8 NAMEN

Sie führte Manan durch die verschlungenen Gänge zurück zum Untergrab und ließ ihn dort im Dunkeln zurück, damit er das Grab schaufele, und Kossil, sollte sie danach fahnden, den Beweis finden würde, daß die Strafe an dem Gefangenen vollzogen worden war. Es war spät, und sie ging direkt zum Kleinhaus und legte sich zu Bett. Mitten in der Nacht wachte sie plötzlich auf; sie erinnerte sich, daß sie ihren Umhang im Bemalten Raum gelassen hatte. Er hatte nichts, was ihn in dieser unterirdischen, kalten Schatzkammer warm halten konnte, nur seinen eigenen kurzen Umhang; kein Bett, nur die staubigen Steine. »Ein kaltes Grab, ein kaltes Grab«, stöhnte sie im Halbschlaf, aber sie war zu erschöpft, um richtig aufzuwachen, und schlief bald wieder ein. Sie begann zu träumen. Sie träumte von den Seelen der Toten an den Wänden im Bemalten Raum, von den Gestalten, die wie große unförmige Vögel mit menschlichen Gesichtern, Händen und Füßen aussahen, die im Staub der dunklen, unterirdischen Stätten hockten. Sie konnten nicht fliegen. Sie fraßen Lehm und tranken Staub. Es waren die Seelen derer, die nicht wiedergeboren wurden, alter, längst verschollener Völker und Ungläubiger, die von den Namenlosen verzehrt worden waren. Sie hockten um sie herum, und manchmal vernahm sie ein schwaches Krächzen und Ächzen, das von ihnen ausging. Einer von ihnen kam immer näher. Sie hatte zuerst Angst und wollte sich zurückziehen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Er hatte kein menschliches, sondern ein Vogelgesicht. Aber sein Haar war golden und seine Stimme war die Stimme einer Frau und sie war warm und weich und sprach zu ihr: »Tenar, Tenar!«

Sie wachte auf. Ihr Mund war voll Lehm. Sie lag in einem Grab aus Stein, unter der Erde. Ihre Arme und Beine waren mit Grabtüchern festgebunden; sie konnte sich nicht rühren und nicht sprechen.

Die Verzweiflung wuchs und wurde stärker, bis ihre Brust aufbrach und wie ein Feuervogel den Stein zerschmetterte und sich ins Licht des Tages erhob — ins Licht des Tages, das sie, ganz schwach, in ihrem fensterlosen Raum wahrnehmen konnte.

Jetzt ganz wach, setzte sie sich auf, ganz zerschlagen von den Träumen dieser Nacht, ihr Geist benommen. Sie schlüpfte in ihre Kleider und ging hinaus zur Zisterne in dem ummauerten Innenhof des Kleinhauses. Sie tauchte ihre Arme, ihr Gesicht, ihren ganzen Kopf in das eiskalte Wasser, bis ihr Körper sich schüttelte und ihr Blut heftig durch die Adern pulsierte. Dann warf sie ihr Haar zurück, richtete sich hoch auf und blickte hinauf in den morgendlichen Himmel.

Es war noch nicht lange nach Sonnenaufgang, ein heller Wintertag. Der Himmel war gelblich und ganz klar. Hoch oben, so hoch, daß sich das Sonnenlicht in seinem Gefieder fing und er wie ein kleiner, goldener Fleck aussah, kreiste ein Vogel, ein Falke oder ein Adler der Wüste.

»Ich bin Tenar«, sagte sie, nicht laut, und sie zitterte vor Kälte, vor Schreck, von innerem Aufjauchzen, unter dem weiten, sonnenhellen Himmel. »Ich habe meinen Namen wieder. Ich bin Tenar.«

Der goldene Fleck wandte sich nach Westen, den Bergen zu, und verschwand aus ihrem Blickfeld. Die Morgensonne vergoldete die Firstbalken des Kleinhauses. Drunten in den Pferchen bimmelten die Glocken der Schafe. Den Geruch des Holzfeuers und der frischen Buchweizenfladen trug der leichte, frische Wind vom Kamin der Küche herüber.

