3 DIE GEFANGENEN

Kossil kam gemessenen und schweren Schrittes den Gang des Kleinhauses herunter. Die große, massive Gestalt füllte den Türrahmen, schrumpfte etwas, als sich die Priesterin verneigte und mit einem Knie den Boden berührte, und schwoll dann wieder zu ihrem vollen Umfang an, als sie sich aufrichtete.

»Herrin!«

»Was ist los, Kossil?«

»Es ist mir gestattet, bisher gewissen Pflichten nachzukommen, die in den Aufgabenkreis der Namenlosen fallen. Es wäre jetzt an der Zeit, daß meine Herrin diese Dinge, an die sie sich in diesem Leben noch nicht wieder erinnert hat, lernt, sieht und in die Hand nimmt, wenn es ihr genehm ist.«

Arha saß in ihrem fensterlosen Zimmer, angeblich um zu meditieren, in Wirklichkeit aber tat sie nichts und dachte auch an fast nichts. Es dauerte eine Weile, bis sich der starre, hochmütige Ausdruck ihres Gesichtes änderte. Doch schließlich belebte er sich, obwohl sie sich bemühte, dies zu verbergen. Sie sagte, und ihre Stimme war lauernd: »Das Labyrinth?«

»Das Labyrinth werden wir nicht betreten. Aber das untere Grab müssen wir durchqueren.«

In Kossils Stimme lag Furcht, doch das konnte gespielt sein, um Arha Angst einzuflößen. Das Mädchen ließ sich Zeit mit dem Aufstehen, dann sagte sie gleichgültig: »Gehen wir!« Aber in ihrem Herzen frohlockte sie, während sie der schweren Gestalt der Priesterin folgte: Endlich! Endlich bekomme ich mein eigenstes Reich zu Gesicht!

Sie war fünfzehn Jahre alt. Es war nun schon mehr als ein Jahr her, seit man sie in die Gemeinschaft der Frauen aufgenommen hatte und ihr die Privilegien der Einen Priesterin der Gräber von Atuan übergeben hatte. Von allen Priesterinnen des Kargadreiches war sie die Höchste, selbst der Gottkönig durfte ihr nichts befehlen. Alle verneigten sich und ließen sich aufein Knie nieder vor ihr, selbst die strenge Thar und Kossil. Alle sprachen in gewählten Worten zu ihr. Aber sonst hatte sich nichts geändert. Nichts ereignete sich. Als das Zeremoniell ihrer Weihe vorbei war, flossen die Tage genauso dahin, wie sie bisher dahingeflossen waren. Wolle mußte gesponnen, schwarzes Tuch mußte gewebt werden, Getreide mußte gemahlen und Ritualhandlungen mußten vollzogen werden, jeden Abend wurden die Neun Gesänge gesungen, die Türen mußten mit geweihten Namen bedacht werden, zweimal im Jahr mußten die Steine mit Ziegenblut getränkt werden, und vor dem leeren Thron mußten die Tänze des dunklen Mondes getanzt werden. So war das Jahr verflossen, genau wie die Jahre zuvor, und würde sie so alle kommenden Jahre ihres Lebens verbringen?

Manchmal war ihre Langeweile so stark, daß sie wie von heimlichem Grauen erfaßt wurde. Es würgte sie in der Kehle. Vor nicht allzu langer Zeit hatte es sie getrieben, darüber zu reden. Sie mußte einfach darüber reden, sie konnte nicht mehr schweigen, oder sie würde wahnsinnig werden. Sie sprach mit Manan darüber. Ihr Stolz verbot es ihr, sich den anderen Mädchen anzuvertrauen, und die Vorsicht gebot ihr, den alten Frauen nichts davon zu sagen, aber bei Manan riskierte sie nichts, er war eine treue, alte Seele, ihm konnte sie alles sagen, gleichgültig was. Überraschenderweise hatte er eine Antwort:

»Weißt du, Kleines«, sagte er, »vor langer Zeit, bevor unsere vier Länder ein Reich wurden, bevor es einen Gottkönig gab, der über uns alle herrscht, gab es eine große Anzahl kleinerer Könige, Prinzen und Häuptlinge. Die stritten sich laufend untereinander. Und dann kamen sie hierher, um ihre Streitereien zu schlichten. Ja, da ging es anders zu! Sie kamen von unserem eigenen Land, Atuan, von Karego-At, von Atnini, und selbst von Hur-at- Hur, die obersten Herrscher mit ihrem ganzen Hof, den Prinzen und Bediensteten, kamen. Und dann wollten sie wissen, was sie tun sollten. Und man begab sich dann vor den leeren Thron und fragte die Namenlose um Rat. Ja, ja, so war es vor langer Zeit gewesen! Dann aber kamen die Priesterkönige und die herrschten erst über ganz Karego-At und bald darauf über ganz Atuan, und jetzt sind schon vier oder fünf Generationen vergangen, seit die Gottkönige über alle vier Länder herrschen und ein Reich daraus geschmiedet haben. Damit hat sich alles geändert. Der Gottkönig kann jetzt alle streitsüchtigen Häuptlinge unterdrücken und alle Streitfragen selbst entscheiden, und da er selbst ein Gott ist, muß er die Namenlosen nicht oft um Rat fragen.«

Arha war nachdenklich geworden. Hier in der Wüste, unter den ewiggleichen Steinen, verlor die Zeit ihre Bedeutung, das Leben floß unverändert dahin, schon seit unvordenklichen Zeiten. Es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, daß sich je etwas an diesem Leben ändern, daß das Alte absterben und etwas Neues an seine Stelle treten könnte. Es war nicht einfach, die Dinge in diesem neuen Licht zu betrachten. »Die Macht des Gottkönigs ist viel geringer als die Macht derjenigen, denen ich diene«, sagte sie mit gerunzelter Stirn.

»Gewiß … Gewiß … Das kann man einem Gott aber nicht sagen, mein kleiner Honigkuchen, und auch seiner Priesterin nicht.«

Und sie fing einen Blick aus seinen kleinen, braunen, zwinkernden Augen auf, und sie mußte an Kossil, die Hohepriesterin des Gottkönigs, denken, die sie fürchtete, seit sie hierher an die Stätte gekommen war, und sie verstand Manans Blick.

»Aber der Gottkönig und sein Hof vernachlässigen ihre Pflichten gegenüber den Gräbern. Keiner kommt hierher.«

»Na, er schickt uns Gefangene als Opfer. Das versäumt er nicht. Auch an die Gaben für die Namenlosen denkt er.«

»Gaben! Sein Tempel wird jedes Jahr frisch gestrichen! Gold, hundert Pfund schwer, steht auf seinem Altar, und in seinen Lampen brennt er Rosenöl! Und dann schau dir die Thronhalle an! Das Dach hat Löcher, die Kuppel hat Sprünge, zwischen den Wänden rennen Mäuse herum, Eulen und Fledermäuse fliegen aus und ein … Aber die Thronhalle wird den Gottkönig mit all seinen Tempeln überdauern und alle Könige, die nach ihm kommen! Sie stand schon, bevor sie kamen, und sie wird noch stehen, wenn sie nicht mehr sind. Hier ist das Herz, hier ist der Anfang aller Dinge!«

»Hier ist der Anfang aller Dinge!«

»Es gibt hier auch Reichtümer. Thar spricht ab und zu darüber. Zehnmal mehr gibt es hier, als die Tempel des Gottkönigs fassen könnten! Gold und Edelsteine und Siegestrophäen gibt es hier, die vor Urzeiten geopfert wurden, vielleicht vor hundert Generationen, wer weiß! Die liegen da unten, in den unterirdischen Gewölben und Verliesen. Dahin haben sie mich noch nicht geführt, das verschieben sie immer wieder. Aber ich kann mir vorstellen, wie es da unten aussieht. Unter der Thronhalle sind Räume, unter der ganzen Stätte gibt es Gewölbe, selbst unter uns, wo wir jetzt stehen, gibt es irgendwelche Räumlichkeiten. Es gibt da unheimlich viele Gänge, ein richtiges Labyrinth. Es sieht aus wie eine große dunkle Stadt, die unter dem Hügel verborgen ist, und sie ist angefüllt mit Gold, den Schwertern alter Haudegen, alten Kronen und Gebeinen und Jahren und Schweigen …«

