13

Seit dem Morgen dröhnten die großen Kriegstrommeln der Orks. Kolon malte sich aus, wie den Menschen in der Stadt zumute sein mußte. Nach dem abgeschlagenen Ausfall hatte er Sharraz Garthai auf einem Speer den Kopf des getöteten Anführers der Fußtruppen gebracht.

Der Kommandant der Orks war zufrieden. Er hatte ihm erlaubt, den Angriff auf die Stadt wie abgesprochen fortzusetzen. Zunächst ließ der Zwerg darauf die Krieger aus den Schanzen vor den Stadttoren vorrükken. Gedeckt hinter hölzernen Schutzwänden näherten sich die Bogenschützen der Mauer und überschütteten die Verteidiger mit einem Hagel von Pfeilen. Unterstützt wurden sie dabei von den Aalen, den Geschützen, die schwere Speere gegen die Mauern schossen.

Jetzt zur Mittagszeit sollte die Strategie geändert werden. Unter die Aale hatte man Holzkeile getrieben, so daß sie die Geschosse nun steil in den Himmel schleuderten. Doch statt herkömmlicher Speerspitzen staken auf den Schäften kleine eiserne Körbe. Sie wurden mit öldurchtränkten Lappen gefüllt und dann in Brand gesetzt. Feurige Schweife hinter sich herziehend flogen sie in die Stadt. Schon waren die ersten Häuserdächer in Brand geraten. Die Bürger waren so abgelenkt und mußten sich entscheiden, ob sie ihre Heime retten oder die Mauern gegen die Orks verteidigen wollten.

Kolon blickte zurück. Auf den Erdhügeln standen Gamba und die Schamanen der Orks. Seit über einer Stunde waren sie mit einem komplizierten Ritual beschäftigt. Sie sollten die Geister des Windes beschwören, und langsam zeigte sich erster Erfolg. Über der Stadt zogen sich dunkle Wolken zusammen, während der Himmel rings herum sommerlich blau blieb. Überall vor der Ostmauer sammelten sich Truppen, Krieger aus Dutzenden verschiedenen Stämmen. Kämpfer in Lederrüstungen mit Helmen und Schilden, die im Nahkampf die Verteidiger niederringen sollten. Bogenschützen, die oft nur einen Lendenschurz und skalpgeschmückte Köcher an der Seite trugen.

Weiter hinten im Lager waren große Kesselpauken aufgestellt. Verletzte, die nicht mehr kämpfen konnten, schlugen dort monoton den Takt zum Untergang der Stadt. Sharraz Garthai befehligte eine kleine Einheit von Tordochai. Sie galten als die wildesten Kämpfer unter allen Stämmen der Orks. Weiter nördlich machten sich Tiertreiber bereit. Mehr als fünfzig blutgierige Kampfhunde warteten darauf, als Vorhut durch die Breschen in der Mauer getrieben zu werden. Sie zerfleischten gnadenlos alles, was nicht nach Ork roch, und würden in der Stadt für Panik sorgen. Doch zunächst trommelten die Felsen der Katapulte noch gegen die Ostmauer. Seit dem Morgengrauen währte der Beschuß, und langsam zeigten sich tiefe Risse in der Mauer. Die Brustwehr war auf weiter Strecke nur noch eine Trümmerlandschaft und bot den Verteidigern kaum noch Deckung.

Ein Blitz zuckte aus den finsteren Wolken und ging auf die Stadt nieder. So stellte sich Kolon den Untergang Deres, seiner Welt, vor. Ein apokalyptischer Sturm, Feuer und eine gewaltige Schlacht. Er schwenkte die Streitaxt über dem Kopf. Jetzt würde er sein Geheimnis enthüllen und die Menschen ins Verderben locken. Alle Sklaven waren hinter die Erdhügel gebracht und unter der Aufsicht peitschenschwingender Orks in Ketten vor die großen Belagerungstürme gespannt worden. Langsam setzten sich die riesigen, hölzernen Gebilde mit ihren massigen Scheibenrädern in Bewegung. Auf den Plattformen der Türme hatte er Gerüste mit Speeren aufstellen lassen, so daß es auf Entfernung so aussehen mußte, als stünden sie voller Krieger. Unendlich langsam umrundeten die hölzernen Riesen die Hügel. Dann wurden sie über drei große Rampen gezogen, die der Zwerg in der Verschanzung des Hauptlagers angelegt hatte. Schritt für Schritt näherten sich die Türme der Mauer, während das Heer angriffsbereit verharrte. In vorderster Linie standen Dutzende fahrbare Sturmwände bereit. Sie sollten den Bogenschützen Dekkung bieten, die den ersten Angriff zu führen hatten und die größten Verluste erleiden würden. Kolon schnallte sich den Schild über den Arm und schritt zu seiner Einheit. Auch er würde im Kampf in vorderster Linie dabei sein.


Während die Schamanen dunkle Gewitterwolken über der Stadt zusammenzogen, konzentrierte sich Gamba auf den mächtigen Festungsturm, der die Mitte der östlichen Stadtmauer sicherte. Hier würden zweifellos die fünf Magier stehen. Sie waren die einzigen, die die Macht hatten, die vorrückenden Belagerungstürme aufzuhalten. Er kannte diese arroganten Akademiezauberer gut. Sie machten aus der Magie eine Wissenschaft, lernten aus Büchern, ohne je zu begreifen, welches mächtige Band zwischen den astralen Kräften und der Natur bestand. Sie waren vorausberechenbar. Gamba war sich völlig sicher, daß sie in die Falle gehen würden, die er ihnen gemeinsam mit Kolon gestellt hatte. Wieder konzentrierte er sich auf die Gewitterwolken und spürte das unruhige Knistern der gewaltigen Kraft, die sich in ihnen ballte. Hinter den Zinnen des Festungsturms meinte er, die weißen Roben der Magier zu erkennen. Obwohl es hier bei den Hügeln im Lager der Orks heller Tag war, verschlechterten die Gewitterwolken und die dichten Rauchschwaden von den Bränden die Sicht in der Stadt.

