wenigsten unhöflichen Antworten wählend, die ihm einfielen.

»Ja natürlich, ich meinte ja nicht Sie persönlich. Ich möchte nur Zugang zu den Informationen haben. In meinem Alter wage ich mich nicht aus diesem Gummibad, solange wir mit vier Ge unterwegs sind. Wie lange wird das noch dauern?«

»Einhundertfünfundzwanzig Stunden. Das heißt, jetzt nur mehr hundertvierundzwanzig.«

»Danke, Kapitän.« Burys Bild erlosch auf dem Schirm.

Rod rieb sich nachdenklich über den Nasenhöcker. Wusste Bury, als was er an Bord der Mac Arthur war? Nun, vermutlich hat das keine Bedeutung, dachte er und rief in Sallys Kabine an.

Sie sah aus, als hätte sie eine Woche nicht mehr geschlafen und Jahre nicht mehr gelächelt. Blaine sagte: »Hallo, Sally. Tut’s Ihnen jetzt leid, dass Sie mitgekommen sind?«

»Ich hab schon gesagt, ich halte alles aus, was Sie aushallen können«, antwortete Sally ruhig. Sie packte die Armstützen ihres Sitzes und stand langsam auf. Dann ließ sie los und breitete die Arme aus, um zu beweisen, was sie aushielt.

»Vorsichtig«, sagte Blaine und bemühte sich, ruhig zu sprechen. »Keine abrupten Bewegungen. Halten Sie die Knie gestreckt. Sie können sich das Rückgrat brechen, wenn Sie bloß versuchen, sich niederzusetzen. Bleiben Sie gerade aufgerichtet, aber greifen Sie hinter sich. Erst wenn Sie beide Hände auf den Armstützen haben, dürfen Sie versuchen, sich herunterzubeugen …«

Sie glaubte nicht, dass es gefährlich war, bis sie begann, sich hinzusetzen. Ihre Armmuskeln verkrampften sich plötzlich, in ihren Augen flackerte Erschrecken, und sie setzte sich viel zu schnell und heftig, als hätte sie eine gewaltige Kraft heruntergesaugt.

»Sind Sie verletzt?«

»Nein«, sagte sie. »Nur mein Stolz.«

»Dann bleiben Sie in diesem Sitz, verdammt noch mal! Stehe ich vielleicht auf? Nein!

Und ich habe auch nicht die geringste Absicht!« »Gut, gut.« Sie schüttelte langsam den Kopf. Offensichtlich war sie doch etwas benommen von dem Stoß.

»Haben Sie Ihre Diener von Bord schicken können?« »Ich musste sie überlisten. Sie wollten nicht ohne mein Gepäck von Bord.« Sie lachte, und es war das Lachen einer alten Frau. »Ich habe augenblicklich alles an, was ich besitze, bis wir Neukaledonia erreichen.«

»Überlistet, ja? Genauso, wie Sie mich überlistet haben! Ich hätte Sie von Kelley raus werfen lassen sollen.« Rods Stimme hatte einen bitteren Klang. Er wusste, dass er doppelt so alt aussah wie er war — ein Krüppel in einem Rollstuhl. »Aber was hilft’s, jetzt sind Sie nun mal da. Jetzt kann ich Sie nicht mehr absetzen.«

»Aber vielleicht kann ich von Nutzen sein. Ich bin Anthropologin.« Sie verzog das Gesicht bei dem Gedanken, noch einmal aufstehen zu müssen. »Kann ich Sie über die Sprechanlage erreichen?«

»Sie bekommen den wachhabenden Kadetten. Sagen Sie es ihm, wenn Sie mich wirklich sprechen müssen. Aber, Sally, wir sind ein Kriegsschiff, und diese Fremden sind vielleicht nicht friedlich. Denken Sie um Himmels willen daran — meine Wachoffiziere haben mitten in einem Gefecht keine Zeit für wissenschaftliche Debatten!«

»Das weiß ich. Sie könnten mir schon ein bisschen Vernunft zubilligen.« Sie versuchte zu lachen. »Selbst wenn mir nichts Besseres einfällt, als bei vier Ge aufstehen zu wollen.«

»Ja. Tun Sie mir noch einen Gefallen. Legen Sie sich in Ihr Druckbad.«

»Muss ich mich dazu ausziehen?«

Blaine errötete nicht, weil einfach nicht genügend Blut seinen Kopf erreichte. »Das wäre gut, vor allem, wenn Sie irgendwo Knöpfe oder Schnallen haben. Schalten Sie die Bildübertragung ab.«

»Gut.«

»Und seien Sie vorsichtig. Ich könnte Ihnen einen verheirateten Maat zu Hilfe schicken …« »Nein, danke.« »Dann warten Sie noch damit. Wir werden einige Intervalle mit geringerer Beschleunigung fahren. Versuchen Sie nicht, bei hohen Ge allein aus diesem Sitz zu kommen.«

Dazu war ihr augenscheinlich jede Lust vergangen. Ein harter Plumpser reichte.


»Die Lermontov ruft uns schon wieder«, verkündete Whitbread.

»Vergessen Sie’s. Wir melden uns nicht.«

»Aye, aye, Sir. Nicht melden.«

Rod wusste recht gut, was man auf dem anderen Kreuzer wollte. Die Lermontov wollte den ersten Kontakt mit dem fremden Schiff für sich buchen — aber das Schwesterschiff der Mac Arthur konnte erst in Reichweite der Fremden kommen, wenn sie schon viel zu nahe an der Sonne waren. Es war besser, das Treffen weiter draußen, mit mehr Sicherheitsspielraum, zu planen.

Zumindest redete Rod sich das ein. Auf Whitbread und seine Nachrichtenoffiziere konnte er sich verlassen; die Funkrufe der Lermontov würden nicht im Logbuch verzeichnet sein.

Dreieinhalb Tage. Alle vier Stunden zwei herrliche Minuten von nur anderthalb Ge zum Wachwechsel, um schnell irgendwelche vergessenen Gegenstände zu holen, um einmal die Lage verändern zu können; dann ertönten wieder die Warnsignale, die Andruckmessgeräte schlugen aus, und wieder wurde alles viel zu schwer.

Anfangs hatte die Mac Arthur einen Kurs eingeschlagen, der um sechzig Grad von der Richtung auf Cal abwich. Sie musste erst auf den des fremden Schiffes einschwenken.

Als es soweit war, drehte die Mac Arthur ihre Nase zum hellsten Stern am Himmel herum.

Cal begann größer zu werden. Auch die Farbe der Sonne änderte sich, aber nur unmerklich. Die geringe Blauverschiebung war mit freiem Auge nicht wahrzunehmen.

Auf den Bildschirmen war nur zu erkennen, wie aus dem hellsten Stern eine Sonnenscheibe wurde, die mit jeder Stunde wuchs.

Sie wurde nicht heller, weil die Bildschirme die Helligkeit automatisch konstant hielten, aber sie wurde beängstigend schnell größer, und sie lag genau voraus. Hinter ihnen stand eine zweite helle Scheibe von derselben Farbe, dem Weiß eines Sterns vom Spektraltyp F8. Auch sie wurde stündlich größer. Die Mac Arthur schien zwischen zwei aufeinander zustürzenden Sonnen gefangen zu sein. Am zweiten Tag brachte Staley einen neuen Kadetten mit auf die Brücke. Beide saßen in fahrbaren Beschleunigungsliegen. Abgesehen von einem kurzen Gespräch auf Brigit hatte Rod den Neuen nicht zu sehen bekommen. Er hieß Gavin Potter — ein sechzehnjähriger Bursche von Neuschottland. Potter war für sein Alter ziemlich groß; er hielt sich etwas gebückt, als fürchte er, zu sehr aufzufallen.

Blaine dachte erst, dass Potter nur im Schiff herumgeführt werde — eine gute Idee, denn wenn die Fremden sich feindselig zeigten, würde der Junge sich in der Mac Arthur so sicher bewegen müssen wie zu Hause, und das unter Umständen im Finstern und bei schwankender Schwere.

Staley hatte aber offensichtlich etwas anderes im Sinn. Blaine gewahrte, dass die beiden seine Aufmerksamkeit zu erlangen versuchten. »Ja, Mr. Staley?«

»Das ist Kadett Gavin Potter, Sir«, sagte Staley. »Er hat mir etwas erzählt, das Sie meiner Ansicht nach erfahren sollten.«

»Schön, schießen Sie los.«

»Da gab’s eine Kirche in unserer Straße, Sir. In einer Kleinstadt auf Neuschottland.«

Potter redete leise und bedächtig und gab sehr auf seine Aussprache acht, so dass man bei ihm kaum mehr eine Spur jenes schottischen Akzents wahrnahm, den Sinclair so pflegte.

»Eine Kirche«, sagte Blaine aufmunternd. »Keine orthodoxe Kirche, würde ich annehmen …« »Nein, Sir. Eine Kirche von Ihm. Es gibt nicht allzu viele Anhänger. Ein Freund und ich sind mal so zum Spaß reingeschlichen.«

»Hat man Sie erwischt?«

»Nein. Sir, ich weiß, dass ich das nicht richtig erzähle. Es ist so — innen war eine Vergrößerung eines alten Holos von Murchesons Auge vor dem Kohlensack. Das Angesicht Gottes, wie auf den Postkarten. Nur — nur auf diesem Bild sah es anders aus. Das Auge war viel heller als jetzt, und blaugrün, nicht rot. Bloß am Rand war ein roter Punkt.«

»Es hätte ein Kunstwerk sein können«, meinte Blaine. Er holte seinen Taschencomputer heraus, schrieb ›Kirche von Ihm‹ auf den Schirm und drückte die Informationstaste.

Das kleine Gerät nahm Verbindung mit der Computerbibliothek des Schiffs auf, und sofort begann ein Text über den kleinen Schirm zu laufen. »Ich sehe, die Kirche von Ihm glaubt, dass der Kohlensack mit jenem einen roten Auge tatsächlich das Angesicht Gottes ist. Könnte man nicht das Holo etwas retuschiert haben, um es eindrucksvoller zu machen?« Rod gab sich immer noch interessiert — es war früh genug, über Verschwendung seiner Zeit zu reden, wenn die Kadetten mit ihrer Geschichte fertig waren. Wenn sie tatsächlich seine Zeit verschwendeten …

»Aber …«, sagte Potter.

»Sir …«, sagte Staley und lehnte sich in seinem Sitz gefährlich weit vor.

»Nicht beide zugleich, bitte. Mr. Staley?«

»Ich habe nicht bloß mit Potter geredet, Sir. Ich habe auch Commander Sinclair gefragt.

Er sagt, sein Großvater hätte ihm erzählt, dass der Splitter einmal heller gewesen sei als Murchesons Auge, und von hellgrüner Farbe. Und so wie Gavin dieses Holo beschreibt — naja, Sir, die Sterne strahlen nicht alle in gleicher Farbe. Deshalb …«

»Um so mehr müsste man annehmen, dass das Holo retuschiert wurde. Aber es ist schon seltsam, mit diesem fremden Schiff, das vom Splitter kommt …« »Licht«, sagte Potter entschieden.

»Das Lichtsegel!« rief Rod in plötzlichem Verstehen. »Ein guter Gedanke.« Die gesamte Brückenbesatzung starrte den Kapitän an. »Renner! Sie haben doch gesagt, der Fremde ist schneller als er sein dürfte?«

»Ja, Sir«, antwortete Renner vom Navigationsplatz auf der anderen Seite des Brückenraums. »Wenn das Schiff von einer bewohnbaren Welt gestartet wurde, die den Splitter umkreist.«

»Könnte man eine Batterie von Laserkanonen verwendet haben?«

»Sicher, warum nicht?« Renner ließ seinen Sitz heranrollen. »Man könnte sogar mit einer kleinen Batterie beginnen, und dann immer mehr Laserkanonen dazunehmen, je weiter das Schiff sich entfernt. Das wäre jedenfalls sehr vorteilhaft. Wenn eine Kanone ausfällt, hat man sie zu Hause im eigenen System, wo sie bequem repariert werden kann.«

»Als ob man seine Maschinen zu Hause lassen«, rief Potter, »aber trotzdem von ihnen angetrieben werden könnte.«

»Nun, beim Wirkungsgrad können sich dann schon Probleme ergeben. Es kommt darauf an, wie gebündelt der Strahl bleibt«, meinte Renner. »Schade, dass man auf diese Weise nicht auch bremsen kann. Was meinen Sie, wäre es …«

Rod überließ es den beiden Kadetten, dem Navigator von den Veränderungen des Splitters zu berichten. Er selbst hatte jetzt andere Sorgen. Wie würden sich die Fremden verhalten?


Zwanzig Stunden vor dem Rendezvoustermin kam Renner zu Blaines Platz und bat, die Bildschirme des Kapitäns benutzen zu dürfen. Es fiel ihm offensichtlich schwer, ohne einen Computerschirm zu sprechen. Ein Mann wie er war stumm, wenn ihm nur seine Stimme zur Verfügung stand.

»Sehen Sie, Kapitän«, sagte er und ließ eine Sternkarte der Region auf dem Schirm erscheinen. »Das fremde Schiff kommt von hier. Um es anzutreiben, wurde eine Laserkanone, oder ein Kontingent von Laserkanonen — wahrscheinlich ein ganzer Haufen, in einem Asteroidengürtel, mit Spiegeln zum Ausrichten — etwa vierundfünfzig Jahre lang in Gang gehalten, um Schub für das Lichtsegel zu liefern. Strahl und Schiff kamen beide genau aus der Richtung des Splitters.«

»Aber es müsste doch Aufzeichnungen geben«, meinte Blaine. »Irgend jemand muss doch bemerkt haben, dass der Splitter kohärentes Licht aussendet.«

Renner zuckte die Achseln. »Wie zuverlässig sind die Aufzeichnungen von Neuschottland?«

»Sehen wir nach.« In wenigen Augenblicken hatten sie festgestellt, dass die astronomischen Beobachtungen von Neuschottland suspekt waren und dass aus diesem Grund im Datenspeicher der Mac Arthur keine solchen Aufzeichnungen enthalten waren. »Na, kann man nichts machen. Nehmen wir einmal an, Sie haben recht.«

»Ja, aber sehen Sie, Kapitän, eben diese Methode hat einen Haken«, wandte Renner ein. »Es ist nämlich durchaus möglich, im interstellaren Raum zu wenden, auch ohne Antrieb an Bord. Die Fremden hätten bloß …«

Eine neue Kurskurve strebte vom Splitter weg, wich jedoch um einige Winkelgrad von der ersten ab und war stark gekrümmt. »Wieder lassen sie sich den größten Teil der Strecke treiben. Hier an diesem Punkt — wo sie längst an Cal vorüber gewesen wären — müsste das Schiff auf zehn Millionen Volt aufgeladen werden. Das magnetische Feld der Galaxis dreht es dann um hundertachtzig Grad, so dass man von hinten auf das System Neukaledonia zukommt. Inzwischen hat derjenige, der den Strahl aufrechterhalten hat, seine Laser bereits seit hundertfünfzig Jahren abgeschaltet. Jetzt schaltet er sie aber wieder ein. Die Sonde kann mit ihrem Lichtsegel nun den Strahl zum Abbremsen verwenden, Mr. Renner.« »Sind Sie sicher, dass dieser magnetische Effekt funktionieren würde?«

»Das ist Mittelschulphysik! Und die interstellaren Magnetfelder sind sehr genau vermessen, Kapitän.«

»Nun, warum haben sie’s dann nicht so gemacht?«

»Das weiß ich eben nicht«, rief Renner erbittert. »Vielleicht haben sie nur nicht daran gedacht. Vielleicht hatten sie Angst, die Laser würden nicht so lange halten. Vielleicht sind es lebensmüde Narren, oder sie trauen den Daheimgebliebenen nicht. Kapitän, wir wissen einfach zu wenig von ihnen.«

»Das ist mir durchaus klar, Renner. Warum regen Sie sich so darüber auf? Wenn wir Glück haben, dann können wir sie selber fragen.«

Langsam verzog sich Renners Miene zu einem widerstrebenden Lächeln. »Aber das wäre geschwindelt.«

»Ach was, schauen Sie, dass Sie zu ein bisschen Schlaf kommen.«


Rod erwachte vom Plärren der Lautsprecher. »Schwereänderung in zehn Minuten! Alles klar für Übergang auf ein Standardgrav in zehn Minuten!«

Blaine lächelte — ein Grav! — und merkte, wie das Lächeln gefror. Das hieß, dass ihnen nur mehr eine Stunde bis zum Zusammentreffen mit der fremden Raumsonde blieb. Er aktivierte die Außenbildschirme und sah nichts als eine grelle Lichtscheibe vorn und eine achteraus. Die Mac Arthur schien zwischen zwei Sonnen zu schweben. Cal war bereits so groß wie Sol, von der Venus aus gesehen, aber heller, denn Cal war ein heißerer Stern. Das Lichtsegel der Fremden war eine kleinere, jedoch noch hellere Scheibe. Das Segel war stark nach hinten gewölbt.

Bloß die Sprechanlage einzuschalten war schon eine Anstrengung. »Sinclair.«

»Maschinenstation, aye, aye, Kapitän.«

Rod vermerkte befriedigt, dass Sinclair in einem Hydraulikbett lag. »Wie benimmt sich das Feld, Sandy?« »Och, prima, Käptn. Temperatur konstant.« »Danke.« Rod war beruhigt. Das Langston-Feld absorbierte Energie. Das war seine Hauptaufgabe. Es konnte sogar die kinetische Energie von Strahlungsteilchen oder eines explodierenden Gases aufnehmen. Der Wirkungsgrad war dem Kubus der jeweiligen Geschwindigkeiten der Teilchen proportional. In einem Gefecht musste das Feld mit der Höllenhitze von Wasserstofftorpedos, mit der konzentrierten Photonenenergie von Laserartillerie fertig werden. Je höher die auftreffenden Energiemengen sich summierten, um so mehr musste das Feld abstrahlen, so dass es zu glimmen, sein perfektes Schwarz rot zu leuchten begann, orange, gelb, und immer höher im Spektrum bis ins Violette.

Hier lag das Hauptproblem. Die Energie, die das Langston-Feld absorbierte, musste abgestrahlt werden; wurde das Feld überlastet, dann gab es die gesamte aufgespeicherte Energie in einem intensiven weißen Blitz ab, wobei auch nach innen Energie abgestrahlt wurde. Das konnte eine Zeitlang mittels Maschinenenergie verhindert werden — aber auch diese Energie vermehrte letztlich die im Feld gespeicherte Energiemenge. Wenn das Feld zu heiß wurde, kam das Ende für ein Schiff. Schnell und unabwendbar.

