39

»Oh!« seufzte Iwoso zusammenfahrend, als ich die Knoten enger zog und sie unlösbar mit dem dicken Pfosten verband. »Ich bin eine freie Frau!« protestierte sie. »Es gehört sich nicht, daß ich an einen Pfahl angebunden bin!«

»Hci hat es so entschieden«, sagte ich.

»Hci?« rief sie. »Mit welchem Recht hat er diesen Befehl gegeben?«

»Er hat dich gefangen.«

»Oh!« rief sie erschrocken.

Es gab insgesamt zwei Pfosten, die tief in einen Riß des Ratsfelsens gekeilt worden waren, dicht am Abgrund. Von den Pfählen vermochte man pasangweit über die Prärie zu schauen, die sich einige hundert Fuß tiefer erstreckte; der Blick schweifte vor allem nach Westen. Da sich die Pfosten dicht am Hang befanden, ermöglichten sie zugleich einen guten Ausblick auf den Hauptweg, der sich steil und schmal zum Gipfel emporwand.

Bloketu, ebenfalls nackt, stand bereits gefesselt am zweiten Pfahl.

Die Mädchen hatten nicht nur das gesamte Panorama vor sich, sondern konnten auch von unten vom Weg gut gesehen werden.

»Welchem Umstand verdanken wir dieses außerordentliche Privileg?« fragte Iwoso leichthin. »Dies ist doch mal etwas anderes als die abgestandene Luft in unserem Gefängniszelt.«

»Heute«, sagte ich, »soll über euch geurteilt werden.«

Bloketu wand sich wimmernd in den Fesseln, und auch Iwoso war unbehaglich zumute.

»Krieger, bring mir eine Kaiila!« flüsterte sie. »Hilf mir fliehen! Ich verschaffe dir großen Reichtum bei den Gelbmessern!«

Sie hatte mich ›Krieger‹ genannt, obwohl ich noch Cankas Kragen trug, obwohl ich noch Sklave war. Ich musterte das Mädchen abschätzend. »Tut mir leid«, sagte ich schließlich, »aber meine Sympathien liegen auf Seiten der Kaiila.«

Zornig blickte sie mich an. »Ungeheuer!« fauchte sie. »Sleen!«

Ich wandte mich ab.

»Oh, Krieger, Krieger!« rief sie verzweifelt.

»Ja?«

»Wie läuft die Ratsversammlung?« wollte sie wissen.

»Welche Ratsversammlung?« fragte ich.

»Na, die große Versammlung der Kaiila, aller Überreste der Kaiila-Banden – der Isbu, Casmu, Isanna, Napoktan und Wismahi.«

»Der Rat?«

»Der hier und jetzt zusammengetreten ist!«

»Woher wußtest du davon?« fragte ich.

»Du sprachst im Lager der Gelbmesser davon, in meinem Zelt.«

»Oh!«

»Und glaubst du, ich hätte nicht all die Zelte gesehen, während ich vorhin zum Pfahl gebracht wurde?«

»Vermutlich macht es nichts mehr, daß du Bescheid weißt, da du gefangen bist«, sagte ich. »Natürlich wäre es nicht ratsam, wenn die Ungeheuer davon erführen oder die weißhäutigen Söldner oder die Gelbmesser oder Kinyanpi.«

»Nein«, sagte sie, »denn sie könnten euch hier umzingeln und auf dem Ratsfelsen belagern.«

»Nur gut«, sagte ich, »daß unsere Versammlung ein wohlgehütetes Geheimnis ist, von dem unsere Feinde keine Ahnung haben.«

»Ja«, sagte sie, »sonst könnte hier die Arbeit, die am Sommerlager begonnen wurde, mühelos beendet werden: mit der totalen Vernichtung des Kaiila-Stammes.«

»Zum Glück können unsere Feinde nicht wissen, wo wir sind.«

»Wir trugen tagelang unsere Sklavenhauben«, sagte Iwoso, »und wissen nicht, wieviel Zeit vergangen ist. Könntest du einer armen freien Frau nicht sagen, welchen Tag wir heute haben, hübscher Krieger?«

»Sicher kann es nichts schaden«, antwortete ich. »Wir haben heute den letzten Tag des Canwapegiwi.«

»Ah!« rief sie erfreut.