»Ich bin so hungrig … Woher wußte er es? Woher wußte er meinen Namen? … Oh, ich muß etwas essen, ich bin so hungrig …«

Sie zog ihre Kapuze über den Kopf und rannte zum Frühstück.

Das Essen nach dem dreitägigen, halben Fasten gab ihr Substanz und verlieh ihr Gewicht; ihre Bewegungen waren nicht mehr so zerfahren, ihre Gedanken wirbelten nicht mehr so durcheinander, waren nicht mehr so aufgewühlt. Nach dem Frühstück fühlte sie sich stark genug, um mit Kossil fertig zu werden.

Sie holte die große, schwere Gestalt auf dem Weg aus dem Speisesaal des Großhauses ein und ging neben ihr her. Mit unterdrückter Stimme sagte sie: »Ich habe den Eindringling aus dem Wege geschafft … Wie schön es heute ist!«

Die kalten, grauen Augen unter der schwarzen Kapuze musterten sie prüfend von der Seite.

»Ich dachte, die Priesterin darf drei Tage nach einem menschlichen Opfer kein Essen berühren?«

Das stimmte. Arha hatte es vergessen, und man sah ihrem Gesicht an, daß sie es vergessen hatte.

»Er ist noch nicht tot«, sagte sie in demselben, gleichgültigen Ton, der ihr kurz zuvor noch so leicht gefallen war. »Er wurde lebendig begraben. Unter den Gräbern. In einem Sarg. Etwas Luft muß noch drinnen sein, denn der Sarg ist nicht versiegelt, er ist aus Holz. Der Tod wird ziemlich langsam kommen. Wenn ich weiß, daß er tot ist, werde ich mit dem Fasten beginnen.«

»Wie werden Sie das wissen?«

Verwirrt blickte sie auf und zögerte wieder mit der Antwort: »Ich werde es wissen. Der … Meine Gebieter werden es mir sagen.«

»Ach so! Wo ist das Grab?«

»Unter den Steinen. Ich sagte Manan, daß er es unter dem glatten Stein graben soll.« Sie mußte sich zusammennehmen und nicht so schnell in diesem dummen, beschwichtigenden Ton antworten. Sie mußte Kossil gegenüber ihre Würde bewahren.

»Lebendig, in einem Holzsarg? Das ist eine riskante Sache bei einem Hexenmeister, Herrin! Haben Sie sich vergewissert, daß er nicht sprechen und keine Zaubereien wirken kann? Sind seine Hände gefesselt? Damit kann er auch Zauberei bewerkstelligen, manchmal genügt eine Fingerbewegung, selbst nachdem man ihnen die Zunge herausgeschnitten hat.«

»Mit seiner Hexerei ist es nicht weit her. Nichts als Betrügerei«, sagte Arha und fuhr mit erhobener Stimme fort: »Er ist begraben, und meine Gebieter warten auf seine Seele. Alles andere geht Sie, Priesterin, nichts an.«

Jetzt war sie zu weit gegangen; andere hatten es gehört, Penthe, ein paar weitere Mädchen, Duby und die Priesterin Mebbeth, alle befanden sich in Hörweite. Die Mädchen waren ganz Ohr, und Kossil war sich dessen bewußt.

»Alles, was hier geschieht, geht mich etwas an, Herrin! Und alles, was hier an der Stätte vor sich geht, interessiert den Gottkönig, den Unsterblichen, dessen Dienerin ich bin. Er hat das Recht, die unterirdischen Stätten zu durchforschen, er blickt in die Herzen der Menschen, und keiner kann ihm den Zutritt dazu verwehren!«

»Ich tue es. Keiner betritt die Gräber, wenn die Namenlosen es nicht gestatten. Sie bestanden schon, als es noch keinen Gottkönig gab, und sie werden bestehen, wenn es keinen Gottkönig mehr gibt. Sprechen Sie behutsam von ihnen, Priesterin! Rufen Sie ihre Rache nicht auf sich herab! Sie werden in Ihren Träumen zu Ihnen kommen, sie werden sich in Ihre Seele schleichen auf dunklen Wegen. Den Wahnsinn werden sie bringen!«

Die Augen des Mädchens blitzten. Kossils Gesicht war verdeckt, von der schwarzen Kapuze verborgen. Penthe und die anderen sahen erschreckt und gebannt aus der Ferne zu.