Noch waren die Belagerungstürme mehr als hundert Schritt von der Stadt entfernt. Noch mußte er warten. Die Magier sollten sich verausgaben! Kurz blickte der Druide zu den Bogenschützen, die um ihn herum auf dem Hügel kauerten. Sie warteten nur auf sein Zeichen. Jetzt war es soweit. Der vorderste Belagerungsturm war weniger als hundert Schritt von der Mauer entfernt. Gamba meinte, regelrecht zu fühlen, wie die ungebundenen astralen Kräfte der Natur ringsum durch die Vorbereitung eines mächtigen Zaubers aus dem Gleichgewicht gerieten. Dann löste sich von den Zinnen des Festungsturms ein gewaltiger Flammenstrahl, der heller als die Sonne war, und traf auf den vorderen Holzturm. Für einen Augenblick schwankte er unter dem Aufprall hin und her und trotzte der sengenden Hitze der Flammen. Dann siegte das Feuer, und binnen eines Atemzuges stand die Maschine von den mannshohen hölzernen Rädern bis zur Plattform in Brand. In Panik versuchten die Sklaven, von ihren Ketten freizukommen. Glühende Balken des auseinaderbrechenden Turms prasselten auf sie herab, während ihre Aufseher die Fesseln lösten. Für die, die dicht an der Flammensäule gestanden hatten, kam jede Hilfe zu spät. Die ungeheure Hitze hatte sie getötet.

Von den Mauern Greifenfurts war ein vielstimmiges »Hurra!« zu hören. Gamba grinste böse. Ein weiterer Flammenstrahl löste sich vom Festungsturm, um den nächsten Belagerungsturm zu vernichten. Bis zu seinem Hügel konnte der Druide das Schreien der sterbenden Sklaven hören. Es roch nach verbranntem Fleisch. Die Truppen der Orks standen weiterhin abwartend vor dem Lager. Ihre Anführer hatten ihnen erklärt, was zu erwarten war, und so beobachteten sie schweigend die MachtDemonstration der Magier.

Der letzte noch verbliebene Belagerungsturm hatte seine Bewegung eingestellt. Die Sklaven versuchten, sich von ihren Ketten loszureißen. Die Peitschen der Orks knallten, rissen Fleisch in blutige Striemen. Dann wurde auch dieser Turm zum Fraß der Flammen. Drei großen Fackeln glichen die mächtigen Belagerungsmaschinen.

Gamba konzentrierte sich und versuchte, die Kräfte in den Gewitterwolken zu sammeln. Schweiß rann ihm in Sturzbächen den Körper hinab. Mit einem Aufschrei ließ er die Kräfte frei, die er gebündelt hatte. Ein gewaltiger vielarmiger Blitz zuckte vom dunklen Himmel über die Stadt und schlug in den Turm der Magier ein. Das Gestein ächzte, und rund um die Plattform war eine Halbkugel, umspielt von gleißend blauem Licht, zu sehen.

Gamba fluchte und spuckte aus. Er hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Dann gab er einen kurzen Befehl an die Bogenschützen. Fünf Krieger zogen die Sehnen auf die Waffen und griffen nach den schwarzen Pfeilen, die sie vor sich in den Boden gesteckt hatten. Seinem ersten Ansturm hatte der Schutzzauber der Menschen noch standgehalten, doch diesmal würde er sie zerschmettern. Wieder ließ er seinen Geist in die finsteren Gewitterwolken aufsteigen und bündelte die Urgewalt des Sturmes. Er ließ sich Zeit. Diesmal sollte sein Schlag vernichtend sein. Gamba erzitterte am ganzen Körper, während er mit leerem Blick in den Himmel starrte, seine Augen so verdreht, daß nur noch das Weiße zu sehen war.

Wieder entlud sich ein gewaltiger Blitz über dem Turm der Magier. Sein Gleißen tauchte das Schlachtfeld in kaltes Licht. Die Hunde der Tiertreiber heulten auf. Für einen Augenblick hielt der Schutzschirm, den Eolan und seine Adepten um die Plattform des Turms gelegt hatten, und absorbierte einen Teil der zuckenden weißblauen Blitze, doch dann brach er in sich zusammen. Im selben Augenblick sirrten fünf schwarze Pfeile auf den Turm zu. Keiner der Kampfmagier sollte entkommen. Ihr Tod war das Vorspiel zum Untergang der Stadt. Das Bersten von Steinen ließ Gamba aufblicken. Nachdem er die Blitze gegen die Zauberer gerichtet hatte, war er kraftlos zusammengesunken.

Noch immer zuckte das Himmelsfeuer um den Turm. Aus dem Inneren schlugen Flammen durch die Schießscharten. Dann brach das Gemäuer mit Getöse in sich zusammen. Eine mächtige Wolke aus Staub und Rauch stieg zum Firmament. Als die Sicht wieder klarer wurde, klaffte mitten in der Ostmauer eine mehr als zehn Schritt breite Lücke, gefüllt mit den geschwärzten Trümmern des Turms. Ein Mann in schwarzer Rüstung und ein Ritter mit rotem Umhang waren im wehenden Rauch zu erkennen. Neben ihnen noch einige andere Gestalten. Gamba lachte. Der Kampf der Magier war beendet. Nun würden die Schwerter sprechen, und diese paar Recken würden den Sturm der Orks nicht aufhalten können.


