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Marcian stand auf der Stadtmauer und beobachtete aufmerksam die Aktivitäten im Lager der Orks. Es schien große Aufregung unter den Schwarzpelzen zu herrschen. Schon früh am Morgen waren Reiter aus dem Süden den Strom entlang gekommen. Darauf wurde das Lager bei der Bastion am Fluß in Alarmbereitschaft gesetzt. Dann formierte sich eine große Reiterschar im Hauptquartier an der Ostmauer und galoppierte wieder den Fluß hinab. Geschütze wurden verlegt und in das Lager vor der Bastion geschafft.

Marcian hatte darauf alle Truppen in Greifenfurt in Alarmbereitschaft versetzen lassen. Der Hafen war von Bürgerwehren besetzt, und auf den Stadtmauern entlang des Flusses standen Lysandras Bogenschützen. Es sah ganz so aus, als würden die Orks die Bastion am Fluß stürmen wollen oder gar einen Schlag gegen den Hafen planen. Was dieser plötzliche Sinneswandel sollte, nachdem massive Vorbereitungen für einen Angriff auf die Ostmauer stattgefunden hatten, war Marcian unbegreiflich. Auch er hatte Geschütze auf leichte Karren laden und in den Hafen bringen lassen. Nun lagen sich die Heere gegenüber und belauerten einander, ohne daß eine Seite das Gefecht begann.

Es wurde immer heißer. Hoch am Himmel drehten einige Mauerschwalben ihre Kreise. Das Warten zerrte an den Nerven. Die Orks schoben Bogenschützen, die hinter Wänden aus geflochtenem Ried Schutz fanden, bis an den Fluß vor. Doch sie eröffneten nicht das Feuer. Von der Bastion auf der anderen Flußseite stiegen dünne Rauchsäulen auf. Die Soldaten, die ohne Aussicht auf Verstärkung aus Greifenfurt den Hauptangriff zu tragen hätten, erhitzten Wasser in riesigen Kesseln, um so den ersten Angriff auf die Mauern abzuweisen.

Plötzlich entstand Unruhe unter den Kämpfern. Marcian blickte die Mauer entlang. Auf dem südlichsten Turm waren Lysandras Löwinnen postiert, die besten Kämpferinnen ihrer Bürgerwehr, und wiesen nach Süden den Fluß entlang. Dort waren knapp über dem Wasser einige bunte Schemen zu erkennen. Schiffe! Marcian schickte einen Burschen nach seinem Fernrohr. Mit bloßem Auge war noch so gut wie nichts zu erkennen. Er prüfte den Wind. Er blies aus dem Süden, doch war es nicht mehr als eine schwache Brise. Es würde lange dauern, bis sich die schwerfälligen Boote gegen den Wind die Breite herauf gekämpft hätten. Deshalb also der Aufmarsch der Orks. Sie wollten verhindern, daß die Boote die Stadt erreichten. Sie würden sie unter Geschützfeuer nehmen und womöglich noch unter den Mauern kurz vor der Hafeneinfahrt versenken.

Marcian sandte Boten aus, um seine Offiziere zu versammeln. Als sich der letzte auf den Weg gemacht hatte, kam der Bursche mit dem Fernrohr zurück. Vorsichtig lehnte der Inquisitor das schwere Messingrohr auf die Brüstung der Mauer und suchte am Horizont den Punkt, an dem sich die Schiffe gegen die Strömung vorwärts kämpften. Mit einigen Derhungen stellte er das Objektiv scharf.

Nun konnte er sehen, wie Reiter der Orks den Booten entlang dem Flußufer folgten und die Schiffe mit Pfeilen überschütteten. Die Bordwände waren zum Schutz der Männer mit Schilden behängt worden, ganz so, wie man es von den Langbooten der Thorwaler kannte. Dahinter mühten sich etliche Männer und Frauen an langen Rudern, die ganz so wie die zerbrechlichen Beine eines Wasserkäfers dicht über der Wasserlinie schwebten, um immer wieder mit kräftigen Stößen einzutauchen und die Boote einige Schritt weiter gegen die Strömung voranzutreiben. Die großen Segel flatterten unstet in der schwachen Brise. Bei diesem Tempo mochte es noch über eine Stunde dauern, bis sie die Stadt erreichten. Armbrustschützen, die hinter den Aufbauten der Schiffe in Deckung knieten, erwiderten das Feuer der Orks. Die Rümpfe lagen sehr tief im Wasser. Offensichtlich waren die Boote bis unter die Ladeschotten mit Vorräten vollgepackt.