»Sie sind alt.« Kossils Stimme drang leise, ein dünner, pfeifender Tonfaden, aus der Tiefe der Kapuze. »Sie sind alt. Nur hier werden sie noch verehrt. Nirgends sonst auf der Welt wird ihnen noch gehuldigt. Ihre Macht ist vergangen. Es sind nur noch Schatten, machtlose Schatten. Versuche nicht, mir Furcht einzujagen, Verzehrte! Du bist die Erste Priesterin — und bedeutet das nicht, daß du auch die Letzte bist? — Mich kannst du nicht hinters Licht führen. Ich schaue dir ins Herz. Die Dunkelheit verbirgt nichts vor meinen Augen. Sei vorsichtig, Arha!«

Sie wandte sich um und bewegte sich in ihrem langsamen, wuchtigen Gang, das mit Rauhreif bedeckte Unkraut unter ihren großen, schweren, in Sandalen steckenden Füßen zermalmend, auf die weiße Säulenpracht des gottköniglichen Tempels zu.

Arha, dunkel und schmal, stand im vorderen Hof des Großhauses, als sei sie auf dem Boden festgefroren. Nichts rührte sich um sie, niemand bewegte sich außer Kossil, alles war erstarrt, das weite Land um Hof und Tempel, die Hügel, die Wüste, die Berge.

»Mögen die Dunklen deine Seele verzehren, Kossil!« schrie sie. Wie ein Falkenschrei hallte es über die Stätte; mit hocherhobenem Arm und ausgestreckter Hand schmetterte sie die Verwünschung gegen Kossils Rücken, gerade als diese ihren Fuß auf die Treppe des Tempels setzte. Kossil zuckte zusammen, aber sie hielt nicht an, sie wandte sich nicht um. Sie setzte ihren Weg fort und ging durch die Tür in den Tempel des Gottkönigs.

Arha verbrachte den Tag auf der untersten Stufe vor dem Leeren Thron sitzend. Sie wagte nicht, das Labyrinth zu betreten, sie wollte nicht mit anderen Priesterinnen zusammen sein. Schwer lag es auf ihr und hielt sie dort im trüben Dämmerlicht der weiten Halle fest, Stunde um Stunde. Sie starrte auf die Doppelreihe der dicken, bleichen Säulen, die sich in der Düsternis am anderen Ende der Halle verloren, auf die Sonnenstrahlen, die durch die Lücken in der Decke fielen, auf den dicken, sich ringelnden Rauch, der von den glühenden Kohlen in den Bronzeschalen aufstieg. Mit den kleinen Mäuseknochen, die auf den Marmorstufen lagen, zeichnete sie Figuren in den Staub. Sie hielt den Kopf gesenkt, doch ihre Gedanken jagten und überstürzten sich. Wer bin ich? fragte sie sich, und erhielt keine Antwort.

Manan kam schlurfend die Halle herauf, zwischen den Doppelreihen der Säulen, lange nachdem das Tageslicht aufgehört hatte, sich durch die Löcher des Daches zu stehlen, und die Kälte ringsum sich zunehmend verschärft hatte. Manans Mondgesicht sah betrübt aus. Er blieb in einiger Entfernung stehen und ließ seine Arme an den Seiten herunterhängen, ein Stück abgerissener Saum von seinem alten Umhang hing auf seine Ferse nieder.

»Kleine Herrin!«

»Was ist los, Manan?« fragte sie müde und blickte ihn voll Zuneigung an.