Marcian war verzweifelt. Es kam ihm vor, als stünde er schon Tage in der Bresche. Schulter an Schulter mit dem Vampir hatte er einen Angriff nach dem anderen abgeschlagen, doch wie die Wellen eines Ozeans brandeten immer wieder neue Orkscharen gegen die breite Lücke in der Mauer. Um sie herum lagen die zerfetzten Leiber erschlagener Orks und Menschen. Beide kämpften mit gewaltigen Zweihändern. Waffen, die einen silbrig schimmernden Kreis aus Tod und Verderben um die Recken zogen.

Bislang war es keinem Ork gelungen, diesen Bannkreis des Todes zu durchbrechen, doch langsam erlahmten die Kräfte der beiden Kämpfer. Die Elite der Greifenfurter Krieger hatte in den letzten Stunden ihr Leben gelassen. Zunächst hatte die kleine Schar der Kürassiere von Blautanns den Orks getrotzt. Danach sprangen Lysandras Löwinnen in die Bresche, und jetzt hatte Darrag mit seinen Leuten die Amazone abgelöst. Wieder wichen die Orks zurück.

»Alles in Deckung!« schrie Marcian, doch eigentlich war der Befehl unnütz. Längst kannten alle Kämpfer die Strategie der Orks. Wann immer sich die Schwarzpelze zurückzogen, gingen Schauer von Pfeilen auf die Bresche nieder. Marcian hastete hinter einen halb eingefallenen Torbogen. Einst war das die Pforte zum Hauptturm der Ostmauer gewesen. Jetzt standen von dem mächtigen Bollwerk in der östlichen Verteidigungslinie nur noch einige rußgeschwärzte Trümmer. Zerwas hatte sich denselben Platz als Deckung ausgesucht. Eben erst hatte Marcian gesehen, wie ein Pfeil ihn am Kopf streifte und eine blutige Schramme zurückließ. Jetzt war die Wunde verschwunden.

»Gibt es nichts, was dich tötet?« murmelte der Inquisitor. Er selbst spürte seine Kräfte mehr und mehr schwinden. Seine schwere Rüstung war übersät von Schrammen und Beulen. Sein Körper schmerzte von zahlreichen Prellungen, und sein linker Arm fühlte sich taub an. Obwohl Lancorian die Schußwunde, die er sich am Morgen zugezogen hatte, auf magische Weise versiegelt hatte, war sein linker Arm immer noch schwach.

»Wenn es etwas gäbe, was mich töten könnte, wärst du der letzte Mensch, dem ich es verraten würde.« Zerwas lachte laut auf. »Deine Greifenfeder scheint gegen die Hiebe der Orks nicht zu schützen. Du siehst schlecht aus, Inquisitor. Ich fürchte, wenn du dich nicht aus der Bresche zurückziehst, werde ich dich noch vor Sonnenuntergang sterben sehen.« »Sei dir nicht ...« Krachend schlug ein Felsbrocken zwischen die Trümmer. »Bei allen Göttern! Jetzt ist es vorbei!« Vorsichtig lugte Marcian über den Rand des Torbogens. Die Katapulte der Orks begannen, sich auf die Bresche einzuschießen . Sie würden ihre Stellung räumen müssen. Ein weiterer Felsbrocken schlug wenige Schritt rechts von ihm gegen die Brustwehr der Mauer und riß einen Mann in die Tiefe. Splitter von berstenden Steinen prallten mit hellem Klang an der Rüstung des Inquisitors ab. Bis jetzt hatten Himgis Sappeure ihnen von der Mauer aus Feuerschutz gegeben, doch weiter unter dem Beschuß der Katapulte auszuharren, hieße, nur sinnlos Leute zu opfern.

»Alles zurück!« schrie Marcian verzweifelt. »Wir werden von den Barrikaden in den Gassen aus weiter kämpfen.«

Marcian ließ sich wieder in Deckung rutschen. »Wie lange gibst du der Stadt noch?« fragte ihn der Vampir.

»Wenn die Orks so weitermachen, halten wir morgen früh nur noch die Garnison. Sieht ganz so aus, als würde aus deiner Rache nichts mehr. Es wird jetzt schnell vorbei sein, es sei denn ...« Zischend zog ein Felsblock über ihre Köpfe. Es war an der Zeit, sich abzusetzen. Die Orks schienen zu merken, was vor sich ging. Ganz in der Nähe war das Heulen ihrer Kriegshunde zu hören. Geduckte Gestalten huschten zwischen den Mauerresten und zogen sich in die Stadt zurück.

»Zeit zu gehen, Vampir!« Mühsam zog sich Marcian an der Mauer hoch. Das Gewicht seiner Rüstung schien ihn zu erdrücken. Er war todmüde und hatte kaum noch die Kraft, den mächtigen Zweihänder aufzuheben, mit dem er in der Bresche gefochten hatte. »Ich kann nicht sagen, daß es nett war, dich gekannt zu haben, Zerwas. Fahr zum Namenlosen!«

Stolpernd hielt der Inquisitor auf die Häuser zu. Die Bürger hatten Karren in den Gassen quergestellt und Möbel auf die Straße geworfen, um Barrikaden zu errichten. Mühsam erklomm Marcian das vorderste Hindernis. Beißender Rauch zog durch die Stadt. Schon vor einer Stunde hatte er den Befehl gegeben, sich nicht mehr um die Brände zu kümmern. Er brauchte jetzt jeden, der eine Waffe halten konnte. Aus der Bresche ertönte Hundegekläff. Schon konnte Marcian die ersten der vierbeinigen Bestien erkennen, widerliche Geschöpfe mit langen Reißzähnen. Viele von ihnen trugen plumpe Lederpanzer um den Leib. Diese Kreaturen wollten nur eins: töten. Zerwas kam auf die Stellung zugerannt. Drei Kampfhunde waren ihm auf den Fersen. »Gebt ihm Feuerschutz!« schrie Marcian die Bürger hinter der Barrikade an. In der schweren schwarzen Rüstung kam der Vampir nur langsam voran. Mit einem Schlag nach hinten trennte er einem Hund, der zum Sprung ansetzte, die Vorderläufe ab. Aufheulend stürzte die Bestie, rollte sich mit wild in der Luft zuckenden Läufen auf dem Rücken, während die anderen beiden über sie herfielen und gnadenlos zerfleischten. Zerwas erreichte die Barrikade und zog sich mit einem Ruck an einem umgestürzten Schrank hoch. Dann sprang er auf der anderen Seite herab. Atemlos keuchte er: »Ich muß mit dir reden, Marcian.« Er zog den Inquisitor von der Barrikade in die Gasse.

