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... Ein halbes Jahr später ...

Marcian war bester Laune. Seine Männer waren zwar nicht erste Wahl, aber er war sicher, daß sie ihre Aufgabe gut machen würden. Einen bunt durcheinander gewürfelten Haufen hatte er in der ›Stadt des Lichtes‹ bei der Ausbildung beobachtet. Jeder zeichnete sich durch besondere Stärken aus, aber alle hatten auch ausgesprochene Schwachpunkte. Wenn sie aber als Gruppe gut zusammenarbeiten würden, hätten sie mehr als genug Schlagkraft, um ihre Aufgabe zu bewältigen. Er hatte ihnen zugesehen, wie sie tollkühn ihre Regimentsfahne bei der Schlacht auf den Silkwiesen retteten. Genau solche Männer und Frauen brauchte er. Helden, die, einmal im Gefecht, nicht mehr über die Gefahr nachdachten, sondern unbeirrt vorwärtsstürmten. Wer auch nur über einen Funken Verstand verfügte, wäre niemals durch den Pfeilhagel der Orks gerannt, um ein Stück Tuch zu retten.

Vor vier Tagen hatte er sich in Wehrheim von ihnen getrennt und dabei noch einmal ihre Verkleidungen überprüft. Als Bauern, Händler, wandernde Heiler und Gaukler würden sie sich in Greifenfurt einschleichen. Die beiden, die man beim besten Willen nicht verkleiden konnte, den Zwerg und die Elfen, sollten sie nachts über die Stadtmauer holen. Sorgfältig hatte er alle noch einmal gemustert und ihre Waffenverstecke überprüft. Sie durften nichts Kriegerisches an sich haben, wenn sie ungeschoren durch die Posten und Patrouillen der Orks bis zur Stadt kommen wollten. Er war gespannt, ob es alle bis zur ›Fuchshöhle‹, ihrem Treffpunkt in Greifenfurt, schaffen würden.

Er selbst verstieß allerdings aufs Gröbste gegen alle Vorsichtsmaßnahmen, die er seinen Leuten eingebleut hatte. In prächtiger Rüstung und mit flammend rotem Umhang näherte er sich der Stadt. Eine Provokation! Aber das war beabsichtigt. Er ritt weit abseits der Reichsstraße, so daß die Wahrscheinlichkeit geringer war, auf Orks zu stoßen. Doch selbst wenn! Größere Trupps kamen meistens zu Fuß, so daß er auf seinem Schlachtroß ohne Probleme entkommen konnte, und einem kleineren Trupp würde er sich stellen, so wie den dreien heute morgen, die den tödlichen Irrtum begingen, ihn für leichte Beute zu halten. Zwei waren jetzt ein Fraß für die Raben. Der dritte konnte ihm leider in einem Waldstreifen entkommen.

Sein eigentliches Ziel war es aber, nicht den Orks aufzufallen, sondern den Freischärlern, die in der Region um Greifenfurt operierten. Wenn er die Garnison der Stadt erobern wollte, brauchte er mehr als nur einige bewaffnete Bürger. Er mußte die Freischärler überreden, sich ihm anzuschließen. Nach allem, was er über sie gehört hatte, war eine Amazone ihre Anführerin. Das machte die Sache nicht gerade leichter.

Erst gestern hatte er die schwelenden Reste eines Versorgungszugs der Orks gefunden. Weniger die verkohlten Wagen als die verstümmelten Leichen verrieten die Handschrift der Amazone. Angeblich machte sie nie Gefangene; in der Art mit ihren Opfern umzugehen unterschieden sich diese Streiter kaum noch von den Orks. Auch sie nahmen Skalps und folterten die Überlebenden der Überfälle. Es war an der Zeit, daß er das Licht des Praios wieder in die Grafschaft Greifenfurt brachte. Ein schöner Satz, überlegte Marcian, er sollte ihn sich für später merken, wenn er vor den Bürgern der Stadt reden würde.