Inzwischen hatten sich die Offiziere um Marcian versammelt. Stumm überließ er ihnen das Fernrohr, damit sie sich ein Bild von der Lage machen konnten. Lysandra war die erste, die etwas sagte. »Ich glaube nicht, daß sie die Stadt erreichen werden. Siehst du die Feuerkörbe, die die Orks hinter ihren Riedschildern vorbereiten? Sobald sie auf Höhe der Stadt sind, werden die Boote mit einem Hagel von Brandpfeilen überschüttet werden.«

»Denkst du, ein Ausfall wäre sinnvoll?« Marcian hatte sich der Amazone zugewandt.

»Wenn wir wollen, daß die Schiffe durchkommen, ist ein Ausfall der einzige Weg. Wir hätten dabei auch Gelegenheit, einen großen Teil der Geschütze der Orks zu vernichten. Sie haben im Verlauf des Morgens fast alles hier an die Flußseite schaffen lassen. Trotzdem ist es riskant!« Der Inquisitor blickte sich nach Oberst von Blautann um. Eigentlich hatte er schon längst mit einem Kommentar des draufgängerischen Reiteroffiziers gerechnet. Doch dieser musterte noch immer durch das Fernrohr die Stellungen der Orks auf der anderen Seite des Flusses. Zwischen den Lederzelten des Lagers konnte man einige große Gestalten erkennen. Streitoger! Riesige, annähernd menschenähnlich aussehende Bestien, die von den Orks in Rüstungen aus dickem Leder gesteckt worden waren. Sie galten als unberechenbare Kämpfer, die von Schamanen auf magische Weise kontrolliert werden mußten. Ihre Waffen, schwere mit eisernen Nägeln gespickte Keulen, konnten die Größe und das Gewicht eines Mannes erreichen. Im Nahkampf galten die Streitoger als so gut wie unbesiegbar.

Langsam ließ der junge Obrist das Fernrohr sinken. »Das wird schwer. Ich will nicht sagen, daß es unmöglich ist, aber ein Angriff auf die andere Flußseite ist mit etlichen Schwierigkeiten verbunden. Um mit meinen Reitern durch die Furt zu kommen, steht das Wasser noch zu hoch. Die schmale Holzbrücke weiter im Norden müssen wir erst von den Orks erobern. Wenn sie schlau waren, ist die Brücke allerdings schon längst so präpariert, daß man sie mit wenigen Axtschlägen zum Einsturz bringen kann. Sind wir einmal auf der anderen Seite, denke ich schon, daß ich den Schwarzpelzen mit meinen Reitern ordentlich zusetzen kann, zumal ihre eigene Kavallerie durch die Verfolgungsjagd am Fluß erschöpft sein wird.«

»Wie viele Männer brauchst du?«

»Zu diesem Kommando würde ich nur schwergepanzerte Kämpfer mitnehmen. Es kommt weniger auf die Zahl als auf die Schlagkraft der Truppe an. Ich denke, meine hundert Kürassiere würden reichen.« »Vielleicht sollten wir auch versuchen, über den Fluß hinweg mit Booten anzugreifen«, mischte sich Darrag ein. »Im Hafen liegen bestimmt zwanzig kleine Ruderboote und Flöße. Darauf könnte man mehr als hundert Männer einschiffen.«

»Aus dir spricht ja der blanke Wahnsinn! Willst du unsere Bürger auf die Schlachtbank führen?« Die Stimme des jungen Gernot Brohm überschlug sich vor Zorn. »Auf den Booten sind die Männer nichts weiter als Zielscheiben. Wenn du hundert losschickst, wird nicht einmal die Hälfte von ihnen lebend das andere Flußufer erreichen.«

»Vielleicht doch!« Der Schmied war noch immer von seinem Plan überzeugt und hatte sich drohend vor dem schmalbrüstigen Patriziersohn aufgebaut. »Ich denke, es kommt einfach darauf an, daß uns die Bogenschützen und Artilleristen von der Mauer aus Feuerschutz geben. Außerdem sollten wir erst dann losschlagen, wenn die Flußschiffe es bis vor die Stadtmauern geschafft haben. Die Schwarzpelze müssen sich dann zwischen Zielen entscheiden. Könnten wir auf diese Weise die Flußschiffe retten, wären sie das Opfer in jedem Fall wert gewesen.« »Ihr denkt immer nur an nackte Gewalt«, mischte sich der Zauberer Lancorian ein. »Mit Hilfe der Elfe, glaube ich, kann ich den Orks einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machen. Bereitet die Ruderboote vor und vertraut uns beiden. Wir werden an den Orks Rache für das spurlose Verschwinden von Sartassa nehmen.«