»Was willst du?«

»Du hast gesagt ... daß du noch ... einen Weg ... siehst! Welchen?« Keuchend blickte ihn der Vampir an.

»Wenn ich ein paar Kämpfer hätte wie dich, Krieger, die beinahe unverwundbar sind ...« Marcians Stimme war zu einem Flüstern geworden. Er wußte, daß er allein für diesen Gedanken schon auf den Scheiterhaufen gehörte. Die Inquisition durfte niemals erfahren, was hier vor sich gegangen war. Doch auch dafür hatte er schon Vorbereitungen getroffen.


Zerwas überwachte den Abtransport der Verwundeten aus dem Siechenhaus der Therbuniten. Lange konnte dieses Viertel nicht mehr gehalten werden. Überall loderten Brände, und die Kampfhunde der Orks streunten durch die Straßen. Noch leisteten die Bürger auf den Barrikaden verzweifelten Widerstand, schossen aus den Fenstern der brennenden Häuser und warfen Felsbrocken und Balken von den Dächern auf die anstürmenden Schwarzpelze, doch schon hatte Marcian befohlen, eine neue Verteidigungslinie auf Höhe der alten Stadtmauer zu bilden. Der Vampir trug einen Mann über der Schulter, dem am Mittag der Arm amputiert worden war. Fluchend scheuchte er die anderen vorwärts. Zum dritten Mal machte die Kolonne von Trägern schon den Weg quer durch die Stadt. Die Barrikaden auf den Straßen verhinderten, daß man noch mit einem Karren bis zum Siechenhaus durchkam. Erst westlich des Platzes der Sonne waren die Wege wieder frei. Die Verletzten sollten in die Burg geschafft werden. Zerwas blickte zum Himmel. Noch immer standen finstere Wolkengebirge über der Stadt. Bald würde im Westen die Sonne untergehen. Dann konnte er Sartassa holen und beginnen. Es hatte lange gedauert, bis der Inquisitor ihn überredet hatte, doch würde er diesen verzweifelten Plan nicht ausführen, erschiene ihm die Stadt nicht schon jetzt verloren.

Beinahe wäre er gestolpert. Die Leiche eines kleinen braunhaarigen Mädchens lag quer in der Gasse. Die Hunde der Orks hatten ihr die Kehle herausgerissen. Ihr Körper war von Klauen und Zähnen gräßlich entstellt. Sein Entschluß stand fest. Er würde Marcian helfen!


»Wir werden ihnen nicht sagen, was sie wirklich sind«, flüsterte Zerwas Sartassa zu. »Sobald sie erwachen, behaupten wir, Lancorian hätte einen Heilzauber auf sie gesprochen, der sie vor dem Tode gerettet hat. Sie sollen glauben, daß sie beinahe unsterbliche Kämpfer sind, und das ist ja nicht einmal gelogen.« Wieder blickte er auf die zwölf Männer und Frauen, die auf Strohlagern am Boden des Kellergewölbes lagen. Verwundete, die tödliche Verletzungen empfangen hatten, aber nicht so verstümmelt waren, daß sie Gliedmaßen eingebüßt hätten. Dem einen ragte das abgebrochene Geschoß einer Speerschleuder aus der Hüfte. Zerwas hatte den Schaft untersucht. Es war Ulmenholz. Der Speer mußte nicht aus der Wunde entfernt werden. Daneben lag eine Frau, der herabstürzende Trümmer die Rippen zerschmettert hatten. Ein anderer war halb verbrannt, sein Kopf nur noch ein schrecklicher Klumpen roten Fleischs. Sie alle wären noch vor Morgengrauen in Borons Hallen gegangen, doch jetzt würden sie leben. Sie würden Gelegenheit bekommen, sich an den Schwarzpelzen zu rächen.

Neben der Tür stapelten sich Waffen und Rüstungen, das Beste, was in den Arsenalen der Burg noch aufzutreiben war. Sauber gefaltete, schwarze Umhänge lagen auf einem Stuhl. Jeder aus Zerwas' Elitetruppe sollte einen tragen, damit man sie von den anderen Kriegern unterscheiden konnte.

»Schau, der Verbrannte sieht schon viel besser aus«, sprach ihn Sartassa an. Am Hals des Mannes schimmerte frische rosige Haut. Die gräßliche Wunde begann sich langsam zu schließen. Der Mann stöhnte im Schlaf. »Was glaubst du, wie lange es noch dauern wird?« fragte die Elfe. Zerwas zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ich hoffe, nicht zu lange. Das letzte, was ich aus der Stadt gehört habe, war beunruhigend. Die Orks sind schon bis zur alten Stadtmauer vorgedrungen, und es sieht so aus, als würde auch das Andergaster Tor bald fallen.«

»Vielleicht sollte ich schon einmal vorgehen.« Sartassa machte einige Schritte in Richtung Tür.

»Bleib hier!« herrschte Zerwas sie an. »Wir werden alle zusammen losschlagen.« Wütend bleckte die Elfe ihre Fangzähne, doch sie blieb.