Was sich heute Freischärler nannte, hätte man vor zwei Jahren noch als Wegelagerer und Halsabschneider gejagt. Doch je länger der Krieg dauerte, desto mehr verlor der Ehrenkodex selbst bei den Rittern des Prinzen an Bedeutung. Es war wohl kaum einer unter den Soldaten der kaiserlichen Armee, der in den Schlachten des letzten Jahres nicht schon einen Freund neben sich hatte sterben sehen. Wie verbittert mußten erst die Freischärler sein, die seit einem Jahr Tag für Tag ihr Leben riskierten? Die meisten von ihnen hatten Heim und Familie durch die Orks verloren. Sie wollten nur noch Rache. An diesem Punkt mußte Marcian ansetzen, wenn er sie überreden wollte, die schützenden Wälder zu verlassen und mit ihm gegen die Garnison in Greifenfurt zu ziehen. Es dämmerte. Marcian mußte sich nach einem geeigneten Lagerplatz umschauen. Den Tag über war er durch eine weite, grasbewachsene Ebene geritten. Nur hier und da gab es kleine Mulden, in denen Buschwerk wucherte. Dort hatte er sich mit dürren Zweigen für ein Lagerfeuer eingedeckt.

Mit Einbruch der Dunkelheit fand er einen sanften Hügel inmitten der Graslandschaft. Ungefähr eine Meile entfernt begann ein weitgestrecktes Waldgebiet. Hier mußte es gelingen! Er würde alle Regeln zum Schutz vor unliebsamen Besuchern in den Wind schreiben und mitten auf dem Hügel sein Feuer entfachen. Bei Nacht mußte man es meilenweit sehen.

Schon Stunden hatte Marcian, in eine dunkelgrüne Decke gehüllt, an der Flanke des Hügels in Deckung gelegen. Neben dem viel zu großen Feuer hatte er seinen roten Umhang so drapiert, daß man bis auf ein paar Schritt Entfernung glauben mußte, er schlafe neben dem Feuer. In der Dunkelheit schnaubte sein Pferd. Er hatte es ein gutes Stück vom Hügel weg angepflockt. Wieder wieherte das Pferd. Sollte er doch noch Erfolg haben? Oder war diese Falle zu offensichtlich? Nein! Jetzt hörte Marcian leise Schritte. Zwei Gestalten schlichen den Hügel herauf. Vorsichtig tastete Marcian nach der Armbrust neben sich. Ganz langsam, jedes Geräusch vermeidend spannte er die Waffe. Gleich mußten die beiden den Schwindel entdecken. Es waren irgendwelche Strauchdiebe. Genau darauf hatte er gehofft. Nun schob der eine seine Speerspitze unter den Umhang neben dem Feuer, um ihn dann mit einem Ruck fortzureißen.

»Verdammt, Erek, man hat uns reingelegt! Nichts wie weg.«

»Bleibt, wo ihr seid!« Marcian sprach nicht laut, aber in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Langsam richtete er sich auf und trat mit gespannter Armbrust vor.

»Ich habe nicht vor, euch zu töten, es sei denn, ihr laßt mir keine Wahl.« Marcian sprach in einem sehr selbstgefälligen Ton. Er wußte, wie er in voller Rüstung auf seine Gegner wirkte.

»Gehört ihr zu den Freischärlern, oder seid ihr nur irgendwelche Strauchdiebe?«

Hämisch grinsten sich die beiden an. Ihr Aufzug war erbärmlich. Sie steckten in geflickten Lumpen, trugen dunkle löchrige Umhänge und hatten sich die Gesichter mit Ruß geschwärzt. Dann sagte der eine: »Ritter, legt eure Waffe weg. Wir möchten nicht, daß der Prinz einen seiner Streiter verliert!«

Marcian verschlug es schier die Sprache. So viel Dreistigkeit hatte er schon lange nicht mehr erlebt. Die beiden schienen den Ernst der Lage zu verkennen, in der sie sich befanden. Nur ein Zucken mit dem Finger, und der erste würde mit einem Armbrustbolzen in der Brust sterben. Den zweiten dann mit dem Schwert niederzumachen wäre eine Kleinigkeit.