»Kleines, laß mich das tun, was du gesagt hast … was du gesagt hast, daß es geschehen sei. Er muß sterben, Kleines. Er hat dich verzaubert. Sie wird sich rächen. Sie ist alt und grausam, und du bist noch zu jung. Du bist noch nicht stark genug.«

»Sie kann mir nichts antun.«

»Wenn sie dich töten würde, in aller Öffentlichkeit, wo es jeder sehen könnte, selbst dann gäbe es keinen im ganzen Reich, der es wagen würde, einen Finger gegen sie zu erheben. Sie ist die Hohepriesterin des Gottkönigs, und der Gottkönig herrscht allein. Aber sie wird dich nicht öffentlich töten, sie wird es heimlich tun, mit Gift, in der Nacht.«

»Dann werde ich wiedergeboren werden.«

Manan rang seine großen Hände. »Vielleicht wird sie dich nicht töten«, flüsterte er.

»Was meinst du damit?«

»Sie könnte dich in einem Raum im … dort unten … wie du es mit ihm getan hast. Und du würdest noch jahrelang, noch viele Jahre vielleicht, am Leben bleiben. Und es gäbe keine wiedergeborene Priesterin, denn du bist ja nicht tot. Und es gäbe keine Priesterin der Gräber, und die Tänze der Mondfinsternis würden nicht getanzt werden, und es würden keine Opfer gebracht und kein Blut vergossen werden, und die Verehrung der Dunklen Mächte würde aufhören und vergessen werden, für immer. Sie und ihr Gebieter hätten das gern.« »Sie würden mich freisetzen, Manan.«

»Nicht, solange sie zornig auf dich sind, kleine Herrin!« flüsterte Manan.

»Zornig?«

»Wegen ihm … Die Schändung, die nicht gerächt wurde. Oh, Kleines! Sie kennen kein Vergeben!«

Sie saß im Staub auf der untersten Stufe und hielt den Kopf gesenkt. Sie schaute das winzige Ding an, das sie in der Hand hielt: der Schädelknochen einer Maus. Die Eulen im Dachgebälk über dem Thron bewegten sich leise, es wurde dunkler, die Nacht nahte.

»Geh heute nacht nicht ins Labyrinth«, sagte Manan, kaum hörbar. »Geh in dein Haus und schlaf, und morgen früh geh zu Kossil und sag' ihr, daß du die Verwünschung aufhebst. Das genügt. Du brauchst dir keine Gedanken mehr zu machen. Ich werde ihr den Beweis bringen.«

»Beweis?«

»… daß der Zauberer tot ist.«

Sie saß unbeweglich. Langsam schloß sie die Hand, und der dünne Knochen knirschte und zerbrach. Als sie die Faust öffnete, hielt sie nur ein paar Splitter und Staub in der Hand.

»Nein«, sagte sie und schüttelte den Staub von ihrer Handfläche.

»Er muß sterben. Er hat dich verhext. Du bist verloren, Arha!«

»Er hat mich nicht verhext. Du bist alt und feige, Manan. Du fürchtest dich vor alten Weibern. Wie stellst du dir denn das vor? Wie willst du zu ihm gelangen und ihn töten und den ›Beweis‹ bringen? Kennst du denn den Weg bis zum Großen Schatz, den du letzte Nacht in der Dunkelheit gegangen bist? Kannst du die Ecken richtig zählen, bis zu den Stufen gelangen, am Schacht vorbei bis zur Tür? Kannst du die Tür aufschließen? — Oh, du armer, alter Manan, dein Geist ist schwach. Sie hat dir Angst gemacht. Geh jetzt zum Kleinhaus und schlaf und vergiß das alles. Quäl' mich nicht länger mit deinem Gerede vom Tod … Ich komme später. Geh schon, geh schon, du alter Narr, du alter Bär!« Sie war aufgestanden und schubste Manans breiten Oberkörper, tätschelte ihn und schob ihn fort. »Gute Nacht, gute Nacht!«

Er wandte sich um, zögernd und nichts Gutes ahnend, doch gehorsam, und watschelte den langen Gang zwischen den Säulen unter dem beschädigten Dach hinunter. Sie sah ihn entschwinden.

Geraume Zeit, nachdem er verschwunden war, stand sie auf, drehte sich um, ging um den Fuß des Thrones und verlor sich in der Dunkelheit.

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