Das war also das Ende, dachte Lancorian. Die Orks hatten das Andergaster Tor gestürmt und waren, fast ohne auf Widerstand zu stoßen, bis zum Platz der Sonne vorgedrungen. Mit einer Handvoll Männer stand er gemeinsam mit Marcian in der Gasse vor der ›Fuchshöhle‹ und verteidigte eine Barrikade. Für einen Augenblick war Ruhe. Eben erst hatte er die Illusion eines Dämons erschaffen, der wutschnaubend aus einem der brennenden Häuser hervorbrach. Die Schwarzpelze waren darauf laut schreiend davongelaufen. Doch dies bedeutete nur einen kurzen Aufschub.

Aus allen Richtungen waren Kampflärm und das Schreien Sterbender zu hören. Greifenfurt war am Ende und er auch. Der Zauberer hatte mehr als vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen. Seit dem gescheiterten Ausfall im Morgengrauen stand er fast ununterbrochen im Kampf. Er hatte kaum noch die Kraft, auf den Beinen zu bleiben. Neben ihm lag Marcian an die Barrikade gelehnt.

»Deine Ruhe möchte ich haben.« Lancorian schaute seinen Freund verständnislos an. Dessen Rüstung war von den Hieben der Orks gezeichnet, und sein roter Umhang hing ihm zerfetzt von den Schultern. »Rund um dich herrscht ein unbeschreibliches Inferno, und du sitzt da und grinst.«

»Ja«, antwortete der Inquisitor schlicht. »Ich habe alles getan, was ich tun konnte. Ich habe sogar die Inquisition verraten. Jetzt trage ich keine Verantwortung mehr. Wenn die Stadt vernichtet wird, so hatten die Götter es eben so beschlossen. Ich glaube, daß ich mich jetzt nicht einmal mehr wehren würde, wenn die Orks noch einmal angreifen. Ich bin so müde, daß mir die Aussicht auf ewige Ruhe sehr angenehm erscheint.« »Sprich leiser«, zischte der Magier. »Was sollen die Männer von dir denken? Du bist ihr Vorbild. Reiß dich gefälligst zusammen!«

»Nein, Lancorian. Jetzt nicht mehr. Beug dich zu mir herunter. Ich möchte dir etwas geben.«

Dumpf schlugen Pfeile ringsum in die Barrikade ein. Die Illusion, die Lancorian erschaffen hatte, war verblaßt, und die Orks kamen vorsichtig zurückgeschlichen.

»Nimm das!« Marcian nahm sich einen Lederriemen mit einer bunten Feder vom Hals und reichte ihn seinem Freund. »Das wird dich vor der Macht des Bösen schützen. Spare deine Kräfte! Wenn noch nicht alles verloren ist, werden wir dich noch brauchen.« Der Kommandant schloß die Augen.

»Was ist los mit dir?« Lancorian rüttelte ihn an der Schulter.»Was soll schon sein? Ich werde ein wenig schlafen. Wenn die Orks angreifen, werde ich schon wieder auf den Beinen sein.«

Vorsichtig spähte der Magier über einen umgestürzten Leiterwagen. Die Gelassenheit, mit der Marcian auf seinen Tod wartete, war ihm unverständlich. Vom Platz der Sonne erklang lauter Kampflärm. Die Orks schienen in ein schweres Gefecht verwickelt zu sein. Noch leisteten die Greifenfurter Widerstand! Vielleicht würden sie sogar zum Gegenschlag ausholen. Immerhin waren es kaum mehr als fünfzig Schritt bis dorthin.

Wieder schlug ein Pfeil in das Holz der Barrikade. Der Zauberer versuchte, im flackernden Licht der Flammen den Schützen auszumachen. Vergebens. Er wollte auch nicht riskieren, sich zu weit vorzustrecken. Dann würde er ein gutes Ziel bieten. Ein streunender Kampfhund zerrte an einer Leiche, die in der Gasse lag. Widerliche Biester, dachte Lancorian. Schade, daß sie alle Pfeile verschossen hatten. Hinter den Rauchschwaden bewegte sich etwas. Er schluckte. Ein Trupp Orks schlich näher. Es mußten mehr als zehn sein. Vorsichtig kamen sie die Gasse herunter. Lancorian kroch hinter die Barrikade zurück und rüttelte Marcian an der Schulter. »Sie kommen!« Mühsam rappelte sich der Inquisitor auf. Auch die anderen Männer und Frauen griffen müde nach ihren Waffen. Ein erbärmlicher Haufen. Dies würde wohl das letzte Gefecht sein. Der Zauberer zog einen Dolch, den er bislang unter seinem Gewand verborgen hatte. Mindestens einem der Kerle würde er noch das Lebenslicht ausblasen.

Dann ging alles rasend schnell. Das letzte Stück zur Barrikade rannten die Orks. Schon begannen sie, über den umgestürzten Wagen zu klettern. Neben Lancorian wurde eine Kriegerin von einem Wurfspeer umgerissen. Marcian rammte dem ersten, der über den Wagen sprang, sein Schwert in den Bauch. Doch immer mehr Orks drangen aus der Gasse. Schon waren vier oder fünf über die Hindernisse hinweg. Marcian wurde eingekreist und langsam gegen eine Hauswand gedrängt. Müde parierte er die Schläge seiner Angreifer, während Lancorian einen der Schwarzpelze mit einem Blendzauber ausgeschaltet hatte.

Plötzlich stand eine Frau mit schwarzem Umhang unter ihnen. Im ersten Augenblick glaubte der Magier, sie sei eine Söldnerin auf Seiten der Orks, doch dann hieb sie auf ihre Gegner ein. Die Frau kämpfte überaus geschickt und schien keine Angst vor dem Tod zu haben. Sträflich vernachlässigte sie ihre Deckung und griff tollkühn drei Orks auf einmal an. Noch weitere Krieger mit schwarzen Umhängen kamen ihr zu Hilfe. Nach wenigen Augenblicken lagen etliche Gegner tot auf der Gasse. Der Rest floh in die Nacht.