Wie zum Hohn wieherte das Pferd irgendwo hinter ihm. Marcian unterdrückte mühsam seinen Ärger und sagte: »Glaubt ihr nicht, daß ihr den Ernst der Lage verkennt?«

»Ich denke eher, daß du den Ernst der Lage verkennst!« ertönte eine Frauenstimme hinter ihm. »Vor Eurem Lagerfeuer gebt Ihr ein erstklassiges Ziel ab, und zehn Bogenschützen warten nur auf ein Wort von mir, um Euch zu Boron zu schicken.«

Langsam ließ Marcian seine Armbrust sinken. Die zwei Gestalten neben dem Feuer kamen herüber und nahmen ihm die Waffe ab. »Laßt ihm sein Schwert!« ertönte es wieder aus der Finsternis. »Er ist doch ein Ritter, und Ritter neigen dazu, Dummheiten zu machen, wenn man nach ihrem Schwert greift.«

Marcian drehte sich um und sah die Frau mit kräftigen Schritten den Hügel heraufkommen. Angestrengt spähte er in die Dunkelheit. Er konnte beim besten Willen keine Bogenschützen entdecken.

»Suchst du was?« fragte ihn die Frau provozierend grinsend. »Dort draußen stehen so viele Bogenschützen, wie ich Barthaare habe. Glaubst du ernsthaft, deinetwegen würde ich hier mit großem Aufgebot anrükken. Wie du siehst, kommen wir ja auch so ganz gut zurecht. Nun laß uns darüber reden, was du hier verloren hast.«


Marcian hatte gefunden, was er suchte. Die Begegnung mit der Amazone Lysandra war zwar anders gelaufen als geplant. Was sie in die Grafschaft Greifenfurt verschlagen hatte, konnte er nicht aus ihr herausholen, doch das war auch nur Nebensache. Über eine Stunde lang hatte er ihr erklärt, wie er die Orks aus Greifenfurt vertreiben wollte und daß er dazu die Unterstützung der Freischärler brauchte. Nun starrte er Lysandra an, die die ganze Zeit geschwiegen und nur gelegentlich den Kopf geschüttelt hatte.

»Offengestanden finde ich deinen Plan nicht besser als den, mit dem du deinen Weg zu mir machen wolltest.«

»Habe ich dich vielleicht nicht gefunden?« fragte Marcian gereizt. »Ich habe dich gefunden!« erwiderte Lysandra.

»Das war mein Plan.« Marcian verspürte nicht die mindeste Lust auf eine Diskussion über seine Fähigkeiten als Stratege. Sein Plan, die Stadt zu erobern, war narrensicher.

»Und was passiert, wenn wir die Stadt erobert haben?« Lysandra blickte ihn ernst an. »Was glaubst du, wie lange die Orks brauchen werden, um Greifenfurt zurückzuerobern?«

»Dazu wird es nicht mehr kommen. Seit der Schlacht bei Silkwiesen sitzt dem Schwarzen Marschall und seiner fliehenden Armee Oberst Blautann mit seinen Reitern im Nacken. Die Orks werden nicht einmal dazu kommen, sich neu zu organisieren. Der Prinz wird mit dem Heer nachrücken, und bald ist die ganze Grafschaft Greifenfurt wieder in seiner Hand. Wir werden die Stadt vielleicht zwei oder drei Wochen halten müssen.«

Marcian mußte seine Taktik ändern. Auf diesem Weg würde er Lysandra nie überzeugen. Seit einem Jahr operierte sie aus der Sicherheit der Wälder. Er sah ja ein, daß sie sich in der Stadt den Orks wie auf einem Präsentierteller auslieferten, wenn die Verstärkung nicht schnell genug nachrückte.

