9 DER RING VON ERRETH-AKBE

In der Großen Schatzkammer der Gräber von Atuan stand die Zeit still. Kein Licht, kein Leben, nicht einmal das unmerkliche Weben einer Spinne im Staub, eines Wurmes in der Erde war spürbar. Fels und Finsternis und Zeit standen still.

Auf dem Steindeckel einer großen Truhe lag der Dieb von den Innenländern, ausgestreckt auf dem Rücken, wie eine gemeißelte Figur auf einem Sarkophag. Der Staub, durch seine Bewegungen aufgerührt, hatte sich auf seiner Kleidung niedergesetzt. Er rührte sich nicht.

Das Schloß in der Tür quietschte. Die Tür öffnete sich. Licht zerteilte die Finsternis, und ein frischerer Windzug bewegte die tote Luft. Der Mann lag regungslos.

Arha machte die Tür zu und verschloß sie von innen, stellte ihre Laterne auf eine Truhe und kam langsam auf die regungslose Gestalt zu. Sie näherte sich furchtsam, ihre Augen weit offen, die Pupillen noch ganz groß von dem langen Gang durch die Dunkelheit.

»Sperber!«

Sie berührte seine Schulter und wiederholte seinen Namen noch einmal und noch einmal.

Er rührte sich und stöhnte. Endlich setzte er sich auf, sein Gesicht war erstarrt, seine Augen leer. Er blickte sie an und erkannte sie nicht.

»Ich bin es, Arha — Tenar. Ich habe dir Wasser gebracht. Hier, trink!«

Er griff unbeholfen nach der Flasche, als wären seine Hände gelähmt, und trank, aber nicht viel.

»Wie lange war ich hier?« fragte er, mühsam die Worte formend.

»Zwei Tage sind vergangen, seit ich dich hierhergebracht habe. Dies ist die dritte Nacht. Ich konnte nicht früher kommen. Ich mußte das Essen stehlen. Hier ist es.« Sie zog einen der großen, flachen Laibe aus der Tasche, die sie mitgebracht hatte, aber er schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Hunger … Dies … dies ist ein fürchterlicher Ort.« Er legte den Kopf in die Hände und saß regungslos.

»Ist dir kalt? Ich habe den Umhang vom Bemalten Raum gebracht.«

Er antwortete nicht.

Sie legte den Umhang hin und blickte ihn an. Sie zitterte ein wenig, und ihre Augen waren noch schwarz und weit geöffnet.

Plötzlich sank sie auf die Knie, beugte sich nach vorne und begann zu schluchzen, in heftigen Stößen, die ihren Körper schüttelten, aber keine Tränen in ihre Augen brachten.

Er stieg steif von der Truhe herunter und beugte sich über sie: »Tenar …«

»Ich bin nicht Tenar. Ich bin nicht Arha. Die Götter sind tot. Die Götter sind tot.«

Er strich ihre Kapuze zurück und legte seine Hände auf ihren Kopf. Er begann zu sprechen. Seine Stimme war leise, und die Worte waren in einer ihr fremden Sprache. Ihr Klang drang in ihr Herz wie leise lispelnder Regen. Sie wurde ruhiger und begann zuzuhören.

Als sie sich beruhigt hatte, hob er sie hoch und setzte sie wie ein Kind auf die große Truhe, auf der er gelegen hatte. Er legte seine Hand auf ihre Hände. »Warum hast du geweint, Tenar?«

