10 DER ZORN DER DUNKLEN MÄCHTE

Als sie diese Worte gesprochen hatte, legte der Mann, dessen wahrer Name Ged war, seine Hand über ihre Hand, die den zerbrochenen Talisman hielt. Sie schaute überrascht auf und sah, wie das Leben und der Triumph seine Züge erstrahlen ließen. Sie erschrak und fürchtete sich vor ihm. »Du hast uns beide befreit«, sagte er. »Allein gewinnt niemand die Freiheit. Komm, laß uns keine Zeit vergeuden, so lange wir noch welche haben. Laß mich den Ring noch einmal sehen!« Sie hatte ihre Finger über den Silberstücken geschlossen; seiner Bitte gehorchend, öffnete sie ihre Hand und hielt sie ihm hin; die zerbrochenen Stellen berührten sich.

Er nahm sie nicht, sondern legte seine Finger darauf. Er sprach einige Worte, und Schweiß bedeckte plötzlich seine Stirn. Sie fühlte ein seltsames, schwaches Beben auf ihrer Handfläche, als hätte sich ein kleines, schlafendes Tier bewegt. Ged seufzte auf, seine Haltung entspannte sich, er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Hier«, sagte er und hob den Ring von Erreth-Akbe auf. Er schob ihn über die Finger ihrer rechten Hand, er ging gerade über die breiteste Stelle, und auf ihr Gelenk. »Hier«, sagte er und betrachtete ihn mit Befriedigung. »Er paßt. Es muß das Armband einer Frau oder eines Kindes gewesen sein.«

»Wird er halten?« murmelte sie nervös und befühlte den kühlen, feinen Reif an ihrem dünnen Arm.

»O ja, er wird halten. Ich konnte keine einfache Bindeformel, wie sie ein Zauberweib zum Kesselflicken benutzt, am Ring von Erreth-Akbe wirken. Ich mußte eine Formel der Formgebung verwenden, um ihn wieder ganz zu machen. Jetzt ist er wieder geschlossen, so als ob er noch nie zerbrochen gewesen wäre. Tenar, jetzt müssen wir aber gehen. Ich trage die Tasche und die Flasche. Nimm deinen Umhang. Noch etwas?«

Als sie nach dem Schloß an der Tür tastete, um sie auf zuschließen, sagte er: »Ich wollte, ich hätte meinen Stab«, und sie antwortete flüsternd: »Er ist hier, vor der Tür. Ich habe ihn mitgebracht.«

»Warum hast du ihn gebracht?« fragte er neugierig.

»Ich dachte …ich dachte, daß ich dich an die Tür bringen und dann fliehen lassen könnte.«

»Diese Wahl hattest du nicht. Du hättest mich als Sklave behalten und selbst Sklavin sein können, oder du konntest mich befreien und dich selbst mitbefreien. Komm, Kleines, habe Mut und dreh den Schlüssel um!«

Sie drehte den Schlüssel mit dem Drachengriff im Schloß herum und öffnete die Tür in den niederen, dunklen Gang. Sie verließ den Großen Schatz der Gräber mit dem Ring von Erreth-Akbe am Arm, und der Mann folgte ihr.

Ein dumpfes Beben, ein Vibrieren, kein eigentliches Geräusch, war in dem Fels der Wände, des Bodens und der Decke spürbar. Es klang wie ferner Donner, wie ein riesiger Fall in weiter Ferne.

Die Haare standen ihr in die Höhe, und ohne zu überlegen, blies sie die Kerze in der Laterne aus. Sie spürte die Bewegung des Mannes hinter sich; seine ruhige Stimme sprach so nahe, daß sein Atem ihre Haare berührte: »Laß die Laterne hier. Ich kann Licht machen, wenn es nötig ist. Welche Tageszeit ist draußen?«

»Es war lange nach Mitternacht, als ich hierher kam.«

»Dann müssen wir uns beeilen.«

Aber er bewegte sich nicht. Es wurde ihr bewußt, daß sie vorangehen und führen mußte. Nur sie kannte den Weg aus dem Labyrinth, und er wartete, um ihr zu folgen. Sie begann den Rückweg, gebückt, denn der Gang war niedrig, aber sie schritt rüstig voran. Von den unsichtbaren Seitengängen her kam ein kalter Luftzug und ein scharfer Verwesungsgeruch, der Totengeruch der riesigen Höhle unter ihnen. Als der Gang höher wurde und sie aufrecht stehen konnte, verlangsamte sie ihre Schritte und zählte jeden einzelnen bis zum Schacht. Leichten Fußes, jede ihrer Bewegungen nachspürend, folgte er ihr auf dem Fuße. Als sie anhielt, blieb auch er sofort stehen.