Ich lächelte vor mich hin. Hatte sie die Staubfahne noch nicht bemerkt? Seit gut einer Viertel-Ahn war sie im Westen auszumachen. Unsere Kundschafter beobachteten die weißhäutigen Soldaten und die Gelbmesser seit vier Tagen, seit sie den Nördlichen Kaiila überquert hatten.

»Du scheinst dich zu freuen«, sagte ich.

»Ach, nichts«, sagte sie.

Glaubte sie wirklich, sie wäre rein zufällig an diesem Morgen an den Pfahl gebunden worden, am letzten Tag des Canwapegiwi?

Unauffällig begann Iwoso nun das unter uns liegende Terrain zu mustern.

»Suchst du etwas?« fragte ich.

»Nein«, antwortete sie hastig und richtete den Blick auf mich.

Ich wandte mich von ihr ab und begann ein Seil aufzurollen. Dabei trat ich langsam hinter Iwoso und beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Wie erwartet blickte sie forschend über die Ebene.

Plötzlich bemerkte ich eine Bewegung ihres Körpers. Ich war sicher, daß sie den Staub gesehen hatte.

»Bist du sicher, daß es da unten nichts zu sehen gibt?« fragte ich und trat hinter sie.

»Nein!« rief sie. »Nein!«

»Ich weiß nicht recht«, sagte ich nachdenklich und schaute über die Prärie.

»Bin ich nicht hübsch, Krieger?« fragte sie.

Ich drehte mich zu ihr um. Unter meinem Blick erschauderte sie.

»Ja«, sagte ich und tat, als wollte ich mich wieder der Prärie zuwenden, auf der die Staubwolke schnell größer wurde.

»Schau mich an, hübscher Krieger!« flehte sie. »Du weißt, du kannst mit mir tun, was du willst. Schau mich an!«

»Warum?«

»Weißt du das nicht?« fragte sie lächelnd und drängte ihren Körper in meine Richtung. »Ich bin eine Frau. Ich möchte berührt und geliebt werden.«

»Oh?« sagte ich. »Du redest wie eine Sklavin.«

»Ja, vielleicht begreife ich in diesem Moment etwas von dem, was es bedeutet, eine hilflose Frau zu sein, die ihren Herrn anfleht, ihr Freuden zu bereiten.«

»Verstehe ich das richtig, daß du mir am Pfahl dienen willst – als Sklavin?«

»Ja«, schnurrte sie, schloß die Augen und schürzte die Lippen.

»Gelbmesser!« ertönte plötzlich ein Schrei. »Gelbmesser!« wurde gebrüllt. Männer liefen durcheinander. Jeder kannte seine Position und Aufgaben genau. In den letzten Tagen hatten wir diese Abläufe oft geübt.

Wir schauten über die Prärie nach Westen. Kaum einen Pasang entfernt, ganz offen reitend, galoppierten Gelbmesser mit flatternden Federn auf den Ratsfelsen zu, eine riesige Staubwolke aufwirbelnd.

»Ihr seid überrascht!« rief Iwoso begeistert. »Jetzt werdet ihr alle sterben! Ihr seid verloren! Für euch gibt es keine Flucht mehr! Ihr sitzt auf dem Ratsfelsen in der Falle!«

»Es läuft wie geplant«, sagte Hci, der mit Cuwignaka herbeigeeilt war.

»Ja«, antwortete Cuwignaka.

»Ihr könnt nicht mehr fliehen!« rief Iwoso freudig. »Nun ist es aus mit euch, ihr Kaiila-Sleen!«

Unter uns vermochte ich nur Gelbmesser zu erkennen, war aber davon überzeugt, daß Alfred, der Söldnerhauptmann aus Port Olni, mit den Resten seiner Truppe, die ich auf etwa dreihundert Kavalleristen schätzte, nicht weit sein konnte. Zweifellos wollte er die Gelbmesser den ersten Angriff reiten lassen, um den stärksten Widerstand zu brechen; auf diese Weise schonte er seine eigenen Männer. Die Gelbmesser hatten sicher nichts gegen diesen Plan; ihnen ging es darum, die Kaiila auszulöschen.