Sie sprach wie in einer Trance, wie in Ekstase. Manan beobachtete sie. Auf seinem gepolsterten Gesicht lag gewöhnlich ein Zug von Trauer. Doch jetzt war es noch trauriger als sonst. »Ja, und du bist die Herrin über all das«, sagte er, »über das Schweigen und die Dunkelheit.«

»Stimmt! Aber sie zeigen mir nichts, nur die Räume, die sich hier oben befinden. Nicht einmal den Zugang zu den unterirdischen Gewölben haben sie mir gezeigt! Nur manchmal machen sie Andeutungen. Sie enthalten mir mein eigenstes Reich vor! Warum lassen sie mich warten und warten?«

»Du bist noch jung. Es kann auch sein«, sagte Manan in seiner rauhen Altstimme, »daß sie Angst haben, Kleines. Denn schließlich ist es nicht ihr Reich, sondern deines. Sie begeben sich in Gefahr, wenn sie es betreten. Du wirst keinen Sterblichen finden, der sich vor den Namenlosen nicht fürchtet.«

Arha erwiderte nichts darauf, aber ihre Augen funkelten. Wiederum hatte Manan etwas gesagt, worüber sie nachdenken mußte. Thar und Kossil waren ihr bislang immer so mächtig, so kalt, so erschreckend erschienen, daß es ihr niemals eingefallen wäre, zu vermuten, daß sie Angst haben könnten. Aber Manan hatte recht. Die beiden fürchteten sich vor diesen Gewölben, vor diesen Mächten, zu denen Arha gehörte, von denen sie ein Teil war. Sie hatten Angst, diesen finsteren Ort zu betreten, sie wollten nicht verzehrt werden.

Als sie jetzt mit Kossil die Stufen des Kleinhauses hinunterstieg und den Windungen des Pfades folgte, der zum Thronsaal hinaufführte, erinnerte sie sich wieder an diese Unterhaltung mit Manan und frohlockte in ihrem Innern. Ganz gleich, wohin sie diese beiden nehmen und was sie ihr zeigen würden, sie, Arha, würde keine Furcht haben. Ihr war der Weg vertraut.

Kossil, die einige Schritte hinter ihr auf dem Pfad folgte, begann: »Wie meiner Herrin bekannt ist, besteht eine ihrer Pflichten darin, gewisse Gefangene, Verbrecher aus adligen Häusern, zu opfern, die Hochverrat geübt oder sich gegen den Gottkönig versündigt haben.«

»Oder gegen die Namenlosen«, sagte Arha.

»Gewiß. Es wäre unpassend gewesen, wenn die Verzehrte, während sie noch ein Kind war, dieser Pflicht nachgekommen wäre. Aber meine Herrin ist kein Kind mehr. Im Kettenraum befinden sich Gefangene, die der Gottkönig in seiner Güte vor einem Monat von seiner Stadt Awabad hierher gesandt hat.«

»Ich wußte nicht, daß Gefangene gesandt wurden. Warum wurde mir das nicht gesagt?«

»Gefangene werden nachts gebracht, und ganz geheim, wie es das alte Ritual der Gräber vorschreibt. Wenn meine Herrin dem Pfad folgt, der sich der Mauer entlang windet, wird sie den geheimen Weg erkennen.«

Arha bog vom Weg ab und ging an der Mauer entlang, die die Grabsteine umschloß, die sich hinter dem Gebäude der Thronhalle befanden. Die Steine der Mauer waren massiv, der kleinste war schwerer als ein Mensch und die größten waren so groß wie Wagen. Obgleich sie nicht zugehauen waren, sah man, daß sie sorgfältig gefügt und zueinandergepaßt waren. Doch es gab Stellen, wo die Steine abgerutscht waren und jetzt in einem unordentlichen Haufen aufeinanderlagen. Diese Zerstörung mußte sich über einen unendlich langen Zeitraum erstreckt haben, über Jahrhunderte unerbittlichen Wüstenklimas, brennendheißen Sommern und frostigen Nächten, oder sie war auf das unmerkliche Verschieben der Hügel selbst zurückzuführen.