Normalerweise konnte sich ein Kriegsschiff höllisch nahe an eine Sonne heranwagen, ohne ernstlich gefährdet zu sein, wobei das Feld nie heißer wurde als der Stern selbst plus die Energiebeträge, die zur Kontrolle des Feldes aufgewendet wurden. Mit einer Sonne vorne und einer hinten konnte das Feld jetzt jedoch nur noch in zwei Richtungen Energie abstrahlen, und auch das musste in Grenzen gehalten werden, damit die Mac Arthur keine lateralen Beschleunigungen erfuhr. Die Abstrahlbereiche wurden immer schmäler, die Sonnen immer größer und das Feld heißer. Auf Rods Schirmen war bereits ein schwacher Schimmer von Rot zu erkennen. Das war keine Katastrophe, musste aber im Auge behalten werden. Normalschwere setzte ein. Rod eilte auf die Brücke und nickte dem wachhabenden Kadetten zu. »Alle Mann auf Gefechtsstation.«

Alarmsirenen heulten durch das Schiff.


Hundertvierundzwanzig Stunden lang hatte das fremde Schiff die Annäherung der Mac Arthur ignoriert. Es ignorierte sie auch jetzt, als der Abstand immer geringer wurde. Auf den Heckschirmen war das Lichtsegel nun als eine riesige, gleichförmig weiße Fläche zu sehen. Schließlich entdeckte Renner jedoch einen kleinen schwarzen Punkt. Er spielte mit der Vergrößerung, bis er einen großen, scharfrandigen schwarzen Punkt auf dem Schirm hatte, dessen Radarecho bewies, dass er der Mac Arthur um viertausend Kilometer näher war als das Segel dahinter.

»Das ist unser Ziel, Sir«, verkündete Renner. »Sie haben vermutlich alles in einer Kapsel untergebracht, alles, was nicht zum Segel gehörte. Ein Gewicht am unteren Rand der Stofffläche könnte das Segel straff halten.«

»Gut. Bringen Sie uns längsseits, Mr. Renner. Mr. Whitbread, meine Empfehlungen an den Funkmaat, ich möchte Klartextsignale aussenden. Auf möglichst vielen Wellenlängen, mit geringer Sendestärke.«

»Jawohl, Sir. Bereit zur Aufnahme.«

»Hallo, Lichtsegelschiff. Hier ist das kaiserliche Schiff Mac Arthur. — Jetzt geben Sie unsere Erkennungssignale durch. — Willkommen im System Neukaledonia und im Imperium des Menschen. Wir möchten längsseits gehen. Bitte bestätigt Empfang. So, und das senden Sie auf Anglic, Russisch, Französisch, Chinesisch und was Ihnen sonst noch alles einfällt. Wenn das Menschen sind, müssen sie irgendwoher kommen, wo irdische Sprachen verstanden werden.«

Noch fünfzehn Minuten bis zum Rendezvous. Die Schwerkraft im Schiff, beziehungsweise der Beschleunigungsandruck veränderte sich wieder, als Renner begann, Geschwindigkeit und Position mit der Raumkapsel statt mit dem Segel abzustimmen. Rod nahm sich einen Augenblick Zeit, um Sallys Anruf entgegenzunehmen. »Machen Sie’s kurz, Sally, bitte. Wir haben Gefechtsbedingungen.

«

»Ja, Rod, das weiß ich. Darf ich auf die Brücke kommen?«

»Geht leider nicht. Alle Sitze besetzt.«

»Kann man nichts machen. Rod, ich wollte Sie nur auf etwas aufmerksam machen.

Nehmen Sie nicht an, diese Wesen seien primitiv.«

»Wie meinen Sie das?«

»Bloß, weil sie nicht den Alderson-Antrieb kennen, werden Sie sie für primitiv halten.

Tun Sie das nicht. Und selbst wenn sie primitiv wären, heißt das noch lange nicht, dass sie technisch unterentwickelt sind. Ihre Denkweise, ihre Technologie, ihre Kultur könnte sehr kompliziert sein.«

»Ich werde daran denken. Sonst noch etwas? Moment, bleiben Sie dran, Sally.

Whitbread, wenn Sie nichts anderes zu tun haben, könnten Sie Miss Fowler auf dem laufenden halten.« Im nächsten Moment hatte er sie resolut aus seinen Gedanken verbannt und blickte gerade auf den Heckschirm, als Staley aufschrie.

Das Lichtsegel des Fremden wellte sich heftig. Reflektiertes Licht zog in langsamen Wellenbändern darüber. Rod kniff die Augen zusammen, aber das half wenig. Es ist auch ohne Blendung schwierig, die Form eines verzogenen Spiegels zu erkennen. »Das könnte unser Signal sein«, meinte Rod. »Sie verwenden das Segel, um es zurückzuspiegeln …«

Ein weißer, entsetzlich greller Blitz flammte auf, und sämtliche Bildschirme auf dieser Seite erloschen.


Die Kameras und Sensoren am Bug funktionierten noch und lieferten Bilder und Daten ins Schiff. Die Bildschirme zeigten eine große, weiße Scheibe, die Sonne von Neukaledonia, die jetzt sehr nahe war, und der sie sich sehr schnell, mit sechs Prozent der Lichtgeschwindigkeit, weiter näherten. Natürlich musste die Lichtintensität durch Filter stark reduziert werden. Einen Augenblick lang zeigten die Bildschirme auch mehrere seltsame, schwarze Schatten vor dem grellweißen Hintergrund der Sonne.

Niemand bemerkte sie, denn in diesem Moment waren alle durch den fürchterlichen Lichtblitz geblendet, und Sekunden später waren die Silhouetten verschwunden.

Kevin Renner sagte in das benommene Schweigen hinein. »Sie hätten aber nicht brüllen müssen.« Er war etwas gekränkt.

»Danke, Mr. Renner«, sagte Rod eisig. »Haben Sie zu unserer Situation nicht vielleicht etwas konkretere Äußerungen zu machen?«

Die Mac Arthur vollführte etliche wenig elegante Sprünge, doch das Lichtsegel folgte exakt allen Ausweichmanövern. »Doch, Sir«, sagte Renner. »Wir sollten zusehen, dass wir aus dem Brennpunkt dieses Spiegels rauskommen.«

»Schadensbehebung, Kapitän«, meldete sich Cargill von seinem Posten im Heck. »Wir kriegen ziemlich viel Energie ins Feld. Und verdammt zu schnell, wir können sie nirgends hin abstrahlen. Wäre es ein konzentrierter Strahl, dann hätten wir bereits ein paar Löcher abgekriegt, aber da es so in Wellen kommt, können wir vielleicht noch zehn Minuten durchhalten.«

»Kapitän, ich kann um das Segel herumsteuern«, sagte Renner. »Wir haben ja noch unsere sonnenseitigen Kameras, und ich weiß, wo die Kapsel lag …«

»Nein. Steuern Sie uns durch das Segel«, befahl Rod.

»Aber wir wissen nicht …«

»Das war ein Befehl, Mr. Renner! Und Sie befinden Sich auf einem Kriegsschiff.«

»Aye, aye, Sir.«

Das Feld war jetzt ziegelrot und wurde immer heller; rot war jedoch nicht gefährlich.

Noch nicht.

Während Renner zu manövrieren begann, sagte Rod ruhig: »Sie nehmen vielleicht an, dass die Fremden für ihr Segel ein ungewöhnlich starkes Material verwendet haben, ja?«

»Es wäre möglich, Sir.« Die Mac Arthur schwang herum, die Würfel waren gefallen.

Renner schien sich gegen den erwarteten Anprall festzustemmen.

»Aber je stärker das Material ist, Mr. Renner, um so dünner können sie es nehmen, um mit einer bestimmten Masse möglichst viel Sonnenlicht auffangen zu können. Es wäre doch äußerst unrentabel, wenn sie das Gewebe nicht so dünn wie möglich machen, nicht? Selbst wenn später Meteoriten ein paar Quadratkilometer Segel zerreißen, hätten sie immer noch genug, oder? Deshalb wird das Segel kaum stärker als notwendig sein.«

»Ja, Sir«, rief Renner. Er trieb das Schiff mit vier Ge voran, und Cal lag genau achteraus. Renner hatte ein geradezu diebisches Grinsen aufgesetzt, und er stemmte sich nicht mehr in seinen Sitz.

Schön, ihn hab überzeugt, dachte Rod und stemmte sich selbst in den Sitz.

Das Langston-Feld glühte bereits gelb.

Dann plötzlich waren die sonnseitigen Schirme schwarz bis auf den grünglimmenden Rand des Schutzfeldes der Mac Arthur und die zerfetzte weiße Silhouette des durchstoßenen Segels.

»Teufel, wir haben es überhaupt nicht gespürt!« Rod lachte auf. »Mr. Renner. Wie lange noch, bis wir in die Sonne fallen?«

»Fünfundvierzig Minuten, Sir. Wenn wir nichts dagegen unternehmen.«

»Alles der Reihe nach, Mr. Renner. Halten Sie die augenblickliche Position zum Segel.«

Rod drückte eine Taste der Sprechanlage, um den Geschützoffizier zu erreichen.

»Crawford! Beleuchten Sie mal dieses Segel ein bisschen, und versuchen Sie die Leinen auszumachen. Ich möchte, dass Sie die Kapsel von diesem Fallschirm abschneiden, bevor die uns noch mal unter Feuer nehmen!« »Aye, aye, Sir.« Crawford begrüßte die Order mit sichtlicher Genugtuung.

Das Segel wies insgesamt zweiunddreißig Leinen auf: vierundzwanzig spannten sich zum Rand des kreisförmigen Stoffspiegels, acht waren ringförmig weiter innen befestigt.

Kegelförmige Ausbuchtungen des Segelmaterials verrieten, wo sie hingen. Die Rückseite des Segels war schwarz und verdampfte augenblicklich in der konzentrierten Hitze der Lasergeschütze.

Dann waren alle Befestigungspunkte durchgebrannt, das Segel begann zu flattern und trieb frei auf die Mac Arthur zu. Wieder stieß das Schiff durch, als wäre das Lichtsegel aus Seidenpapier …

Und die fremde Raumkapsel fiel hilflos auf eine Sonne des Typs F8 zu.

»Fünfunddreißig Minuten bis zum Auftreffen«, sagte Renner ohne extra Aufforderung.

»Danke, Mr. Renner. Commander Cargill, Sie übernehmen das Steuer. Wir holen uns die Kapsel.«

Renners Verblüffung erfüllte Rod mit tiefer Genugtuung.

7 Die Narrensonde

»Aber …«, sagte Renner und zeigte auf Cals wachsende Scheibe auf den Brückenschirmen. Bevor er weiterreden konnte, machte die Mac Arthur mit sechs Ge einen Satz vorwärts, dass es ihm den Atem verschlug. Kein allmähliches Beschleunigen diesmal — die Andruckmessgeräte schlugen heftig aus, als das Schiff auf die bedrohlich nahe Sonne zuraste.

»Kapitän?« In Blaines Ohren dröhnte das Blut, aber er hörte doch, wie ihn sein Erster Offizier von der hinteren Brücke aus anrief. »Kapitän, was können wir uns an Schäden leisten?«

Sprechen bedeutete eine ungeheure Anstrengung. »Alles, so lange wir damit nur noch heimkommen«, keuchte Rod. »Verstanden.« Durch die Sprechanlage konnte die Brücke Cargills Befehle mitanhören. »Mr. Potter! Ist das Hangardeck vakuumklar? Alle Boote festgemacht?«

»Ja, Sir.« Unter Gefechtsbedingungen war diese Frage eigentlich überflüssig, aber Cargill war ein vorsichtiger Mann.

»Hangartore öffnen«, befahl Cargill. »Kapitän, wir verlieren unter Umständen die Schleusentore.«

»Zum Kuckuck damit.«

»Ich werde die Kapsel möglichst rasch an Bord holen — keine Zeit mehr, die Geschwindigkeit anzugleichen. Es wird Schäden geben …«

»Sie sind am Ball, Commander. Erfüllen Sie Ihre Aufgabe.« Der Brückenraum schien von einem roten Nebel erfüllt zu sein. Rod blinzelte, aber der Nebel war immer noch da — nicht in der Luft, sondern in seinen Augen. Sechs Grav war einfach zuviel, und dabei sollte man noch leistungsfähig bleiben. Wenn irgend jemand das Bewusstsein verlor — nun ja, der versäumte dann die ganze Aufregung.

»Kelley!« krächzte Rod. »Wenn das Schiff wendet, sausen Sie mit den Infanteristen nach achtern und passen auf, ob irgend etwas aus dieser Kapsel rauskommt! Und machen Sie schnell. Cargill kann mit der Beschleunigung nicht warten.«

»Aye, aye, Sir.« Sechs Grav, und Kelleys raue Stimme klang wie eh und je.

Die Kapsel war noch dreitausend Kilometer entfernt, unsichtbar selbst für das schärfste Auge, doch nicht für die Teleskopkameras. Auf den Brückenschirmen wurde sie stetig größer, stetig, aber langsam, viel zu langsam im Vergleich zu der rasch anwachsenden Sonnenscheibe.

Vier Minuten bei sechs Grav. Vier Minuten der Qual, dann ertönte endlich das Alarmsignal. Einige Augenblicke lang konnte man aufatmen. Kelleys Infanteristen rannten durchs Schiff nach hinten, halb springend, halb schwebend in der geringen, variierenden Schwere, während die Mac Arthur wendete. Im Hangardeck, wo die Infanteristen Posten beziehen mussten, gab es keine Andruckliegen. Elastische Gurte in den Korridoren und im Hangarraum, mehr nicht — Gurte, in denen die Männer festgeschnallt hingen wie Fliegen in einem Spinnennetz, die Waffen bereit — wofür?

Die Sirene heulte, und wieder schlugen die Nadeln der Andruckmesser wild aus. Die Mac Arthur bremste sich auf die Kapsel ein. Mühsam schaltete Rod seinen Bildschirm auf das Hangardeck um. Der Raum wirkte kalt und düster, durch das offene Hangartor war die innere Grenzfläche des Schutzfeldes zu erkennen, ein ganz unglaublich schwarzer, weicher Vorhang. Gut, dachte Rod. Keine nennenswerte Energiespeicherung. Das Feld hatte sich mehr als genug erholt, um einen Großteil der kinetischen Energie der Kapsel zu absorbieren und den Zusammenprall so weit zu mildern, dass die Mac Arthur den Stoß verkraften konnte.

Acht Minuten bei sechs Ge waren vergangen, und mehr würde die Besatzung nicht aushalten können. Dann aber lag auf einmal die fremde Raumkapsel nicht mehr voraus — die Mac Arthur drehte sich herum und fiel seitwärts auf die Kapsel zu. Der quälende Beschleunigungsdruck verminderte sich, dann kam noch ein kurzer seitlicher Ruck, als Cargill die Backbordgeschütze abfeuerte, um den rasenden Sturz etwas abzubremsen.

Die Kapsel war zylindrisch, das eine Ende abgerundet; schlingernd und sich überschlagend kam sie näher. Bei einer Drehung bemerkte Rod, dass das andere Ende eine Menge Vorsprünge aufwies — zweiunddreißig Vorsprünge? Doch dann hätten Leinenreste an diesen Zacken hängen müssen, und davon war nichts zu sehen.

Die Kapsel kam viel zu schnell auf die Mac Arthur zu, und sie war viel zu groß, um durchs Hangartor zu gehen. Das Ding war ein verdammt massiver Brocken, und sie konnten nur mehr mit den Backbordgeschützen etwas bremsen — zu wenig! Jetzt war es da. Die Hangardeckkameras zeigten, wie das runde Ende der fremden Kapsel durch das Langston-Feld drang, riesig, stumpf metallisch aussehend, wie sie langsamer wurde, wie ihre Drehung abgebremst wurde — aber noch immer bewegte sie sich relativ zur Mac Arthur! Ein furchtbarer Stoß drückte den Kreuzer zur Seite, die Männer wurden in ihre Gurte geschleudert, und das runde Ende der Kapsel wurde größer und größer — WRRUMM!

Rod schüttelte den Kopf, um den roten Nebel loszuwerden, den er schon wieder zu sehen begann. »Schauen wir, dass wir hier wegkommen. Mr. Renner, Sie übernehmen!«

Die Andruckmessgeräte schlugen aus, bevor der Beschleunigungsalarm ertönte; Renner musste den Kurs im voraus berechnet haben und in dem Moment die Tasten gedrückt haben, als er den Befehl erhielt. Blaine blinzelte durch den roten Dunst nach den Anzeigegeräten. Gut, Renner versuchte keine verrückten Kunststücke; er beschleunigte einfach quer zum bisherigen Kurs der Mac Arthur, so dass die Sonne das Schiff herumschwingen musste wie einen Kometen. Ob der Kurs in der Ebene von Cals Planeten lag? Es würde schwierig sein, die Lermontov zu treffen, um Wasserstoff aufzunehmen, aber wenn sie die Mac nicht mit einem Sonnen-Swingby in den Hafen bringen konnten, würden die Tanks leer sein … Benommen tastete Blaine nach den Bedienungselementen seines Computerschirms und sah zu, wie der Hauptcomputer ein Kursdiagramm zeichnete. Jawohl, Renner hatte richtig gerechnet, und schnelle Arbeit war es auch gewesen.

Soll er weitermachen, dachte Rod. Renner ist ein tüchtiger Astrogator, besser als ich.

Ohnehin Zeit, das Schiff zu inspizieren. Was ist alles passiert, als wir dieses Ding an Bord nahmen? — Die Bildschirme, die die Hangarregion erfassten, waren jedoch allesamt dunkel, die Kameras geschmolzen oder zerschmettert. Mit den Außenschirmen stand es nicht viel besser. »Fliegen Sie sie blind, Mr. Renner«, befahl Blaine.