»Bald werden sie unten am Weg stehen!« rief Iwoso. »Dann ist euch der Fluchtweg abgeschnitten!«

Mahpiyasapa, der Zivilhäuptling der Kaiila, eilte an uns vorüber. Ihm folgte der berühmte Kahintokapa, Anführer der Gelben Kaiila-Reiter von den Casmu.

»Wißt ihr nicht, wie man euch gefunden hat?« rief Iwoso und weinte beinahe vor Freude. »Das ist mein Werk! Ich habe es ihnen gesagt! In meinem Zelt hörte ich, wie dieser törichte Sklave Ort und Zeit der Ratsversammlung nannte. Ich brachte ihn dazu, meinen Knebel zu lockern, und ehe er mich aus dem Lager schaffen konnte, befreite ich mich davon und informierte mein Volk von eurem Vorhaben!«

»Es geschah mit Absicht, daß Tatankasa in deinem Zelt von der Versammlung sprach«, sagte Hci.

»Außerdem«, fiel Cuwignaka ein, »entsprach es unserem Plan, dir den Knebel zu lockern.«

»Damit du deinem Volk zubrüllen konntest, was du von unseren Plänen wußtest!« rief Hci.

»Noch eben habe ich euch erneut hereingelegt«, sagte sie, »indem ich diesen Sklaven davon abhielt, den Staub der anrückenden Krieger zu erkennen!«

»Der Staub«, sagte ich, »war schon sichtbar, als er dir noch gar nicht aufgefallen war, lange bevor dir dein raffiniertes Ablenkungsmanöver einfiel.«

»Und du ließest mich trotzdem gewähren?«

»Es war hübsch zu sehen, wie du sexuelle Bedürfnisse vortäuschtest«, sagte ich.

»Die Gelbmesser stürmen zielstrebig heran«, sagte Cuwignaka. »Zweifellos hatten sie Angst, es könnte jemand entkommen.«

»Sie sind schon am Fuße des Weges!« rief Iwoso schluchzend. »Ihr könnt nicht mehr entkommen! Ihr seid verloren!«

Und wirklich – die Gelbmesser ritten am Fuß des Weges, der zum Gipfel des Ratsfelsens emporführte, wild durcheinander. Dieser Weg ist zwischen fünf bis zehn Fuß breit. Einige Krieger trieben ihre Reittiere bereits den Pfad herauf, zweifellos in dem Bemühen, als erste Coups zu sammeln. Andere wendeten ihre Kaiila hierhin und dorthin und kämpften gestikulierend um eine Position auf der schmalen Schräge.

»Ich habe sie hergerufen!« jubilierte Iwoso.

Ich hielt es nicht für klug von den Gelbmessern, ihre Kaiila in solchen Zahlen auf einen so engen Weg zu schicken. Gewiß, sie waren kampflustig, und manchmal ist es schwer, einen roten Wilden von seiner Kaiila zu trennen. Trotzdem wäre in dieser Lage ein Angriff zu Fuß besser gewesen – aber die Gelbmesser würden noch eine Weile brauchen, um dieses taktische Gebot einzusehen. Den Hangweg hatten wir jedenfalls hier und dort sehr verengt, um unseren Gegnern den Aufstieg zu erschweren.

»Es ist aus mit euch, Kaiila-Sleen!« rief Iwoso. »Ihr werdet alle umkommen – mit Frauen und Kindern!«

»In diesem Lager gibt es keine einzige Frau und kein einziges Kind«, sagte Hci.

»Wie? Und was ist mit all den Zelten?«

»Die sind meistens leer«, antwortete Hci. »Unsere Frauen und Kinder befinden sich an einem anderen Ort in Sicherheit.«

»Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst.«

»Dies ist ein Kriegerlager.«

»Aber die Ratsversammlung?«

»Die hat es nie gegeben«, sagte Hci.