Eine Stunde später hatten die fünf Flußschiffe beinahe die Stadtmauern erreicht. Nur wenige hundert Schritt trennten sie noch vom rettenden Hafen. Jeder auf der Wehrmauer konnte jetzt mit bloßem Auge den verzweifelten Kampf der Bootsmannschaften beobachten. Wie sich Männer und Frauen jeweils zu dritt gegen die langen Ruderstangen stemmten, um den Schiffen etwas mehr Fahrt zu geben. Wie die Armbrustschützen mit gezielten Schüssen die Reihen der Reiter lichteten. Jeder Treffer wurde von den Mauern mit einem Jubelschrei der Kämpfer belohnt.

Die Bordwände der Schiffe, die dem von Orks beherrschten Ufer zugewandt waren, hatten die Schwarzpelze dicht an dicht mit Pfeilen gespickt. Überall auf den Decks lagen Verwundete. Einige der Boote trugen Hornissen, leichte Geschütze, die Pfeile von der Größe eines Armbrustbolzens verschossen und eine hohe Schußfolge hatten, wenn ihr komplizierter Mechanismus gerade mal nicht blockierte. Zwerge, die von Kriegern mit fast mannshohen Holzschilden abgeschirmt wurden, standen hinter den Hornissen. Auf dem vordersten Flußschiff waren auch einige Männer in langen, altertümlichen, weißen Roben auszumachen. Ihrem ganzen Erscheinungsbild nach mußten es Magier sein, hatten sich bislang zurückgehalten. Auch ihnen standen Krieger mit großen Holzschilden zur Seite.

Inzwischen waren im Hafen der Stadt alle verfügbaren Boote und Flöße bemannt worden. Die besten Schwertkämpfer aus allen Einheiten warteten auf das Signal zum Aufbruch. Geführt wurden sie von Gernot Brohm, Darrag und Zerwas. Keiner der Offiziere hatte dem anderen den Ruhm überlassen wollen, dieses Todeskommando allein überstanden zu haben. So hatte Marcian sie schließlich alle drei losgeschickt. Das vorderste Boot, dicht vor der Ausfahrt des Hafens, war mit Lancorian und der Auelfe Nyrilla Mondauge besetzt. Sie hatten eine dünne hölzerne Schutzwand in den Bug des Ruderbootes stellen lassen und kauerten nun hinter dieser spärlichen Deckung.

Marcian beobachtete angespannt den Hafen. Sobald das erste Boot durch die schmale Ausfahrt auf den Fluß unter der Mauer kam, sollten alle Bogner und Geschütze das Feuer auf die Orks am anderen Flußufer eröffnen. Ein scharfes Knallen gefolgt vom Geräusch splitternden Holzes ließ ihn zu den Schiffen blicken. Die Ballistas der Orks hatten das Feuer eröffnet. Über hölzerne Laufschienen verschossen sie Steinkugeln, die dicht über der Wasseroberfläche auf die Schiffe zuflogen. Eines der Geschosse hatte ein gezacktes Loch in die Reling des vordersten Flußschiffes gerissen. Zwei Soldatinnen lagen an Deck. Ein schriller Pfiff lenkte die Aufmerksamkeit des Inquisitors wieder auf den Hafen. Er zog sein Schwert aus der Scheide und hob den Arm hoch über den Kopf, so daß jeder entlang der Mauer es sehen konnte. Dann ließ er die Waffe sinken. Im selben Augenblick ertönte ein Sirren wie von Hunderten wütender Hornissen. Lysandras Bogenschützen hatten das Feuer eröffnet. Die Amazone in ihrer strahlenden Rüstung stand mitten unter ihnen. Auch die Geschützmannschaften unter dem Kommando von Yonsus begannen ihr tödliches Handwerk.


Auf dem anderen Flußufer war das Geschrei der Unterführer der Orks zu hören. Marcian konnte beobachten, wie kleine Fontänen aus Staub und Erde aufstiegen, wo die Geschosse von den Artilleristen der Stadt einschlugen. Doch auf die kurze Distanz gab es nur wenige Fehlschüsse. Die Treffer zerfetzten die Rietwände, als seien sie nicht mehr als Spielzeug aus dünnem Pergament.