»Ich werde es dir sagen. Es ist jetzt sowieso alles egal. Du kannst doch nichts tun. Du kannst nicht helfen. Du wirst ja auch sterben. Alles ist jetzt gleichgültig, alles! Kossil, die Priesterin des Gottkönigs, sie war schon immer grausam, sie versuchte, mich zu veranlassen, daß ich dich töte. So wie ich die anderen getötet habe. Und ich tat es nicht. Welches Recht hat sie? Und sie forderte die Namenlosen heraus und verhöhnte sie, und ich habe sie verwünscht. Und seither habe ich Angst vor ihr, denn was Manan sagt, stimmt, sie glaubt nicht an die Götter. Sie will, daß sie vergessen werden, und sie hätte mich im Schlaf getötet. Und so schlief ich nicht. Ich bin nicht ins Kleinhaus zurückgegangen. Die ganze vergangene Nacht verbrachte ich in der Thronhalle und auf dem Speicher, in dem die Tanzgewänder hängen. Bevor es Tag wurde, ging ich zum Großhaus und habe etwas Essen gestohlen, und dann ging ich zurück in die Halle und blieb den ganzen Tag dort. Ich wollte mir überlegen, was ich nun tun soll. Und heute nacht — heute nacht war ich so müde, und ich dachte, ich könnte vielleicht an einen der heiligen Plätze gehen und dort schlafen, irgendwo, wo sie sich fürchtet hinzugehen. Und so ging ich ins Untergrab, das große Gewölbe, wo ich dich zum ersten Mal sah. Und … und dort war sie. Sie muß durch die rote Felsentür gekommen sein. Sie hatte eine Laterne dabei und kratzte an dem Grab herum, das Manan geschaufelt hatte, um zu sehen, ob eine Leiche darin war. Wie eine große, fette Ratte auf einer Grabstätte. Licht brannte an diesem Heiligen Ort, und die Namenlosen duldeten es und rührten sich nicht. Sie töteten sie nicht, sie brachten keinen Wahnsinn über sie. Sie sind alt, wie sie behauptet, sie sind tot. Sie sind verschwunden. Ich bin keine Priesterin mehr.«

Der junge Mann stand und hörte zu, seine Hand lag noch auf ihrer Hand, sein Kopf war leicht gesenkt. Etwas Kraft war in sein Gesicht und in seine Haltung zurückgekehrt, doch die Narben an seiner Wange waren noch blaugrau, und auf seiner Kleidung, auf seinem Haar lag Staub.

»Ich bin an ihr vorbei durch das Untergrab gegangen. Ihre Kerze machte mehr Schatten als Licht, und sie hat mich nicht gehört. Ich wollte ins Labyrinth, weg von ihr gehen. Aber als ich dort war, bildete ich mir ein, daß ich sie hörte, wie sie mir folgte. Auch als ich durch die Gänge ging, hörte ich, wie jemand mir folgte. Und ich wußte nicht, wo ich hin sollte. Nur hier, hier, dachte ich, werde ich sicher sein. Ich glaubte, daß meine Gebieter mich schützen und verteidigen würden. Aber sie sind verschwunden, sie sind tot …«

»Ihretwegen hast du geweint — über ihren Tod? Aber sie sind hier, Tenar, hier!«

»Woher weißt du denn das?« fragte sie mutlos.

»Weil ich mich seit dem Augenblick, an dem mein Fuß das Gewölbe unter den Gräbern betreten hat, bemühe, sie stille zu halten, ihnen mein Kommen zu verheimlichen. Meine ganze Kunst habe ich aufwenden müssen, meine ganze Macht habe ich damit verausgabt. Ich habe diese Gänge mit einem endlosen Netz von Bannsprüchen zugewebt, mit Bannsprüchen der Stille, des Schlafes, des Verbergens: und doch spüren sie, daß ich hier bin, spüren es halbwegs, halb schlafend, halb wachend, obwohl ich meine ganze Kraft aufwende. Dies hier ist ein ganz fürchterlicher Ort. Ein Mensch allein ist hier hoffnungslos verloren. Ich war am Verdursten, als du mir Wasser gabst, doch war es nicht das Wasser allein, das mich rettete. Es war die Kraft deiner Hände, die mir das Wasser reichten.« Als er das sagte, drehte er ihre Hand, die in seiner Hand ruhte, um und schaute auf ihre Handfläche. Dann wandte er sich ab, lief im Raum auf und ab und hielt wieder vor ihr inne. Sie sagte nichts.

»Glaubst du wirklich, daß sie tot sind? Dein Herz weiß es besser. Sie sterben nicht. Sie sind dunkel und werden nie sterben. Sie hassen das Licht: das kurze, helle Licht unserer Sterblichkeit. Sie sind unsterblich, aber sie sind keine Götter. Nie waren sie Götter. Sie sind es nicht wert, von einer menschlichen Seele verehrt zu werden.«

Sie hörte ihm zu. Ihre Augen waren schwer, und ihr Blick war auf die flackernde Laterne gerichtet. »Was haben sie dir je gegeben, Tenar?«

»Nichts«, flüsterte sie.