»Natürlich wird es nicht leicht sein, die Garnison zu überwältigen und die Stadt zu halten, bis Prinz Brin eintrifft. Aber Rondra liebt Krieger, die ein Risiko eingehen. Leichte Siege ignoriert die Göttin. Es ist viel einfacher, weiter in den Wäldern zu sitzen und gelegentlich aus dem Hinterhalt eine Orkpatrouille zu überfallen. Ich verstehe dich, wenn du in erster Linie auf eure Sicherheit bedacht bist.«

Wütend blitzte Lysandra ihn an. »Willst du damit andeuten, wir seien feige?«

»Nein, nein!« erwiderte Marcian schnell. »Ich meine nur, daß diese Aufgabe vielleicht zu schwierig für euch sein könnte. Schließlich ist es etwas anderes, eine Stadt zu erobern, als einen Wagenzug zu überfallen.«

Langsam richtete sich Lysandra auf. »Deine rhetorischen Tricks sind genauso durchsichtig wie dein Versuch, meinen Leuten einen Hinterhalt zu legen. Glaube mir, Marcian, hier draußen würdest du nicht einen Winter überleben. Wenn ich dir helfen sollte, dann nur, weil ich die Möglichkeit sehe, beim Kampf gegen die Garnison viele von diesen Schwarzpelzen zu ihrem Blutgott zu schicken. Wenn wir siegen, werde ich die Stadt genau so schnell wieder verlassen, wie wir sie erobert haben. Und wenn nicht ...« Lysandra drehte sich um und zuckte mit den Schultern. »Sterben muß jeder einmal.«

»In drei Tagen warte ich mit meinen Leuten um Mitternacht vor dem Andergaster Tor. Eine Stunde vor Morgengrauen werden wir uns wieder zurückziehen, wenn das Tor bis dahin nicht geöffnet wurde.« Ohne sich noch einmal nach Marcian umzudrehen, ging Lysandra den Hügel hinab. Ihre beiden Männer folgten ihr.

Sharraz Garthai war beunruhigt. Seit Tagen wich der verrückte Prophet, dessen Leben der Bote des Blutgottes geschont hatte, nicht mehr von seiner Seite. Immer wieder flüsterte er mit heiserer Stimme: »Der Tod trägt rot.« War das die Warnung, auf die der Götterbote in jener stürmischen Nacht vor über einem halben Jahr angespielt hatte?

Dann war da auch noch der Krieger, der heute morgen alleine von einer Streife zurückgekommen war und überall von einem mächtigen Ritter mit flammendrotem Umhang erzählte, der seine Kameraden tötete. Mußte er sich vor diesem Menschen hüten? Auf jeden Fall war es besser, der Stadt den Rücken zu kehren. Er würde erklären, daß er die anderen Ortschaften der Provinz Finstermark bereisen werde, um dort Tribut einzutreiben. Seit Monaten hatte er Greifenfurt nicht mehr verlassen. Er würde seine besten Krieger um sich scharen, einige Karren herrichten lassen und morgen aufbrechen. Sein Entschluß stand fest!


Marcian war ohne Schwierigkeiten in seiner Verkleidung als wandernder Augenarzt in die Stadt gekommen. Man hatte sich nur über sein prächtiges Pferd gewundert, worauf er kurzerhand eine rührselige Geschichte von einem alten Grafen erzählte, dem er das Augenlicht zurückgegeben habe und der ihm darauf voller Dankbarkeit das Pferd schenkte. Nun genoß er in einem großen Holzzuber liegend das erste Bad seit einer Woche. Sharraz Garthai hatte am Morgen die Stadt verlassen, um die anderen Provinzstädte zu bereisen. Dabei hatte er die halbe Garnison mitgenommen. Das würde die Pläne sehr erleichtern. Nun galt es, unauffällig die Posten zu beobachten, einen Plan zum Angriff auf die Garnison auszuhecken, und die Bürger aufzuwiegeln. Ohne den Herrn der Stadt in der Nähe würde das alles vermutlich leichter werden. Nach seiner Erfahrung pflegte die Aufmerksamkeit von Garnisonen stets nachzulassen, wenn die Kontrolle von oben ausfiel. Marcian würde in die ›Fuchshöhle‹ gehen und dort versuchen herauszufinden, ob die Wut der Bürger auf die Orks zu einem Aufstand reichte oder ob er sich allein auf die Unterstützung der Amazone und ihrer Streiter verlassen müßte. Außerdem hatte er über Informanten der Inquisition herausgefunden, daß er in diesem Bordell einen alten Freund wiedertreffen würde. Sein Leben hatte sich zwar erheblich geändert, seit er den Magier Lancorian zum letzten Mal gesehen hatte, doch glaubte Marcian, in ihm noch immer einen zuverlässigen Freund zu finden. Außerdem würde er ein verläßlicher Informant sein, wenn er nicht mittlerweile völlig zum Sklaven seiner Laster geworden war.