»Aber was macht ihr dann hier?« fragte Iwoso.

»Wir warten auf die Gelbmesser.«

»Wir beobachten sie schon seit vier Tagen«, warf Cuwignaka ein.

»Du hast deine Rolle gut gespielt, deinen Anteil an unseren Plänen«, rief Hci.

»Ich verstehe das nicht!«

»Wir haben dich gelenkt, getäuscht, hereingelegt«, sagte Cuwignaka.

»Ohne es zu ahnen, bist du so gehorsam wie eine Sklavin gewesen«, sagte Hci.

»Nein!« rief Iwoso und wand sich in den Fesseln.

»Hast du die Gelbmesser nicht hergeholt?« fragte Hci.

»Ja!«

»Du hast sie in eine Falle gelockt!«

»Nein!«

Zweihundert Meter unter uns ertönte der Schrei einer Kaiila. Zwei Tiere glitten strampelnd über den Wegrand in den Abgrund; übereinander wirbelnd stürzten sie in die Tiefe.

»Ich glaube euch nicht!« rief Iwoso. »Es kann nicht sein!«

»Warum hätten wir dich wohl hier so gut sichtbar angebunden? Damit du selbst sehen kannst, was du angerichtet hast!«

»Nein!« rief Iwoso.

»Außerdem hoffen wir, daß die Gelbmesser, wenn sie dich als hohe Frau ihres Stammes hier angebunden sehen, in wilden Zorn geraten.«

Eine weitere Kaiila wieherte und stürzte tief unter uns ab.

Vier oder fünf Gelbmesser galoppierten nun nebeneinander her auf dem Weg, der etwa hundert Fuß rechts von uns endete.

Doch ehe diese Vorhut den eigentlichen Gipfel erreichte, wurde ein Gebilde aus Balken und angespitzten Hölzern in seine Position geschoben. Die zwischen den Balken verankerten Spitzen waren wie riesige Holzsterne zusammengebunden. Wiehernde Kaiila, die nicht mehr rechtzeitig anhalten konnten, spießten sich hilflos auf. Auf den Spitzen festsitzend, von hinten weiter bedrängt, füllten sie die Luft mit Schreckenslauten, bäumten sich auf, warfen ihre Reiter ab und bissen auf Artgenossen ein. Weitere Kaiila stürmten von hinten heran, prallten auf die festsitzende, blutige Masse. Reiter rutschten kreischend zwischen Tieren zu Boden. Weitere Kaiila drängten nach. Dutzende von Tieren und Reitern wurden vom Weg geschoben und stürzten den steilen Hang des Ratsfelsens hinab.

Ich sah einen der Kriegshäuptlinge der Gelbmesser, den ich aus dem Sommerlager kannte, mitsamt seiner Kaiila in die Tiefe stürzen. Immer neue Gelbmesser, die keine Ahnung hatten, was über ihnen passierte, versuchten auf dem schmalen Pfad nach oben durchzubrechen. Kämpfer versuchten vom gefährlichen Abgrund fortzukommen und stachen dabei sogar auf Stammesgenossen ein.

Das Geschrei von Menschen und Tieren zerriß die Luft. Lanzen zerbrachen an der Felswand und der Barrikade. Männer, die zwischen den in Panik geratenen Tieren hindurchkriechen wollten, wurden zertrampelt. Andere Reiter sahen ein, daß ein Vorankommen unmöglich war, und versuchten zu wenden; mit diesem Manöver drückten sie weitere Aufrückende in die Tiefe. Befehle wurden gebrüllt, und ich sah, wie Kriegsstäbe sich bewegten. Ihre Zeichen waren aber auf dem gewundenen Weg kaum auszumachen. Der ganze Pfad schien nun voller Gelbmesser zu sein: eine ideale Falle, auf einer Seite eine unerklimmbare Felswand, auf der anderen ein tödlicher Abgrund.