Besorgt blickte Marcian zu den Schiffen. Obwohl die Orks unter schwerem Feuer lagen, hielten sie sich an ihre Order. Noch immer wurden die Flußschiffe von einem wahren Hagel aus Steinen und Pfeilen überschüttet. Marcian konnte beobachten, wie die Magier, gefolgt von ihren Schildträgern in der Deckung der Reling zum Bug krochen. Dann wurden die großen Schutzschilde aufgerichtet und mit der Bordwand verhakt. Todesmutig stellten sich die Zauberer hinter der unsicheren Deckung auf. Ein Felsbrocken der Orks traf eine der Wände am oberen Ende und überschüttete die Männer dahinter mit einem Regen von Holzsplittern. Wie dumpfe Donnerschläge konnte man die Treffer an den Schiffsrümpfen hören. Davon ungerührt legten die Magier nun gleichzeitig, wie auf ein stummes Kommando, jeweils ihre rechte Hand an die Schulter. Was dann geschah, konnte Marcian nicht genau erkennen, doch Augenblicke später zischten fünf Flammensäulen über das Wasser und vernichteten die vorderen Geschütze am Ufer in einem tobenden Feuersturm. Auch einige der Schwarzpelze waren von den Flammen erfaßt worden. Schreiend wälzten sie sich am Ufer. Andere sprangen in den Fluß.

Während er noch die Verwüstung beobachtete, zogen Nebelschwaden von Norden über das Wasser. Der Inquisitor blickte flußaufwärts. Der Nebel begann unmittelbar vor dem Boot Lancorians. Langsam wurde der Dunst immer dichter und zog wie ein schützender Schirm unmittelbar am Ufer der Gegner entlang und behinderte ihre Sicht. Mittlerweile hatte auch das letzte der Ruderboote den Hafen verlassen. Während man von den etliche Schritt hohen Mauern der Stadt immer noch gut über den Nebel in das Lager der Feinde schauen konnte, war den Orks nun fast völlig die Sicht auf den Fluß genommen. Marcian hörte mit Genugtuung die verwirrten Schreie der Unterführer, die versuchten, eine Panik unter den Schwarzpelzen zu verhindern. Dann ertönte der Ruf: »Für Sartassa!« am anderen Ufer. Die, ersten Boote hatten die Stellungen der Orks erreicht. Das helle Klingen von Schwertern klang durch den Nebel.


Zerwas lächelte grimmig, als er rings um sich seine Kämpfer Sartassas Namen rufen hörte. Offiziell war sie bei einem Wachgang auf der Ostmauer verschwunden. Das Opfer irgendeines bösen Zaubers der OrkSchamanen. So hatten die Offiziere beschlossen, als das spurlose Verschwinden der Halbelfe ruchbar wurde. Marcian hatte ihn an diesem Abend finster angeblickt. Er wußte besser, was mit Sartassa geschehen war und daß sie in dieser Nacht keinen Fuß auf die Nordmauer gesetzt hatte. Dennoch war er es, der die offizielle Lüge über ihr Verschwinden erfand. Und nun nahmen die Bürgerwehren in Sartassas Namen Rache an den Orks. Welch göttliche Ironie!

Mit Bedacht zog der Vampir ›Seulaslintan‹ aus der langen Scheide auf seinem Rücken und umklammerte den lederumwundenen Griff des Zauberschwertes mit beiden Händen. Dann schritt er die Böschung hinauf. Noch immer hüllten Nebelschwaden das Ufer ein. Wie aus dem Nichts tauchte ein Ork vor ihm auf. Mit einem Schrei versuchte er, dem Vampir sein Schwert in den Bauch zu rammen, doch Zerwas wich elegant aus, ließ sein schwarzes Schwert einmal über dem Kopf kreisen und rammte es dem Ork in die Seite. Wie vom Blitz getroffen stürzte der Ork zu Boden und begann, sich schreiend zu winden, während die Waffe ihm das kleine Fünkchen Unsterblichkeit aus dem Körper sog und seine Existenz auf immer beendete.

Dann stürmte der Vampir weiter. Er mußte zu seinen Leuten aufschließen. Er hatte sie zwar wochenlang gedrillt, doch sie hatten noch nie in einem wirklichen Kampf gestanden. Mit einem großen Schritt stieg er über eine Leiche. Ein Tuchmacher, der sich schon mit dem Holzschwert nicht sonderlich gut gehalten hatte. Vor sich hörte Zerwas ein Stöhnen. Dort lag an einen erdgefüllten Weidenkorb gelehnt Amber, eine arrogante Patrizierin, die er noch nie hatte leiden sehen. Krampfhaft preßte sie sich die Hände auf die Brust in dem vergeblichen Versuch, die Blutung einer klaffenden Wunde zu stillen.