Lancorian war gelangweilt. Diese Orks waren einfach zu phantasielos. Was waren das noch für Zeiten gewesen, als er die ausgefallenen Wünsche der Offiziere der kaiserlichen Garnison erfüllen mußte. Da sollte er alanfanische Rauschkrauthöhlen erschaffen, den Harem des Kalifen vortäuschen oder die Atmosphäre eines maraskanischen Freudenhauses nachahmen. Den Orks fiel einfach nichts ein. Sie wünschten sich von ihm Illusionen von Lederzelten oder weite Graslandschaften, und das mit gnadenloser Penetranz, immer und immer wieder. Da war ihm ja selbst dieser dicke almadanische Hauptmann lieber gewesen, der nur dann konnte, wenn der Raum vom Lärm einer Schlacht widerhallte und die Illusion einer brennenden Festung das Bild abrundete.

Ein Bordellmanager zu sein, das war in einer von Orks besetzten Stadt wirklich keine Freude! Wenn er die Mädchen hier nicht so mögen würde, hätte er schon längst Greifenfurt verlassen. Schließlich war es schwierig, einen begabten Illusionisten zu finden, der sich in einem Freudenhaus niederließ. Alle Akademiemagier, die er je kennengelernt hatte, waren viel zu eingebildet, um diesen äußerst lukrativen Beruf zu ergreifen. Leider war auch die Bezahlung in letzter Zeit nicht mehr so wie früher. Die Orks waren einfach zu unkultiviert, um auch nur auf die Idee zu kommen, ein Trinkgeld zu geben. Manchmal vergnügten sie sich auch nächtelang mit einem Mädchen und vergaßen das Bezahlen. Einige begriffen einfach nicht, daß man hier nicht aus lauter Liebe so nett zu ihnen war. Sollten sie ihren Spaß doch auf der Straße suchen! Hier wurde das wesentlich professioneller gehandhabt, und deshalb meinten wohl auch alle Offiziere der Orks, nach Gutdünken in der ›Fuchshöhle‹ ein- und ausgehen zu können. Heute abend ging es wieder besonders wild zu. Lancorian warf einen Blick durch eines der kleinen Fenster.

Seit der Verweser Sharraz Garthai am Morgen die Stadt verlassen hatte, schien kein Offizier mehr auf seinem Wachtposten zu stehen. Alle hatten sich hier zu einem gewaltigen Saufgelage versammelt und auch noch fast alle Mädchen des Hauses mit Beschlag belegt.

Oben in der Schenke ging es ruhiger zu. Viele Fremde waren im Moment in der Stadt. Der Ruf der ›Fuchshöhle‹ reichte weit. Kaum ein Reisender ließ es sich nehmen, vorbeizuschauen. Früher hatten hier Jäger und Nordlandhändler häufig in einer einzigen Woche das Einkommen einer ganzen Saison verhurt. Jetzt war solche Kundschaft dünn gesät.