»Sie haben nichts, was sie geben können. Sie haben keine Kraft des Schöpfens. Ihre Kraft ist, Dunkelheit zu bringen und Lebendiges zu zerstören. Diesen Ort hier können sie nicht verlassen. Der Ort besteht aus ihnen, und er sollte ihnen ganz überlassen werden. Sie sollten nicht verleugnet und nicht vergessen, aber auch nicht verehrt werden. Die Welt ist hell und licht und schön, aber das ist nicht alles. Die Erde ist auch dunkel und schrecklich und grausam. Der kleine Hase stöhnt, wenn er auf der grünen Wiese stirbt. Die Gebirge ballen ihre großen kalten Hände um verborgene Feuer. Im Meer gibt es Haifische und in den Augen der Menschen Grausamkeit. Und dort, wo Menschen diese Mächte verehren und sich vor ihnen erniedrigen, dort waltet das Böse, dort werden Stätten errichtet, wo die Finsternis sich verdichtet, Stätten, die ganz denen geweiht sind, die wir die Namenlosen nennen, die uralten, heiligen Mächte dieser Erde, die vor dem Licht bestanden haben, die Mächte der Dunkelheit, der Zerstörung, des Wahnsinns … Ich glaube, daß eure Priesterin Kossil schon vor langer Zeit wahnsinnig geworden ist; ich glaube, daß sie in diesen unterirdischen Gewölben herumschleicht wie im Labyrinth ihrer eigenen Seele, und nun kann sie das Licht des Tages nicht mehr wahrnehmen. Sie hat dir gesagt, daß die Namenlosen tot seien, nur eine verlorene Seele, eine Seele, für die es keine Wahrheit mehr gibt, kann das behaupten. Sie existieren. Aber sie sind nicht deine Gebieter. Noch nie waren sie das. Du bist frei, Tenar. Man hat dich gelehrt, Sklavin zu sein, doch du bist ausgebrochen, du bist frei!«

Sie hörte ihm zu, doch ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. Er sagte nichts weiter. Sie schwiegen, aber es war nicht die Stille, die bestand, bevor sie den Raum betreten hatte. Zwei Menschen atmeten jetzt hier, Leben pulsierte durch ihre Adern, und die Kerze in der Laterne brannte, ein winziger, knisternder, lebendiger Ton.

»Woher weißt du meinen Namen?«

Er lief auf und ab in dem Raum, rührte den feinen Staub auf und reckte seine Arme und Schultern, um seine von der Kälte erstarrten Glieder wieder ins Leben zurückzurufen.

»Namen zu wissen und Namen herauszufinden ist meine Arbeit, meine Kunst. Weißt du, um Magie wirken zu können, muß man den wahren Namen eines Dinges, eines Wesens herausfinden. Dort, wo ich herkomme, hält man seinen wahren Namen sein ganzes Leben lang verborgen, nur denen, denen man ganz und voll vertraut, sagt man ihn. Denn in einem Namen steckt große Macht und deshalb große Gefahr. Vor langer, langer Zeit, als Segoy die Inseln der Erdsee aus der Tiefe des Meeres hob, trugen alle Dinge ihren eigenen, wahren Namen. Und die ganze Kunst der Magie, der Zauberei, hängt von diesem Wissen ab — des Wiedererlernens, des Erinnerns dieser wahren, uralten Sprache des Formens und Schöpfens. Natürlich muß man Bannsprüche lernen und wissen, wie die Worte zu gebrauchen sind, und man muß selbstverständlich auch die Folgen kennen. Aber ein Zauberer verbringt sein ganzes Leben damit, Namen herauszufinden und der Kunst, wie man Namen herausfinden kann.«

»Wie hast du meinen herausgefunden?«

Er schaute sie einen Augenblick lang mit einem tiefen, klaren Blick an, der durch die Schatten zwischen ihnen drang; er zögerte kurz: »Das kann ich dir nicht sagen. Du bist wie ein Licht, das verdeckt und abgeschirmt an einem dunklen Platz verborgen ist. Doch das Licht scheint, sie konnten es nicht auslöschen. Sie konnten dich nicht verstecken. Und so wie ich das Licht kenne, so kenne ich dich und weiß deinen Namen, Tenar. Das ist meine Gabe, meine Macht. Mehr kann ich nicht sagen. Aber jetzt sag mir: was willst du jetzt tun?«

»Ich weiß es nicht.«

»Kossil hat ein leeres Grab gefunden. Was wird sie nun tun?«

»Ich weiß nicht. Wenn ich jetzt hinaufgehe, kann sie mich töten lassen. Eine Hohepriesterin, die gelogen hat, muß getötet werden. Sie kann mich auf den Stufen des Altars opfern lassen. Und dieses Mal würde Manan mir wirklich den Kopf abschlagen, anstatt nur das Schwert hochzuheben und auf die dunkle Gestalt zu warten, die das Schwert abhält. Dieses Mal würde sie nicht kommen und es abhalten. Es käme herunter und würde meinen Kopf abtrennen.«

Sie sprach langsam und ausdruckslos. Er dachte angestrengt nach.