»Dank dir, Lancorian!« sagte die Kriegerin, die zuerst zu ihrer Unterstützung kam und schüttelte ihm die Hand. »Ohne dich wäre ich schon längst tot. Warum hast du Marcian noch nicht unsterblich gemacht?« Der Magier war völlig verblüfft. »Äh ...«, fing er verlegen an. »Weil ich das nicht wollte«, mischte sich der Inquisitor schnell ein. Verständnislos blickte ihn die Kriegerin an. »Nun ja«, sagte sie schließlich, »wir müssen weiter. Bis Sonnenaufgang wird die Stadt wieder in unserer Hand sein. Die meisten Orks rennen wie die Hasen, wenn sie Zerwas kommen sehen. Er kämpft, als sei Rondra in ihn gefahren.« Die Krieger verschwanden in der Nacht.

»Lancorian, ich muß dir etwas erklären.« Marcian packte seinen Freund bei der Schulter und zog ihn in einen Hauseingang.


»Was ist da los?« Sharraz Garthai bebte vor Wut. Wieder war einer der Unterführer zu ihm gekommen und berichtete von Kriegern in schwarzen Umhängen, die nicht zu töten waren.

»Brich den Angriff ab!« Kolon der Zwerg wußte sich auch keinen Reim auf die Nachrichten zu machen, die seit einer Stunde das Hauptquartier der Orks erreichten. »Zieh die Männer zurück! Sie brauchen Ruhe. Morgen werden wir uns den Rest der Stadt nehmen. Allein die Garnison wird uns noch eine Weile widerstehen können.«

»Trotzdem möchte ich wissen, was dort vor sich geht. Ihre Kampfkraft schien doch schon fast gebrochen. Warum setzen sie diese Truppen erst jetzt ein?« Sharraz Garthai war verzweifelt. Der massige Krieger saß auf einem Haufen aus Fellen und hatte angefangen, sich zu betrinken. »Es könnte sein, daß wir morgen genausowenig Erfolg haben werden.« Gamba, der bislang schweigend zugehört hatte, erhob sich. »Ich weiß nicht, was dort passiert, aber es kann nicht mit rechten Dingen zugehen. Wir sind in einer schlechten Position. Die Schamanen und ich sind mit den Kräften am Ende. Wir werden Tage brauchen, bis wir wieder in der Lage sind, einen machtvollen Zauber zu wirken, und ich glaube, daß das, was in der Stadt vor sich geht, nicht ganz geheuer ist. Es gibt keine Menschen, die unsterblich sind. Es sei denn, sie sind verzaubert. An deiner Stelle würde ich mich auf einen Gegenangriff der Greifenfurter vorbereiten, Sharraz.«

Dem Ork fiel der Unterkiefer herab. »Was? Du spinnst. Heute haben wir sie fast vernichtet ...«

»Und diese Nacht sind wir aus der Stadt wieder zurückgeschlagen worden. Beschönige die Dinge nicht! Wenn ich der Kommandant von Greifenfurt wäre und über unsterbliche Krieger gebieten könnte, würde ich zum Angriff übergehen.«

Ungläubig starrte der General den Druiden an. Es ließ sich nicht leugnen, daß er recht hatte. »Kolon, sorge dafür, daß unsere Stellungen bereit sind, einen Angriff abzuschlagen!«

»Jawohl, Gebieter.« Der Zwerg salutierte zackig und verließ das Zelt. Draußen hob er den Blick zu den Sternen. Wie, bei allen Göttern, sollte man einen Angriff von Kriegern abwehren, die offenbar unsterblich waren?


Bald würde die Sonne aufgehen. Zehn Reiter hatten sich bei der Ostmauer, unweit der Bresche, versammelt. Marcian musterte jeden argwöhnisch. Einige Vampire waren in der Nacht umgekommen. Unglückliche Treffer hatten ihnen den Kopf zerschmettert, andere waren durch Pfeile getötet worden. Es schien, als seien bestimmte Sorten Holz geeignet, sie zu Boron zu schicken. Er blickte zu Zerwas auf seinem prächtigen Rappen. Ob das auch für ihn galt? Die sieben überlebenden Vampire waren jedenfalls unverletzt und kräftig. Sie wußten immer noch nicht, was mit ihnen geschehen war, glaubten weiterhin das Ammenmärchen, das ihnen der Henker erzählt hatte.

Die Pferde, auf denen sie saßen, hatten mit Rauschkräutern beruhigt werden müssen. Sie spürten sehr wohl, was für Geschöpfe sie im Sattel trugen.

Gemeinsam mit Sartassa, Lancorian und den anderen Reitern sollte Zerwas einen Angriff gegen die Orkstellungen vortragen. Marcian hoffte, daß die Schwarzpelze dadurch so sehr in Panik geraten würden, daß sie die Belagerung vielleicht ganz aufgaben. Auf der anderen Seite konnte es auch sein, daß die Vampire bei der Attacke ihr unheiliges Leben verlieren würden. Marcian blickte zu Boden und lächelte in sich hinein. Gleichgültig, was geschah, seine Feinde würden sich nun untereinander bekriegen, und er war auf jeden Fall der Sieger. Sorgen machte er sich allein um Lancorian. Er sollte die Vampire durch einen Dunkelzauber schützen, sobald die Sonne aufging.

Zerwas hatte sich zunächst gegen diesen Angriff gesträubt. Es schien, als spürte er, daß Marcian ihn in eine Falle locken wollte. Doch als die feurige Sartassa den Vampir einen Feigling genannt hatte, war er zum Angriff auf die Orks bereit gewesen. Wieder schmunzelte Marcian. Selbst jetzt, wo die Elfe von der Seite des Lichts zur Finsternis gewechselt war, leistete sie ihm noch gute Dienste. Sie schien großen Einfluß auf Zerwas zu haben. Erste Streifen silbrigen Lichts zeigten sich am Horizont. Bald würde sich im Osten das feurige Gestirn des Praios über die sanften Hügel erheben. Zerwas zog sein Schwert aus der prächtigen Scheide auf seinem Rücken. Unruhig schnaubten die Pferde. »Für Boron!« schrie der Vampir und gab seinem Rappen die Sporen.


