4 TRÄUME UND GESCHICHTEN

Arha war ein paar Tage lang krank. Man behandelte sie, als ob sie Fieber hätte. Sie lag im Bett oder saß in der warmen Herbstsonne auf der Veranda des Kleinhauses und blickte hinüber auf die Berge im Westen. Sie fühlte sich schwach und kam sich sehr dumm vor. Sie mußte immer wieder an das gleiche denken: Sie schämte sich, daß sie in Ohnmacht gefallen war. Es war kein Wachtposten an der Gräbermauer aufgestellt worden, und sie wußte, daß sie es nie mehr wagen würde, Kossil darum zu bitten. Es wäre ihr am liebsten gewesen, wenn sie Kossil nie wieder hätte sehen müssen, nie mehr. Denn sie schämte sich, daß sie in Ohnmacht gefallen war.

Oftmals, wenn sie in der warmen Sonne saß, malte sie sich aus, wie sie sich das nächste Mal dort unten in der Dunkelheit unter dem Hügel verhalten würde. Oft stellte sie sich vor, welche Todesart sie für die nächste Gruppe Gefangener anordnen würde, eine ausgefallenere ganz gewiß, eine, die dem Ritual des Leeren Thrones mehr entsprechen würde.

In jeder Nacht wachte sie in der Dunkelheit auf und hörte sich schreien: »Sie sind noch nicht tot! Sie sterben noch!«

Sie hatte viele Träume. In einem Traum mußte sie Essen kochen, Riesentöpfe voll schmackhaftem Brei, die sie in ein dunkles Loch im Boden schüttete. In einem anderen mußte sie einen Behälter voll Wasser, es war ein großes Messingbecken voll, durch die Dunkelheit zu jemandem hintragen, der durstig war. Aber sie konnte diesen Menschen nicht erreichen. Sie wachte auf und war selbst durstig, aber sie stand nicht auf, um zu trinken. Sie blieb auf ihrem Bett in dem Raum ohne Fenster liegen. Ihre Augen waren weit offen.

Eines Morgens kam Penthe, um sie zu besuchen. Arha sah sie von der Veranda des Kleinhauses aus näher kommen, mit sorgloser, unbekümmerter Miene, als habe sie der Zufall gerade hierhergeführt. Hätte Arha sie nichtangesprochen, so wäre sie die Stufen nicht heraufgestiegen. Doch Arha war einsam und redete sie an.

Penthe sank auf ein Knie nieder vor Arha, wie es alle vor der einen Priesterin tun mußten, und ließ sich dann auf eine Stufe unterhalb von Arha plumpsen. »Puhhh!« Sie stieß einen geräuschvollen Seufzer aus. Inzwischen war sie ziemlich groß und rundlich geworden, und wenn sie sich viel bewegte, wurde sie immer so rötlich wie eine Kirsche. Auch jetzt war sie ganz rot vom Laufen.

»Ich habe gehört, daß du krank bist. Ich habe dir ein paar Äpfel aufgehoben.« Sie zog plötzlich ein Binsennetz mit einem halben Dutzend schöner gelber Äpfel unter ihrem weiten schwarzen Umhang hervor. Sie war inzwischen in den Dienst des Gottkönigs aufgenommen worden und diente in seinem Tempel unter Kossil, aber sie war noch keine Priesterin und mußte noch immer Unterricht nehmen und Arbeiten mit den anderen Novizen zusammen verrichten. »Poppie und ich mußten dieses Jahr die Äpfel sortieren, und ich habe die allerbesten aufgehoben. Die guten tun sie ja immer trocknen — natürlich weil sie sich am besten halten. Aber mir tut es immer leid um sie. Sind die nicht schön?«

Arha strich über die hellgoldene, seidige Haut der Äpfel und schaute auf die Ästchen, an denen sich noch ein paar braune Blätter festhielten: »Doch, die sind schön.«

»Iß doch einen!« sagte Penthe.

»Jetzt nicht. Iß du einen.«

Penthe suchte höflicherweise den kleinsten aus und aß ihn in nicht mehr als zehn gewandten, saftigen, schmackhaften Bissen.

»Ich könnte den ganzen Tag essen«, sagte sie. »Ich werde nie satt. Ich wäre lieber Köchin als Priesterin geworden. Ich würde besser kochen als die knickerige Nabbath, und außerdem könnte ich dann die Töpfe auslecken … Oh, hast du gehört, was Munith passiert ist? Sie hat die großen Messingbehälter glänzend reiben müssen, weißt du, die, in denen sie das Rosenöl aufbewahren, die hohen, schmalen Dinger mit den Pfropfen oben. Munith dachte, daß man die auch innen sauber reiben müßte, und steckte ihre Hand mit dem Lumpen hinein und hat sie nicht mehr herausgebracht. Sie hat alles mögliche versucht, aber ihr Gelenk wurde nur ganz rot und geschwollen. Sie war wirklich festgeklemmt. Und sie ist durch den ganzen Saal galoppiert und hat geschrien: ›Ich krieg's nicht runter! Ich krieg's nicht runter!‹ Und Punti hört ja nicht mehr gut, dachte, daß Feuer ausgebrochen sei, und brüllte nach den anderen Wärtern, daß sie kommen und die Novizen retten sollten. Uahto hatte gerade gemolken. Sie kam aus dem Stall gelaufen und ließ die Tür offenstehen, so daß alle Ziegen herausrannten und im Hof auf Punti und die anderen Wärter mit den kleinen Mädchen stießen, und Munith war ganz hysterisch und schwang ihren Arm mit der Messingflasche am Ende herum, und alle rannten und schrien. Dann kam Kossil vom Tempel heruntergelaufen und fragte: ›Was ist los? Was ist los?‹«