»Wenn wir lange hierbleiben«, sagte er,»dann wirst du wahnsinnig werden, Tenar. Der Zorn der Namenlosen bedrückt dich und mich auch. Seit du hier bist, ist es besser geworden, viel besser. Aber es hat so lange gedauert, bis du gekommen bist, und ich habe fast meine ganze Kraft aufgebraucht. Keiner kann den Dunklen Mächten lange allein widerstehen. Sie sind zu mächtig.« Er verstummte, seine Stimme war immer leiser geworden, und er schien vergessen zu haben, was er noch sagen wollte. Er rieb sich mit der Hand die Stirn und ging dann zur Wasserflasche, um einen Schluck zu trinken. Er brach ein Stück Brot ab und setzte sich auf die Truhe ihr gegenüber, um es zu essen.

Was er gesagt hatte, stimmte. Sie fühlte, wie ein Druck, ein Gewicht auf ihr lag, das ihre Gedanken und Gefühle beschwerte und verwirrte. Doch sie war nicht mehr so verstört wie zuvor, als sie allein durch die Gänge geeilt war. Der Gedanke an die furchtbare Stille außerhalb des Raumes war ihr unerträglich. Warum nur? Noch nie zuvor hatte sie die unterirdischen Orte gefürchtet. Aber bis jetzt war sie auch den Dunklen Mächten hörig gewesen, hatte noch nie gegen ihren Willen gehandelt.

Schließlich lächelte sie schwach. »Hier sitzen wir auf ›dem größten Schatz des Reiches‹«, sagte sie. »Der Gottkönig würde all seine Frauen für eine Truhe hergeben. Und wir haben noch nicht einmal den Deckel aufgemacht und hineingeschaut.«

»Ich habe sie aufgemacht«, sagte Sperber kauend.

»In der Dunkelheit?«

»Oh, ich habe ein bißchen Licht gemacht, ein kleines Werlicht. Es war schwierig hier. Selbst mit meinem Stab wäre es schwer gewesen, und ohne Stab war es, als befände ich mich im Regen und versuchte, mit nassem Holz Feuer zu machen. Aber dann kam es doch. Und ich habe gefunden, was ich suchte.«

Sie hob ihr Gesicht langsam hoch und schaute ihn an: »Den Ring?«

»Den halben Ring. Du hast die andere Hälfte.«

»Ich? Die andere Hälfte ist verloren.«

»… und wurde wieder gefunden. Ich trug sie an einer Kette um den Hals. Du hast sie genommen und hast mich gefragt, ob ich mir keinen besseren Talisman leisten könne. Der einzige Talisman, der besser wäre als der halbe Ring von Erreth-Akbe, wäre der ganze Ring. Aber wie man so sagt, ein halber Laib ist besser als gar keiner. Ich habe also deine Hälfte, und du hast die meine.« Er lächelte ihr über die Schatten des Grabes zu.

»Als ich ihn genommen habe, hast du gesagt, ich wüßte nicht, was ich damit tun sollte.«

»Das stimmt.«

»Und weißt du es jetzt?«

Er nickte.

»Dann sag es mir. Erzähl mir, welche Bewandtnis es mit dem Ring auf sich hat, und wie du die verlorene Hälfte gefunden hast, und wie und warum du hierhergekommen bist. Das muß ich alles wissen, und dann weiß ich vielleicht, was ich tun muß.«