»Es ist sehr leicht, die Grabmauer zu übersteigen«, sagte Arha, als sie an ihr entlang gingen.

»Es gibt nicht genügend Männer, die sie wieder herrichten könnten«, erwiderte Kossil.

»Wir haben genügend Männer, um sie zu bewachen.«

»Das sind Sklaven. Ihnen kann man nicht trauen.«

»Man kann ihnen trauen, wenn sie sich fürchten. Man sage ihnen, daß sie genauso bestraft werden wie der Fremde, dem es gelingt, seinen Fuß auf den Boden innerhalb der Mauer zu setzen.«

»Welche Strafe steht darauf?« Kossil stellte diese Frage nicht, um etwas Neues zu erfahren. Sie selbst hatte Arha vor langer Zeit die Antwort darauf gelehrt.

»Er wird vor dem Thron enthauptet.«

»Wünscht meine Herrin, daß einWächter an der Gräbermauer aufgestellt wird?«

»Ja, das ist mein Wunsch!« antwortete Arha. Sie preßte ihre Finger, die in den langen, schwarzen Ärmeln ihres Umhangs verborgen waren, gegen ihre Handflächen, um ihre Freude zu unterdrücken. Daß Kossil keinen Sklaven zur Mauerbewachung verlieren wollte, war ihr ganz klar, im Grunde genommen war es auch ganz und gar unnötig, denn wer kam schon hierher? Es war fast ausgeschlossen, daß ein Mensch sich, sei es durch Zufall oder mit Absicht, der Stätte innerhalb eines Umkreises von einer halben Meile nähern konnte, ohne gesehen zu werden, und den Gräbern konnte er sich schon gar nicht nähern. Aber mit einem Wachtposten wurde ihnen eine Ehre erwiesen, die ihnen zustand, und Kossil konnte nichts dagegen einwenden. Siemußte Arha gehorchen.

»Hier«, sagte sie kalt.

Arha blieb stehen. So oft war sie schon an der Mauer entlanggegangen, daß sie diese genauso gut kannte wie die Stätte, wo sie jeden Zoll, jeden Stein, jeden Dorn und jede Distel kannte. Links von ihr erhob sich die Mauer, dreimal so hoch wie sie selbst, rechts von ihr fiel der Hügel stufenweise ab gegen ein flaches, dürres Tal, das sich auf der anderen Seite gegen die Ausläufer der westlichen Bergkette erhob. Sie ließ ihren Blick über den Boden schweifen, aber sie sah nichts Besonderes, alles sah aus wie sonst.

»Unter dem roten Felsen, Herrin!«

Etwas unterhalb des Hügels war ein treppenähnlicher Felsvorsprung aus roter Lava. Als sie zu dem Vorsprung hinuntergegangen war und direkt davor stand, kam er ihr wieeine ungefüge Tür, etwa eineinhalb Meter hoch, vor.

»Was muß ich jetzt tun?«

Sie wußte aus Erfahrung, daß es nutzlos war, zu versuchen, an geheiligten Stellen eine Tür zu öffnen, bevor man nicht genau wußte, wie sie geöffnet werden kann.

»Meine Herrin hat alle Schlüssel zu den dunklen Orten.«

Nachdem sie in die Gemeinschaft der Frauen aufgenommen worden war, hatte man ihr einen Schlüsselring gegeben, an dem ein kleiner Dolch und dreizehn Schlüssel hingen, manche groß und schwer, andere so klein wie Angelhaken. Diese hob sie nun hoch und breitete sie aus. »Der da«, sagte Kossil und deutete auf einen Schlüssel. Dann steckte sie ihren plumpen Zeigefinger in eine Spalte zwischen den beiden roten ausgehöhlten Felsen.

Der Schlüssel war lang und rund, mit zwei reichverzierten Bärten, und paßte in die Spalte. Arha packte ihn mit beiden Händen und drehte ihn nach links. Es ging schwer, und er bewegte sich langsam, doch er drehte sich ohne zu stocken.