»Nein!« schrie Iwoso bei diesem Anblick. »Nein!«

In diesem Augenblick wurden einige Zelte unseres Lagers umgeworfen, und Männer zerrten kleine Transportgestelle hervor, die mit Steinen beladen waren. Andere begannen größere Felsen auf den Rand des Abgrunds zuzurollen.

Bis jetzt hatten wir noch keinen Streich ausgeteilt; gleichwohl schätzte ich die Verluste des Gegners bereits auf gut hundertundfünfzig: Opfer jenes steilen Weges. Nun begann der tödliche Steinhagel; die größeren oder kleineren Geschosse konnten ihre Ziele gar nicht verfehlen. Sie trafen wuchtig auf das Gewirr der Tiere und Menschen hier und dort auf dem Weg. Einige größere Steine taten ihr Werk sogar mehr als einmal; sie fegten Männer oder Kaiila vom Pfad und polterten dann weiter den Hang hinab, um auf einer tiefer liegenden Wegkehre weitere Verwüstung anzurichten.

Die Gelbmesser hoben ihre Schilde, was ihnen aber nicht viel nützte, weil die stürzenden Brocken eine zu große Durchschlagskraft entwickelten. Männer wurden vom Rücken ihrer Kaiila gestoßen. Tiere gerieten völlig in Panik.

Entsetzt beobachtete Iwoso die Szene.

Das verzweifelte Schrillen der Kriegspfeifen vom unteren Teil des Weges hatte endlich die gewünschte Wirkung. Langsam rückten Gruppen von Gelbmessern zurück und ermöglichten es den weiter oben festsitzenden Kampfgenossen, sich langsam zu lösen. Steinsalven und Felsbrocken machten ihnen den Rückzug allerdings schwer.

Die Barrikade am oberen Ende des Weges wurde sogar kurz zur Seite geschoben, um einen ganz besonders großen Felsbrocken hindurchzulassen. Dieser rollte den Weg hinab. Die Nachhut der zurückweichenden Angreifer sah die Masse Gestein unaufhaltsam auf sich zupoltern. Der Felsbrocken fegte etwa zwölf Mann mit in die Tiefe, hüpfte die Felswand hinab und landete mit unglaublicher Wucht inmitten herumwirbelnder Gelbmesser auf der Prärie am Fuße des Berges.

Iwoso blickte Hci von der Seite an.

Die Steine waren in den letzten Tagen gesammelt und auf den Ratsfelsen gebracht worden. Hiervon hatten die Mädchen in ihrem Gefängniszelt natürlich nichts mitbekommen.

»Der Weg wird geräumt«, sagte Cuwignaka. »Meinst du, sie ziehen sich zurück?«

»Nein«, antwortete ich.

»Wo stecken die Soldaten?« wollte Cuwignaka wissen.

»Sie müssen irgendwo sein.«

»Schau«, sagte Hci und deutete nach unten.

Ein einzelner Gelbmesser mit bemaltem Oberkörper und einem Kranz aus Herlitfedern auf dem Kopf lenkte seine Kaiila den Weg herauf.

»Ein mutiger Mann«, sagte Cuwignaka.

Kurze Zeit später ritt der Reiter, seine Medizin singend, unter uns vorbei. Er verzichtete darauf, seinen Schild zu heben.

»Ich erkenne ihn«, sagte Cuwignaka. »Er ist einer der Kriegshäuptlinge, die mit Watonka verhandelt haben.«

»Richtig«, antwortete ich. Drei solcher Häuptlinge waren im Kaiila-Lager gewesen. Einer war beim ersten Angriff gefallen.

Mahpiyasapa gab keinen Schießbefehl. Damit respektierte er nicht nur den Mut des Mannes, sondern gestattete ihm auch, die Lage auszukundschaften. Die Gelbmesser sollten zu einer bestimmten Form des Angriffs ermutigt werden.

Wenige Meter vor der blutigen Barriere zügelte der Mann seine Kaiila.