»Hier ist der Schacht«, flüsterte sie. »Ich kann den Sims nicht finden. Nein, hier. Sei vorsichtig, die Steine bröckeln ab … Nein, nein warte — er ist locker …« Sie schob sich seitwärts wieder zurück, als die Steine unter ihren Füßen loszubrechen begannen. Der Mann ergriff sie beim Arm und hielt sie fest. Ihr Herz schlug heftig. »Der Sims ist nicht mehr fest, die Steine haben sich gelockert.«

»Ich werde etwas Licht machen und sie mir anschauen. Vielleicht kann ich sie mit dem richtigen Wort festigen. Hab keine Furcht, Kleines!«

Sie dachte daran, wie seltsam es war, daß er sie beim gleichen Namen nannte, bei dem Manan sie gerufen hatte. Als er ein schwaches Lichtlein am Ende seines Stabes hervorgebracht hatte, wie das Glühen faulenden Holzes oder wie ein Stern im Nebel, und auf den schmalen Sims neben dem schwarzen Abgrund trat, sah sie eine unförmige, dunkle Gestalt im Schatten der anderen Seite sich drohend erheben und erkannte Manan. Die Stimme blieb ihr in der Kehle stecken wie in einer Schlinge, und sie konnte nicht aufschreien.

Als Manan die Hand ausstreckte, um ihn von dem unsicheren Sims in den Schacht hinunterzustoßen, blickte Ged hoch und sah ihn. Mit einem Schrei, Überraschung oder Wut, riß er den Stab hoch und hieb auf ihn ein. Beim Schrei war das Licht hell und durchdringend aufgeglüht und schien direkt ins Gesicht des Eunuchen. Manan riß seine Hand hoch, um seine Augen vor dem Licht zu schützen, sprang in voller Verzweiflung auf Ged zu, verfehlte ihn und stürzte in den Abgrund.

Er gab keinen Laut von sich, als er fiel. Kein Laut drang aus dem schwarzen Schacht empor, kein Laut eines aufschlagenden Körpers war vernehmbar, kein Laut des Todes, nichts. Ged und Tenar, vor Entsetzen erstarrt, knieten gefährlich nahe am Rand und horchten hinunter. Nichts war zu hören, alles blieb still.

Das Licht war nur noch ein grauer Fleck, kaum wahrnehmbar.

»Komm!« sagte Ged und streckte die Hand aus; sie ergriff sie, und mit drei großen, gewagten Schritten war sie auf der anderen Seite. Er löschte das Licht. Sie ging wieder voraus und führte. Sie konnte nichts fühlen, nichts denken. Nur nach einer Weile begann sie zu überlegen: Muß ich rechts oder links gehen?

Sie blieb stehen.

Ein paar Schritte hinter ihr stehend, fragte er leise: »Was ist los?«

»Ich habe den Weg verloren. Mach Licht!«

»Verloren?«

»Ich habe … ich habe mich bei den Abzweigungen verzählt.«

»Ich habe mitgezählt«, sagte er und kam etwas näher. »Links nach dem Schacht, dann rechts, dann wieder rechts.«

»Dann wieder rechts beim nächsten«, sagte sie automatisch, aber sie bewegte sich nicht. »Mach Licht!«

»Das Licht wird uns nicht den Weg weisen, Tenar!«

»Nichts wird uns den Weg weisen. Alles ist verloren. Wir sind verloren.«

Die tote Stille erwürgte ihr Flüstern, verzehrte es.

Sie spürte die Bewegung und Wärme des Mannes, der nahe bei ihr war in der Dunkelheit. Er suchte ihre Hand und hielt sie fest. »Geh weiter, Tenar, den nächsten Gang rechts.«

»Mach ein Licht!« flehte sie. »Die Gänge sind so verschlungen …«

»Ich kann nicht, ich habe keine Kraft übrig, Tenar. Sie sind … sie wissen, daß wir die Schatzkammer verlassen haben, daß wir am Schacht vorbei sind. Sie suchen uns, suchen unseren Willen, unseren Geist, damit sie ihn auslöschen, verschlingen können. Den muß ich wach halten, und meine ganze Macht konzentriert sich darauf. Ich muß ihnen widerstehen, mit dir, mit deiner Hilfe. Wir müssen weitergehen.«