»Und jetzt?«

»Miteinander …«

Gemeinsam drückten sie das rauhe Gestein links neben dem Schlüsselloch nach innen. Schwerfällig, doch lautlos und ohne hängenzubleiben, glitt ein ungleichmäßiges rotes Felsstück nach innen, bis ein schmaler Spalt sichtbar wurde. Innen war alles pechrabenschwarz.

Arha beugte sich nieder und trat ein.

Kossil, die beleibt und dazu noch dick angezogen war, hatte Mühe, sich durch den engen Spalt zu zwängen. Sobald sie drinnen war, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Tür, nahm ihre Kraft zusammen und stemmte sich gegen das Felsstück, bis es sich hinter ihr schloß.

Es war völlig finster. Kein Lichtschimmer fiel in die Dunkelheit, die sich wie nasser Filz über die Augen legte.

Sie mußten sich tief beugen, denn dort, wo sie standen, war es nicht viel höher als ein Meter und sehr eng, Arha konnte den feuchten Fels links und rechts neben sich fühlen.

»Haben Sie ein Licht mitgebracht?« Arha flüsterte, wie man es oft in der Dunkelheit tut.

»Nein, ich habe kein Licht mitgebracht«, antwortete Kossil hinter ihr. Auch Kossil sprach leise, doch in ihrer Stimme lag ein fremder Ton, als lächle sie. Und Kossil lächelte nie. Arhas Herz begann laut zu schlagen; das Blut pulsierte in ihrem Hals. Sie redete sich inständig zu: Dies ist mein Besitz, hierher gehöre ich, ich will mich nicht fürchten!

Aber kein Wort kam über ihre Lippen. Sie begann sich langsam vorwärts zu bewegen, es gab keinen anderen Weg. Er führte in den Hügel hinein und hinab.

Hinter ihr kam die schweratmende Kossil, man hörte, wie sich ihre Kleidung an den Felsen und an der Erde wetzte.

Plötzlich wurde der Gang höher. Arha konnte aufrecht stehen, und als sie ihre Hände ausstreckte, fühlte sie keine Wände mehr. Die feuchte Luft, die sie bedrückt hatte und nach Erde roch, war kühler hier, und schwache Strömungen ließen vermuten, daß sich vor ihnen eine große Höhlung auftat. Arha machte ein paar vorsichtige Schritte in die pechrabenschwarze Dunkelheit hinein. Ein Kiesel, von ihrer Sandale angestoßen, geriet in Bewegung, berührte einen anderen Kiesel, und das schwache Geräusch rief ein Echo hervor, das immer leiser, immer entfernter nachklang. Die Höhle mußte riesengroß, hoch und weit sein, doch sie war nicht leer: irgend etwas in der Dunkelheit, unsichtbare Flächen oder Wände, zersplitterten das Echo in tausend Fragmente.

»Wir müssen uns hier unter den Steinen befinden«, flüsterte Arha, und ihr Flüstern wurde von der hohlen Schwärze aufgenommen und in dünne Fäden aufgelöst, in Töne so fein wie Spinnweben, die noch lange im Gehör haften blieben.

»Ja, jetzt befinden wir uns im unteren Grab. Weitergehen! Ich kann hier nicht stehenbleiben. An der linken Wand entlang gehen! An drei Öffnungen vorbei!«

Kossils Flüstern war zischelnd, und die tausend kleinen Echos zischelten hinter ihren Worten her. Sie hatte Angst, man spürte, wie die Angst sie packte. Es behagte ihr nicht, hier unter den Namenlosen zu sein, in ihren Gräbern, in ihren Höhlen, in dieser Dunkelheit! Ihr Platz war nicht hier, sie gehörte nicht hierher.

»Das nächste Mal werde ich eine Fackel mitbringen«, sagte Arha, während sie sich an der Wand entlang tastete und sich über die seltsamen Formen im Fels wunderte, über die Vertiefungen und Erhöhungen, über die feinen Wölbungen und Kurven, über Kanten, die so uneben wie Spitzen, und andere, die so glatt wie Messing waren: es mußte sich um Reliefs handeln, anders war das nicht zu erklären. Vielleicht war das ganze Riesengewölbe das Werk von Bildhauern einer vergangenen Epoche?