Dann wendete er sein Tier ohne Eile und verhielt in der Bewegung. Er hatte die Mädchen an ihren Pfählen entdeckt. Während er Bloketu kaum beachtete, verweilte sein Blick eine Weile auf Iwoso. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. Langsam, Medizin singend, setzte er dann seinen Abstieg fort.

»Er ist wütend! Ausgezeichnet!« Hci wandte sich an Iwoso. »Sie werden nun besonders heftig kämpfen, um dich zu retten!«

Vergeblich bäumte sich das Mädchen in den Fesseln auf.

»Ich glaube nicht, daß sie noch einmal beritten angreifen werden«, sagte Cuwignaka, und er sollte recht behalten.

Etwa eine Ahn später, zur Mittagszeit, entdeckten wir drei- bis vierhundert Gelbmesser, die langsam zu Fuß den Pfad erklommen.

»Jetzt ist es um euch geschehen«, sagte Iwoso.

Zur Verteidigung verfügten wir nur über etwa zweihundert Mann, alles was wir nach der Schlacht um das Sommerlager an versprengten Bandengruppen hatten finden können.

»Die Gelbmesser sind in der Übermacht!« rief Iwoso begeistert. »Sie werden eure Barriere erstürmen, die Verteidiger niederkämpfen und dann euch töten!«

»Ich glaube nicht, daß einer von ihnen die Barriere erreicht«, sagte Hci zuversichtlich.

»Was meinst du damit? Was tut ihr?« rief Iwoso und versuchte um den Pfahl nach hinten zu schauen, was ihr wegen der Fesselung nicht gelang.

Aus Zelten, die am Rand des Abgrunds standen, wurden weitere Transportgestelle geholt, auf denen riesige Pfeilbündel lagen, Hunderte von Pfeilen in jedem Gebinde. Viele Pfeile waren nicht gut ausgearbeitet, den meisten fehlten sogar Spitzen und Leitfedern. Doch auf kurze Distanz von den starken Bögen der Wilden abgefeuert, konnten sie gleichwohl gefährlich werden. Krieger, Frauen und Kinder hatten viele Tage gebraucht, sie zu fertigen.

»Du mußt nicht nur an die Zahl der Krieger denken, Iwoso«, sagte ich, »sondern auch an die Schußkraft.«

Erstaunt blickte sie auf eines der riesigen Pfeilbündel, das neben ihr abgeladen wurde.

»Manchmal«, fuhr ich fort, »gibt es kaum einen Unterschied zwischen zehn Männern, die jeweils einen Pfeil besitzen, und einem Mann, der zehn Pfeile verschießen kann.«

Hci und Cuwignaka machten ihre Bögen schußbereit.

Auf Mahpiyasapas Kommando sirrten Hunderte von Pfeilen talwärts. Im Nu waren die Schilde der Gelbmesser von Pfeilen gespickt, doch boten die kleinen Flächen kaum Schutz. So mußten die Gelbmesser schnell erkennen, daß sie keinem gewöhnlichen Pfeilhagel ausgesetzt waren, einem Schauer, der schnell vorüberging, sondern etwas Neuem, einer gefährlichen Erfahrung. Einer der Männer verlor prompt die Nerven und ergriff die Flucht, und man ließ auch noch die nächsten beiden fliehen. Dies ermutigte die Gelbmesser, und die ganze Horde machte kehrt; auf dem Weg wimmelte es plötzlich von Männern, die nur noch an Flucht dachten. Sie gaben ausgezeichnete Ziele ab.

»Siehst du die Gelbmesser?« wandte sich Hci an Iwoso. »Sie fliehen wie Urts.«

»Du bist schrecklich!« tobte Iwoso. »Keine Frau könnte dich je lieben. Ich hasse dich! Ich hasse dich!«

»Was werden die Gelbmesser deiner Ansicht nach jetzt tun?« fragte Cuwignaka.

»Ich glaube, sie werden ein Lager aufschlagen und unsere Position überprüfen.«

»Ich wollte lieber sterben, ehe ich deine Sklavin würde!« rief Iwoso schluchzend.