»Kein Weg führt hinaus«, sagte sie, aber sie machte einen Schritt vorwärts. Dann einen weiteren, zögernd, als ob sich unter jedem Schritt das schwarze, hohle Nichts auftäte, die Leere unter der Erde. Seine warme, feste Hand hielt die ihre umschlossen. Sie ging weiter.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie die Treppe erreichten. Die Stufen schienen steiler zu sein als zuvor, sie waren wie glitschige Kerben im Fels. Aber sie kletterte hinauf und ging dann etwas schneller, denn sie wußte, daß der geschwungene Gang sich nach der Treppe lang und ohne Abzweigung erstreckte. Ihre Finger, die sich an der linken Wand entlang getastet hatten, fühlten eine Öffnung linkerhand. »Hier«, murmelte sie, aber er zögerte, als ob etwas in ihren Bewegungen Zweifel in ihm erweckt hätte.

»Nein«, murmelte sie verwirrt, »nicht diese hier, die nächste links. Ich weiß es nicht mehr. Ich schaffe es nicht. Kein Weg führt hier hinaus.«

»Wir gehen in den Bemalten Raum«, sagte die ruhige Stimme aus der Dunkelheit. »Wie gelangen wir dorthin?«

»Links nach dieser Öffnung.«

Sie führte ihn weiter. Sie gingen den langen Umweg, an zwei falschen Abzweigen vorbei, und kamen in den Gang, der zum Bemalten Raum führte.

»Jetzt geradeaus«, sagte sie, und nun ging das Entwirren in der Dunkelheit schneller vor sich, denn diese Gänge, die zur eisernen Tür führten, waren ihr geläufig, schon hundertmal war sie hier gegangen; die seltsame Schwere, die auf ihr lag, konnte sie nicht durcheinanderbringen, solange sie nicht daran dachte. Aber die ganze Zeit kamen sie näher, näher zu dem, was so schwer auf ihr lag und sich an sie preßte; ihre Beine waren so müde, so schwer, daß sie ein- oder zweimal wimmerte vor Schmerz ob der Anstrengung, die es kostete, sie zu bewegen. Und der Mann neben ihr atmete tief und hielt den Atem an, immer wieder, wie jemand, dessen Körper einer furchtbaren Anstrengung ausgesetzt ist. Manchmal brach seine Stimme unterdrückt durch, mit einem Wort oder dem Fragment eines Wortes. So gelangten sie endlich an die eiserne Tür, und in plötzlichem Entsetzen streckte sie die Hand aus.

Die Tür war offen!

»Schnell«, sagte sie und zog ihren Gefährten durch. Auf der anderen Seite hielt sie an.

»Warum war sie offen?« fragte sie.

»Weil deine Gebieter deine Hände benötigen, um die Tür für sie zu schließen.«

»Jetzt kommen wir zum …« Ihre Stimme versagte.

»… zum Mittelpunkt der Dunkelheit. Ich weiß. Aber wir sind aus dem Labyrinth heraus. Welche Wege führen aus dem Untergrab hinaus?«

»Nur einer. Die Tür, durch die du gekommen bist, kann nicht von innen geöffnet werden. Der Weg hinaus führt durch das Untergrab und durch Gänge zu einer Falltür in einem Raum hinter der Thronhalle.«

»Dann müssen wir diesen Weg nehmen.«

»Aber sie ist dort«, flüsterte das Mädchen. »Dort im Untergrab; im Gewölbe; sie schaufelt im leeren Grab herum. Ich kann nicht — ich kann nicht an ihr vorbeigehen!«

»Sie wird nicht mehr da sein.«

»Ich kann nicht dorthin gehen.«

»Tenar, ich halte in diesem Augenblick das Dach über unseren Köpfen hoch. Ich halte die Wände zurück, damit sie nicht auf uns stürzen. Ich halte den Boden unter unseren Füßen geschlossen. Das tue ich schon, seit wir den Schacht verlassen haben, wo ihr Diener auf uns gewartet hat. Wenn ich das Erdbeben im Zaum halten kann, fürchtest du dich, mit mir an einer menschlichen Seele vorbeizugehen? Vertraue mir, wie ich dir vertraut habe. Komm jetzt mit mir!« Sie ging vorwärts.

Der endlose Gang wurde weiter. Das Gefühl, in einem großen Raum zu sein, überkam sie. Sie hatten das Gewölbe unter den Steinen betreten.

Sie tasteten sich an der Wand entlang. Tenar war nur ein paar Schritte weit gegangen, als sie stehenblieb. »Was ist das?« murmelte sie kaum hörbar. In der schwarzen, riesigen, toten Luftleere war ein Geräusch vernehmbar: ein Zittern, ein Beben, ein Laut, der vom Blut gehört, von den Knochen gespürt wurde. Die von der Zeit selbst gemeißelten Wände unter ihren Fingern pulsierten, dröhnten.