»Ja, vielleicht wirst du es dann wissen. Also gut. Welche Bewandtnis hat es mit dem Ring von Erreth-Akbe? Nun, du kannst selbst sehen, daß er nicht sonderlich wertvoll ist, und er ist nicht einmal ein Ring. Er ist zu groß dafür. Vielleicht ein Armreif, aber dafür ist er wieder zu klein. Kein Mensch weiß, für wen er gemacht wurde. Elfarran die Lichte hat ihn einmal getragen, bevor die Insel Soléa im Meer versank, und damals war der Ring schon alt. Schließlich kam er in den Besitz von Erreth-Akbe … Er ist aus reinem Silber und hat neun Runen, die Macht verleihen. Deine Hälfte hat viereinhalb Runen und meine ebenfalls. Der Bruch ging durch ein Runensymbol und hat es zerstört. Seither nennt man sie die ›verlorene‹ Rune. Magier kennen die anderen acht: Pirr, die vor Wahnsinn, Wind und Wetter schützt, Ges, die Ausdauer verleiht, und so weiter. Doch die zerbrochene Rune war diejenige, welche die Länder verbunden hatte. Es war die Binderune, das Zeichen des Weltreiches, das Zeichen des Friedens. Ein König, der nicht unter dem Zeichen dieser Rune regiert, ist kein guter Herrscher. Niemand weiß, wie diese Rune geritzt wurde. Und seit sie verloren ist, gibt es keine großen Könige in Havnor mehr. Aber es gab viel Fürsten und Tyrannen, Kriege und Streit unter den Ländern der Erdsee. Daher beschlossen die weisen Fürsten und Magier der Innenländer, nach dem Ring von Erreth-Akbe zu fahnden, damit die verlorene Rune wieder hergestellt würde. Aber schließlich gaben sie es auf, weitere Männer auszuschicken und den Ring zu suchen, denn keiner konnte die Hälfte, die sich in den Gräbern von Atuan befand, wiedererlangen, und die andere Hälfte, die Erreth-Akbe einem kargischen König gegeben hatte, war auch verschwunden. Sie kamen überein, daß es keinen Wert mehr hatte, weiter danach zu suchen, und stellten die Fahndung ein. Das war vor vielen hundert Jahren.

Jetzt komme ich in die Geschichte. Als ich nur ein wenig älter war als du, war ich auf einer … auf einer Art Jagd über die See. Das, was ich jagte, hatte mich irregeleitet, und ich wurde auf eine verlassene Insel geworfen, die nicht weit von der Küste von Karego-At und Atuan liegt, südwestlich von hier. Sie war ganz klein, nicht viel größer als eine Sandbank, mit ein paar langen, grasbewachsenen Dünen in der Mitte und einer kleinen Quelle von Salzwasser; das war alles.

Dort hausten zwei Leute. Ein alter Mann und eine Frau; ich glaube, es waren Bruder und Schwester. Sie waren zu Tode erschrocken, als sie mich sahen. Sie hatten seit — oh, wie lange schon? —, seit Jahren, Jahrzehnten, kein menschliches Gesicht mehr gesehen. Aber ich kam zu ihnen, und meine Not war groß, und sie waren gut zu mir. Sie hatten eine kleine Hütte aus Treibholz und ein Feuer. Die alte Frau gab mir zu essen, Muscheln, die sie bei Ebbe von den Felsen absammelte, getrocknetes Fleisch von Seevögeln, die sie mit Steinen erlegten. Sie hatte Angst vor mir und gab mir trotzdem zu essen. Als sie merkte, daß sie mich nicht zu fürchten hatte, wurde sie zutraulicher und zeigte mir ihre Schätze. Sie hatte auch wirklich einen Schatz … Es war ein kleines Kleid aus Seidenzeug mit Perlen, ein Kinderkleid, das Kleid einer kleinen Prinzessin. Sie aber trug ein ungegerbtes Seehundsfell.

Unterhalten konnten wir uns nicht. Damals sprach ich noch nicht Kargisch, und sie verstanden die Sprachen des Innenreiches nicht, selbst ihre eigene kannten sie nicht gut. Man hatte sie, als sie noch jung waren, hierhergebracht, damit sie sterben sollten. Ich weiß nicht, warum, ich bezweifle, daß sie es wußten. Sie kannten nur die Insel, den Wind und das Meer. Aber als ich fortging, gab die Frau mir ein Geschenk. Sie gab mir die verlorene Hälfte von Erreth-Akbes Ring.

Er schwieg eine Weile.

»Damals wußte ich genauso wenig wie sie, was es war. Die größte Gabe des Jahrhunderts, von einer unwissenden, alten Frau in Seehundsfellen einem dummen Jungen gegeben, der sie in seine Tasche stopfte, ›Danke‹ sagte und davonsegelte … Na ja, ich bin weitergesegelt und tat, was ich tun mußte. Aber dann kam anderes dazwischen, und ich ging zu den Dracheninseln im Westen und so weiter. Und die ganze Zeit behielt ich den Ring bei mir, denn ich war dankbar und gerührt, daß diese alte Frau mir das einzige Geschenk gab, das sie mir geben konnte. Und eines Tages auf Selidor, das ist eine ferne Insel, auf der Erreth-Akbe im Kampf mit dem Drachen Orm fiel — auf Selidor sprach ich mit einem Drachen, einem Nachkommen von Orm, und er sagte mir, was ich auf meiner Brust trug.