In der Bresche hielten die Reiter noch einmal kurz an. Lancorian formte seine Hände zu einer geschlossenen Kugel und verschloß die Augen. Mißtrauisch beobachtete ihn Zerwas. Der Magier war ein guter Freund des Inquisitors. Er sollte ihn im Auge behalten. Vorsichtig lenkte er sein Pferd durch die Trümmer näher an ihn heran. Rund um die Reiterschar begann die Luft zu flimmern. Schnell wurde aus Zwielicht vollkommene Dunkelheit. Eine Schwärze, die jedes Licht absorbierte. Zerwas brauchte einen Augenblick, um sich an die Finsternis zu gewöhnen. Als Vampir sah er bei Nacht besser als am Tag, doch diese Finsternis war irgendwie anders. Er konnte kaum noch sehen, wo er lang reiten würde. »Achtung, alles im Schritt vorwärts!« kommandierte der ehemalige Henker. »Paßt auf, daß ihr nicht die Richtung verliert.«

»Ich werde euch vor Hindernissen warnen, ich kann noch ganz normal sehen«, meldete sich Lancorian zu Wort. »Wir reiten jetzt mitten in einer zehn Schritt umfassenden Halbkugel aus Finsternis. Von außen kann uns keiner sehen. Die Dunkelheit ist für Orks und Menschen undurchdringlich.«

Aus dem Lager der Schwarzpelze erklangen quäkende Hörner. Sie hatten den drohenden Schatten vor der Stadtmauer bemerkt. Allmählich gewöhnten sich Zerwas' Augen an den Zauber. Schemenhaft konnte er das Lager der Orks zweihundert Schritt voraus erkennen.

»Achtung, steigert jetzt das Tempo!« rief der Vampir seinen Streitern zu. »Wir werden über die Rampen, auf denen sie gestern die Belagerungstürme herausgeschoben haben, in das Lager einfallen.«Donnernd rissen die Hufe der Pferde das Gras auf. Vor ihnen konnten sie erkennen, wie vereinzelt Orks auf Geschütze zurannten. Einige Bogenschützen schossen wahllos auf die unheimliche Schwärze, die mit stetig steigendem Tempo auf das Lager zukam.

»Wir werden unsere Freunde jetzt ein wenig erschrecken«, rief Lancorian atemlos. Der Reitertrupp war nun weniger als fünfzig Schritt vom Lager entfernt. Plötzlich war eine tiefe, böse Stimme zu vernehmen, die in gebrochenem Orkisch stammelte: »Ich bin der Herr der Finsternis und schicke meine Schergen, um euch in den Abgrund zu reißen. Fürchtet euch, denn für den, den die Nacht erfaßt, wird es kein Entkommen mehr geben.«

Zerwas hörte den Zauberer leise neben sich lachen.

Der Bordellbesitzer hatte schon einen merkwürdigen Sinn für Humor, doch offensichtlich war seine Strategie erfolgreich. Schon warfen die ersten Bogenschützen ihre Waffen ins Gras und stürmten mit gellenden Schreien ins Lager zurück.

Die Reiter hatten die mittlere Rampe erreicht. Kein Krieger war dort, um sich ihnen in den Weg zu stellen. Vor ihnen lag das Lager der Ork's. Ein wimmelndes Chaos aus Gestalten, die ihr Glück in der Flucht suchten. Nirgends schienen sich Gruppen zum Widerstand zu bilden. Das wird kein Kampf, sondern ein Schlachtfest, dachte der Vampir und umklammerte ›Seulaslintan‹ fester. »Für Boron!« rief er noch einmal und trieb seinen Rappen zwischen die Flüchtenden.

Die Orks kreischten schrill auf, wenn sie von der Kugel aus Dunkelheit verschluckt wurden. Orientierungslos tappten sie umher oder warfen sich wimmernd zu Boden. Die Schwerter seiner Streiter fanden reiche Beute. Zerwas war der Kampf zuwider, doch ›Seulaslintan‹ bebte vor Lust. Auch Sartassa jauchzte vor Vergnügen. Sie machte sich einen Spaß daraus, ihre Gegner nicht zu töten, sondern durch gezielte Schläge zu verstümmeln. Ihr offenes schwarzes Haar umgab sie wie ein Umhang. Zerwas leckte sich über die Lippen.

Er wußte, daß er von dieser Frau besessen war, und er hatte es schon lange aufgegeben, dagegen anzukämpfen. Er sehnte die Nacht herbei. Stunden, in denen sie endlich wieder zu zweit sein würden.

Ein Ork taumelte gegen sein Pferd. Mit raschem Schlag spaltete der Vampir ihm den Schädel.

»Laßt uns halten und Feuer legen, es ist genug.« Der Vampir zügelte sein Pferd.

»Warum?«, erklang Sartassas Stimme hinter ihm. »Wir können noch Dutzende Orks niederstrecken. Laß sie uns in die Hügel verfolgen. Sie sind geschlagen und bilden keine Gefahr mehr.«

»Sie hat recht, Zerwas. So leicht können wir nie wieder Rache für unsere Toten nehmen«, stimmte ihr Lancorian zu.