»Kameras würden doch nur wegschmelzen. Warten Sie, bis wir weiter von Cal entfernt sind.«

»Schadensmeldung, Käptn.«

»Ja, Commander Cargill?«

»Die fremde Kapsel ist zwischen den Hangartoren eingeklemmt. Sie sitzt ziemlich fest, ich glaube nicht, dass wir sie bei normaler Beschleunigung verlieren können. Ich habe noch nicht alle Meldungen, aber das Hangardeck wird nie wieder so aussehen wie früher, Sir.«

»Irgendwelche schwere Schäden, Erster?«

»Nein, Sir. Ich könnte Ihnen alles aufzählen — kleinere Probleme, losgerissene Gegenstände, durch den Stoß ausgefallene Geräte — aber es läuft darauf hinaus: wenn wir nicht kämpfen müssen, machen die Schäden nichts aus.«

»Gut. Und jetzt schauen Sie, ob Sie eine Meldung von den Infanteristen bekommen können. Die Verbindung zu Kelleys Posten scheint ausgefallen zu sein.«

»Aye, aye, Sir.«

Um diesen Befehl auszuführen, würde sich irgend jemand bei sechs Ge auf den Weg machen müssen, dachte Blaine. Hoffentlich benützte er einen fahrbaren Beschleunigungssitz. Bei einem derartigen Andruck konnte ein Mann vielleicht gerade noch auf allen Vieren vorwärts kriechen, aber danach wäre er reif für die Krankenstation.

War das eine wahrscheinlich negative Meldung wert? Aber angenommen, sie wäre nicht negativ …

»Infanteriekorporal Pietrov an Chapitän.« Der raue Akzent von St. Ekaterina. »Cheine Aktivität an fremder Chapsel bemerkbar, Sir.«

»Cargill hier, Kapitän«, fügte eine zweite Stimme hinzu.

»Ja?«

»Brauchen Sie Kelley unbedingt? Mr. Potter konnte eine Verbindung zu Pietrov herstellen, ohne seinen Fahrsitz zu verlassen, aber wenn er weiter vor muss, wird das problematisch.«

»Pietrov genügt, Erster. Gute Arbeit, Potter. Korporal, können Sie Mr. Kelley sehen? Ist er unverletzt?«

»Er chat mir zugewinkt, Sir. Er ist in Luftschleuse Nummer zwei auf Posten.«

»Gut. Melden Sie jede Aktivität des Fremden sofort, Korporal.« Blaine schaltete die Verbindung ab, als wieder ein Warnsignal ertönte. Ein Gewicht von hundert Pfund hob sich von seiner Brust, als die Beschleunigung des Schiffes nachließ. Eine kitzlige Sache das, dachte er. Man durfte weder Cal zu nahe kommen, damit die Besatzung nicht gekocht wurde, noch alle Mann durch den Beschleunigungsdruck umbringen.

Im vorderen Brückenraum lehnte sich ein Steuermannsmaat in die Polsterung seiner Liege zurück. Sein Kamerad beugte sich zu ihm herüber, bis sich ihre Helme berührten.

Dann schalteten sie einen Augenblick ihre Helmradios aus, und Obermaat Orontez bemerkte zu seinem Kameraden: »Mein Bruder wollte, dass ich ihm auf seiner Sumpfranch auf Aphrodite helfe, und ich fand, das sei verdammt zu gefährlich. Und jetzt riskier ich meine Haut in der Flotte.«


»Commander Sinclair, haben wir genug Energie für eine Meldung an das Oberkommando?«

»Aye, Käptn, die Maschinen arbeiten prima. Das Ding da is’ nich’ so massig, wie wir zuerst dachten, und Wasserstoff haben wir noch genug.«

»Gut.« Blaine rief den Funkraum an, um seine Meldung aussenden zu lassen: Fremde Raumkapsel an Bord. Zylinder, Achsenverhältnis vier zu eins. Gleichförmig metallisches Aussehen, aber genauere Untersuchung erst möglich, wenn Beschleunigung reduziert werden kann. Schlage vor, dass Lermontov Segel birgt, das ohne Kapsel rasch Geschwindigkeit verlieren wird. Geschätzte Ankunftszeit auf Neuschottland … Schlage vor, Mac Arthur in Parkorbit um unbesiedelten Mond von Neuschottland zu bringen. Kein Anzeichen von Leben oder sonstiger Aktivität an Bord fremder Raumkapsel, aber …

Das war ein sehr großes Aber, sagte sich Rod. Was genau stellte die Kapsel dar? Hatte sie ihn absichtlich beschossen? Wurde sie von einem Piloten gesteuert, oder war es möglich, dass ein Roboter sie im normalen Raum Lichtjahre weit navigiert hatte? Wer oder was immer die Kapsel lenkte, was würde es davon halten, auf dem Hangardeck eines Kriegsschiffs eingeklemmt zu sein, unrühmlich losgeschnitten von seinem Segel nach einer Reise von fünfunddreißig Lichtjahren?

Und er hatte keine Möglichkeit, die Antwort auf diese Fragen herauszufinden. Nicht die geringste. Die Lage der Mac Arthur war zwar nicht mehr kritisch, und Renner war ein guter Astrogator — doch weder Blaine noch Cargill konnte seinen Posten verlassen, und er dachte nicht daran, irgendeinen grünen jungen Offizier dieses Ding untersuchen zu lassen.

»Ist es vorbei?« In Sallys Stimme lag ein etwas kläglicher Ton. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja.« Rod schauderte unwillkürlich bei dem Gedanken, was alles hätte geschehen können. »Ja, wir haben die Kapsel an Bord, und wir wissen nicht mehr darüber als Größe und Form. Unsere Funksignale werden nicht beantwortet.« Warum nur verspürte er eine leise Regung von Genugtuung, dass sie genauso wie alle anderen einfach warten würde müssen?

Die Mac Arthur raste weiter, schräg an der Sonne vorbei und in so engem Bogen hinter ihr herum, dass sich bereits ein Reibungseffekt von der Korona bemerkbar machte.

Renners Kurs war jedoch fehlerlos berechnet, und das Feld arbeitete zufriedenstellend.

Nun konnten sie nur noch warten.


Bei zwei Grav konnte Rod endlich die Brücke verlassen. Mühsam stand er auf, ließ sich dankbar in einen Rollsitz fallen und fuhr los nach achtern. Er benützte mehrere Lifte, die ihn nach ›unten‹ brachten, denn das Heck war bei beschleunigtem Flug ja unten; auf jedem Deck machte er halt und nickte den Männern zu, die schon viel zu lange auf ihren Posten waren, aber trotzdem ihren Dienst mit Eifer und Begeisterung versahen. Die Mac Arthur musste das beste Schiff der ganzen Flotte sein … und er würde dafür sorgen, dass sie es blieb!

Als er Kelleys Standort an der Luftschleuse zum Hangardeck erreichte, gab es noch immer nichts Neues zu berichten.

»Sie sehen, dass da eine Luke oder so was ist, Sir«, sagte Kelley. Er leuchtete mit seiner Handlampe hin. Als der Lichtstrahl über die fremde Raumsonde glitt, sah Rod auch die kläglichen Reste seiner Boote, die gegen die stählernen Decks geschmettert worden waren.

»Und es hat sich nichts gerührt?«

»Nicht das geringste, Kapitän. Das Ding kam herein, donnerte gegen die Decks — hat mich ganz schön gegen das Schott geschmissen. Es war nicht sonderlich schnell, aber es hatte ’ne ganz schöne Wucht dahinter. Na, und seitdem nichts. Meine Leute, ich, die Kadetten, die sich hier rumtreiben, keiner hat was gesehen, Käptn.«

»Ist vielleicht besser so«, murmelte Rod. Er holte seine eigene Lampe heraus und sah sich den ungeheuren Zylinder genauer an. Die obere Hälfte verschwand im gleichförmigen Schwarz des Schutzfeldes.

Der Lichtstrahl streifte eine Reihe kegelförmiger Vorsprünge — jeder von ungefähr einem Meter Durchmesser und etwa dreimal so lang. Rod suchte die Kegel ab, aber es war nichts zu finden — keine Leinenenden hingen daran, keine Öffnungen waren an der Spitze zu erkennen, durch die die Leine vielleicht hätte eingezogen werden können.

Nichts.

»Bewachen Sie das Ding weiter, Kelley. Ich möchte, dass es nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen wird.« Kapitän Rod Blaine kehrte hierauf zur Brücke zurück, nicht weiser als zuvor, und starrte auf seine Bildschirme. Unbewusst rieb er sich über den Nasenrücken. Was um Himmels willen hatte er da eingefangen?

8 Der Fremde

Blaine stand in mustergültiger Haltung stramm vor dem wuchtigen Schreibtisch.

Flottenadmiral Howland Cranston, Oberbefehlshaber der Streitkräfte Seiner Majestät im Sektor Trans-Kohlensack, funkelte Rod über die Rosenteakplatte hinweg an, deren erlesene Schnitzerei Rod fasziniert hätte, wäre die Situation etwas weniger geladen gewesen. Der Admiral blätterte in einem dicken Stoß von Papieren.

»Wissen Sie, was das ist, Kapitän?«

»Nein, Sir.«

»Forderungen nach Ihrer Entlassung aus dem Dienst. Die halbe Fakultät der kaiserlichen Universität. Etliche Geistliche der Kirche, sogar ein Bischof. Der Generalsekretär der Humanitätsliga. Jede weichherzige Seele, die’s auf dieser Seite des Kohlensacks gibt, schreit nach Ihrem Skalp.«

»Ja, Sir.« Etwas anderes konnte man dazu wohl kaum sagen. Rod stand weiter stramm und wartete, dass das Unwetter vorüberginge. Was würde sein Vater denken? Würde irgend jemand ihn verstehen?

Cranston starrte ihn schon wieder an. Seine Augen waren jedoch völlig ausdruckslos.

Seine Alltagsuniform war ziemlich formlos. Die Bänder von einem Dutzend Auszeichnungen zeugten von der Laufbahn eines Offiziers, der sich wie seinen Untergebenen immer das Äußerste abverlangt hatte.

»Sie haben die ersten fremden Intelligenzen beschossen, mit denen die menschliche Rasse je in Kontakt kam«, fuhr Cranston eisig fort. »Sie machten die Sonde manövrierunfähig. Es wird Ihnen ja bekannt sein, dass wir nur ein Wesen darin fanden und dass es tot ist? Vermutlich Versagen des Lebenserhaltungssystems.« Cranston spielte mit dem Stoß von Papieren und schob ihn dann heftig fort. »Diese verdammten Zivilisten. Immer müssen sie sich in Flottenangelegenheiten einmischen. Dadurch bleibt mir keine andere Wahl.

Nun gut: Kapitän Blaine, als Flottenadmiral dieses Sektors bestätige ich hiermit Ihre Beförderung zum Kapitän und ernenne Sie zum Kommandanten des Raumkreuzers Mac Arthur der Flotte Seiner Majestät. — Sie können sich setzen.« Während Rod verdattert nach einem Stuhl Ausschau hielt, knurrte Cranston: »Ich werde es diesen Idioten schon zeigen. Mir in meine Kompetenzen pfuschen, ja? Blaine, Sie haben unverschämtes Glück. Die Kommission hätte zwar Ihre Beförderung bestätigt, aber ohne diesen Vorfall hätten Sie das Schiff nie behalten dürfen.«

»Ja, Sir.« Es stimmte nur zu genau, was Cranston sagte, aber nichtsdestotrotz konnte Rod einen Anflug von Stolz in seiner Stimme nicht unterdrücken. Die Mac Arthur gehörte ihm — »Sir? Konnte man etwas Neues über die Sonde herausfinden? Seit wir sie in der Umlaufbahn parkten, hatte ich in den Werften zu tun, um die Mac Arthur überholen zu lassen.«

»Wir haben sie geöffnet, Kapitän. Ich weiß nicht, was ich von dem halten soll, was wir darin fanden, aber wir haben das Ding aufgebracht. Das hier war darin.« Er schob ein vergrößertes Foto über den Tisch.

Das Wesen lag ausgestreckt auf einem Labortisch. Die Skala daneben zeigte, dass es ziemlich klein war — einhundertvierundzwanzig Zentimeter vom Kopf bis zu den Füßen, die Rod zuerst für Schuhe hielt, weil keine Zehen zu erkennen waren. Allerdings waren die vorderen Fußkanten mit einem anscheinend hornartigen Material überzogen.

Das Übrige wirkte wie ein monströses Alptraumgeschöpf. Es besaß zwei schlanke Arme rechts, mit feingliedrigen Händen, die je vier Finger und zwei gegenständige Daumen aufwiesen. Links aber hatte es nur einen massigen Arm, eine fleischige Keule fast, dicker als die beiden rechten Arme zusammen. Die Hand bestand aus drei kräftigen Fingern, jetzt schraubstockartig zusammengepresst.

Ein Krüppel? Ein Mutant? Die untere Körperhälfte des Wesens war symmetrisch, die obere für ein menschliches Auge so ungewohnt, dass man sie als abstoßend empfand.

Der Rumpf wies etliche Ausbuchtungen auf, die Muskulatur war komplexer als die menschliche. Rod konnte darunter keinerlei Knochenstrukturen erkennen.

Die Arme — nun, so seltsam sie waren, sie sahen sehr brauchbar aus. Die Ellbogen der rechten Arme waren sehr fein ausgebildet — ein Werk der Evolution, keine Missbildung.

Der Kopf sah am schaurigsten aus.

Hals besaß das Wesen keinen. Die kräftigen Muskeln der linken Schulter zogen sich glatt bis zum Scheitel, so dass die linke Schädelseite, die weitaus größer als die rechte war, ohne Abstufung in die Schulter überging. Für ein linkes Ohr war kein Platz, aber rechts zierte ein großes, dünnhäutiges Koboldsohr den Schädel. Die rechte Schulter war schmal und wirkte beinahe menschlich, nur saß noch eine zweite, ähnliche, gleich darunter und etwas hinter der ersten.

Das Gesicht — etwas wie dieses Gesicht hatte Rod noch nie gesehen. Es passte nicht zu dem bizarren Kopf. Die zwei symmetrischen leicht geschlitzten Augen standen weit offen im blicklosen Starren des Todes. Sie waren fast menschlich, etwas orientalisch vielleicht. Der Mund war erschlafft, die Lippen gaben spitze Zähne frei.

»Nun, wie gefällt’s Ihnen?«

Rod sagte: »Ich bedaure, dass es tot ist. Ich würde ihm Millionen Fragen stellen wollen — es war nur dieses eine da?«

»Ja. Nur das hier, in der Kapsel. Aber sehen Sie sich mal folgendes an.«

Cranston berührte eine Ecke seines Tisches. Eine versenkte Schalttafel wurde sichtbar.

Der Vorhang an der Wand links von Rod glitt zur Seite, die Beleuchtung dämpfte sich.

Ein Bildschirm leuchtete auf, zeigte grelles, gleichmäßiges Weiß.

Plötzlich schössen Schatten von den Rändern her auf die Bildmitte zu, wurden kleiner, lösten sich auf — alles in wenigen Sekunden.

»Das stammt von einer Ihrer sonnseitigen Kameras, die nicht geschmolzen sind. Ich lasse es jetzt einmal langsamer ablaufen.«

Die Schatten bewegten sich ruckhaft zur Mitte der grellweißen Fläche. Ein halbes Dutzend war im Bild, als der Admiral den Film stoppte.

»Nun?«

»Sie sehen aus wie — das da«, sagte Rod.

»Ich kann Ihnen nur zustimmen. Und jetzt — passen Sie auf.« Der Projektor lief wieder an. Die geheimnisvollen Silhouetten schrumpften, rasten aufeinander zu und verschwanden, nicht so, als wären sie ins Endlose gefallen, sondern als hätten sie sich in einem Punkt einfach aufgelöst.

»Aber das sieht ja aus, als wären Passagiere aus der Kapsel geschleudert und vom Lichtsegel verbrannt worden! Was soll das zu bedeuten haben?«

»Draußen an der Universität können Sie vierzig verschiedene Erklärungen dafür kriegen. Die Bildschärfe ist überdies nicht besonders. Haben Sie bemerkt, wie verzerrt die Umrisse waren? Verschiedene Größen, verschiedene Formen. Es ist natürlich unmöglich festzustellen, ob sie noch gelebt haben. Einer dieser Anthropologen-Typen glaubt, es waren Statuen von Göttern, die über Bord geworfen wurden, um sie vor der Entweihung zu retten. Er hat fast alle anderen zu dieser Theorie bekehrt. Ein paar behaupten natürlich, dass diese Bilder durch Fehler im Film entstanden sind, oder durch Instabilitäten im Langston-Feld, oder dass sie Schwindel sind.«

»Ja, Sir.« Mehr war dazu nicht zu sagen, also hielt Blaine den Mund. Er kehrte zu seinem Sessel zurück und studierte noch einmal das Foto. Millionen Fragen … wenn nur dieses Geschöpf nicht tot wäre …

Nach einer längeren Pause brummte der Admiral: »Na schön. Hier — die Kopie eines Berichts über alles, was wir in der Sonde gefunden haben. Nehmen Sie ihn mit und lesen Sie das Zeug durch, Sie werden morgen Nachmittag vom Vizekönig empfangen, und er wird erwarten, dass Sie informiert sind. Ihre Anthropologin hat übrigens geholfen, den Bericht zusammenzustellen, Sie können ihn mit ihr durchsprechen, wenn Sie wollen. Später können Sie dann auch mal einen Blick in die Sonde werfen, wir bringen sie heute herunter.« Cranston grunzte belustigt über Blaines überraschten Blick. »Sie würden wohl gerne wissen, warum Sie das alles erfahren? Nun, Sie werden’s rausfinden. Seine Hoheit hat einen Plan, und Sie sollen eine Rolle darin spielen. Aber das wird man Ihnen alles noch rechtzeitig sagen.«

Rod grüßte und ging, den STRENG GEHEIM gestempelten Bericht unter dem Arm und von Verwirrung erfüllt.


Der Bericht bestand im wesentlichen aus Fragen.

Die Innenausstattung der Kapsel musste menschlichen Augen als Schrott erscheinen — verformte, verschmolzene Plastikteile, die Reste integrierter Schaltungen, herumliegende Streifen leitenden und halbleitenden Materials, ein wirres Durcheinander.

Von den Segelleinen war keine Spur zu entdecken, ebenso wenig von einem Mechanismus, der sie hätte aufspulen können. Die zweiunddreißig Fortsätze am einen Ende der Sonde hatten auch keine Öffnungen. Falls die Leinen etwa aus je einem Riesenmolekül bestanden hatten, würde ihr Fehlen verständlich — sie hätten sich im Strahl von Blaines Lasergeschützen chemisch verändert, wären verbrannt. Aber wie hatten sie das Segel gesteuert? Könnten sich solche Molekülleinen strecken und zusammenziehen wie ein Muskel …?