»Hilf mir!« bat sie Zerwas mit erstickender Stimme. Der Vampir blickte sich um. Nebel umgab sie. Er leckte sich über die Lippen. Doch ein Brennen in den Handflächen erinnerte ihn daran, daß dies der Tag seines Schwertes sein sollte. Mit einer fließenden Bewegung stieß er Amber die schwarze Klinge in die Brust. Schreiend bäumte sich die Patrizierin noch einmal auf, die Augen in fassungslosem Entsetzen auf Zerwas gerichtet. Dann sank sie zurück. Noch einmal blickte er sich um und dankte Boron stumm für den Nebel. Niemand konnte ihn gesehen haben.

Vor ihm wurde der Kampflärm immer lauter. Mit einem einzigen Schritt ließ er den magischen Nebel hinter sich und stand wieder im grellen Sonnenlicht des Praiosnachmittags. Rund um ihn tobte der Kampf, und es geschah genau das, was Zerwas befürchtet hatte. Nachdem die Orks sich vom ersten Schrecken erholt hatten, formierten sie sich zum Gegenangriff.

Ein Windhauch strich über das Schlachtfeld. Zerwas spürte ein Prickeln auf der Haut. Die Schamanen der Orks hatten zum Gegenschlag ausgeholt. Sie riefen Windgeister herbei, um den Nebel aufzulösen. Vielleicht würden sie sogar versuchen, eines der Schiffe kentern zu lassen. Grimmig faßte er sein Schwert fester und warf sich in den Kampf. Dem ersten Gegner spaltete er mit wuchtigem Schlag den Schädel. Dann sprang er mitten in einen kleinen Trupp Feinde und ließ die schwarze Klinge kreisen. Als wäre es nur Stoff, schnitt das Schwert durch Metall und Leder, trennte Arme von Rümpfen und schlitzte Bäuche auf. Es dauerte nicht lange, und Zerwas wurde gemieden. Kein Ork wagte es mehr, sich dem rasenden Krieger in der schwarzen Rüstung zum Kampf zu stellen. Wurden rundherum die Streiter der Bürgerwehren langsam zurückgetrieben, so reichte das bloße Auftauchen des Vampirs, um die Schlachtreihen der Feinde in blinder Panik fliehen zu lassen.

Zerwas war außer sich vor Zorn. Er wollte kämpfen! Erst im allerletzten Augenblick bemerkte er den Bogenschützen, der auf ihn angelegt hatte. Der Pfeil schwirrte von der Sehne. Zu spät, schoß es dem Vampir durch den Kopf, als ›Seulaslintan‹ ohne sein Zutun eine ruckartige Bewegung in Richtung des Pfeils ausführte. Mit einem scharfen Kratzen schrammte die Spitze des Geschosses an der Klinge entlang. Der Reflex des Schwertes hatte ausgereicht, die Flugbahn des Pfeils so zu verändern, daß er an Zerwas' Haupt vorbei flog. Mit grimmigem Schrei stürzte sich der Vampir auf den Bogenschützen.

Mittlerweile war der Nebel zerstoben. Doch die kurze Zeitspanne hatte ausgereicht, daß die Schiffe Zuflucht im Hafen fanden. Der ganze Zorn der Orks richtete sich nun gegen die wenigen Schwertkämpfer, die tapfer das Ufer gestürmt hatten. Und ihre Schar schmolz wie Schnee in der Sonne, denn die Krieger in der Bastion verließen ihre Mauern nicht. Sie hatten wohl bereits erkannt, daß die Ausfalltruppe auf verlorenem Posten kämpfte. Schon bemannten die Orks wieder einige Geschütze und richteten sie nun gegen die Stadtmauer, um Rache an den Bogenschützen zu nehmen, die aus der vermeintlich sicheren Deckung der Zinnen blutige Ernte unter den Schwarzpelzen gehalten hatten.

Zerwas war es unterdessen gelungen, alle noch lebenden Schwertkämpfer um sich zu scharen. Sie bildeten einen großen Kreis, um zu versuchen, die rettenden Boote am Flußufer zu erreichen. In ihrer Mitte standen Lancorian und Nyrilla. Aus allen Richtungen prasselten Pfeile auf sie ein. Doch dann tönte ein lautes Kommando über das Schlachtfeld. Die Bogenschützen zogen sich zurück. Erleichtert atmete Zerwas auf, bis er sah, was der Grund für die Feuerpause gewesen war. An der Spitze einer Schar von Kriegern kamen drei Streitoger auf sie zugelaufen. Wahre Hünen mit Keulen, deren wuchtigen Treffern selbst die beste Rüstung nicht standhalten würde.