»Geh weiter«, die Stimme des Mannes klang brüchig, fast erstickt. »Beeil' dich, Tenar!«

Als sie vorwärts stolperte, flehte sie in ihrem Herzen, das so dunkel, so bebend wie das unterirdische Gewölbe selbst war: »Vergebt mir! Oh, meine Gebieter, oh, ihr Namenlosen, ihr Ewigen, vergebt mir, vergebt mir!«

Doch sie erhielt keine Antwort. Es gab keine Antwort. Noch nie hatte es eine Antwort gegeben.

Sie kamen zum Gang unter der Halle, kletterten die Stufen hinauf und erreichten die letzte Stufe und die Falltür über ihnen. Sie war geschlossen, so wie sie die Tür immer hinter sich ließ. Sie drückte die Feder, um sie zu öffnen. Sie öffnete sich nicht.

»Sie ist kaputt«, sagte sie. »Sie geht nicht auf, sie ist verschlossen.«

Er kam herauf zu ihr und stemmte seinen Rücken gegen die Tür. Sie bewegte sich nicht.

»Sie ist nicht verschlossen, sondern etwas Schweres liegt auf ihr.«

»Kannst du sie aufbekommen?«

»Vielleicht. Ich nehme an, daß sie dort wartet. Hat sie Männer bei sich?«

»Duby und Uahto, vielleicht noch andere Wärter … Männer dürfen hier nicht herkommen.«

»Ich kann nicht gleichzeitig einen Öffnungszauber wirken, mich gegen Leute wehren, die auf uns warten und dem Willen der Dunkelheit widerstehen«, sagte er, und seine Stimme klang ruhig und abwägend. »Wir müssen die andere Tür versuchen, die zwischen den Felsen, durch die ich hereinkam. Weiß sie, daß diese Tür nicht von innen geöffnet werden kann?«

»Ja, das weiß sie. Sie hat es mich einmal versuchen lassen.«

»Dann rechnet sie nicht damit. Komm, Tenar!«

Sie war auf die Steintreppe gesunken, die erbebte und summte wie eine Riesensehne, die in der Tiefe unter ihr gespannt wurde.

»Woher kommt dieses Zittern?«

»Komm!« sagte er, und seine Stimme war so bestimmt, so fest, daß sie ihm gehorchte und die Treppe und Gänge zurückschlich, zurück zu dem fürchterlichen Gewölbe.

Am Eingang fiel ein Gewicht voll abgrundtiefen, blinden Hasses auf sie, das sie zu Boden drückte wie das Gewicht der Erde selbst, so daß sie sich niederkauerte und ohne es zu wissen aufschrie: »Sie sind hier! Sie sind hier! …«

»Dann laß sie wissen, daß wir hier sind!« sagte der Mann, und von seinem Stab und von seinen Händen sprang ein Licht auf, dessen heller weißer Glanz in Tausenden und aber Tausenden von Funken an den Diamanten der Decke und den Wänden zersprühte; und durch diese Lichterpracht flohen die beiden, quer durch das Gewölbe; ihre Schatten glitten über die weißen Spitzbögen, die glitzernden Nischen, das leere, offene Grab. Sie rannten zu dem niedrigen Gang, in den Gang hinein, bückten sich tief, sie voran, er dichtauf folgend.

Und dort im Gang dröhnte der Fels, bewegte sich mahlend unter ihren Sohlen. Doch das Licht umgab sie noch, leuchtete ihnen noch. Als sie die tote Felswand vor sich sah, hörte sie durch das Krachen und Bersten der Erde seine Stimme ein Wort sagen, und als sie auf die Knie fiel, schlug der Stab über ihrem Kopf gegen den roten Fels der geschlossenen Tür. Der Fels glühte weiß auf, als stünde er im Feuer, und brach auseinander.

Draußen wölbte sich der Himmel über sie, bleich vor der kommenden Morgenröte. Ein paar weiße Sterne standen hoch darin in kühlem Feuer.

Tenar sah die Sterne und fühlte den süßduftenden Wind, der ihr Gesicht berührte. Tenar schauderte zusammen und blieb auf Händen und Knien zwischen Himmel und Erde liegen.

Der Mann, eine fremde, dunkle Gestalt im ungewissen Licht vor dem Morgengrauen, wandte sich um und zog sie am Arm, damit sie aufstehe. Sein Gesicht war schwarz und verzerrt wie das Gesicht eines Dämons. Sie kauerte und krümmte sich weg von ihm und kreischte mit einer fremden Stimme, als hätte sie eine tote Zunge in ihrem Mund: »Nein! Nein! Rühr mich nicht an … Laß mich los … Geh fort!« Und sie duckte sich und schlängelte sich zu dem zerbröckelnden, grausamen Mund der Gräber hin.