Lancorian stieg einige Stufen empor, um von der vermauerten Wendeltreppe aus, die das ganze Bordell durchzog, einen Blick in die Schenke zu werfen. Früher war sein Versteck eine großzügig angelegte Treppe gewesen, die sich von den Kellergewölben bis zur Turmspitze durch dieses verwitterte Gemäuer zog. Alle Räume konnte man von hier aus einsehen. Der ideale Arbeitsplatz für einen Spezialisten wie ihn, denn viele Kunden waren bedauerlicherweise plötzlich sehr gehemmt, wenn ein Magier sich mit ihnen im selben Raum befand, um die bestellten Illusionen zu erschaffen. Valliessa, die Besitzerin dieses Etablissements, hatte ihr ganze Geld in die Turmruine gesteckt und aus dem Trümmerhaufen das berühmteste Bordell im Nordland gemacht. Jetzt war einiges vom Glanz vergangener Tage verblichen. Sie hatten sogar einen Verschlag für Geflügel und einen zusätzlichen Stall anlegen müssen, denn wenn die Orks zahlten, brachten sie meist Naturalien mit. Manchmal war Lancorian der Überzeugung, daß sie einfach nicht richtig begriffen, was Geld bedeutete.

Aufmerksam musterte der Magier die Schenke. Einige neue Gäste waren hereingekommen. Ein Mann mit rotem Umhang fiel ihm auf. Ganz in der Ecke saß er hinter einem Krug Bier, scheinbar in Gedanken versunken. Vielleicht lauschte er aber auch den Gesprächen an den Nachbartischen. Irgendwo hatte er dieses Gesicht doch schon gesehen. Plötzlich erinnerte er sich wieder. Das war Marcian! Es mußten mehr als fünfzehn Jahre her sein, als er in ihm einen Gefährten für einen Sommer gefunden hatte. Beide teilten damals dieselben Vorlieben, schöne Frauen und teure Weine. Gemeinsam hatten sie mit Wonne ihr Geld verpraßt und zu später Stunde die Stadtwachen gefoppt. Schmunzelnd erinnerte er sich an den fingierten Kasernenbrand, damit Marcian im allgemeinen Tumult unbemerkt statt zum Zapfenstreich erst im Morgengrauen in seine Kammer schleichen konnte. Das war eine seiner ersten wirklich großen Illusionen gewesen. Tagelang hatte man nach dem Magier geforscht, der sich diesen Streich erlaubt hatte. Auf ihn, einen Akademieschüler im dritten Lehrjahr, war dabei nicht der Hauch eines Verdachts gefallen. Leider mochten seine Magister an der ›Akademie der magischen Rüstung‹ seine Vorlieben für Frauen und Wein überhaupt nicht. Die Erzmagierin Racalla hatte ihn damals im Herbst persönlich durch die Prüfungen fallen und von einem dienstbaren Geist vor die Tore der Schule setzen lassen. Danach war für Lancorian in der Stadt kein Bleiben mehr, und so verlor er auch Marcian aus den Augen.

Er hatte nur gehört, daß der Offizier nach einem allzu innigen Flirt mit der jungen Gattin eines vergreisten Admirals und einem tragischen Duell, auf das der alte Narr bestanden hatte, die Armee verlassen mußte und angeblich zur Inquisition gegangen war. Darauf gab Lancorian damals allerdings nicht viel. Es schien ihm schlichtweg unmöglich, daß ein Mann mit den Vorlieben Marcians auch nur einen Tag im Dienste des Barons Dexter Nemrods, des Großinquisitors und obersten Sittenwächters des Reiches, verweilen konnte. Daß Marcian sich an der Verbrennung einer hübschen Hexe beteiligen würde, war etwa so undenkbar, wie daß der Gott Praios seinen Fuß in dieses Bordell setzen würde. Lancorian wollte wissen, was seinen alten Freund hierher verschlagen hatte. Eilig stieg er die Treppe weiter hinauf. Die Orks im Keller waren längst zu betrunken, um noch zu merken, daß die Illusion der Steppenlandschaft um sie herum nun langsam verblassen würde. Im obersten Geschoß des Turmes angekommen, durchquerte der Magier seine Kammer, die die ganze oberste Etage ausfüllte und stieg die hölzerne Treppe an der Außenseite des Gemäuers hinab. Wie ein Gast kam er nun durch die Vordertür ins Bordell, stand im Schankraum und tat so, als schaue er sich ziellos um. Dann konnte er sich nicht mehr zügeln. Lauthals schrie er den Namen seines Freundes durch die Kneipe und stürzte auf ihn zu. Marcians kräftige Arme preßten ihm regelrecht die Luft aus den Lungen, als sie sich umarmten. Und dann begann er bei einem Krug des besten Weines, den die ›Fuchshöhle‹ zu bieten hatte, seinen Jugendfreund zu fragen, was ihn in diesen schlechten Zeiten nach Greifenfurt getrieben habe.