Unwillig gab der Vampir seinem Rappen die Sporen. Die anderen waren vorwärtsgeprescht, ohne sich weiter um seine Einwände zu kümmern. Er blickte zum Himmel. Die Sonne stand schon mehr als eine Handbreit über dem Horizont. Er fühlte sich unwohl. Duldete er, daß eines seiner Opfer zum Vampir wurde, so herrschte ein unsichtbares Band zwischen ihnen. Er fühlte sich wie eine Art Vater. Er mußte sie schützen, denn es waren seine Geschöpfe. Sie hatten nur noch wenig Menschliches an sich, auch wenn sie es selbst noch nicht wußten. Er hatte gestattet, daß diese dunkle Saat aufging, und nun trug er die Verantwortung für sie. Wieder beobachtete er den Magier. Lancorian schien keine Waffe zu haben. Er beteiligte sich nicht am Kampf. Dann wurde der Vampir abgelenkt, denn sie hatten wieder eine Gruppe fliehender Orks erreicht.

Das Gefecht war nur kurz. Ein freudloses Gemetzel. »Genug!« rief Zerwas wieder mit lauter Stimme. »Wir reiten zurück. Es reicht.« Unruhiges Gemurmel wurde zwischen den Reitern laut.

»Warum lassen wir sie ziehen?« fragte Sartassa.»Hat je ein Ork einen Menschen geschont?« rief ein anderer. »Laßt sie uns verfolgen und bis auf den letzten auslöschen!«

Zerwas drehte sich nach dem Magier um. Er entfernte sich schweigend von der Gruppe. Der Vampir wollte ihm etwas zurufen, doch im selben Augenblick blendete ihn ein gleißend heller Lichtstrahl. Die Dunkelheit, die sie schützend umgeben hatte, war verschwunden. Mit gellenden Schreien stürzten die Vampire von ihren Pferden. Zerwas sprang aus dem Sattel, suchte Sartassa. Die Elfe lag zusammengerollt im Gras. Ihre Hände bohrten sich in die Erde. Sie schrie wild vor Schmerz. Zerwas berührte sie mit der Schwertspitze zwischen den Schultern.

»Rette sie«, flüsterte er. »Rette sie, oder du wirst mich verlieren!« Doch nichts geschah. Es roch nach verbranntem Fleisch. Der Vampir sah, wie der Elfe die verschrumpelte Haut von den langen schlanken Fingern riß. Sie hatte aufgehört zu schreien, röchelte nur noch leise. Dann drehte sie sich um. Ihr Gesicht war eine gräßliche Maske des Todes. Das Fleisch schien ihr von den Knochen geschmolzen zu sein. Dünn spannte sich rissige Haut über ihren Schädel. Ihre prachtvollen Lippen waren nur noch blasse, beinahe farblose Striche. »Auf Wiedersehen ...« flüsterte sie leise. Kaum konnte er ihre gehauchten Worte verstehen. Er beugte sich vor und legte sein Ohr auf ihre verfallenen Lippen. »Auf Wiedersehen in ... der Finsternis, ... mein Geliebter.« Kraftlos preßte sie ihre Lippen an sein Ohr. Dann sank der Kopf der Elfe zurück.

Im hellen Licht der Sonne zerfiel ihr Schädel zu Staub. Allein ihre Waffen und ihre Rüstung blieben im hohen Gras zurück.

Zerwas hob seine Fäuste zum Himmel und schrie seine Wut heraus. Um ihn lagen alle seine Gefährten und waren das Opfer des Sonnengottes geworden. Zerwas fluchte auf Praios. Fluchte, daß er nicht das Schicksal seiner Geliebten teilen konnte, und dann blickte er sich nach Lancorian um. Der verräterische Magier sollte ihm büßen. Mit einem Satz saß er wieder auf seinem Rappen, gab dem Tier die Sporen und preschte durch die Hügel auf die Stadt zu.

Als er das verlassene Lager der Orks erreichte, mußte er erkennen, daß es zu spät war. Der blonde Magier ritt durch die Bresche in der Ostmauer. Zerwas erkannte den roten Umhang Marcians. Der Inquisitor hatte dort auf ihn gewartet.

Unablässig wirbelten Worte durch seinen Kopf, Worte, die Fingerzeige auf sein Schicksal gewesen waren und die er nicht richtig verstanden hatte. Wieder erinnerte er sich, wie Marcian ihm versprochen hatte, ihm und seinen Kreaturen würde in der Stadt nichts geschehen. Zerwas schnaubte vor Wut. Dieser Praios-Sklave hatte Wort gehalten! Dann dachte er an den wahnsinnigen Propheten, der ihm geweissagt hatte, das Licht des Praios werde ihm Schmerzen bereiten. Die Sonne stand nun schon hoch am Himmel. In zwei Stunden würde Mittag sein. Der Vampir wendete sein Pferd. Er würde nicht in die Stadt zurückkehren. Nicht jetzt. Wenn er wiederkam, dann wollte er die Klinge des Eroberers in der Hand führen. Marcian sollte dasselbe fühlen, das er gefühlt hatte, als Sartassa vor seinen Augen starb. Auch er sollte seine Liebe hilflos vergehen sehen!


»Der schwarze Dämon verläßt die Stadt. Wir sind gerettet.« Der Krieger, der gesprochen hatte, drehte sich zu Sharraz Garthai um. Gemeinsam mit einigen Getreuen stand der General der Orks auf einem Hügel und hatte aus sicherer Entfernung mitangesehen, was geschehen war. »Blast die Hörner! Schickt Reiter in die Hügel und sucht die Versprengten. Die Menschen haben unser Lager nicht zerstört, und noch immer stehen Truppen in den Schanzen vor den Stadttoren. Wir werden zurückkehren. Wir werden Rache nehmen!« Sharraz Garthai schritt langsam den Hügel hinab. Heute war der erste Tag in seinem Leben, an dem er vor etwas davongelaufen war. Dafür sollten die Menschen büßen. Für einen erneuten Sturmangriff waren ihm zu wenige Krieger geblieben. Aber er konnte noch immer den Belagerungsring dichter schließen. Er würde die Stadt mit Erdwällen umgeben und dafür sorgen, daß niemand mehr hinauskam, bis die Menschen verrückt vor Hunger zu ihm gekrochen kamen und um Gnade flehten.

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