Eine ausgefallene Idee, aber manche der unbeschädigten Mechanismen waren noch viel ausgefallener. Kein Teil der Sonde war genormt. Zwei Teile, die nahezu die gleiche Aufgabe zu erfüllen hatten, konnten zum Beispiel ein wenig verschieden oder auch völlig verschieden sein. Halterungen und Gehäuse wirkten wie handgefertigt. Die Sonde war vielleicht ebenso Skulptur wie Maschine.

Blaine las das alles durch, schüttelte den Kopf und rief Sally an. Nach einer Weile kam sie zu ihm in die Kabine.

»Ja, das habe ich geschrieben«, sagte sie. »Es scheint zuzutreffen. Jede Schraube, jede Niete in dieser Sonde wurde für sich geschaffen, nicht in Massenproduktion hergestellt. Das wäre nicht so unsinnig, wenn man zum Beispiel annimmt, die Sonde hätte irgendeinen religiösen Zweck gehabt. Aber das ist noch nicht alles. Sie wissen, was man unter Redundanz versteht?«

»Bei Maschinen? Zwei Mechanismen, die dieselbe Aufgabe erfüllen, damit einer ausfallen kann.«

»Nun, den Splits scheint das nicht zu genügen.«

»Splits?«

Sie zuckte die Achseln. »Wir müssen ihnen irgendeinen Namen geben. Jedenfalls, die Split-Techniker haben zwei Mechanismen für dieselbe Aufgabe vorgesehen, ja, aber der zweite Mechanismus erfüllt noch zwei weitere Aufgaben, und einige Bauteile sind gleichzeitig Bimetall-Thermostate und thermoelektrische Generatoren. Rod, ich kenne mich mit diesen Sachen so wenig aus! Module zum Beispiel. Wir arbeiten mit Modultechniken, nicht?«

»Bei komplizierten Geräten ja, sicher.«

»Die Splits nicht. Bei ihnen ist alles eine einzige Apparatur, jeder Teil arbeitet mit jedem anderen zusammen. Rod, es könnte durchaus sein, dass die Splits gescheiter sind als wir.«

Rod stieß einen Pfiff aus. »Das wäre … arg. Aber — Moment mal. Müssten sie dann nicht den Alderson-Antrieb kennen?«

»Das kann ich nicht beurteilen. Aber sie haben einige Sachen, die wir nicht kennen. Sie haben Biotemperatur-Supraleiter«, sagte sie, und es klang wie eine auswendig gelernte Zauberformel, »die in dünnen Streifen aufgetragen sind wie eine Farbe. Und dann das hier …« Sie beugte sich über seine Schulter, um in dem Bericht eine bestimmte Seite aufzuschlagen.

»Da. Sehen Sie sich dieses Foto an. Diese vielen winzigen Meteoritenlöcher.«

»Mikrometeoriten, nehme ich an.«

»Nun, jedenfalls ist nichts, das größer als viertausend Mikron war, durch den Meteoritenschirm gekommen. Nur — wir haben nichts gefunden, das ein Meteoritenschirm hätte sein können.«

»Aber …«

»Das Lichtsegel muss dazu gedient haben. Verstehen Sie, was das heißt? Der Autopilot hat nur angegriffen, weil er die Mac Arthur für einen Meteor hielt.«

»Und der Pilot? Warum hat er nicht …«

»Nein. Soweit wir feststellen konnten, lag das Wesen im Kälteschlaf. Die Lebenserhaltungssysteme versagten ungefähr zu dem Zeitpunkt, als wir die Sonde an Bord nahmen. Wir haben es also umgebracht.«

»Ist das sicher?«

Sally nickte.

»Verdammt. Und es ist von so weit hergekommen … Die Humanitätsliga fordert meinen Kopf — und ich kann es den Leuten nicht mal verübeln. Ach verdammt …« Das klang bedrückt.

»Nicht«, sagte Sally leise.

»Tut mir leid. Wie geht es weiter?«

»Die Autopsie. Der halbe Bericht beschäftigt sich damit.« Sie blätterte weiter, und Rod schauderte es. Sally Fowler besaß offenbar einen stärkeren Magen als die meisten Damen des Hofes.

Das Fleisch des Split war blass; sein Blut sah aus wie eine Mischung von Harz und Menschenblut. Der Chirurg hatte einen tiefen Schnitt den Rücken entlang gezogen, vom Hinterkopf bis zu der Stelle, wo bei einem Menschen das Steißbein gelegen wäre.

»Das verstehe ich nicht. Wo ist das Rückgrat?«

»Es gibt keins«, erklärte Sally. »Die Evolution scheint auf Splitter Alpha keine Wirbel hervorgebracht zu haben.«

Der Rücken wies drei Knochen auf, alle fest und starr wie ein Beinknochen. Der oberste war eigentlich ein Schädelfortsatz — als hätte der Schädel einen zwanzig Zentimeter langen Stiel. Das Gelenk an seinem unteren Ende lag in Schulterhöhe: Es ermöglichte eine Nickbewegung des Kopfes, aber keine Drehung.

Der Hauptrückenknochen war länger und dicker. Er endete in einem kräftigen, komplizierten Gelenk, das unter anderem Kugel und Pfanne aufwies und etwa dort lag, wo beim Menschen das Kreuz war. Der unterste Rückenknochen verbreiterte sich zu Hüften mit Gelenkspfannen für die Oberschenkelknochen.

Etwas wie ein Rückenmark war vorhanden, ein wesentlicher Nervenstrang, doch verlief er bauchseitig der Rückenknochen und nicht durch sie hindurch.

»Es kann den Kopf nicht wenden«, murmelte Rod. »Es muss sich in der Taille drehen.

Deshalb ist dieses große Gelenk so kompliziert. Richtig?«

»Ja, das stimmt. Ich habe zugesehen, wie sie dieses Gelenk untersucht haben. Es lässt eine Rumpfdrehung von einhundertachtzig Grad zu. Fantastisch, nicht?«

Rod nickte und blätterte um. Auf der nächsten Seite war ein Foto des aufgeschnittenen Schädels.

Kein Wunder, dass der Kopf so deformiert wirkte. Es war nicht nur der linke Teil des Gehirns größer — wohl um die empfindlichen, mit einem komplexen Nervensystem versehenen rechten Arme zu steuern —, sondern der Schädel war außerdem links mit Knochenfortsätzen ausgestattet, an denen die kräftigen Sehnen der linken Schulter einen wirksameren Ansatz fanden.

»Alles ist auf größtmögliche Effizienz der Arme ausgerichtet«, sagte Sally. »Wenn man das Split als werkzeuggebrauchendes Wesen sieht, wird das sofort klar. Die rechten Arme dienen für feinere Arbeiten wie die Reparatur eines Uhrwerks oder so. Der linke Arm ist zum Festhalten und Heben. Wahrscheinlich konnte es, sagen wir, mit dem Arm eine Seite eines Fahrzeugs anheben und mit den beiden rechten Händen im Motor herumbasteln. Und dieser Trottel Horowitz glaubt, es wäre eine Mutation!« Sie blätterte weiter. »Da, sehen Sie.«

»Ja, das habe ich schon selbst bemerkt — die Arme’ sind einfach zu gut ihrem Zweck angepasst.« Auf den Fotos waren die rechten Arme des Wesens in den verschiedensten Stellungen zu sehen. Es war augenscheinlich nicht möglich, dass sie sich gegenseitig behinderten. Ausgestreckt waren sie ungefähr gleich lang, doch beim unteren Arm saß das Ellbogengelenk weit höher als beim zweiten, bei dem Ober- und Unterarm etwa die gleiche Länge aufwiesen. Hingen die Arme längs des Körpers hinunter, dann reichten die Fingerspitzen des oberen Arms gerade bis zum Handgelenk des unteren. Rod las weiter. Chemisch gesehen gab es natürlich Unterschiede zum Menschen, jedoch keine gravierenden, wie schon frühere Feststellungen der extraterrestrischen Biochemie erwarten ließen. Alles bekannte Leben im Universum besaß genügend Gemeinsamkeiten, dass die Theorie einer ›Aussaat‹ von Sporen als durchaus plausible Erklärung für den Ursprung des Lebens auf den verschiedensten Planeten gelten konnte. Die Theorie besaß jedoch nicht viele Vertreter, sie war weder zu beweisen noch zu widerlegen, und dieses fremde Geschöpf konnte das Rätsel auch nicht klären.

Sally war längst gegangen, aber Rod studierte immer noch den Bericht. Als er zum Ende kam, standen ihm drei Fakten bedrückend deutlich vor Augen: Das Split war ein werkzeuggebrauchendes Intelligenzwesen.

Es war fünfunddreißig Lichtjahre weit durch den Raum gereist, um auf die menschliche Zivilisation zu stoßen.

Und Rod Blaine hatte es getötet.

9 Seine Hoheit hat entschieden

Der Palast des Vizekönigs beherrschte Neuschottlands einzige größere Stadt. Sally bestaunte das gewaltige Bauwerk und zeigte begeistert auf die schillernden Farbschlieren, die sich bei jeder Bewegung des Boots verschoben.

»Woher kommt dieser Effekt?« fragte sie. »Es scheint nicht eine Ölschicht oder so etwas zu sein.«

»Das ist neuschottisches Urgestein«, erklärte Sinclair. »So was gibt’s sonst nirgends.

Der Planet besaß kein Leben, bis das Erste Imperium ihn mit Biokeimen ›impfte‹. Der Palast ist aus Felsen gebaut, der noch genauso farbenprächtig ist, wie er einmal aus dem Planeteninneren hervorgequollen ist.«

»Es ist schön«, sagte sie leise. Der Palast war das einzige Gebäude, das von freiem Grund umgeben war. Neuschottland bestand aus zusammengedrängten Hausgrüppchen, und aus der Luft waren kreisförmige Wachstumsringe wie bei einem Baum deutlich zu erkennen — die Siedlung war nach und nach in immer größere Schutzfelder ›hineingewachsen‹. Sally erkundigte sich: »Wäre es nicht praktischer, jetzt zu einer rechtwinkligen Stadtplanung überzugehen?«

»Praktischer, och, vielleicht«, meinte Sinclair. »Aber vergessen Sie mal nicht, dass wir zweihundert Jahre Krieg hinter uns haben. Keiner will hier ohne Schutzfeld leben — nicht, dass wir der Flotte und dem Imperium nicht trauen«, fügte er eilig hinzu. »Aber’s is’ halt schwer, alte Gewohnheiten abzulegen. Lieber haben wir’s eng und wissen, dass wir geschützt sind.«

Das Flugboot kreiste tiefer und landete auf dem zernarbten Lavadach des Palastes. In den engen Straßen unten drängten sich die Menschen in einem freundlichen Durcheinander von Farben und Tönen, und wo man hinsah, leuchteten die Karos von Tartanstoffen. Sally stellte überrascht fest, wie klein und einfach die Sektorhauptstadt eigentlich war.

Rod ließ Sally und seine Offiziere in einem gemütlichen Aufenthaltsraum zurück und folgte den protokollsteifen flotten Infanteristen, die ihn in den Ratssaal führten. Der Raum war einfach und prächtig zugleich — nackte Felswände bildeten einen schroffen Gegensatz zu bunten Wollteppichen und kunstvollen Wandbehängen. Von den Deckenbalken hingen Kriegsbanner.

Die Infanteriewachen wiesen Rod einen Sessel an. Unmittelbar vor ihm lag eine Art Podium mit den Sitzen der Ratsmitglieder, das, wie der ganze Saal, von dem erhöhten Thron des Vizekönigs beherrscht wurde. Der eigentliche Mittelpunkt des Saals war jedoch das riesige Solidogramm Seiner Königlichen und Kaiserlichen Hoheit und Majestät Leonidas IX., durch Gottes Gnaden Kaiser der Menschheit. Wenn eine Botschaft vom Thron eintraf, würde dieses dreidimensionale Bild zum Leben erwachen; jetzt war in dem Würfel nur ein Mann von knapp vierzig zu sehen, der die mitternachtsschwarze Uniform eines Flottenadmirals ohne Orden und Auszeichnungen trug. Seine dunklen Augen schienen durch die im Saal Anwesenden hindurchzustarren.

Der Raum füllte sich rasch … Mitglieder des Sektorparlaments, Offiziere von Heer und Raumflotte, geschäftige Beamte, von nervösen Sekretären umschwärmt. Rod hatte keine Ahnung, was zu erwarten war, aber er bemerkte, dass die hinter ihm Sitzenden ihn hin und wieder mit eifersüchtigen Blicken streiften. Er war bei weitem der rangniederste Offizier in der ersten Reihe der Gästeplätze. Admiral Cranston nahm zwei Sitze weiter links Platz und begrüßte seinen Untergebenen mit einem knappen Kopfnicken. Ein Gong ertönte. Der Zeremonienmeister des Palastes, ein Schwarzer in imposanter schneeweißer Livree, trat auf die Plattform und stieß seinen Amtsstab auf den Boden.

Eine Reihe von Männern kam hereingeschritten; einer nach dem anderen nahm seinen Platz auf dem Podium ein. Die kaiserlichen Räte wirkten weniger eindrucksvoll als ihre Titel, fand Rod. Sie kamen ihm überarbeitet und nervös vor, doch viele von ihnen besaßen den gleichen Blick wie das Porträt des Kaisers — die Fähigkeit, durch andere Menschen hindurchzusehen, sich auf etwas zu konzentrieren, das anderen verborgen blieb. Sie saßen ruhig auf ihren Plätzen, bis der Gong zum zweiten Mal geschlagen wurde.

Der Zeremonienmeister warf sich in die Brust und stieß seinen Stab dreimal auf den Boden. »Seine erhabenste Hoheit, Prinz Stefan Juri Alexandrowitsch Merrill, Vizekönig Seiner Kaiserlichen Majestät für die Reichsgebiete jenseits des Kohlensacks. Möge Gott Seiner Majestät und Seiner Hoheit Weisheit verleihen.«

Alle Anwesenden erhoben sich. Als Rod aufsprang, kam ihm der Gedanke, ob dieser Hokuspokus überhaupt einen Sinn hatte. Es war leicht, zynisch darüber zu lächeln — schließlich war Merrill auch nur ein Mensch und Seine Kaiserliche Majestät genauso.

Auch sie konnten nur ein Hosenbein auf einmal anziehen. Andererseits waren sie es, die die Verantwortung für das Geschick der Menschheit trugen. Der Rat konnte ihnen mit Ratschlägen helfen, der Senat mit Debatten, die Abgeordneten konnten diskutieren und fordern. Doch wenn alle die widersprüchlichen Forderungen gestellt, alle Fakten und Ratschläge erwogen waren, musste irgend jemand im Namen der Menschheit entscheiden … Nein, dieses Eintrittszeremoniell war kein überflüssiger Pomp. Männer, die derartige Macht besaßen, sollen daran erinnert werden.

Seine Hoheit war ein großer, schlanker Mann mit buschigen Augenbrauen. Er trug Galauniform der Flotte mit Korona und Kometen auf der Brust, Auszeichnungen, die er sich in Jahren des Dienstes für das Imperium erworben hatte. An seinem Thron angelangt, drehte er sich zu dem Solido darüber um und verneigte sich. Der Zeremonienmeister leitete noch die rituelle Wiederholung des Treueids an die Krone, dann nahm Merrill Platz und nickte dem versammelten Rat zu.

Herzog Bonin, ein älterer Herr, der Vorsitzende des Rates, erhob sich von seinem Sitz in der Mitte des großen Konferenztisches. »Meine Herren. Der Rat ist auf Anordnung Seiner Hoheit zusammengetreten, um in Sache der fremden Raumkapsel vom Splitter zu einem Entschluss zu kommen. Diese Sitzung wird vielleicht lange dauern«, fügte er ohne jeden Sarkasmus hinzu.

»Sie alle haben den Bericht über unsere Untersuchung der fremden Sonde vor sich liegen. Die zwei maßgeblichen Fakten daraus kann man folgendermaßen zusammenfassen: Die Fremden besitzen weder den Alderson-Antrieb noch das Langston-Feld. Dagegen scheinen sie andere technologische Kenntnisse zu besitzen, die denen des Imperiums weit voraus sind — und ich nehme hier das Erste Imperium nicht aus.«

Erstaunte Ausrufe wurden laut. Viele Regierungsmitglieder und die meisten Bürger hegten eine fast ehrfürchtige Hochachtung vor den Errungenschaften des Ersten Imperiums. Bonin nickte vielsagend. »Wir müssen uns nun darüber klar werden, was zu tun ist. Seine Exzellenz, Sir Traffin Geary, Sektorminister für Äußeres.«

Sir Traffin war beinahe so groß wie der Vizekönig, aber damit endete alle Ähnlichkeit.

Während Seine Hoheit eine schlanke, durchtrainierte Gestalt besaß, war Sir Traffin am ehesten mit einem Fass zu vergleichen. »Hoheit, meine Herren. Wir haben bereits einen Kurier nach Sparta entsandt, ein zweiter wird noch diese Woche abreisen. Die Sonde wurde vor mehr als hundert Jahren gestartet, und sie flog mit Unterlichtgeschwindigkeit.

Wir brauchen also nichts zu überstürzen. Ich schlage vor, dass wir hier alle Vorkehrungen für eine Expedition zum Splitter treffen, im übrigen aber die Anweisungen Seiner Majestät abwarten.« Geary schob spöttisch die Unterlippe vor, als er den Blick durch den Ratssaal schweifen ließ. »Viele von Ihnen, die mein Temperament kennen, wird das erstaunen, aber ich halte es für ratsam, diese Angelegenheit gut zu überdenken. Das Schicksal der menschlichen Rasse könnte von unserer Entscheidung abhängen.«

Ein Gemurmel der Zustimmung erhob sich. Der Vorsitzende nickte dem Mann zu seiner Linken zu. »Lord Richard Mac Donald Armstrong, Kriegsminister des Sektors.«

So massig Sir Traffin war, so gut vertrat der Kriegsminister das andere Extrem. Man konnte ihn fast winzig nennen, und seine Gesichtszüge passten zu seinem Körper, fein und irgendwie weich. Nur in seinen Augen war nichts Weiches, und sein Blick glich dem des dreidimensionalen Holo-Porträts über dem Thron.

»Ich kann Sir Traffins Ansicht sehr gut begreifen«, begann Armstrong. »Ich reiße mich auch nicht um diese Verantwortung. Es ist sehr beruhigend für uns zu wissen, dass auf Sparta die klügsten Männer unserer Rasse Fehler und Versagen unsererseits verhindern würden.«

Er hat kaum eine Spur von neuschottischem Akzent, dachte Rod. Man merkt es wirklich kaum, doch der Mann stammt bekanntermaßen von hier. Ich frage mich, ob sie alle so normal reden können, wenn’s sein muss?