»Dort sind Alfred und seine Offiziere«, sagte ich und deutete mit dem Finger. »Zweifellos erhalten sie soeben einen umfassenden Lagebericht.«

»Siehst du die Ungeheuer?« wollte Cuwignaka wissen.

»Wahrscheinlich halten sie sich mit den Söldnern im Hintergrund«, erwiderte ich. »Schau!« fügte ich hinzu. »Sie gehen auf Patrouille. Das hätte schon längst passieren müssen.«

Alfred, seine Offiziere und mehrere Gelbmesser ritten langsam nach Süden.

»Sie werden unsere Position genau erkunden«, sagte Cuwignaka.

Ich nickte. Kurze Zeit später bogen die Reiter nach Osten ab und begannen unsere Position zu umreiten. Alfred, der ein guter Soldat war, würde sich gründlich orientieren.

»Die Gelbmesser haben große Verluste erlitten«, sagte Hci. »Ich fürchte fast, sie werden sich zurückziehen.«

»Ich nehme es nicht an«, sagte ich. »Inzwischen sind ja die Soldaten zur Stelle. Außerdem dürfen wir ihr Vertrauen in die Ungeheuer nicht vergessen.«

»Ich habe von Anfang an meine Bedenken gehabt«, sagte Hci. »Welchen Wert hat eine Falle, aus der sich der in der Falle Sitzende zurückziehen kann?«

»Ohne fremde Hilfe können wir diese Falle nicht schließen«, sagte Cuwignaka.

»Vielleicht kommen sie ja gar nicht«, sagte Hci.

»Möglich«, meinte Cuwignaka.

»Wovon redet ihr?« fragte Iwoso.

Ich wandte mich zu ihr um. »Wir sind nicht die Falle«, sagte ich, »sondern der Köder.«

»Ich verstehe das nicht«, sagte sie.

Hci trat vor sie hin. »Wenn sie sich zurückziehen, müßtest du alle Hoffnungen fahren lassen.«

»Und was würde dann mit mir geschehen?« fragte sie.

»Du bist ziemlich hübsch. Würdest du gern meine Sklavin sein?«

»Keine Frau könnte dich lieben! Ich könnte niemals deine Sklavin sein. Eher würde ich sterben!«

Er hob die Hand an die Seite ihres Gesichts.

»Faß mich nicht an!« fauchte sie.

Seine Hand verharrte einen Zoll von ihrer Wange entfernt und berührte sie dann leicht.

Ein Schaudern durchlief sie, eine Reaktion, die ihren ganzen Körper erfaßte, vom Kopf bis zu den Zehen.


»Glaubst du, die Gelbmesser greifen heute noch einmal an?« fragte Cuwignaka später.

»Ich nehme es nicht an.«

Von Zeit zu Zeit blickte ich zu Iwoso hinüber, die anscheinend den Blick nicht mehr von Hci losreißen konnte. Sie war seine Sklavin. Ich fragte mich, ob ihr diese Erkenntnis bereits gekommen war.

»Dort ist der weiße Offizier«, sagte Cuwignaka. »Anscheinend hat er seinen Rundritt beendet.«

Tief unter uns kehrten Alfred und seine Begleiter ins Lager der Gelbmesser zurück.

»Hat er Schwächen in unserer Verteidigungsstellung gefunden?« fragte Cuwignaka.

»Er wird es sich jedenfalls einbilden«, sagte ich. Auch ich hatte mir den Ratsfelsen aus den verschiedensten Perspektiven genau angesehen; so manches, was sich aus der Ferne als leicht einnehmbar ausmachte, war ein nicht zu überwindendes Hindernis.

»Wollen wir hoffen, daß er sich irrt«, sagte Cuwignaka.

»Abgesehen von dem Hauptweg«, sagte ich, »führt keine leichte Route auf den Gipfel des Ratsfelsens.«

»Aber man kann ihn erklettern«, sagte Hci. »Es wäre nicht das erstemal.«

»Ja«, sagte ich, »aber unsere Feinde werden feststellen, daß das schwierig und gefährlich ist.«

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