Der Vampir schluckte. Das war eine Sorte Gegner, die selbst ihm Schauer über den Rücken laufen ließ. Sollte ihm mit einer solchen Waffe der Schädel zertrümmert werden, wäre es vermutlich mit seiner Unsterblichkeit vorbei. Seine Hände waren naß von Schweiß, während sich rechts und links neben ihm die ersten Kämpfer schreiend zur Flucht wandten. Zerwas dachte nicht mehr viel. Er umklammerte sein Schwert fester und schrie: »Für Sartassa!« Dann lief er den Ungetümen entgegen, und es geschah das Unfaßbare. Sie hielten an. Sie starrten entsetzt zu ihm herüber, dann drehten sie sich um und flohen. Auch die Orks rannten weg. Einige warfen sogar Waffen und Schilde davon, um schneller laufen zu können.

Zerwas hielt inne. Was mochte nur geschehen sein? Er hatte Menschen gesehen, die sich vor ihm zu Tode fürchteten, wenn er in dämonischer Gestalt auftrat. Doch ein ganzes Heer davonlaufen zu sehen war eine neue Erfahrung für den Vampir. Er drehte sich um. Aus dem Fluß hinter ihm hatte sich ein Gigant erhoben. Eine riesige Männergestalt wohl an die sechs Schritt groß stand plötzlich am Ufer. Das mußte einer der gefürchteten Orkland-Riesen sein.

Instinktiv machte Zerwas einen Schritt zurück. Dann durchschaute er den Zauber. Das alles war nichts weiter als das Blendwerk des Illusionisten Lancorian. Der Vampir stieß vor sich das Schwert in den Boden und begann lauthals zu lachen. Auch die anderen Bürger stimmten in das Gelächter ein, obwohl es bei vielen mehr hysterisch als erlöst klang. Der Henker schritt zu Lancorian hinüber und klopfte ihm auf die Schulter. »Du hast ohne einen Schwertstreich den Tag für uns entschieden, ohne auch nur einem Geschöpf ein Leid zuzufügen. Für mich bist du der größte Held auf diesem Schlachtfeld.«

Dann wandte er sich an die erschöpften Bürger. Gernot Brohm und Darrag waren nirgends zu sehen. Also übernahm er das Kommando. Zerwas wußte, daß die Orks bald wiederkehren würden. Er teilte die Krieger in zwei Gruppen. Die einen suchten das Schlachtfeld nach Verwundeten und Toten ab, die anderen zertrümmerten mit ihm die Geschütze der Orks und legten Feuer. In der Ferne hörten sie Kampflärm. Oberst von Blautann mußte es geschafft haben, über die Brücke zu kommen, und lieferte nun vermutlich den Geflohenen ein Gefecht, bevor sie sich neu formieren konnten. Der Vampir entschloß sich, nicht auf den Ausgang dieses Kampfes zu warten. Er ließ die Verwundeten zu den Booten schaffen und befahl den Rückzug in den Hafen.


Während Greifenfurt seinen Sieg über die Orks feierte, saß Marcian in seinem Turmzimmer und brütete finster vor sich hin. Viele Siege dieser Art konnten sie sich nicht leisten. Vor ihm auf dem Tisch lagen die Verlustlisten. Es waren beinahe so viele Kämpfer tot oder verwundet, wie sie auf den Schiffen an Nachschub erhalten hatten. Zwei Banner des Angbarer Schanz- und Sappeurregiments waren an Bord gewesen. Kämpfer, die auf den Umgang mit Artillerie und das Errichten von Verteidigungsanlagen spezialisiert waren. Einige zerlegte Geschütze hatten sich in den Schiffsbäuchen befunden. Dazu genug Lebensmittelvorräte, um zwei Lagerhäuser zu füllen.