»Aber dafür haben wir vielleicht nicht mehr die Zeit«, sagte Armstrong ruhig. »Bedenken wir folgendes. Soweit aus unseren Aufzeichnungen zu entnehmen ist, war der Splitter vor einhundertdreizehn Jahren heller als Murchesons Auge. Und dann, eines Tages, erlosch er fast. Das muss ohne Zweifel jener Zeitpunkt gewesen sein, da die Sonde sich um einhundertachtzig Grad drehte, um sich von der Sonne unseres Systems abbremsen zu lassen. Die Laser, die dieses Schiff durch den Raumtrieben, waren sehr lange Zeit eingeschaltet. Ihre Erbauer hatten seitdem zumindest einhundertfünfzig Jahre Zeit, ihre Technologie weiterzuentwickeln. Vergessen Sie das nicht, meine Herren. In hundertfünfzig Jahren ist der Mensch auf der Erde einst von windgetriebenen Kriegsschiffen zur ersten Landung auf dem Mond vorangeschritten, vom Vorderlader zur Fusionsbombe, zu einem technologischen Niveau, das jene Sonde hätte bauen können — und wiederum hundertfünfzig Jahre später hatte er bereits den Alderson-Antrieb, das Langston-Feld, zehn interstellare Kolonien und das Condominium. Fünfzig Jahre danach verließ die Flotte die Erde, um das Erste Imperium zu begründen. Dies alles können einhundertfünfzig Jahre für eine heranreifende Rasse bedeuten, meine Herren. Und damit haben wir es hier zu tun. Ich finde, wir können uns kein Abwarten erlauben!« Die Stimme des alten Mannes hallte scharf durch den Saal. »Abwarten, was Sparta sagt?

Bei allem Respekt vor den Ratgebern Seiner Majestät, was können sie uns sagen, das wir nicht besser wüssten? Bis ihre Antwort zurückkommt, haben wir längst neue Fakten zu berichten. Die Situation hier kann sich geändert haben, so dass ihre Anweisungen überhaupt keinen Sinn mehr haben. Bei Gott, es ist besser, wenn wir unsere eigenen Fehler begehen!«

»Ihr Vorschlag?« fragte der Ratsvorsitzende trocken.

»Ich habe bereits Admiral Cranston angewiesen, alle Kriegsschiffe zusammenzuziehen, die in den Garnisonen und beim Patrouillendienst entbehrlich sind. Ich habe an Seine Majestät das dringende Ersuchen gerichtet, diesem Sektor zusätzliche Streitkräfte zuzuteilen. Jetzt möchte ich vorschlagen, dass eine Flottenexpedition zum Splitter geschickt wird, um herauszufinden, was dort vorgeht, während hier die Werften genügend Schiffe adaptieren, dass wir notfalls in der Lage sind, die Heimatwelten der Fremden zu zerstören.«

Einige Ratsmitglieder schnappten hörbar nach Luft, und einer von ihnen sprang hastig auf, um sich zu Wort zu melden.

»Dr. Anthony Horvath, Wissenschaftsminister«, verkündete der Vorsitzende.

»Hoheit, Mylords, ich bin einfach sprachlos«, brach Horvath los.

»War’ mir nur lieb«, murmelte Admiral Cranston einige Plätze links von Rod.

Horvath war ein älterer, sorgfältig gekleideter Herr, dessen präzise Gesten und Rede den Pedanten verrieten. Er sprach nicht laut, aber man verstand ihn bis in den letzten Winkel des Saals. »Meine Herren, diese Sonde stellt in keiner Weise eine Bedrohung dar. Sie hatte nur einen Passagier, und der war nicht mehr in der Lage, noch irgendeine Nachricht an seine Heimatwelt zu schicken.« Horvath warf Admiral Cranston einen finsteren Blick zu. »Wir haben keinerlei Anzeichen gefunden, dass diese Wesen eine Überlichtgeschwindigkeitstechnologie besitzen, oder dass uns in irgendeiner Weise Gefahr von ihnen droht, und doch spricht Lord Armstrong von einem Zusammenziehen der Flotte. Er gibt vor, die gesamte Menschheit könne von einem toten fremden Wesen und einem Lichtsegel bedroht werden! Ich frage Sie, ist das vernünftig?«

»Wie lautet Ihr Vorschlag, Dr. Horvath?« fragte der Vorsitzende.

»Eine Expedition ausschicken, gut. Ich stimme Minister Armstrong zu, dass es keinen Sinn hätte, über so große zeitliche Distanz Anweisungen vom Thron zu erwarten. Ein Schiff der Flotte, auch gut, wenn das so viel beruhigender ist. Aber bemannt mit Wissenschaftlern, mit Diplomaten, mit Vertretern des Handels! Wir müssen in Frieden kommen, wie sie in Frieden kamen! Diese Wesen sind keine Rebellen, keine Piraten, wir dürfen sie nicht so behandeln. Eine Gelegenheit wie diese wird es nie wieder geben, meine Herren. Der erste Kontakt zwischen Menschen und fremden Intelligenzwesen! Oh ja, wir werden früher oder später auf andere intelligente Rassen stoßen, aber dies ist und bleibt die erste. Wie wir uns jetzt verhalten, wird in die Geschichte eingehen. Es darf kein Schandfleck werden!«

»Danke, Dr. Horvath«, sagte der Vorsitzende. »Hat noch jemand etwas zu bemerken?«

Alle hatten und redeten durcheinander, bis schließlich die Ordnung wiederhergestellt werden konnte. »Meine Herren, wir müssen zu einer Entscheidung kommen«, erklärte Herzog Bonin. »Welchen Vorschlag wollen wir Seiner Hoheit machen? Soll eine Expedition zum Splitter geschickt werden oder nicht?«

Darüber wurde man sich schnell einig. Militär und Wissenschaften überstimmten Sir Traffins Anhänger mit Leichtigkeit. Die Expeditionsschiffe sollten so bald wie möglich starten.

»Ausgezeichnet«, nickte Bonin. »Und die Natur dieser Unternehmung? Soll es eine militärische oder eine zivile sein?«

Der Zeremonienmeister stieß seinen Stab auf das Podium. Alle Blicke wandten sich dem erhöhten Thron zu, auf dem Merrill unbeteiligt der Debatte gelauscht hatte. »Ich danke dem. Rat, doch in diesem letzten Punkt benötige ich keine Entscheidungshilfe«, sagte der Vizekönig. »Da es dabei um die Sicherheit des Imperiums geht, werden durch eine Ausschließung des Rates keine Sektorvorrechte verletzt.« Die Wirkung dieser würdevollen Aussprache wurde etwas dadurch gemindert, dass Merrill sich mit den Fingern durch die Haare strich. Hastig ließ er die Hand fallen, als er merkte, was er tat.

Ein schwaches Lächeln trat in seine Miene. »Ich vermute ohnedies, dass der Vorschlag des Rates und meine Entscheidung sich decken. Sir Traffin, würde Ihre Fraktion für eine rein wissenschaftliche Expedition stimmen?«

»Nein, Hoheit.«

»Und den Herrn Kriegsminister brauchen wir wohl nicht mehr um seine Meinung zu fragen. Dr. Horvaths Fraktion wäre also in jedem Fall überstimmt. Da für die Vorbereitung einer solchen Expedition nicht der gesamte Rat erforderlich ist, möchte ich gleich jetzt Dr. Horvath, Sir Traffin, Lord Armstrong und Admiral Cranston in meinem Büro sprechen. Admiral, ist der Offizier, von dem Sie sprachen, hier?«

»Jawohl, Hoheit.«

»Bringen Sie ihn mit.« Merrill stand auf und war so rasch verschwunden, dass dem Zeremonienmeister keine Zeit zur Erfüllung seines Amtes blieb. Verspätet stieß er seinen Stab vor dem Bild des Kaisers auf den Boden und verkündete, »Seine Hoheit geruht, diese Ratsversammlung zu entlassen. Möge Gott Seiner Hoheit Weisheit schenken. Gott schütze den Kaiser!«

Während die anderen den Saal verließen, nahm Admiral Cranston Rod beim Arm und führte ihn durch eine kleine Tür hinter dem Podium. »Was halten Sie von dem Zirkus eben?« fragte Cranston.

»Ein ruhiger Zirkus. Ich habe auf Sparta Ratsversammlungen erlebt, wo ich schon dachte, es würde zu einer Prügelei kommen. Der alte Bonin weiß, wie man eine Sitzung führt.«

»Hm. Ihnen ist dieses politische Theater ja vertraut, nicht? Nun, vielleicht sind Sie doch besser geeignet, als ich dachte.«

»Geeignet wofür, Sir?«

»Ist das nicht offensichtlich, Kapitän? Seine Mächtigkeit und ich haben uns gestern Abend geeinigt. Sie werden mit der Mac Arthur zum Splitter fliegen.«

10 Der Planetenkiller

Vizekönig Merrill besaß zwei ›Büros‹. Das eine war groß, kostbar möbliert, mit den Geschenken und Tributen von einem Dutzend Welten geschmückt — ein Amtsraum also. Das obligate Solido des Kaisers beherrschte die eine Wand hinter einem Schreibtisch aus Samualit-Teak, dessen Platte mit Elfenbein und Gold eingelegt war; ein Teppich auslebendem Gras von Tabletop war weicher Bodenbelag und Lufterneuerungsanlage zugleich, und in die Wände aus neuschottischem Urgestein waren unsichtbar 3-D-Fernsehkameras eingelassen, damit Reporter, die über zeremonielle Anlässe berichteten, keine eigenen Kameras mitzubringen brauchten.

Rod konnte sich nur flüchtig in dieser Pracht umsehen, denn er wurde sofort weiter in einen weitaus kleineren, fast mönchisch einfachen Raum geführt. Der Vizekönig saß hinter einem riesigen Duroplast-Schreibtisch. Seine Haare waren höchst unköniglich zerrauft. Er hatte den Kragen seines Uniformrocks geöffnet, und seine Galastiefel standen ordentlich in einer Ecke.

»Ah, kommen Sie rein, Admiral. Sehe, Sie haben Blaine mitgebracht. Wie geht’s Ihnen, mein Junge? Sie werden sich nicht an mich erinnern. Das einzige Mal, als wir uns begegneten, waren Sie, Moment, zwei Jahre alt. Oder drei. Weiß nicht mehr. Und der Marquis, wie geht es ihm?«

»Sehr gut, Hoheit. Hätte er gewusst, dass ich Sie …«

»Ja, hätte gern wieder von ihm gehört. Ein tüchtiger Mann, Ihr Vater. Die Bar ist dort drüben.« Merrill zog einen Stoß Papiere heran und blätterte ihn so schnell durch, dass die Seiten verschwammen. »Ungefähr so, wie ich’s mir vorstellte.« Er kritzelte seine Unterschrift auf die letzte Seite und warf die Akte in das ›Erledigt‹-Fach, das mit einem Husten die Papiere verschlang.

»Vielleicht sollte ich Kapitän Blaine vorstellen …«, begann Admiral Cranston.

»Natürlich, natürlich. Nachlässig von mir. Dr. Horvath, Minister Armstrong, Sir Traffin: Kapitän Blaine von der Mac Arthur. Sohn des Marquis de Crucis, Sie wissen ja.«

»Mac Arthur«, Dr. Horvath legte Abscheu in das Wort. »Ich verstehe. Verzeihen Sie, Hoheit, aber ich kann mir nicht vorstellen, wozu Sie ihn hier haben wollen.« »Nicht? — Soso«, meinte Merrill. »Gebrauchen Sie Ihren Verstand, Doktor. Sie wissen, worum es bei unserem Treffen geht, oder?«

»Die Antwort, die mir mein Verstand gibt, ist mir leider wenig sympathisch, Hoheit. Ich sehe jedoch immer noch keinen Grund, warum dieser — dieser fanatische Militarist an der Planung einer so bedeutungsvollen Expedition teilnehmen sollte.«

»Soll das eine Kritik an einem meiner Offiziere sein, Sir?« fauchte Admiral Cranston. »In diesem Fall muss ich Sie …«

»Das reicht«, sagte Merrill ruhig. Er schob einen weiteren dicken Stoß Akten in das Ausgangsfach und sah nachdenklich zu, wie er verschwand. »Dr. Horvath, Sie können jetzt Ihre Einwände vorbringen, damit wir das wenigstens erledigt haben.« Es war nicht möglich zu entscheiden, wem Merrills leichtes Lächeln galt.

»Meine Einwände sind doch wohl offensichtlich! Dieser junge Mann hat vielleicht die menschliche Rasse in einen Krieg mit den ersten fremden Intelligenzen verwickelt, auf die wir je gestoßen sind. Die Admiralität hat es nicht für nötig befunden, ihn seines Postens zu entheben, aber ich verwahre mich nachdrücklich dagegen, dass er nochmals in Berührung mit den Fremden kommt. Sir, ist Ihnen die Ungeheuerlichkeit seiner Tat denn nicht klar?«

»Nein, Sir, mir nicht!« warf Kriegsminister Armstrong ein. »Aber dieses Schiff hat fünfunddreißig Lichtjahre zurückgelegt. Im Normalraum! Mehr als einhundertfünfzig Jahre unterwegs! Eine Leistung, zu der selbst das Erste Imperium nicht fähig gewesen wäre. Und wozu das alles? Um am Ziel zu Klump geschossen, in die Schleuse eines Kriegsschiffes gestopft und abgeschleppt zu werden …« Dem Wissenschaftsminister ging der Atem aus.

»Blaine, haben Sie die Sonde beschossen?« fragte Merrill.

»Nein, Hoheit. Sie hat uns beschossen. Ich hatte Order, sie abzufangen und zu untersuchen. Als das fremde Schiff meinen Kreuzer angriff, schnitt ich es von dem Lichtsegel los, das es als Waffe einsetzte.«

»Womit Ihnen nur mehr die Wahl blieb, es an Bord zu nehmen oder in die Sonne stürzen zu lassen«, fügte Sir Traffin hinzu. »Das war gute Arbeit, Kapitän.«

»Aber unnötig, wäre die Sonde nicht manövrierunfähig gemacht worden«, sagte Horvath starrsinnig. »Als sie auf Sie feuerte, warum hatten Sie da nicht Verstand genug, hinter dem Lichtsegel Deckung zu nehmen? Der Kapsel zu folgen, nicht sie zu zerstören?

Einen Mord zu begehen?!«

»Dieses Ding hat ein Kriegsschiff des Imperiums angegriffen«, fuhr Cranston auf, »und da finden Sie, dass meine Offiziere nicht …«

Merrill hob beschwichtigend die Hand. »Ich bin neugierig, Kapitän. Warum haben Sie nicht getan, was Dr. Horvath eben vorgeschlagen hat?«

»Ich …« Blaine saß einen Moment lang reglos da, um seine durcheinanderwirbelnden Gedanken zu ordnen. »Also, Sir, unser Treibstoff war schon knapp, und wir waren ziemlich nahe an Cal. Wäre ich der Sonde gefolgt, dann hätten wir selbst bald keine Energie zum Manövrieren gehabt und sie auf jeden Fall verloren. Wenn der Antrieb der Mac Arthur nicht vielleicht ohnehin das Lichtsegel verbrannt hätte. Wir brauchten unsere Geschwindigkeit, um aus dem Gravitationskrater von Cal herauszukommen … und ich hatte den Befehl, die Sonde abzufangen.« Er verstummte und rieb sich die gebrochene Nase.

Merrill nickte. »Eine Frage noch, Blaine. Was dachten Sie, als Sie den Auftrag erhielten, ein Raumschiff fremder Wesen zu überprüfen?«

»Ich war begeistert über die Aussicht, ihnen selbst zu begegnen, Sir.« »Meine Herren, das klingt mir nicht nach fanatischer Xenophobie. Dieser Offizier hat sein Schiff verteidigt, als es angegriffen wurde. Dr. Horvath — wenn er wirklich die Sonde selbst beschossen hätte, und das wäre die einfachste Methode gewesen, eine weitere Gefährdung seines Schiffes zu verhindern, dann würde ich persönlich dafür sorgen, dass er entlassen wird und in keiner wie immer gearteten Kapazität im Dienst Seiner Majestät bleiben kann. Er hat jedoch die Sonde vorsichtig von ihrem gefährlichen Segel losgeschnitten und unter erheblichem Risiko für sein Schiff und seine Leute an Bord genommen. Das gefällt mir, meine Herren.« Er wandte sich an Armstrong. »Dick, möchten Sie den anderen sagen, was wir in Bezug auf die Expedition beschlossen haben?«

»Gern, Hoheit.« Der Kriegsminister räusperte sich umständlich. »Zwei Schiffe. Das Kriegsschiff Lenin und der Kreuzer Mac Arthur. Die Mac Arthur wird den Bedürfnissen Dr. Horvaths angepasst und soll die Zivilteilnehmer der Expedition befördern. Dazu werden Wissenschaftler gehören, Kaufleute, Diplomaten vom Außenamt und das Kontingent von Missionaren, das Seine Eminenz dabei haben will. Dazu kommt die normale Schiffsbesatzung. Sämtliche Kontakte mit der fremden Zivilisation sind alleinige Sache der Mac Arthur

Merrill nickte bestätigend. »Die Lenin wird unter keinen Umständen Fremde an Bord lassen oder riskieren, von ihnen gekapert zu werden. Ich möchte sichergehen, dass diese Expedition uns Informationen zurückbringt.«

»Ist diese Maßnahme nicht übertrieben?« fragte Horvath.

»Nein, Sir.« Sir Traffin stellte es mit Nachdruck fest. »Richard geht es vor allem darum, dass die Fremden keine Gelegenheit erhalten, durch uns das Langston-Feld oder den Alderson-Antrieb kennenzulernen. Ich bin völlig seiner Ansicht.«

»Aber wenn sie — angenommen, sie kapern die Mac Arthur?« fragte Horvath.

Admiral Cranston stieß eine Wolke blauen Pfeifenrauchs aus. »Dann wird die Lenin die Mac Arthur zu Atomen schießen.«

Blaine nickte. Dieser Aspekt war ihm schon vor einer Weile klargeworden.