»Es ist nicht gestattet, Licht hierherzubringen«, flüsterte Kossil scharf. Noch während sie sprach, wußte Arha, daß sie recht hatte. Hier war die Stätte der Dunkelheit, hier befanden sie sich im innersten Zentrum der Nacht.

Dreimal war Arha an einer Öffnung in dieser verwirrenden, felsigen Schwärze vorbeigekommen. Das vierte Mal tastete sie Höhe und Breite der Öffnung ab und trat ein. Kossil folgte.

In dem Gang, den sie sich jetzt entlangbewegten, kamen sie an einer Öffnung linkerhand vorbei und folgten, als der Gang sich gabelte, der rechten Abzweigung. Blind tasteten sie sich auf diesem unterirdischen Weg durch die absolute Stille der Erde. Bei solch einem Unternehmen muß man ununterbrochen sowohl nach links als auch nach rechts greifen, damit man an keiner der zu zählenden Öffnungen vorbeigeht oder eine Gabelung verfehlt. Durch Tasten leitet man sich vorwärts, der Weg ist unsichtbar, man hält ihn in der Hand. »Ist das hier das Labyrinth?«

»Nein, das sind nur die Irrgänge unter dem Thron.«

»Wo ist der Eingang zum Labyrinth?« Arha begann an diesem Spiel im Dunkeln Gefallen zu finden. Sie suchte nach einer schwierigeren Aufgabe.

»Es ist die zweite Öffnung im unteren Grab. Meine Herrin muß jetzt nach einer Holztür rechts suchen, vielleicht haben wir sie bereits verpaßt …«

Arha hörte, wie Kossil mühsam an der Wand entlangtappte, wie sie sich am Fels stieß. Sie, Arha, berührte den Fels nur leicht mit ihren Fingerspitzen. Kurz darauf fühlte sie glattes Holz. Sie drückte ein wenig, es quietschte etwas, und eine Tür drehte sich leicht in den Angeln und öffnete sich. Sie stand geblendet vom Licht und sah einen Augenblick lang überhaupt nichts.

Sie betraten einen großen niederen Raum, mit Wänden aus zugehauenen Steinen, beleuchtet von einer rauchenden Fackel, die an einer Kette hing. Der Rauch hatte keinen Abzug und füllte den Raum mit beißendem Geruch. Arhas Augen brannten und tränten.

»Wo sind die Gefangenen?«

»Dort.«

Es dauerte eine Weile, bis sie etwas unterscheiden konnte und wahrnahm, daß die drei unordentlichen Haufen am anderen Ende des Raumes Männer waren.

»Die Tür ist nicht verschlossen. Ist kein Posten hier?«

»Es ist keiner nötig.«

Sie ging zögernden Schrittes etwas weiter vor und versuchte, den rauchenden Dunst mit ihren Blicken zu durchbohren. Die Gefangenen waren an beiden Fußgelenken und an einem Handgelenk mit Ketten an großen Eisenringen an der Wand befestigt. Wollte sich einer von ihnen niederlegen, so blieb sein Arm, an dem sich die Kette befand, oben hängen. Ihr Haar und ihre Bärte waren so verfilzt, daß man in deren Schatten ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Einer lag halb am Boden, die anderen beiden saßen und hockten. Sie waren nackt. Der Geruch, der von ihnen ausging, war widerlicher als der Gestank, der vom Rauch herrührte.

Einer von ihnen schien Arha zu mustern, sie glaubte, Augen wahrzunehmen, aber sie war sich nicht sicher. Die beiden anderen rührten sich nicht und hoben ihre Köpfe nicht hoch.

Sie wandte sich ab. »Das sind keine Menschen mehr«, sagte sie.

»Das waren noch nie Menschen. Das waren Dämonen, tierische Wesen, die sich gegen die geweihte Person des Gottkönigs verschworen haben!« Kossils Augen schienen mit dem roten Fackellicht um die Wette zu funkeln.