Er fand es natürlich komisch, daß ich es nicht wußte. Drachen finden uns meistens komisch. Aber an Erreth-Akbe erinnern sie sich. Von ihm sprechen sie, als sei er ein Drache gewesen und kein Mensch.

Als ich zu den Innenländern zurückkehrte, ging ich nach Havnor. Ich bin auf Gont geboren, nicht allzu weit westlich von Kargad, und ich war viel herumgewandert, doch nach Havnor war ich noch nie gekommen. Es war Zeit, daß ich dort hinging. Ich sah die weißen Türme, und ich sprach mit den bedeutenden Männern dort, den Kaufleuten, Prinzen und Fürsten der alten Länder. Ich erzählte ihnen, was ich besaß, und ich erbot mich, wenn sie es wünschten, zu den Gräbern von Atuan zu gehen, um die verlorene Rune wiederzufinden, den Schlüssel zum Frieden. Denn wir haben Frieden bitter nötig auf dieser Welt, bitter nötig. Sie rühmten und priesen mich, und einer von ihnen gab mir sogar Geld, um mein Boot für die Reise auszustatten. Und ich lernte die Sprache, die hier gesprochen wird, und kam nach Atuan.«

Er schwieg und blickte in die Schatten vor sich.

»Erkannten dich die Leute in unseren Städten nicht? Merkten sie nicht, daß du aus dem Westen bist, an deiner Hautfarbe und an deiner Sprache?«

»Oh, es ist nicht schwer, Leute hinters Licht zu führen«, sagte er geistesabwesend, »man muß sich nur mit Hilfe von Illusionszaubereien etwas ändern, und niemand, nur ein anderer Magier, kann dich durchschauen. Und hier auf Kargad gibt es ja keine Zauberer und keine Magier. Und das ist auch eine seltsame Sache. Vor langer Zeit schon wurden alle Zauberer von hier verbannt, und die Kunst der Magie wurde verboten, und heute glaubt fast keiner mehr daran.«

»Mich haben sie gelehrt, nicht daran zu glauben. Magie widerspricht den Lehren der Priesterkönige. Aber ich weiß, daß dich nur Hexerei zu den Gräbern und durch die Tür zwischen den roten Felsen gebracht hat.«

»Nicht nur Hexerei, sondern auch guter Rat. Wir schreiben mehr als ihr, glaube ich. Kannst du lesen?«

»Nein, das ist eine der Schwarzen Künste.«

Er nickte. »Aber es ist eine sehr nützliche«, sagte er. »Ein längst vergessener, erfolgloser Dieb hinterließ gewisse Beschreibungen der Gräber von Atuan und Anweisungen, wie man hineingelangt, wenn man die großen Zauberformeln des Öffnens wirken kann. Das fand ich alles in einem Buch in der Schatzkammer eines Prinzen von Havnor. Er ließ es mich lesen. So kam ich bis an das große, unterirdische Gewölbe …«

»Das Untergrab.«

»Der Dieb, der das aufgeschrieben hatte, glaubte, daß der Schatz sich dort im Untergrab befände. Deswegen habe ich dort gesucht, aber ich hatte das Gefühl, daß er tiefer im Labyrinth versteckt war. Ich kannte den Eingang zum Labyrinth, und als ich dich sah, ging ich dorthin, um mich zu verstecken. Das war natürlich ein Fehler. Die Namenlosen hatten mich bereits in ihrer Gewalt, und ich konnte nicht mehr klar denken. Und seither bin ich nur noch schwächer und dümmer geworden. Man darf ihnen nie nachgeben, man muß sich immer wehren, man muß stark und seiner selbst sicher sein. Das habe ich schon vor langer Zeit gelernt. Aber hier, wo sie so mächtig sind, fällt es einem schwer. Es sind keine Götter, Tenar. Aber sie sind stärker als jeder Mensch.«

Beide schwiegen lange.

»Was hast du noch in den Truhen gefunden?« fragte sie teilnahmslos.