Penthes rundes helles Gesicht verzog sich und nahm einen unwirschen, finsteren Ausdruck an, ganz anders als der alte Ausdruck, der gewöhnlich auf Kossils Gesicht lag, aber doch irgendwie an Kossil erinnernd, so daß Arha unbeherrscht losprustete mit erschrecktem Lachen.

»›Was ist los? Was geht hier vor sich?‹« fragte Kossil. Und dann — dann kam die braune Ziege und ging auf sie los …« Penthe konnte sich nicht mehr halten und lachte, bis ihr die Tränen in die Augen traten, »und Munith ist mit der F-F-Flasche auf die Z-Z-Ziege losgegangen …«

Beide Mädchen hielten ihre Knie umklammert und schüttelten sich vor Lachen.

»Und Kossil drehte sich um und schrie: ›Was ist los? Was ist los?‹ zu-zu-zu der Ziege …« Das Ende der Geschichte wurde vom Lachen erstickt. Penthe wischte endlich über ihre Augen und Nase und biß geistesabwesend in einen anderen Apfel.

Das heftige Lachen hinterließ bei Arha ein Zittern. Sie beruhigte sich etwas, und nach einer Weile fragte sie: »Wie bist du eigentlich hierhergekommen, Penthe?«

»Ich war das sechste Mädchen, und mein Vater und meine Mutter konnten nicht so viele aufziehen und verheiraten. Als ich sieben Jahre alt war, brachten sie mich zum Tempel des Gottkönigs und haben mich ihmgeweiht. Das war in Ossawa, aber ich nehme an, daß die dort zu viele Novizen hatten, denn sie haben mich bald darauf hierhergeschickt. Vielleicht haben sie auch gedacht, daß ich eine besonders gute Priesterin abgäbe, aber darin haben sie sich getäuscht!« Penthe biß fröhlich in ihren Apfel und versuchte, ein reumütiges Gesicht zu machen.

»Wärst du lieber nicht Priesterin geworden?«

»Wäre ich lieber …?? Natürlich! Ich hätte lieber einen Schweinehirten geheiratet und in einem Graben gehaust. Alles, nur nicht hierherkommen müssen und alle Tage meines Lebens lebendig begraben zu sein unter Weibern, in einer Wüste, in der alles abstirbt und in die nie jemand kommt! Aber was nutzt es, was ich wünsche. Jetzt bin ich geweiht und sitze hier fest. Aber in meinem nächsten Leben, das kann ich dir sagen, in meinem nächsten Leben werde ich Tanzmädchen in Awabad! Das habe ich verdient!«

Arha blickte sie unverwandt aus dunklen Augen an. Das verstand sie nicht. Es kam ihr vor, als hätte sie Penthe noch nie zuvor gesehen, als wäre es das erste Mal, daß sie Penthe erblickte, rund, voll Leben und Saft, wie einer von ihren goldenen Äpfeln, die so schön aussahen.

»Bedeutet dir der Tempel denn gar nichts?« fragte sie ziemlich brüsk.

Penthe, die gewöhnlich immer nachgab und leicht beeinflußbar war, ließ sich dieses Mal nicht aus dem Fahrwasser bringen. »Oh, ich weiß, daß deine Gebieter dir viel bedeuten«, sagte sie mit soviel Gleichgültigkeit in der Stimme, daß Arha schockiert war. »Das ist irgendwie verständlich, weil du ihre eigentlichste Dienerin bist. Du bist nicht so einfach geweiht worden, du bist extra dafür geboren worden. Aber guck mich an! Soll ich wirklich so viel Ehrfurcht und so weiter für den Gottkönig aufbringen? Der ist schließlich auch bloß ein Mensch, selbst wenn er in einem Palast in Awabad wohnt, der fünf Meilen rundherum Golddächer hat. Er ist fast fünfzig Jahre alt und hat eine Glatze. Das kannst du auf jedem Denkmal sehen. Und ich wette, daß er seine Zehennägel genauso schneiden muß wie jeder andere. Natürlich ist er ein Gott, ich weiß. Aber ich glaube, er wird noch viel göttlicher werden, wenn er einmal tot ist.«