Arha blickte wieder auf die Gefangenen, sprachlos und neugierig zugleich. »Wie können sie es wagen, einen Gott anzugreifen? Wie können sie das tun? Du da — wie kannst du es wagen, einen lebenden Gott anzugreifen?«

Der Mann blickte sie unter seinem schwarzen, verfilzten Haarschopf hervor an, sagte aber nichts.

»Man hat ihnen die Zungen herausgeschnitten, bevor man sie von Awabad hierhergeschafft hat«, sagte Kossil. »Herrin, sprechen Sie nie mit ihnen! Es ist Abschaum. Sie gehören Ihnen, aber nicht, um mit ihnen zu sprechen oder sie anzusehen oder über sie nachzudenken. Sie wurden Ihnen als Opfer für die Namenlosen gegeben.«

»Wie werden sie geopfert?«

Arha blickte die Gefangenen nicht weiter an. Sie schaute auf Kossil und suchte Kraft an ihrem massiven Körper, an ihrer kalten Stimme. In ihrem Kopf drehte sich alles, der Gestank, der Rauch, der Schmutz setzten ihr zu, es wurde ihr übel, doch sie sprach klar und ruhig. Hatte sie das denn nicht schon unzählige Male getan?

»Die Priesterin der Gräber weiß am besten, welche Todesart ihren Gebietern, den Namenlosen, am wohlgefälligsten ist. Es gibt viele Arten.«

»Gobar, der oberste Offizier der Garde, soll sie enthaupten, und ihr Blut wird vor dem Thron vergossen werden.«

»…so, als ob es sich um ein Ziegenopfer handelte?« Kossil schien heimlich über ihre Phantasielosigkeit zu höhnen. Arha schwieg. Kossil fuhr fort: »Außerdem ist Gobar ein Mann. Kein Mann kann die dunklen Orte der Stätte betreten. Ich hoffe doch, daß meine Herrin sich daran erinnert? Sollte er sie betreten, so wird er sie nicht wieder lebendig verlassen …«

»Wer hat sie hierher gebracht? Wer gibt ihnen zu essen?«

»Die Wärter, die meinem Tempel dienen, Duby und Vahto haben sie gebracht. Sie sind Eunuchen und können hier im Dienst der Namenlosen eintreten, genau wie ich. Die Soldaten des Gottkönigs ließen die Gefangenen gefesselt vor der Außenmauer, und ich und die Wärter brachten sie hierher, durch die Tür in den roten Felsen. So wird es immer gemacht. Wasser und Essen wird durch eine Falltür von einem der Räume hinter dem Thron heruntergelassen.«

Arha blickte auf und sah neben der Kette, an der die Fackel hing, ein Holzviereck, das ins Gestein eingelassen war. Es war zu klein für einen Menschen, aber groß genug für einen Strick, der gerade in Reichweite des mittleren Gefangenen herunterkommen mußte. Sie blickte schnell wieder weg.

»Dann bringe man kein Wasser und keine Nahrung mehr. Die Fackel kann auch ausgehen.«

Kossil verbeugte sich. »Und was macht man mit ihnen, wenn sie tot sind?«

»Duby und Vahto können sie in dem großen Gewölbe des unteren Grabes verscharren«, sagte Arha. Ihre Stimme wurde schrill, und sie redete schnell. »Es muß in der Dunkelheit getan werden. Meine Gebieter werden die Körper verzehren.«