Als Marcian mit seiner Erzählung zu Ende war, glaubte er, Lancorian überzeugt zu haben. Er hatte sich als Glücksritter und Freiheitskämpfer ausgegeben, und der Magier glaubte ihm. Das war jedenfalls sein Eindruck. Aber wußte er auch etwas über Widerstandskämpfer in der Stadt? Gab es überhaupt welche? Lancorian grübelte schon eine Weile, bis er endlich mit der Sprache herauskam.

»Die meisten Bürger von Greifenfurt haben sich arrangiert. Sie sind nicht von der Besatzung der Orks begeistert, aber wer noch hier ist, hat auch nicht den Mut, gegen sie anzugehen. Der einzige, den ich je hinter vorgehaltener Hand über so etwas habe reden hören, ist der Schmied Darrag. Er war früher Waffenschmied, doch weil er für die Orks keine Waffen herstellen will, schlägt er sich seit der Besetzung mehr schlecht als recht als Grobschmied durch. Wenn es irgend jemand in der Stadt gibt, der über Rebellen Bescheid weiß, dann ist er es. Vielleicht ist er sogar ihr Anführer. Mehr weiß ich nicht. Es ist nicht gut für einen Mann in meiner Position, sich in die Politik einzumischen. Man macht sich damit nur einen Teil der Kundschaft zum Feind.«

»Aber gerade wegen deiner heiklen Position müßtest du dich eigentlich besser als irgend ein anderer auskennen. Frauen wie Männer sind nach dem Liebesakt doch häufig äußerst gesprächig, und du stehst doch so gut wie neben ihrem Bett. Ich muß wissen, wie es um die Verteidigung der Stadt bestellt ist. Wie viele Orks sind noch hier? Wann wird Sharraz Garthai zurückkehren, und wie fähig sind die Unterführer, die er in der Stadt gelassen hat?«

»Davon kann ich dir nur eine Frage beantworten, mein Freund. Die Anführer der Orks sind schlimmer als die schlimmsten Hurenböcke der kaiserlichen Armee. Sie liegen alle besoffen oder vom Liebesspiel erschöpft im Purpurgewölbe unter unseren Füßen, und ich bin mir sicher, daß es so Nacht für Nacht weitergehen wird, bis Sharraz Garthai zurückkehrt.«

»Und wie sieht es mit ihren Waffen aus? Kommen sie bewaffnet hierher?«

Der Magier schüttelte den Kopf. »Sie gehören nicht zu der Sorte, die in voller Rüstung ins Bett steigen. Kaum sind sie hier, reißen sie sich Waffen und Rüstung vom Leib und bespringen wie die Tiere unsere Mädchen. Im Liebesspiel haben sie so viel Zartgefühl wie ein läufiges Wollnashorn.

Und genau wie diese possierlichen Ungeheuer haben sie dabei am liebsten den Blick auf Grashügel.«

»Kann es sein, daß dir Kundschaft aus einer kaiserlichen Garnison lieber ist?«

Lancorian blickte seinen Freund ernst an. »Du hast schon bessere Späße gemacht! Kann es sein, daß einem Braten lieber ist als Hirsebrei? Glaubst du, mir ist ein Stall voller gackernder Hühner lieber als klingende Dukaten im Beutel?«

»Dein Beutel wird vielleicht schneller wieder voll sein, als du glaubst. Du mußt mir allerdings helfen, das Gesindel aus der Stadt zu werfen. Wenn wir hier alle Anführer der Orks auf einmal erwischen, ist die Stadt schon halb erobert, und wenn sie betrunken oder gar von einem Gift in Schlaf versetzt oder gleich zu ihrem Blutgott befördert sind, dann werden wir leichtes Spiel haben.«