»Eine solche Entscheidung erfordert einen guten Mann«, stellte Sir Traffin fest. »Wem werden Sie die Lenin anvertrauen?« »Admiral Lawrenti Kutuzov. Wir haben gestern ein Kurierschiff losgeschickt, um ihn abzuholen.« »Der Schlächter!« Horvath knallte seinen Drink auf den Tisch und wandte sich wutentbrannt an den Vizekönig. »Hoheit, ich protestiere! Unter allen Offizieren des Imperiums hätten Sie keinen schlimmeren auswählen können. Sie müssen doch wissen, dass Kutuzov der Mann war, der — der Istvan sterilisierte. Eine Welt zu einem leblosen Schlackebrocken verbrannte! Von allen größenwahnsinnigen Fanatikern der … Sir, ich flehe Sie an, diese Entscheidung rückgängig zu machen. Ein Mann wie dieser könnte … Verstehen Sie denn nicht? Wir haben mit Intelligenzwesen zu tun! Dies könnte der größte Augenblick der Geschichte für uns werden, und Sie wollen eine Expedition unter dem Kommando eines solchen Untermenschen ausschicken, der mit seinen militaristischen Reflexen denkt! Es ist heller Wahnsinn.«

»Es wäre weit eher ein Wahnsinn, eine Expedition unter dem Kommando von jemandem Ihres Schlags zu schicken«, gab Armstrong zurück. »Das ist nicht als Beleidigung gemeint, Doktor, aber Sie können in den Fremden nur Freunde sehen. Sie sehen nur die Vorteile, nicht die Gefahren. Zugegeben, vielleicht sehen meine Freunde und ich zu viele Gefahren, aber es wäre besser für uns alle, wenn ich mich täuschte und nicht Sie.«

»Der Rat …«, protestierte Horvath schwach.

»Dies ist keine Angelegenheit des Rates«, stellte Merrill fest. »Es geht um die Sicherheit des Imperiums, die Verteidigung des Reiches und so weiter, Sie wissen schon. Würde mich interessieren, inwieweit das Kaiserliche Parlament auf Sparta hier mitzureden hätte. Als Vertreter Seiner Majestät in diesem Sektor habe ich jedoch bereits entschieden.«

»Ich verstehe.« Horvath schwieg einen Augenblick lang bedrückt, dann hellte sich seine Miene auf. »Aber Sie sagten, die Mac Arthur würde den wissenschaftlichen Bedürfnissen angepasst werden. Dass wir eine richtige, voll ausgerüstete wissenschaftliche Expedition durchführen können.«

Merrill nickte. »Ja. Ich hoffe, dass Kutuzov nichts zu tun sein wird. Bei Ihnen und Ihren Leuten liegt’s, dass er nichts unternehmen muss. Ist ja nur eine Vorsichtsmaßnahme.«

Blaine räusperte sich vorsichtig.

»Ja, junger Mann, was ist?« erkundigte sich Armstrong.

»Ich fragte mich, was mit meinen Passagieren geschehen soll, Sir.«

»Ah ja. Natürlich«, sagte Merrill. »Senator Fowlers Nichte und dieser Händlerbonze.

Meinen Sie, die beiden würden mitkommen wollen?«

»Ich weiß, dass Sally — Miss Fowler das ganz bestimmt will«, antwortete Rod. »Sie hat zwei Gelegenheiten, nach Sparta zu kommen, nicht genützt, und sie hat praktisch jeden Tag in dieser Sache bei der Admiralität vorgesprochen.«

»Eine Anthropologiestudentin«, murmelte Merrill. »Wenn sie mit möchte, dann soll sie mit. Kann nicht schaden, wenn die Humanitätsliga sieht, dass das keine Strafexpedition ist, und ich kann mir keine bessere Art denken, das allen klarzumachen. Ein guter Schachzug. Was ist mit diesem Bury?«

»Ich weiß nicht, Sir.«

»Stellen Sie fest, ob er mit will«, sagte Merrill. »Admiral, Sie wissen auch kein geeignetes Schiff nach der Hauptstadt, oder?«

»Keins, auf das ich diesen Burschen loslassen möchte«, antwortete Cranston. »Sie haben Plechanovs Bericht gelesen.«

»Ja. Nun gut, Dr. Horvath wollte ja ohnehin Vertreter des Handels mitnehmen. Ich glaube, Seine Exzellenz wird diese Chance nicht verpassen wollen … Sie brauchen ihm bloß zu sagen, es könnte auch einer seiner Konkurrenten eingeladen werden. Das wird den Ausschlag geben. Hab’ noch keinen Kaufmann getroffen, der nicht durch die Hölle ginge, um seiner Konkurrenz ein Schnippchen zu schlagen.« »Wann werden wir starten, Sir?« fragte Rod.

Merrill zuckte die Achseln. »Das liegt bei Horvaths Leuten. Die haben eine Menge Vorbereitungen zu treffen, nehme ich an. Die Lenin sollte etwa in einem Monat eintreffen. Sie wird Kutuzov unterwegs abholen. Danach sehe ich keinen Grund, warum sie nicht starten sollten, sobald die Mac Arthur bereit ist.«

11 Die Kirche von Ihm

Der Wagen der Einschienenbahn sauste leise summend mit gleichmäßigen hundertfünfzig Stundenkilometern dahin. Die kleine Schar von Samstagspassagieren schien stillvergnügt die Fahrt zu genießen. Es waren wortkarge Menschen. In einer Gruppe weiter hinten wurde eine Flasche herumgereicht. Selbst diese Leute benahmen sich nicht laut, sie lächelten nur öfter. Einige wohlerzogene Kinder an Fenstersitzen reckten den Hals, um hinausschauen zu können, zeigten auf etwas und stellten in einem unverständlichen Dialekt Fragen.

Kevin Renner hielt es nicht viel anders. Er beugte sich nahe an das klare Plastikfenster heran, um die fremde Welt besser sehen zu können. Ein unternehmungslustiges Grinsen lag auf seinem mageren Gesicht.

Staley hatte den Sitz am Gang; er erweckte den Eindruck, als hätte er selbst im Sitzen noch Haltung angenommen. Potter saß in der Mitte.

Die drei hatten nicht Urlaub, sondern dienstfrei und konnten jederzeit über ihre Taschencomputer zurückgerufen werden. In den Werften von Neuschottland waren Arbeiter eifrig dabei, die Reste der Flugboote von den Hangarwänden der Mac Arthur zu kratzen und unter Sinclairs Aufsicht größere Reparaturen durchzuführen. Sinclair konnte Potter insbesondere jeden Augenblick benötigen und zurückbeordern — und er musste doch als Einheimischer für die beiden anderen Fremdenführer spielen. Vielleicht musste Staley daran denken, aber er saß nicht etwa aus Besorgnis so steif da. Er unterhielt sich ausgezeichnet. Er konnte einfach nicht anders sitzen.

Naturgemäß redete Potter am meisten und zeigte alle Augenblicke irgendwohin. »Diese zwei Vulkane dort drüben, sehen Sie sie, Mr. Renner? Und diese kastenförmigen Bauten in der Nähe der Gipfel? Die sind für die Atmosphäre-Verbesserung. Wenn die Krater Gas ausspucken, schießen die Kontrollautomaten eine Wolke von extra gezüchteten Algen in den Dampf. Ohne die hätten wir bald wieder reichlich schlechte Luft.«

»Hm. Aber während der Sezessionskriege konnte das wohl kaum in Betrieb gehalten werden. Was habt ihr da gemacht?«

»Uns mit der dicken Luft durchgeschlagen.«

Seltsame, scharfe Linien schnitten durch die Landschaft. Es war ungewohnt, hier das grüne Schachbrettmuster bebauter Felder zu sehen und gleich daneben eine leblose Wüste, fast eine Mondlandschaft, wären nicht die Spuren von Erosion zu erkennen gewesen. Ein breiter Fluss schlängelte sich durch frischgrüne Kulturen, kreuzte eine Grenzlinie, floss weiter durch unfruchtbares Land, als hätte sich nichts geändert.

Unkraut gab es nirgends. Nichts wuchs wild. Der Waldstreifen, an dem sie eben vorbeifuhren, hatte die gleichen scharfen Begrenzungen, war ebenso sauber und ordentlich wie die breiten Blumenbeete, an denen sie zuvor vorbeigekommen waren.

»Diese Welt ist jetzt seit dreihundert Jahren besiedelt«, meinte Renner. »Warum sieht sie immer noch so aus? Ich meine, es müsste sich inzwischen doch Humus gebildet haben, alle möglichen Samen müssten sich ausgebreitet haben. Das Land sollte inzwischen teilweise verwildert sein.«

»Wie oft kann sich’s eine Kolonialwelt schon leisten, bebautes Land verwildern zu lassen? Seit wir hier sind, haben sich die Menschen schneller verbreitet als Humus und Samen.« Potter richtete sich plötzlich auf. »Schaut mal, wir kommen gleich nach Quentins Patch.«

Die Bahn bremste weich ab. Automatisch glitten die Türen auf, und eine Handvoll Leute stieg aus. Potter führte seine Kameraden eilig weiter. Sein Schritt war beinahe beschwingt. Hier war er zu Hause.

Renner blieb plötzlich stehen. »Schaut, man sieht Murchesons Auge sogar bei Tag!«

Tatsächlich war der Stern hoch im Osten recht gut zu erkennen, ein rötlicher Funken am blassblauen Himmel.

»Aber das Angesicht Gottes kann man nicht ausmachen.«

Köpfe wandten sich nach den Flottenoffizieren um. Potter sagte leise: »Mr. Renner, Sie dürfen den Kohlensack auf dieser Welt nicht Angesicht Gottes nennen.«

»Hm. Warum nicht?«

»Ein Ihmist würde ihn das Angesicht von Ihm nennen. Die Leute sprechen nicht direkt von ihrem Gott. Für ein gutes Kirchenmitglied ist das nichts als der Kohlensack.«

»Überall sonst sagt man Angesicht Gottes dazu — Kirchenmitglieder oder nicht.«

»Anderswo im Imperium sind die Leute nicht Ihmisten. Kommt, gehen wir hier entlang, dann erreichen wir die Kirche von Ihm noch vor dem Dunkelwerden.«

Quentins Patch war ein kleines Dorf inmitten von Weizenfeldern. Der Weg war ein breiter, leicht gewellter Basaltstreifen, der wie ein erstarrter Lavafluss aussah. Renner vermutete, dass vor langer Zeit ein Schiff auf den Flammen seiner Hauptdüse über den Boden geschwebt war, um Wege und Straßen auszuschmelzen, bevor die Gebäude errichtet wurden. Jetzt war die Oberfläche von einem Netz feinster Risse überzogen. Da längst zwei- und dreistöckige Häuser die Straßen auf beiden Seiten säumten, konnte man sie nicht gut in der gleichen Weise ausbessern.

»Wie hat das mit den Ihmisten angefangen?« fragte Renner. »Die Legende erzählt«, sagte Potter, unterbrach sich jedoch gleich. »Na, es sieht aus, als war’s nicht nur Legende. Die Ihmisten behaupten jedenfalls, dass das Angesicht Gottes eines Tages erwachte.«

»Was?«

»Er öffnete Sein einziges Auge.«

»Das könnte stimmen, wenn die Splits wirklich Laserkanonen verwendeten, um ihr Lichtsegel anzutreiben. Weiß man, wann ungefähr das war?«

»Hm, ja.« Potter überlegte. »Es geschah leider während der Sezessionskriege. Der Krieg hat uns schwer zu schaffen gemacht, wisst ihr. Neuschottland blieb dem Imperium treu, während Neuirland abfiel. Wir waren etwa gleich stark. Fünfzig Jahre lang etwa bekämpften wir einander, bis keine Interstellarschiffe mehr übrig waren und wir jeden Kontakt mit anderen Systemen verloren. Dann, das war 2870, machte ein Schiff Bruch auf unserer Welt. Es war die Ley Crater, ein Handelsschiff, das für Kriegszwecke umgebaut worden war. Es besaß ein funktionierendes Langston-Feld und einen Laderaum voller Torpedos. Auch so schwer beschädigt war es immer noch das stärkste Schiff im gesamten kaledonischen System. So tief waren wir schon gesunken. Mit diesem Schiff gelang es uns, die Verräter von Neuirland zu vernichten.«

»Das ist hundertfünfzig Jahre her. Sie erzählen aber davon, als hätten Sie’s selber erlebt.«

Potter lächelte. »Uns hier geht unsere Geschichte immer noch verdammt nahe.«

»Natürlich«, sagte Staley.

»Ihr habt nach dem Zeitpunkt gefragt. Aus den Aufzeichnungen der Universität ist das nicht zu ersehen, ’ne Menge Computerdaten wurden durch Kriegsschäden unbrauchbar.

Irgend was ist mit dem Auge passiert, das ist sicher, aber es muss ziemlich gegen Ende des Krieges gewesen sein. Sonst hätte es nicht so einen gewaltigen Eindruck hinterlassen.« »Warum nicht? Das Gesicht — ich meine, das Auge ist das größte, hellste Objekt eures Himmels.« Potter verzog das Gesicht. »Im Krieg hatte das nichts zu bedeuten. Ich hab’ Tagebücher aus der Zeit gelesen. Die Leute flüchteten sich unter das Langston-Feld der Universität. Als sie sich wieder hervorwagten, sahen sie den Himmel nur als Schlachtfeld, voll seltsamer Lichter und Strahlen und Feuerbälle von explodierenden Schiffen. Erst nach Kriegsende begannen die Menschen wieder den Sternenhimmel zu beobachten. Die Astronomen versuchten herauszufinden, was mit dem Auge geschehen war. Und zu dieser Zeit hatte Howard Grote Littlemead seine göttliche Erleuchtung. Er stellte fest, dass das Angesicht Gottes wirklich genau das sei.

Ja, davon war er überzeugt. Und er konnte eine Menge Leute zu seiner Ansicht bekehren. Wir sind da, meine Herren.«


Die Kirche von Ihm war eindrucksvoll und schäbig zugleich. Sie war aus Naturstein errichtet worden, um dem Zahn der Zeit besser zu widerstehen, aber es waren doch Spuren ihres Alters zu erkennen. Der Stein war von vielen Stürmen glattgeschliffen worden, Dachstuhl und Deckenbalken waren rissig; an vielen Stellen hatten Besucher mit Lasern oder anderen Werkzeugen ihre Initialen oder eine Obszönität eingeschnitten.

Der Priester war ein großer, untersetzter Mann, der irgendwie verweichlicht und müde wirkte. Er beharrte jedoch mit unerwarteter Zähigkeit auf seiner Weigerung, die drei in die Kirche zu lassen. Es nützte nichts, dass Potter sich als Bürger der Stadt zu erkennen gab. Die Kirche von Ihm und ihre Priester hatten von Leuten der Siedlung viel auszustehen gehabt.

»Ach, kommen Sie, warum können wir uns nicht einigen?« meinte Renner zu ihm. »Sie glauben doch nicht ernstlich, dass wir irgendein Sakrileg begehen wollen, oder?«

»Ihr seid keine Gläubigen. Was wollt ihr da drinnen?« »Wir möchten nur den — das Angesicht von Ihm in seiner Herrlichkeit sehen. Danach werden wir wieder gehen. Wenn Sie uns nicht hineinlassen, könnten Sie dazu gezwungen werden, wenn wir uns an höhere Stellen wenden. Es handelt sich um eine Angelegenheit der Flotte.«

Der Priester musterte ihn verächtlich. »Hier ist Neuschottland, nicht eine von diesen Hinterwäldlerkolonien, auf denen’s als einzige Behörden nur eure fluchenden, rüden Flotteninfanteristen gibt. Ihr brauchtet zumindest eine Order vom Vizekönig, um hier gegen meinen Willen reinzukommen. Und ihr seid schließlich bloß Touristen.«

»Haben Sie von der fremden Raumsonde gehört?«

Der Priester verlor etwas von seiner Selbstsicherheit. »M-ja.«

»Wir glauben, dass sie vom Splitter kommt und mit Laserstrahlen von dort angetrieben wurde.«

Der Priester war verblüfft. Dann begann er zu lachen. Er lachte laut und lange. Lachend gab er ihnen den Weg frei. Er sagte nichts mehr, sondern führte sie über die abgetretenen Steinfliesen durch die Vorhalle in den Hauptraum des Heiligtums. Dann trat er zur Seite und beobachtete ihre Mienen.

Das Angesicht von Ihm nahm eine halbe Querwand ein. Es schien ein riesiges Hologramm zu sein. Die weiter am Rand liegenden Sterne waren leicht verschwommen, was darauf hindeutete, dass das Hologramm sehr alt sein musste. Und wie jedes Hologramm wirkte es nicht einfach nur dreidimensional, es hatte eine Tiefe, die einen glauben ließ, in die Unendlichkeit zu blicken.

Das Auge in diesem Gesicht flammte grün und erschreckend hell. Reines Grün mit einem roten Funken darin.

»Guter Gott!« sagte Staley und fügte hastig hinzu: »Entschuldigung, ich meinte das nicht so. Aber diese — diese Helligkeit! Diese Energie! Eine sehr weit entwickelte Welt muss ihre gesamte wirtschaftliche und technische Kapazität aufgeboten haben, dass fünfunddreißig Lichtjahre entfernt noch so viel Licht wahrzunehmen ist!«

»Ich dachte, meine Erinnerung hätte mich getrogen — es könnte nicht wirklich so groß sein«, flüsterte Potter.

»Da seht ihr es!« triumphierte der Priester. »Und ihr glaubt, das sei ein natürliches Phänomen! Nun, habt ihr genug gesehen?«

»Ja«, knurrte Renner, und die drei verließen die Kirche.

Draußen begann es bereits dunkel zu werden. Renner schüttelte den Kopf. »Ich kann Littlemead verdammt gut verstehen«, sagte er. »Was mich wundert, ist, dass er nicht jeden Menschen dieser Welt bekehrt hat.«

»Wir sind eben Dickschädel«, meinte Potter. »Und dann ist uns vielleicht diese einäugige Silhouette am Himmel irgendwie als ein Wink mit dem Zaunpfahl vorgekommen …«

»Hier bin ich, ihr blinden Narren!« meinte Renner.