Sein fester Griff lockerte sich. Er sprach mit ruhiger Stimme: »Tenar, im Namen des Reifens, den du am Arm trägst, gebiete ich dir zu kommen!«

Sie sah das Licht der Sterne auf dem silbernen Ring an ihrem Arm. Ihre Augen darauf geheftet, erhob sie sich taumelnd. Sie reichte ihm die Hand, und zusammen gingen sie fort. Sie konnte nicht schnell gehen. Sie gingen den Hügel hinunter. Aus dem schwarzen Mund zwischen den Steinen hinter ihnen ertönte ein langgezogenes Stöhnen und Heulen voll Haß und Klage. Steine fielen rings um sie herum zur Erde. Der Boden erzitterte. Sie gingen weiter, ihre Augen waren noch immer fest auf das Funkeln der Sterne gerichtet, das sich auf ihrem Armreif spiegelte.

Sie befanden sich jetzt in dem schwach erhellten Tal westlich der Stätte. Ihr Weg führte leicht bergauf, und plötzlich hieß der Mann sie, sich umzudrehen: »Schau …«

Sie wandte sich um und schaute. Sie standen jetzt auf der anderen Seite des Tales, auf einer Höhe mit den Grabsteinen, den neun großen Monolithen, die über dem Gewölbe der Diamanten und Gräber standen oder lagen. Die Steine, die standen, begannen sich jetzt zu bewegen. Sie zuckten und ruckten und lehnten sich langsam zur Seite, wie die Masten von sinkenden Schiffen. Einer von ihnen schien sich zu recken, schien höher zu werden, doch dann, plötzlich, schien ihn etwas von innen heraus zu schütteln, und er fiel zur Seite. Ein anderer fiel quer darüber und zerbarst. Die Kuppel der Thronhalle hinter den Steinen, die sich schwarz vor dem gelben Licht im Osten abhob, begann zu erbeben. Die Wände rundeten sich nach außen. Der ganze riesige, schadhafte Bau aus Stein und Mörtel änderte seine Form, wie Lehm unter fließendem Wasser, und mit einem mächtigen, lauten Stöhnen und einem Prasseln von Splittern rutschte er zur Seite und sank in sich zusammen. Staub wallte auf. Der Boden des Tales kräuselte sich und begann zu zucken; wie eine Welle lief das Beben den Hügel hinauf, und ein großer Spalt öffnete sich zwischen den Grabsteinen, ein riesenhaftes Maul der darunter liegenden Finsternis, aus dem Staub wie träger grauer Rauch aufquoll. Die noch stehenden Steine fielen hinein und wurden verschlungen. Mit einem furchtbaren Krachen, dessen Echo der Himmel selbst zurückzuwerfen schien, schlossen sich die unförmigen schwarzen Lippen, und der Spalt wurde zusammengedrückt. Die Hügel erzitterten noch einmal und kamen dann zur Ruhe.

Sie wandte den Blick von dem grauenhaften Erdbeben ab zum Gesicht des Mannes an ihrer Seite, das sie noch nie im Tageslicht gesehen hatte. »Du hast es zurückgehalten.« Ihre Stimme klang dünn, wie ein Wind im Ried, nach dem mächtigen Brüllen und Stöhnen der Erde. »Du hast das Erdbeben, den Zorn der Dunklen Mächte, zurückgehalten.«

»Wir müssen weitergehen«, sagte er und wandte sich vom Sonnenaufgang und von den Ruinen der Stätte ab. »Ich bin müde, mir ist kalt …« Er strauchelte vor Erschöpfung, als sie weitergingen, und sie hielt ihn am Arm fest. Keiner von ihnen konnte schnell gehen, beide schleppten sie sich dahin. Langsam, wie zwei kleine Spinnen, quälten sie sich den langen, hohen Hang des Berges hinauf, bis sie oben auf dem trockenen Boden des Gipfels standen, der hellgelb war vom Licht der aufgehenden Sonne und gestreift von dem langen, spärlichen Schatten des Salbeis. Vor ihnen erhoben sich die Berge des Westens, deren Flanken noch in violette Schatten gehüllt waren, deren obere Hänge aber bereits im goldenen Licht erglänzten. Die beiden hielten kurz an, dann schritten sie über den Kamm des Hügels und verschwanden aus dem Blickfeld der Stätte.

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