Marcian dankte den Zwölfgöttern für dieses Geschenk. Am dankbarsten war er allerdings für die fünf Magier, die in die Stadt gekommen waren. Ihr Anführer Eolan hatte ihm bereits seine Aufwartung gemacht. Ein arroganter Kerl unbestimmten Alters. Mit seinen Adepten kam er aus der ›Halle des vollendeten Kampfes zu Bethana‹. Angeblich hatte ihn seine Herrin, Gräfin Udora auf diese Mission geschickt. Seine Anwesenheit sollte als ein Zeichen des guten Willens verstanden werden, nachdem es in letzter Zeit zu erheblichen Spannungen zwischen dem Kaiserreich und dem Lieblichen Feld gekommen war. Glaubte man den Legenden, so war Bethana die älteste Stadt der Menschen auf Aventurien. Ein kleiner Hafen am Meer der sieben Winde. Die Magier, die dort ausgebildet wurden, betrachteten sich als die vollkommenen Kampfmagier des Kontinents.

Marcian wusste sehr wohl, wie begehrt Adepten dieser Akademie unter den Offizieren aller Armeen waren. Er erinnerte sich an die kleine Kostprobe ihres Könnens, die Flammenlanzen, mit denen sie einige der Geschütze der Orks vernichtet hatten. Noch mehr beeindruckte ihn allerdings die Kaltblütigkeit, mit der sie mitten im feindlichen Feuer gestanden hatten und sich auf ihre Zauber konzentrierten. Dennoch war der Inquisitor sich nicht sicher, ob das Mut oder Überheblichkeit war. Zumindest Eolan war bis an die Grenze des Erträglichen arrogant. Er hatte für sich und die vier anderen Magier geradezu fürstliche Quartiere verlangt. Jeder von ihnen sollte einen eigenen Raum erhalten und einen Lakaien für niedrige Arbeiten. Der Magus hatte sich für seinen Auftritt vor Marcian mächtig herausgeputzt. Etliche goldene Ringe schmückten seine Finger. Er hatte ein neues, sauberes Gewand angelegt, trug ein Diadem mit einem prächtigen Edelstein auf seinem kahlrasierten Schädel und eine seltsam archaisch anmutende weiße Robe. Schließlich hatte Marcian seinen Wünschen entsprochen. Die Magier bekamen ein eigenes Haus in der Stadt, und Eolan hatte ihm auch das Versprechen abgetrotzt, daß sie alle an den Offiziersversammlungen teilnehmen durften. Sehr viel angenehmer war da Hauptmann Himgi, ein Erzzwerg und Anführer der beiden Banner der kaiserlichen Armee, die mit den Flußschiffen eingetroffen waren. Ohne große Umschweife hatte er sich seinem Kommando unterstellt und mit ihm beratschlagt, wo seine Männer Quartier beziehen konnten. Der leicht hinkende Zwerg mit seinem wallenden schwarzen Bart und dem einfachen soldatischen Gemüt war Marcian sofort sympathisch.

Wieder widmete sich Marcian den Papieren vor ihm auf dem Tisch. Es waren Akten, die ihm Odalbert und Riedmar aus dem Stadtarchiv gebracht hatten. Schriftstücke, die Hinweise auf Henker enthielten, die vor mehr als dreihundert Jahren der Stadt Greifenfurt gedient hatten. Verblüffend war die Ähnlichkeit ihrer Namen und auch die Tatsache, daß der jeweils amtierende Henker seinen Nachfolger bestimmen durfte. Und da war noch etwas. Er verglich die Namen dreier Henker, die nacheinander der Stadt gedient hatten.

WARSEW DER NIE ALTERNDE

WRESAN DER ZUREITER

ZARWEN DER HELD

Die unterstrichenen Buchstaben des Beinamens, den jeder Henker führte, tauchten bei seinem Nachfolger als neuer Namensbestandteil auf. Dafür verschwand ein anderer Buchstabe, während die übrigen mit denen im Vornamen des Vorgängers identisch blieben. Odalbert und Riedmar hatten versucht, ihn davon zu überzeugen, daß es sich bei all den Henkern um ein und dieselbe Person handelte. Hinweise darauf waren Anspielungen auf das sehr langsame Altern der Scharfrichter, die man immer wieder in den Aufzeichnungen fand, sowie die Tatsache, daß alle immer dasselbe Schwert benutzten. Und hier fanden sich die beunruhigenden Verbindungen zu Zerwas.