»Ja, so ungefähr. Und wir Neuschotten lassen uns nicht gern als Dummköpfe ansehen, nicht mal von Ihm.« Renner sagte, die Schäbigkeit des verwahrlosten Bauwerks noch vor Augen: »Die Kirche von Ihm scheint schlechte Zeiten durchgemacht zu haben, seit Littlemead seine Erleuchtung hatte.«

»Kann man schon sagen. Im Jahre 2902 erlosch dieses auffallend helle Licht. Vor hundertfünfzehn Jahren also. Dieses Datum ist recht gut bezeugt. Damit war’s auch mit unserer Astronomie aus, bis das Imperium uns wieder entdeckte.«

»Ist der Splitter plötzlich erloschen?«

Potter zuckte die Achseln. »Weiß keiner. Es war vermutlich nur auf der anderen Seite der Welt zu beobachten. Ihr werdet ja festgestellt haben, dass die Zivilisation hier nicht mehr ist als ein sich langsam ausbreitender Fleck auf einem leeren Planeten. Naja, als an diesem Abend der Kohlensack am Himmel erschien, wirkte das Gesicht wie erblindet. Für die Ihmisten muss das ausgesehen haben, als sei Gott wieder eingeschlafen.«

»Hat sie’s hart getroffen?«

»Howard Grote Littlemead nahm eine Überdosis Schlaftabletten. Die Ihmisten sagten, er hätte es nicht mehr erwarten können, zu seinem Schöpfer zu gehen.«

»Vielleicht, weil er eine Erklärung fordern wollte«, meinte Renner. »Sie sagen ja gar nichts, Mr. Staley.«

Horst blickte auf. Seine Miene war ernst. »Sie können Lasergeschütze bauen, deren Licht den Himmel beherrscht. Und wir kommen mit einer militärischen Expedition zu ihnen.«

12 Sprung ins Inferno

Das Hangardeck fasste die Menschenmenge gerade noch. Die geschlossenen Schleusentore — wieder in Ordnung gebracht, allerdings nicht ohne Spuren — waren die einzige ebene Fläche, die der versammelten Schiffsbesatzung und den Wissenschaftlern und Gästen Platz bot, obwohl es auch hier ziemlich eng zuging. Der Hangarraum selbst war bis an die Grenze seines Fassungsvermögens vollgeladen: zusätzliche Landeboote, das Beiboot und der Kutter, Kisten mit wissenschaftlichen Geräten, mit Vorräten und Ersatzteilen und anderem Zeug, dessen Zweck nicht einmal Blaine kannte. Dr. Horvaths Leute hatten darauf bestanden, nahezu sämtliche wissenschaftlichen Hilfsmittel ihrer jeweiligen Fachgebiete mitzunehmen, da keiner wusste, was man wirklich brauchen würde. Die Admiralität konnte gegen dieses Argument auch nichts vorbringen.

Jetzt herrschte ein abscheuliches Gedränge auf dem Hangardeck. Vizekönig Merrill, Minister Armstrong, Admiral Cranston, Kardinal Randolph und eine Schar weniger bedeutender Beamter standen verwirrt herum, und Rod konnte nur hoffen, dass seine Offiziere mit den Startvorbereitungen zu Rande gekommen waren. Die letzten Tage waren für ihn ein hektisches Durcheinander zumeist gesellschaftlicher Verpflichtungen gewesen, so dass ihm für seine eigentlichen Pflichten kaum Zeit geblieben war. Jetzt vor Beginn der Abschiedszeremonien wünschte Rod, er hätte das gesellschaftliche Leben der Hauptstadt ignoriert und wäre wie ein Einsiedler an Bord geblieben. Für ein Jahr etwa würde er nun unter dem Kommando von Admiral Kutuzov stehen, und er hatte den Verdacht, dass der Admiral mit dem ihm unterstellten Schiffskommandanten nicht übermäßig zufrieden war. Bei der Zeremonie auf den Hangartoren der Mac Arthur glänzte der Russe jedenfalls durch Abwesenheit.

Niemand vermisste ihn. Kutuzov war ein untersetzter, kräftiger Mann mit einem groben Sinn für Humor. Er schaute aus wie ein Typ aus einem Bildband über russische Geschichte und redete auch so. Zum Teil war das auf seine Erziehung auf St. Ekaterina zurückzuführen, im wesentlichen aber auf seinen eigenen Geschmack. Kutuzov beschäftigte sich oft stundenlang mit dem Studium alter russischer Bräuche und nahm viele davon selbst an, um seine Lebensweise noch stilgerechter zu machen. Die Brücke seines Flaggschiffs war mit Ikonen geschmückt, in seiner Kabine gurgelte ein Samowar, und seine Infanteristen übten sich im Kosakentanz.

In der Flotte war die Meinung über diesen Mann einhellig: äußerst zuverlässig; er hielt sich streng an jeden Befehl und kannte so wenig menschliches Mitgefühl, dass sich alle in seiner Gegenwart ungemütlich fühlten. Da Admiralität und Parlament offiziell Kutuzovs Befehl billigten, einen Rebellenplaneten zu zerstören — der Kaiserliche Rat hatte festgestellt, dass diese drastische Maßnahme die Revolte eines ganzen Sektors im Keim erstickt hatte —, wurde Kutuzov bei gesellschaftlichen Anlässen eingeladen.

Niemand bedauerte es jedoch, wenn er ablehnte. »Die größte Schwierigkeit sind diese vertrottelten russischen Sitten«, hatte Sinclair festgestellt, als die Offiziere der Mac Arthur ihren neuen Admiral zerpflückten.

»Das gilt genauso für die Schotten«, gab der Erste Offizier Cargill zurück. »Zumindest verlangt er nicht von uns, dass wir Russisch verstehen. Er spricht sehr gut Anglic.«

»Soll das vielleicht heißen, dass wir Schotten nich’ Anglic können?« erkundigte sich Sinclair erregt.

»Na, raten Sie mal.« Doch dann lenkte Cargill doch lieber ein.

»Natürlich nicht, Sandy. Nur manchmal, wenn Sie sich aufregen, versteh’ ich Sie nicht, aber … da, mögen Sie noch einen Drink?«

Und das, dachte Rod, war der Schlager gewesen: Cargill, der sein Bestes gab, Sinclair freundlich zu stimmen. Der Grund war natürlich klar. Solange das Schiff in den Werften von Neuschottland lag und den Leuten von Werftmeister Mac Pherson ausgesetzt war, gab sich Cargill alle Mühe, den Ersten Maschinisten nicht zu verärgern — oder sonst einen Schotten. Es konnte ihm sonst passieren, dass seine Kabine ausgebaut wurde, wenn man nicht noch schlimmere Sanktionen erfand.

Vizekönig Merrill hatte etwas gesagt. Rod riss sich von seinen Gedanken los und bemühte sich, in dem wirren Durcheinander von Stimmen und Geräuschen etwas zu verstehen.

»Ich sagte, Kapitän, dass ich wirklich nicht einsehe, warum diese ganze Zeremonie nicht am Boden veranstaltet werden konnte — natürlich mit Ausnahme Ihres Segens, Eminenz.«

»Es haben schon viele Schiffe Neuschottland verlassen ohne meinen Segen«, meinte der Kardinal. »Es war allerdings keines darunter, das zu einer für die Kirche so bedeutsamen Reise aufgebrochen wäre wie dieses. Nun, von heute an wird sich der junge Hardy mit der Problematik dieser Unternehmung zu befassen haben.« Er wies auf den Expeditionskaplan. David Hardy war beinahe doppelt so alt wie Blaine und ihm rangmäßig gleichgestellt, so dass der Kardinal sich auf den Altersunterschied zu ihm selbst bezogen haben musste.

»Also, sind wir so weit?«

»Jawohl, Eminenz.« Blaine nickte Kelley zu.

»Alle Mann! Ach-tung!« Das Geplauder verstummte, es versickerte nach und nach — wären keine Zivilisten an Bord gewesen, hätte der Befehl abrupt Schweigen hergestellt.

Der Kardinal zog eine schmale Stola aus der Tasche, küsste den Saum und legte sie sich um. Kaplan Hardy reichte ihm das silberne Weihwassergeschirr und einen Stab mit einer durchbrochenen Hohlkugel am Ende. Kardinal Randolph tauchte den Stab in das Gefäß und sprengte Wasser gegen die versammelten Offiziere und Besatzungsmitglieder. »Du sollst mich läutern, und ich werde rein sein. Du sollst mich waschen, und ich werde weißer sein als Schnee. Ehre sei dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist.«

»Wie es war im Anfang, wie es jetzt ist und immer sein wird, auf allen Welten ohne Ende, Amen.« Rod hörte sich automatisch antworten. Glaubte er das denn alles? Oder war es nur ein Ritual, das gut für die Disziplin war? Er wurde sich nicht klar darüber, aber er war froh, dass der Kardinal gekommen war. Wer weiß, vielleicht konnte die Mac Arthur seinen Segen brauchen …

Die Besucher gingen an Bord einer Landefähre, als das erste Warnsignal ertönte. Die Besatzung der Mac Arthur verließ hastig das Hangardeck, und Rod trat in eine Luftschleuse, um den Start des Bootes zu beobachten. Große Pumpen begannen zu dröhnen. Die Luft wurde aus dem Hangarraum gepumpt, dann öffnete sich das mächtige Flügeltor. Inzwischen war die Rotation der Mac Arthur auf die mächtigen, zentral gelegenen Schwungräder übertragen worden. Wenn nur Flottenangehörige an Bord waren, konnte ein Fährboot auch unter Rotation aus dem Hangar starten — es ging dann in einer relativ zur Mac Arthur gekrümmten Bahn hinunter, weil der Coriolis-Effekt[1] zur Geltung kam. Mit dem Vizekönig und dem Kardinal an Bord kam das nicht in Frage. Die Fähre hob sich sanft aus dem Hangar, bis sie außerhalb des Rumpfes schwebte.

»Schließen und sichern«, befahl Rod erleichtert. »Alles klar für Beschleunigung.« Noch herrschte Schwerelosigkeit, als er sich abstieß und auf den Weg zur Brücke machte.

Hinter ihm, im Hangarraum, schoben sich Teleskopstreben aus der Wand, Spanndrähte und alle möglichen Sorten von Abstützungen, bis kaum mehr freier Raum übrig war. Der Hangar eines Kriegsschiffs ist eine höchst komplizierte Konstruktion, da Aufklärboote unter Umständen binnen weniger Augenblicke startklar sein müssen, andererseits der große Hohlraum irgendwie abgesichert werden musste. Mit den zusätzlichen Booten von Horvaths Leuten war das Hangardeck der Mac Arthur ein Dschungel von Raumbooten, Kisten und Verstrebungen.

Im übrigen Schiff herrschte nicht weniger Platzmangel. Anstelle der üblichen, geordneten Aktivität, die einer Beschleunigungswarnung folgte, gab es ein wildes Gedränge in allen Korridoren. Einige Wissenschaftler steckten halb in Panzeranzügen, weil sie die Beschleunigungswarnung mit dem Signal für Gefechtsbereitschaft verwechselt hatten. Andere hingen in den Gängen herum, waren der Mannschaft im Wege und wussten nicht, wohin sie sollten. Unteroffiziere brüllten sie an und verfluchten sie innerlich, denn mehr als anbrüllen konnten sie Zivilisten nicht.

Rod erreichte endlich die Brücke, während überall Offiziere und Bootsleute beschämt das Durcheinander zu beseitigen versuchten, um ›alles klar zur Beschleunigung‹ melden zu können. Rod wusste recht gut, dass seine Leute keine Schuld hatten, wenn sie mit den Wissenschaftlern nicht fertig wurden. Andererseits konnte er die Lage nicht einfach ignorieren. Wenn er Nachsicht übte, würde seine Besatzung gegen die Wissenschaftler noch viel weniger aufkommen. Er hatte zwar gegen den Wissenschaftsminister und seine Leute keinerlei Handhabe, aber wenn er seine eigenen Männer streng genug zusammenstauchte, würden die Wissenschaftler vielleicht der Besatzung zuliebe tun, was man ihnen sagte … Diese Idee war einen Versuch wert, fand er. Ein Blick auf einen Bildschirm, der zwei Infanteristen und vier zivile Labortechniker zeigte, die in einem Knäuel am achternen Messeschott klebten, ließ Rod leise fluchen und inständig hoffen, dass seine Methode funktionieren würde. Irgend etwas musste geschehen.


»Signal vom Flaggschiff, Sir. Position zur Redpines halten.«

»Bestätigen, Mr. Potter. Mr. Renner, Sie übernehmen und folgen dem Tanker Nummer Drei.«

»Aye, aye, Sir.« Renner grinste begeistert. »Nun geht’s los. Schäbig, dass das Reglement für solche Gelegenheiten keinen Sekt vorsieht.«

»Ich dächte, Sie hätten schon genug zu tun, Mr. Renner. Admiral Kutuzov besteht darauf, dass wir ordentliche Formation halten, wie er es nennt.«

»Ja, Sir. Ich habe gestern Abend schon mit dem Steuermann der Lenin gesprochen.« »Oh.« Rod ließ sich in seinen Kommandositz sinken. Es würde eine schwierige Reise werden, sagte er sich. Diese vielen Wissenschaftler! Und Dr. Horvath hatte darauf bestanden, selbst mitzukommen. Er begann sich zu einem separaten Problem auszuwachsen. Das Schiff war so voller Zivilisten, dass die meisten Offiziere der Mac Arthur sich ihre ohnehin zu kleinen Kabinen teilen mussten, dass die jüngeren Leutnants im Geschützraum bei den Kadetten ihre Hängematten unterbrachten, und dass Infanteristen in den Erholungsräumen einquartiert wurden, weil ihre Kojen für empfindlichere wissenschaftliche Geräte benötigt wurden. Rod begann zu wünschen, Horvath hätte seine Meinungsverschiedenheit mit Cranston gewonnen. Der Wissenschaftler hatte für die Expedition einen Mannschaftstransporter mit ungleich viel höherem Fassungsvermögen haben wollen.

Die Admiralität hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Es würden nur Schiffe an der Expedition teilnehmen, die sich auch verteidigen konnten — und nur solche. Die Tanker würden die Schiffe bis zu Murchesons Auge begleiten, aber sie kamen nicht mit zum Splitter.


Aus Rücksicht auf die Zivilisten wurden 1,2 Ge während des Fluges beibehalten. Rod musste zahllose Dinnergesellschaften über sich ergehen lassen, hatte Streitigkeiten zwischen Wissenschaftlern und der Besatzung zu schlichten und vereitelte wiederholte Versuche Dr. Buckmans, des Astrophysikers, Sallys Zeit für sich zu beanspruchen.

Der erste Sprung war eine Routinesache. Der Übergangspunkt zu Murchesons Auge war bestens kartiert. Die Sonne von Neukaledonien war ein grell leuchtender weißer Punkt in dem Augenblick vor dem Sprung. Im nächsten war Murchesons Auge eine trübrote Glutkugel von der scheinbaren Größe eines Tennisballs.

Der Konvoi bewegte sich auf den Feuerball zu. Gavin Potter hatte mit Horst Staley die Hängematte getauscht. Das hatte ihn eine Woche Mühe und einiges mehr gekostet, aber den Preis war es wert. Staleys Hängematte befand sich nämlich neben einer Sichtluke.

Die Luke war in die zylindrische Wand des Geschützraums eingelassen. Wenn das Schiff rotierte, befand sie sich natürlich im Boden. Potter lag oft in seiner Hängematte und schaute hinaus, ein sanftes Lächeln auf seinem schmalen Gesicht.

Whitbread hatte eine Hängematte gegenüber. Er beobachtete Potter nun schon seit einigen Minuten.

»Mr. Potter.«

Der Neuschotte wendete kaum den Kopf. »Ja, Mr. Whitbread?«

Whitbread beobachtete ihn weiter, die Arme unter dem Kopf verschränkt. Er war sich durchaus bewusst, dass ihn Potters Faszination für Murchesons Auge verdammt wenig anging. Unverständlicherweise blieb Potter immer höflich. Wie viel Stichelei würde er wohl schlucken?

Es gab genügend unterhaltsame Ereignisse an Bord der Mac Arthur, aber wenn man bloß Kadett war, hatte man herzlich wenig davon. In seiner dienstfreien Zeit musste er selber für seine Unterhaltung sorgen.

»Potter, wenn ich mich recht erinnere, kamen Sie von Dagda auf die Mac, kurz bevor wir die Sonde einfingen.« Whitbread besaß eine recht laute Stimme. Horst Staley, der ebenfalls Freiwache hatte, drehte sich in Potters ehemaliger Koje um und widmete den beiden seine Aufmerksamkeit. Whitbread bemerkte es nur scheinbar nicht.

Potter schaute blinzelnd auf. »Ja, Mr. Whitbread. Das stimmt.«

»Nun, irgend jemand muss es Ihnen ja sagen, und ich fürchte, es hat bis jetzt noch niemand daran gedacht. Das erste Unternehmen, das Sie mitmachten, ließ Sie einen Sturz in eine FS-Sonne erleben. Ich hoffe sehr, dass Ihnen das nicht den Dienst bei der Flotte verleidet hat.«

»Aber keineswegs. Ich fand es sehr interessant«, antwortete Potter höflich.

»Die Sache ist die, es kommt bei der Flotte nur selten vor, dass wir uns geradewegs in eine Sonne stürzen. Wirklich, es passiert nicht auf jeder Reise. Ich finde, das musste Ihnen einmal jemand sagen.«

»Aber, Mr. Whitbread, werden wir nicht jetzt genau das tun?« »Huh?« Das hatte Whitbread nicht erwartet.

»Kein Schiff des Ersten Imperiums hat jemals den Übergang von Murchesons Auge zum Splitter entdeckt. Sie haben ihn vielleicht nicht gebraucht, aber wir können sicher sein, dass sie zumindest danach gesucht haben«, erklärte Potter ernsthaft. »Ich hab’ wohl wenig Raumerfahrung, Mr. Whitbread, aber ich hab’ was gelernt. Murchesons Auge ist ein roter Superriese, ein großer Stern von sehr geringer Dichte, so groß im Durchmesser wie die Bahn des Saturn im Sol-System. Es ist also recht wahrscheinlich, dass der Alderson-Punkt für den Splitter innerhalb dieses Sterns liegt, wenn einer existiert. Oder sind Sie anderer Meinung?«

Horst Staley richtete sich auf einen Ellbogen auf. »Ich glaube, er hat recht. Das würde erklären, warum nie jemand die Daten des Übergangspunktes festgestellt hat. Alle wussten, wo er liegen musste …«

»Aber keiner wollte hin und es überprüfen. Ja, natürlich hat er recht«, sagte Whitbread erbittert. »Und wir fliegen mitten hinein. Oho! Wieder mal!«

»Genau!« sagte Potter mit einem sanften Lächeln und wandte sich wieder seiner Sichtluke zu.