Lancorian blickte ernst. »Ich habe noch nie jemanden umgebracht und schon gar nicht auf so schändliche Weise.«

»Denk daran, wie die Orks mit den Mädchen hier umgehen. Soll das ewig so weitergehen?«

»Man könnte sie vielleicht mit einem leichten Gift im Wein betäuben. Ich bin kein Kampfmagier und kein Meuchelmörder. Du verlangst zu viel von mir, Marcian!«

»Ein bißchen Schlaf tut doch keinem weh. Ich verspreche dir, daß hier kein Blut fließen wird, wenn du die Offiziere betäubst.«

»Ich weiß ja nicht einmal, ob bei Orks die gleichen Betäubungsmittel wirken wie bei Menschen. Was ist, wenn sie wieder wach werden?« »Dann nimm doch das stärkste Mittel, das du kennst.«

»Und wenn sie dann nicht mehr aufwachen?«

»Ich wäre der letzte, der über einen toten Ork eine Träne vergießt. Ich brauche nur einen lebend aus der ganzen Besatzung der Stadt. Was mit dem Rest geschieht, ist mir egal, solange einer zum Verhör überbleibt. Das ist die Realität des Krieges. Du solltest dich langsam daran gewöhnt haben, Lancorian! Hat dir vielleicht gefallen, wie sie Tairach Menschenopfer gebracht haben? Wie sie wehrlosen Sklaven das Herz herausgerissen haben? Ich habe schon einiges darüber gehört, was hier in den letzten Monaten passiert ist. Nun erzähle mir nicht, daß du nicht alles tun wirst, um dem ein Ende zu bereiten.«

Marcian war in Rage. Er konnte nicht begreifen, daß der Magier auch nur einen Moment zögern konnte, einen Ork zu töten.

»Wann soll das Ganze denn stattfinden?«

»In der übernächsten Nacht. Wir werden mit oder ohne deine Unterstützung zuschlagen. Es liegt in deiner Hand, dabei Menschenleben zu retten. Können sich die Offiziere noch wehren, wird es auch auf unserer Seite Tote geben. Das läßt sich nicht verhindern. Es sei denn, du tust, worum ich dich gebeten habe.«

Lancorian zögerte noch immer. Doch dann willigte er ein. Er würde den Aufstand nur verhindern können, wenn er seinen Freund an die Orks verriet, und das kam nicht in Frage. Er hatte nur die Wahl, ob er es den Rebellen leichtmachte oder nicht. Marcian hatte sich seit ihrem letzten Treffen sehr verändert. Vielleicht waren die Gerüchte, er sei ein Inquisitor, doch wahr? Lancorian mußte es wissen.

Ohne Zögern verneinte Marcian die Frage. Zu schnell für Lancorians Geschmack. Die Brände, die er heute legen ließ, waren keine Illusionen mehr.

»Du bist seit damals in Gareth ein ganz anderer geworden, Marcian.« »Vielleicht habe ich meine Unschuld verloren.« Marcian setzte ein bitteres Lächeln auf. »Vielleicht steht es sogar noch schlimmer um mich. Manchmal raube ich auch anderen die Unschuld. Es lebt sich leichter, wenn man nicht dauernd strafenden Blicken ausgesetzt ist. - Doch laß uns jetzt ein wenig über alte Zeiten plaudern und sag mir, welches Mädchen hier noch Männer zu verwöhnen versteht und in dieser Nacht noch nicht mit einem Ork im Bett gelegen hat. - Weißt du Lancorian, du kannst mir sagen, was du willst, aber ich glaube, ihr habt hier alle schon lange eure Unschuld gelassen. Manchmal merkt man das erst sehr spät. Und nun reicht es mit dem moralischen Gerede. Das paßt zu uns beiden nicht, wenn ich an unseren Garether Sommer denke.«

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