Marcian hoffte darauf, daß bald Aufzeichnungen über den Inquisitionsprozeß gegen einen Henker, der vor dreihundert Jahren stattfand, entdeckt würden. Er war sich sicher, daß mit dieser Akte das Geheimnis von Zerwas gelüftet werden konnte. Offensichtlich war es genau das Schriftstück, das den Stadtschreiber Irgan Zaberwitz das Leben gekostet hatte. Leider hatte sich die Spur zu der Patrizierfamilie Brohm sie nicht weitergeführt. Marcian hatte ihre Bibliothek durchsuchen lassen, doch eine Akte über den Prozeß gegen den Henker war dort nicht aufzuspüren gewesen. Neben allerlei Urkunden über die Geschichte der Stadt fanden die beiden Magier hier vor allem Hinweise darauf, daß die heute so hoch angesehene Familie von bitterarmen Holzfällern abstammte und keineswegs seit Gründung der Stadt in Greifenfurt lebte, wie jeder Brohm seit Generationen behauptete. Einige der Dokumente aus der Bibliothek waren offensichtlich auch zur Erpressung anderer Patrizierfamilien genutzt worden.

Wieder zermarterte Marcian sein Hirn. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß der Stadtschreiber so dumm gewesen sein sollte, die Akte über den Prozeß zu dem geheimen Treffen auf dem Dachboden des Magistrats mitzunehmen. Nach allem, was er über den Mann gehört hatte, war er extrem vorsichtig gewesen. Er müßte noch einmal mit ihm sprechen können. Das wäre der einfachste Weg. Von ihm konnte er alles erfahren. Er kannte den Inhalt der Akte, und er kannte seinen Mörder. So mußten nun die beiden Magier für ihn mühsam das Stadtarchiv auf den Kopf stellen. Vielleicht würde sich dort doch noch eine Spur finden lassen.

Marcian streckte sich müde in dem hochlehnigen Stuhl. Er verharrte. Irgend etwas hatte sich verändert. Der Lärm des Festes draußen war verstummt. Die Geräusche klangen fremd. Und auch die Beleuchtung im Zimmer war verändert. Durch die Schießscharten im Osten drang ein rötlicher Schein in das Turmzimmer. Der Inquisitor stand auf und ging zu einem der schmalen Schlitze in der Mauer, um auf die nächtliche Stadt zu blicken.

Direkt am Platz der Sonne brannte ein großes Haus. Welches Gebäude es war, ließ sich nicht genau ausmachen. Fluchend griff Marcian seinen Umhang und machte sich auf den Weg in die Stadt. Nahm dieser Tag denn nie ein Ende!


Bis man den Brand gelöscht hatte, war der Morgen angebrochen. Müde und rußgeschwärzt stand Marcian neben den Trümmern des Magistrats. Das Feuer hatte das große Haus vollständig vernichtet. Wie die anderen Männer und Frauen war der Inquisitor am Ende seiner Kräfte. Der Brand mußte im Archiv in den Kellern des Magistratsgebäudes ausgebrochen sein. Nichts und niemand war imstande gewesen, ihn zu löschen. Man konnte froh sein, daß es geglückt war zu verhindern, daß das Feuer auf die angrenzenden Gebäude übergriff. Der Inquisitor betrachtete seine schwieligen Hände. Die ganze Nacht über hatte er Eimer auf Eimer in die Flammen geschüttet.

Jemand klopfte ihm auf die Schulter. Es war Odalbert. »Danke«, sagte er schlicht. »Danke für Riedmar.«

Dank war das letzte, was der Inquisitor jetzt wollte. Er wollte zurück in sein Turmzimmer und schlafen.

»Offen gestanden, hätte ich nicht von dir erwartet, daß du dich so für einen deiner Agenten einsetzen würdest«, redete Odalbert neben ihm weiter.

»Schon gut, vergiß es«, erwiderte Marcian gereizt. Er wollte sich jetzt keine Lobeshymnen dafür anhören, daß er den Magier aus den Flammen gerettet hatte. Der unvernünftige Kerl war doch tatsächlich in das brennende Haus gerannt, um noch einige Dokumente aus dem Archiv zu retten. Marcian hatte ihm nachgesetzt, hatte ihn auf der Treppe zum Keller gefunden und niedergeschlagen, weil er sich einfach nicht ausreden ließ, noch weiter in die Flammenhölle hineinzulaufen. Dann hatte er ihn auf den Schultern aus dem Inferno getragen.

Der Inquisitor spuckte in den Schlamm des Platzes. Er hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Noch immer brannten seine Lungen vom Rauch, den er geschluckt hatte. Er würde nun in die Garnison zurückkehren. Vor Erschöpfung konnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Er klopfte noch einigen der Bürger auf die Schulter und lobte sie für ihren selbstlosen Einsatz im Kampf gegen die Flammen, dann verließ er den Platz Richtung Westen.

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