»Es wird geschehen, wie Sie wünschen.«

»Ist es gut so, Kossil?«

»Ja, es ist gut so.«

»Dann laß uns gehen«, sagte Arha, und ihre Stimme klang plötzlich ganz schrill. Sie wandte sich um und eilte durch dieHolztür aus dem Kettenraum in die Schwärze des Ganges. Es schien ihr dort so friedlich und geruhsam zu sein, wie in einer sternenlosen Nacht, ohne Sicht, ohne Licht, ohne Leben. Sie stürzte sich in die reine Dunkelheit und bewegte sich vorwärts wie ein Schwimmer im Wasser. Kossil, schwerfällig und schweratmend, keuchte hinterher so schnell sie konnte, doch sie fiel immer weiter zurück. Ohne ihre Schritte zu verlangsamen, zählte Arha die ausgelassenen Öffnungen, schlug die richtige Richtung ein, der sie gefolgt waren, ging das Riesengewölbe entlang und kroch, tief gebeugt, die letzte Strecke durch den niederen Gang zur geschlossenen Tür im Fels. Dort hockte sie sich nieder und tastete nach dem langen Schlüssel, der am Ring an ihrer Taille hing. Sie fand ihn, aber das Schlüsselloch fand sie nicht. Auch nicht der kleinste Lichtstrahl war an der unsichtbaren Wand direkt vor ihrem Gesicht wahrnehmbar. Ihre Finger fühlten und suchten nach Schloß, Riegel oder Klinke, doch sie fanden nichts. Wo war das Schlüsselloch? Wie kam sie hier wieder heraus?

»Herrin!«

Kossils Stimme, durch Echos verstärkt, zischte und dröhnte weit hinter ihr.

»Herrin, die Tür kann nicht von innen geöffnet werden. Es gibt keinen Ausgang, keine Rückkehr!«

Arha preßte sich gegen den Fels. Sie erwiderte nichts.

»Arha!«

»Ich bin hier.«

»Komm!«

Sie näherte sich Kossil auf Händen und Füßen, wie ein Hund, bis sie ihren Rock zu fassen bekam.

»Rechts! Beeil dich! Ich kann hier nicht bleiben. Ich gehöre nicht hierher. Folge mir!«

Arha erhob sich und hielt sich an Kossil fest. Sie bewegten sich vorwärts und folgten der seltsam gemeißelten, reliefgeschmückten Wand des Gewölbes bis zu einer Öffnung in der Schwärze. Sie gingen aufwärts, durch Gänge und Stufen hinauf. Arha hielt sich immer am Umhang der Priesterin fest. Ihre Augen waren fest geschlossen.

Licht war vor ihr, schien rot durch ihre Augenlider. Sie dachte, daß sie sich wieder im fackelbeleuchteten Kettenraum befände, und preßte ihre Augen zusammen. Doch die Luft roch süßlich, trocken und etwas moderig; es war ein vertrauter Geruch. Sie ließ Kossils Umhang los und machte ihre Augen auf. Über ihr war eine offene Falltür. Sie kletterte hinauf, Kossil folgend. Die Tür öffnete sich in einen Raum, den sie sehr wohl kannte. Eine kleine, aus Stein gebaute Zelle, in der sich einige Truhen und eiserne Kästen befanden, einer der unzähligen kleinen Räume hinter der Thronhalle. Tageslicht fiel grau und schwach vom Korridor herein, der vor der Tür lag.

»Die andere Tür, die Gefängnistür, führt nur hinein, aber nicht hinaus. Dies hier ist der einzige Ausgang. Weder Thar noch ich kennen einen anderen Ausgang. Wenn es noch einen gibt, so muß es meine Herrin wissen. Aber ich glaube nicht, daß es noch einen gibt.« Kossils Stimme klang noch immer gepreßt, und Widerwille lag darin. Ihr großes Gesicht unter der Kapuze war bleich und feucht vom Schweiß.

»Ich kann mich nicht mehr an die Abzweigungen erinnern, die hierher führen …«

»Ich werde sie meiner Herrin aufzählen. Aber nur dies eine Mal. Das nächste Mal muß sie sich selbst daran erinnern. Ich komme nicht wieder mit hierher, ich gehöre nicht hierher. Meine Herrin muß allein gehen.«

Arha nickte. Sie schaute hinauf ins Gesicht der alten Frau, und es schien ihr einen seltsamen Anblick zu bieten, bleich, mit kaum unterdrückter Furcht, und doch triumphierend, als genieße sie Arhas Schwäche.

»Das nächste Mal gehe ich allein«, sagte Arha und versuchte sich von Kossil abzuwenden, doch ihre Beine versagten ihr, und die Zelle drehte sich vor ihren Augen. Sie fiel in Ohnmacht, ein kleines, schwarzes Bündel, vor den Füßen der Priesterin.

»Du wirst es lernen«, sagte Kossil und atmete schwer, ohne sich zu rühren. »Du wirst es lernen.«

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