»Es ist höchst ungewöhnlich«, protestierte Whitbread. »Auch wenn Sie’s mir nicht glauben, wir fliegen nicht jedes mal in Sterne hinein. Nicht öfter als bei zwei von drei Reisen.« Er schwieg einen Augenblick lang und murmelte dann: »Und selbst das ist mir noch zuviel.«


Die kleine Flottille machte am verschwommenen Rand von Murchesons Auge halt. Um Bahndaten und ähnliche Probleme brauchte man sich nicht zu kümmern, denn so weit draußen war die Gravitation des Superriesen schon so gering, dass es Jahre gedauert hätte, bis ein Schiff tiefer in ihn hineingefallen wäre. Die Tanker stellten die Verbindung zu den Expeditionsschiffen her und begannen mit dem Treibstofftransfer.


Eine seltsame, zögernde Freundschaft hatte sich zwischen Horace Bury und Buckman, dem Astrophysiker, entwickelt. Bury wunderte sich manchmal darüber. Was fand Buckman an Bury?

Buckman war hager, knochig und leicht gebaut wie ein Vogel. Er sah aus, als ob er manchmal tagelang aufs Essen vergäße. Buckman kümmerte sich anscheinend um nichts und niemanden in der Welt, die für Bury die einzig reale war: Menschen, Zeit, Macht, Geld waren für Buckman nur die Mittel, die ihm halfen, die Vorgänge im Innern von Sternen zu erforschen. Warum sollte ein Mann wie er die Gesellschaft eines Kaufmanns suchen?

Buckman redete jedoch gerne, und Bury hatte wenigstens die Zeit, ihm zuzuhören. In der Mac Arthur ging es dieser Tage wie in einem Bienenstock zu, hektischer Betrieb rund um die Uhr und dazu die Enge überall — in Burys Kabine konnte man wenigstens ein paar Schritte hin und her gehen.

Oder, überlegte Bury zynisch, der Kaffee hatte es Buckman angetan. Bury besaß fast ein Dutzend verschiedene Sorten Kaffeebohnen, eine eigene Kaffeemühle und ein Filtergerät zum Zubereiten. Er wusste recht gut, wie sein Kaffee schmeckte, verglichen mit dem aus den riesigen Espressomaschinen des Schiffs.

Nabil servierte ihnen frischen Kaffee, während sie auf Burys Bildschirm dem Treibstofftransfer zusahen. Der Tanker, der die Mac Arthur versorgte, war nicht zu sehen, doch die Lenin und der zweite Tanker hoben sich als samtschwarze, langgezogene Ovale, die eine silbrige Nabelschnur verband, von dem verschwommenen Scharlachhintergrund ab.

»So gefährlich wird es nicht werden«, sagte Dr. Buckman. »Sie sehen es als einen Flug in eine Sonne an, Bury. Theoretisch betrachtet ist es genau das. Aber dieses Riesenvolumen besitzt nicht annähernd die Dichte von Cal oder einem ähnlichen gelben Zwergstern. Das Auge ist nicht mehr als eine rotglimmende Gaswolke, die kaum dichter als das Vakuum ist. Abgesehen vom Kern, natürlich — der vermutlich klein und sehr dicht ist.

Wir werden eine Menge lernen, wenn wir weiter hinein kommen«, fügte er hinzu. Sein Blick verlor sich im Unendlichen, seine Augen leuchteten. Bury, der ihn von der Seite beobachtete, fand den Ausdruck faszinierend. Er hatte ihn schon zuvor gesehen, aber sehr, sehr selten. Diesen Blick hatten Menschen, die nicht käuflich waren, mit keiner Währung, die Horace Bury zu Verfügung stand.

Buckman hatte für Bury nicht mehr praktischen Nutzen als umgekehrt. Aber Bury fühlte sich in Buckmans Gesellschaft ungezwungen und entspannt — so weit er sich überhaupt in Gegenwart anderer entspannen konnte. Er empfand das Gefühl als angenehm. »Ich dachte, Sie wüssten bereits alles über das Auge«, sagte Bury.

»Sie meinen, aus Murchesons Untersuchungen? Zu viele Aufzeichnungen sind verloren gegangen, der Rest ist zum Teil wenig zuverlässig. Meine Instrumente laufen seit dem Sprung. Wissen Sie, Bury, der Anteil von schweren Teilchen im Sonnenwind ist erstaunlich hoch. Und Helium — einfach unglaublich. Murchesons Schiffe sind allerdings nie bis ins Auge selbst vorgestoßen, soweit wir wissen. Erst da werden wir interessante Dinge erfahren.« Buckman runzelte die Stirn. »Ich hoffe nur, unsere Instrumente werden es aushalten. Sie müssen natürlich aus unserem Langston-Feld herausragen. Und wir werden uns einige Zeit in diesem rotglühenden Nebel aufhalten. Bury, wenn das Feld zusammenbricht, ist unsere ganze Mühe umsonst!«

Bury sah ihn groß an und begann zu lachen. »Ja, Doktor, das kann man wohl sagen!«

Buckman schaute ihn verwirrt an. Dann meinte er: »Ah. Ich verstehe, was Sie meinen.

Wir würden auch dabei umkommen, nicht? Daran habe ich gar nicht gedacht.«

Das Beschleunigungssignal ertönte. Die Mac Arthur brach auf zu ihrem Flug ins Auge.


Aus Rods Sprechanlage drangen Sinclairs schottische Urlaute. »Maschinenraum meldet alle Systeme grün, Käptn. ’s Feld hält sich topp, draußen isses nich’ so warm wie wir dachten.«

»Gut«, antwortete Blaine, »danke, Sandy.«

Auf dem einen Bildschirm konnte Rod die Tanker zurückfallen sehen. Sie waren bereits etliche tausend Kilometer entfernt, und nur die Teleskopkameras konnten sie noch als Lichtpunkte unter den Sternen ausmachen.

Der Schirm daneben zeigte einen weißen Fleck in einem rötlichen Nebel: die Lenin, die in das rotglühende Gas des Riesensterns voranflog. Die Besatzung der Lenin würde nach dem Alderson-Punkt suchen und ihn finden, wenn es überhaupt einen gab.

»’s is’ aber sicher, dass das Feld früher oder später nach innen strahlt«, meldete sich Sinclair wieder. »Die Hitze kann nirgends hin, also speichert’s dauernd Energie. Käptn, das hier is’ nich’ wie eine Raumschlacht. Aber wir können uns zumindest zweiundsiebzig Stunden halten, ohne dass wir Energie abstrahlen müssten. Danach — naja, das hat noch keiner ausprobiert.« »Ich verstehe.«

»Hätte man aber ausprobieren sollen«, meinte Renner unbeeindruckt. Er hatte von seinem Platz im Brückenraum aus zugehört. Die Mac Arthur flog mit einem Ge, aber er musste doch seinen Instrumenten einige Aufmerksamkeit widmen, weil die Photosphäre des Auges mehr Reibungswiderstand verursachte als erwartet. »Man sollte meinen, dass Murcheson es versucht hat. Das erste Imperium besaß bessere Schiffe als wir.«

»Vielleicht hat er’s versucht«, meinte Rod geistesabwesend. Er sah zu, wie die Lenin langsam davonzog, den Weg erkundete für die Mac Arthur, und er verspürte etwas wie Verstimmung. Die Mac Arthur hätte voranfliegen müssen …

Die höheren Offiziere versuchten auf ihren Posten, zu etwas Schlaf zu kommen.

Natürlich konnte niemand viel tun, wenn das Feld wirklich zuviel Energie aufnahm, aber Rod fühlte sich besser in seinem Kommandositz. Endlich zeigte es sich, dass seine Anwesenheit wirklich nicht mehr nötig war.

Ein Signal von der Lenin traf ein, und die Mac Arthur stoppte die Maschinen.

Warnsirenen ertönten, als das Schiff wieder in Rotation versetzt wurde. Schließlich zeigte ein neuerlicher Heulton an, dass die unangenehmen Schwereänderungen vorüber waren. Mannschaft und Passagiere schnallten sich von Andruckliegen und Gurthalterungen los.

»Lassen Sie die Leute unten ablösen«, befahl Rod.

Renner stand auf und reckte sich ausgiebig. »Das hätten wir also, Käptn«, meinte er.

»Natürlich müssen wir dann abbremsen, wenn die Photosphäre dichter wird, aber das wird nicht so schlimm. Die Reibung bremst uns ohnehin.« Er musterte die Bildschirme und tippte flink einige Fragen an den Computer ein. »Das da draußen ist nicht so dick wie, sagen wir, eine normale Atmosphäre, aber auf jeden Fall ein ganzes Stückchen dichter als ein Sonnenwind.«

Das konnte Blaine selbst sehen. Die Lenin, mit abgeschalteten Maschinen immer noch vorausfliegend, war gerade noch erkennbar. Auf den Bildschirmen war sie ein schwarzer Fleck, dessen Umrisse von viertausend Kilometern rotglühendem Gas verwischt wurden.

Sie begannen allmählich in dichtere Regionen des Auges vorzustoßen. Rod blieb noch eine Stunde auf der Brücke, dann kam ihm zu Bewusstsein, dass er ziemlich rücksichtslos war. »Mr. Renner.«

»Ja, Sir?«

»Sie können sich jetzt ablösen lassen. Mr. Crawford soll übernehmen.« »Aye, aye, Sir.«

Renner machte sich auf den Weg in seine Kabine. Er war bereits vor achtundfünfzig Minuten zu dem Schluss gekommen, dass er auf der Brücke nicht mehr benötigt wurde.

Jetzt winkte ihm eine heiße Dusche und etwas Schlaf in seiner Koje nach den Stunden im Navigatorsitz.

Der Gang vor seiner Kabine war wie üblich voller Menschen, und Kevin Renner drängte sich entschlossen durch — plötzlich stieß jemand heftig mit ihm zusammen.

»Verdammt! Tut mir leid«, fauchte er. Sein Gegenüber kam wieder auf die Füße, indem er sich an Renners Uniformrock festhielt. »Dr. Horvath, nicht wahr?«

»Entschuldigen Sie.« Der Wissenschaftsminister trat einen Schritt zurück und klopfte ungeschickt seine Kleider ab. »Ich habe mich noch nicht an die Fliehkraft gewöhnt.

Keiner von uns kommt mit der Rotationsschwere zurecht. Der Coriolis-Effekt macht uns zu schaffen, wissen Sie.«

»Nein. Die Ellbogen«, sagte Renner unfreundlich. Dann setzte er wieder sein übliches Grinsen auf. »Wissen Sie, Doktor, es sind sechsmal soviel Ellbogen wie Leute in diesem Schiff. Ich hab’s gezählt.«

»Sehr witzig, Mr. — Renner, nicht wahr? Navigator Renner. Hören Sie, Renner, diese Enge geht meinen Leuten genauso auf die Nerven wie Ihren. Wenn wir Ihnen aus dem Weg gehen könnten, würden wir’s tun. Aber das ist unmöglich. Wir müssen möglichst viele Daten über das Auge sammeln. Eine solche Gelegenheit haben wir vielleicht nie wieder.«

»Ich weiß, Doktor. Sie haben mein Verständnis, aber wenn Sie mich jetzt …«

Wunschträume von heißem Wasser und frischem Bettzeug lösten sich auf, als Horvath ihn erneut an den Kragenaufschlägen packte.

»Einen Augenblick noch, bitte.« Horvath schien sich zu irgendeinem Entschluss durchzuringen. »Mr. Renner, Sie waren doch auf der Mac Arthur, als die fremde Raumsonde eingefangen wurde, nicht wahr?« »Na sicher war ich dabei.« »Ich möchte mit Ihnen sprechen.«

»Jetzt? Aber, Doktor, ich könnte jeden Augenblick auf der Brücke gebraucht werden …«

»Es ist dringend.«

»Aber wir durchfliegen eben die Photosphäre eines Sterns, wie Ihnen nicht entgangen sein dürfte.« Und ich habe seit drei Tagen keine heiße Dusche mehr gehabt, wie dir auch nicht entgangen sein wird … Renner warf noch einen Blick auf Horvaths Miene und gab auf. »Also gut, Doktor. Aber machen wir wenigstens den Gang frei.«

In Horvaths Kabine herrschte dieselbe Enge wie überall an Bord, aber sie hatte wenigstens Wände. Drei Viertel der Besatzung hätten solche Wände als unverdienten Luxus angesehen. Horvath tat das anscheinend nicht, nach seinem missmutigen Blick und der Entschuldigung zu schließen, die er murmelte, als sie eintraten.

Er klappte die Schlafpritsche in die Wand zurück und zog auf der anderen Seite zwei Klappsitze herunter. »Setzen Sie sich, Renner. Bei dieser Abfangaktion gibt es einige Dinge, über die ich mir Gedanken mache. Ich hoffe, von Ihnen eine unvoreingenommene Schilderung zu bekommen. Sie sind ja kein Berufsoffizier und sehen Ihre Karriere nicht allein in der Flotte.«

Der Navigator fand nichts dagegen einzuwenden. Er war früher Erster auf einem Handelsschiff gewesen, und wenn er mit reicherer Erfahrung von der Flotte abmusterte, würde er Kapitän auf einem werden; er konnte es jedenfalls kaum erwarten, zur Handelsflotte zurückzukommen.

»Also«, sagte Horvath und ließ sich auf der äußersten Kante seines Klappsitzes nieder.

»Renner, war es unbedingt nötig, die Sonde anzugreifen?«

Renner begann zu lachen.

Horvath sagte nichts, obwohl er ein Gesicht zog, als hätte er eine faule Auster verschluckt. »Na schön«, sagte Renner. »Ich hätte nicht lachen sollen. Schließlich waren Sie nicht dabei. Wussten Sie, dass die Sonde genau auf Cal zuhielt, um den Abbremseffekt maximal auszunützen?«

»Gewiss, und es ist mir klar, dass Sie das gleiche taten. Aber war das wirklich so gefährlich?«

»Dr. Horvath, der Kapitän hat mir zweimal eine Überraschung bereitet. Eine gewaltige.

Als die Sonde auf uns feuerte, wollte ich versuchen, das Schiff um das Segel herumzubringen, bevor es uns kochte. Vielleicht wäre es mir rechtzeitig gelungen, vielleicht nicht. Der Kapitän aber befahl, durch das Segel zu fliegen. Es war eine geniale Idee, und so einfach, dass sie mir hätte einfallen müssen. Ich finde, der Mann ist ein Genie. Und ein selbstmörderischer Verrückter.«

»Was?«

Renners Gesichtsausdruck verriet, dass ihn noch in der Erinnerung schauderte. »Er hätte niemals versuchen dürfen, die Sonde noch abzufangen. Wir hatten schon zuviel Zeit verloren. Wir waren auf Kollisionskurs mit einem Stern. Ich hätte nie zu denken gewagt, dass wir das verdammte Ding so schnell einfangen könnten …«

»Blaine hat das selbst gemacht?«

»Nein. Er hat Cargill damit beauftragt. Und der beherrscht Hochbeschleunigungsmanöver besser als jeder andere an Bord. Auch das hatte ich nicht erwartet, Doktor. Der Kapitän hat für die Aufgabe den besten Mann ausgesucht und ihm freie Hand gelassen.«

»Und Sie wären umgekehrt?«

»Sofort und ohne Gewissensbisse.«

»Aber er hat die Sonde aufgefangen. Nun ja.« Horvath schien wieder einen üblen Geschmack im Mund zu verspüren. »Aber er hat auch auf sie geschossen. Die erste …«

»Die Sonde hat zuerst geschossen.«

»Das war nur die Meteoritenabwehr!« »Na und?«

Horvath presste die Lippen zusammen.

»Also gut, Doktor, versuchen Sie’s mal anders zu sehen. Nehmen Sie an, Sie hätten Ihr Auto auf einer Hügelkuppe abgestellt, die Bremsen nicht angezogen und die Räder hangabwärts eingeschlagen. Angenommen, der Wagen rollt deshalb den Hügel hinunter und tötet vier Menschen. Wie sieht dann Ihr ethischer Standpunkt aus?«

»Furchtbar. Kommen Sie zur Sache, Renner.«

»Die Splits sind mindestens so intelligent wie wir. Einverstanden? Schön. Sie konstruieren also eine Meteoritenabwehr. Als Intelligenzwesen hätten sie die Pflicht gehabt, dafür zu sorgen, dass die Meteoritenabwehr nicht auf ein neutrales Raumschiff schießt.« Horvath saß längere Zeit da, ohne noch etwas zu sagen, während Kevin Renner wehmütig daran dachte, wie beschränkt der Heißwasservorrat in den Offiziersquartieren war. Der leicht angeekelte Gesichtsausdruck, stellte Renner fest, war Horvath anscheinend angeboren. Seine Züge zeigten ihn auch in entspanntem Zustand.

Schließlich sagte der Wissenschaftsminister: »Ich danke Ihnen, Mr. Renner.«

»Gern geschehen.« Renner stand auf.

Ein Alarmsignal ertönte.

»Oh, Gott. Ich muss zurück.« Renner hastete auf die Brücke.


Sie waren jetzt tief ins Auge vorgestoßen: so tief, dass das dünne Plasma um sie herum bereits gelb leuchtete. Eine Kontrolle des Feldes zeigte, dass es ebenfalls gelb war, ja sogar schon etwas ins Grüne überging.

Das alles stellte Renner fest, als sein Blick über ein halbes Dutzend Bildschirme streifte.

Er musterte die Diagramme, die auf seinen eigenen Schirmen zu sehen waren, aber das andere Schiff sah er nicht. »Die Lenin ist gesprungen?«

»Stimmt«, sagte Kadett Whitbread. »Jetzt sind wir dran, Sir.« Der rothaarige Bursche grinste bis über die Ohren. Blaine kam mit einem Satz in den Brückenraum geschwebt, ohne erst an den Griffen beim Eingang Halt zu suchen — die Rotation des Schiffes war bereits gestoppt. »Sie übernehmen, Mr. Renner. Die Steuerung müsste schon auf Ihren Platz geschaltet sein.«

»Aye, aye, Sir.« Renner wandte sich zu Whitbread. »Ich löse Sie ab.« Seine Finger huschten über die Eingabetasten, und während die neuen Daten auf seinem Schirm aufleuchteten, drückte er schon auf eine Reihe von Knöpfen. In rascher Folge ertönten die Warnsignale: Sprungstationen, Gefechtsstationen, alles klar für hohe Beschleunigung. Die Mac Arthur rüstete sich für das Unbekannte.

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