»Plunder; Gold, Juwelen, Kronen, Schwerter; Zeug, das keinem, der jetzt lebt, gehört … Tenar, erzähl mir, wie du zur Priesterin der Gräber gewählt wurdest!«

»Wenn die Erste Priesterin stirbt, dann suchen sie in allen Ländern nach einem kleinen Mädchen, das in der gleichen Nacht geboren wurde. Sie finden immer eines, denn es ist die wiedergeborene Priesterin. Wenn das Kind fünf Jahre alt ist, bringen sie es hierher, und wenn es sechs Jahre alt ist, wird es den Namenlosen übergeben, und seine Seele wird verzehrt. Dann gehört es ihnen, und seit Urzeiten hat es ihnen gehört. Es hat keinen Namen.«

»Glaubst du das?«

»Ich habe immer daran geglaubt.«

»Glaubst du es jetzt noch?«

Sie antwortete nicht.

Wiederum breitete sich das dunkle Schweigen zwischen ihnen aus. Eine geraume Zeit verstrich, dann sagte sie: »Erzähl mir … erzähl mir von den Drachen im Westen!«

»Tenar, was willst du jetzt tun? Wir können nicht hier sitzen und uns Geschichten erzählen, bis die Kerze niedergebrannt ist und die Dunkelheit wiederkommt.«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe Angst.« Sie saß aufrecht und preßte ihre Hände zusammen. Sie sprach laut, als hätte sie Schmerzen. Sie sagte: »Ich habe Angst vor der Dunkelheit.«

Er antwortete leise: »Du mußt dich entscheiden. Entweder du verläßt mich, verschließt die Tür, gehst zu deinem Altar und übergibst mich deinen Gebietern; dann gehst du zu Kossil und schließt Frieden mit ihr — und das ist das Ende der Geschichte — oder du schließt die Tür auf und gehst durch die Tür mit mir. Und das ist der Anfang der Geschichte. Du mußt dich entschließen, entweder Arha oder Tenar zu sein. — Du kannst nicht beides sein.«

Die tiefe Stimme klang warm und fest. Sie blickte durch die Schatten in sein Gesicht, ein hartes, vernarbtes Gesicht, das keine Grausamkeit, keinen Arg verbarg.

»Wenn ich den Dienst der Namenlosen verlasse, werden sie mich töten. Wenn ich diesen Ort verlasse, werde ich sterben.«

»Du wirst nicht sterben. Arha wird sterben.«

»Ich kann nicht …«

»Um wiedergeboren zu werden, muß man den Tod erleiden, Tenar. Es ist nicht so schwer, wie man es sich vorstellt.«

»Sie wird uns niemals herauslassen. Niemals.«

»Vielleicht nicht. Es lohnt sich, den Versuch zu wagen. Du hast das Wissen, ich habe meine Künste, und wir beide zusammen haben …« Er hielt inne.

»Wir haben den Ring von Erreth-Akbe.«

»Ja, den auch. Aber ich dachte noch an etwas anderes, was wir allein haben. Nennen wir es Vertrauen — das ist einer der Namen dafür. Es ist etwas ganz Großes. Allein ist jeder von uns schwach, doch was wir gemeinsam haben, macht uns stark, stärker als die Mächte der Finsternis.« Seine Augen leuchteten hell und klar in seinem vernarbten Gesicht. »Hör mir zu, Tenar! Ich kam als Dieb, als Feind, gewaffnet gegen dich, doch du hattest Mitleid mit mir, du hast mir vertraut. Und als ich dein Gesicht zum ersten Mal, ganz kurz nur, dort unten in der Höhle unter den Gräbern sah, seine Schönheit in der Dunkelheit, habe auch ich dir vertraut. Du hast dein Vertrauen bewiesen. Ich habe dir nichts dafür gegeben. Ich gebe dir jetzt alles, was ich zu geben vermag. Mein wahrer Name ist Ged. Und das gehört dir.« Er war aufgestanden und streckte ihr einen Halbring aus graviertem, durchbrochenem Silber entgegen: »Möge der Ring wieder geschlossen werden«, sagte er.

Sie nahm ihn aus seiner Hand entgegen. Sie zog die Silberkette, an der die andere Hälfte des Ringes hing, über den Kopf und nahm ihn ab. Sie legte die beiden Stücke so auf ihre Handfläche, daß die zerbrochenen Enden sich berührten, und der Ring sah geschlossen aus.

Sie hob ihr Gesicht nicht hoch.

»Ich werde mit dir gehen«, sagte sie.

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