Arha stimmte mit Penthe überein, denn insgeheim war sie auch zu der Überzeugung gelangt, daß die göttlichen Herrscher von Kargad Emporkömmlinge waren, falsche Götter, welche die Gottesverehrung, die den ewigen Mächten zustand, an sich gerissen hatten. Aber hinter Penthes Worten lag etwas, das ganz neu für sie war, wovor sie sich fürchtete und womit sie nicht übereinstimmen konnte. Es war ihr nie zu Bewußtsein gekommen, wie verschieden Leute sein konnten, wie verschieden sie dem Leben gegenüberstehen konnten. Es kam ihr vor, als sähe sie einen ganz neuen Planeten, der riesig und dicht bevölkert direkt vor ihrem Fenster hing, eine fremde Welt, in der Götter keine Rolle spielten. Die Kraft von Penthes Unglauben hatte sie erschüttert, und in ihrer Angst schlug sie zurück.

»Das stimmt. Meine Gebieter sind schon lange, lange tot, und es sind nie Menschen gewesen … Weißt du was, Penthe? Ich könnte dich für den Dienst der Gräber anfordern.« Sie sprach freundlich, als böte sie ihrer Freundin eine bessere Chance an.

Die Röte verschwand aus Penthes Wangen.

»Ja«, sagte sie, »das könntest du. Aber ich … ich würde mich nicht sehr dafür eignen.«

»Warum nicht?«

»Ich habe Angst im Dunkeln«, sagte Penthe leise.

Arha rümpfte die Nase und gab einen kleinen verächtlichen Laut von sich, aber sie war zufrieden. Sie hatte ins Schwarze getroffen. Penthe glaubte nicht an Götter, aber sie hatte vor den namenlosen Mächten der Dunkelheit Angst — wie jede andere sterbliche Seele.

»Ich würde das nur tun, wenn du es wünschtest«, sagte Arha.

Sie schwiegen beide eine lange Weile.

»Du wirst immer mehr wie Thar«, sagte Penthe auf ihre weiche, träumerische Art. »Gott sei Dank wirst du nicht wie Kossil. Aber du bist so stark. Ich wollte, ich wäre auch so stark. Ich esse bloß gern …«

»Nimm noch einen!« sagte Arha überlegen und belustigt. Penthe nagte langsam und bedächtig ihren dritten Apfel ab bis aufs Kerngehäuse.

Die Anforderungen, die das endlose Ritual der Stätte an sie stellte, zwangen Arha ein paar Tage später aus ihrer Abgeschlossenheit heraus. Zwillingsgeißlein waren außerhalb der regulären Zeit geboren worden und wurden, wie es die Sitte verlangte, den Zwillingsgöttern als Opfer dargebracht. Es war eine wichtige Zeremonie, bei der die Eine Priesterin nicht fehlen durfte. Dann kam die Nacht, in der der Mond nicht sichtbar war, und die Zeremonie der Dunkelheit mußte vor dem Leeren Thron abgehalten werden. Arha sog die betäubenden Düfte von Kräutern ein, die in großen Bronzeschalen vor dem Thron verbrannt wurden, und sie tanzte, in Schwarz gekleidet, allein vor dem Thron. Sie tanzte für die unsichtbaren Geister der Toten und der Ungeborenen, und während sie tanzte, drängten sich die Geister um sie, folgten den Drehungen und Wendungen ihrer Füße und den langsamen, sicheren Gesten ihrer Arme. Sie sang die Lieder, deren Worte kein Mensch mehr verstand, die sie, vor langer Zeit, Silbe auf Silbe, von Thar hatte lernen müssen. Ein Chor von Priesterinnen, der im düsteren Licht hinter der Doppelreihe von Säulen verborgen war, wiederholte, wie ein Echo, die seltsamen Worte, und die Luft in dem riesigen baufälligen Saal war erfüllt vom Gemurmel vieler Stimmen, so als ob die unzähligen Geister die Gesänge unaufhörlich wiederholten.

Der Gottkönig von Awabad sandte keine Gefangenen mehr zur Stätte, und Arha träumte immer seltener von den drei Männern im dunklen Verlies, die jetzt schon lange tot und in flachen Gräbern in dem Riesengewölbe unter den Steinen begraben waren.

Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, um in diese Höhle zurückzukehren. Sie mußte zurückkehren: die Priesterin der Gräber mußte in der Lage sein, ihr eigenes Reich ohne Furcht zu betreten; sie mußte sich auskennen.

Das erste Mal, als sie durch die Falltür stieg, fiel es ihr am schwersten: aber es war nicht ganz so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Sie hatte sich geistig so gut darauf vorbereitet, sie war so fest entschlossen, allein hinunterzusteigen und nicht die Nerven zu verlieren, daß sie, als es soweit war, fast ein bißchen Enttäuschung empfand, weil alles so leicht vor sich ging. Es gab dort Gräber, aber sie konnte sie nicht sehen, nichts konnte sie sehen. Es war ganz finster, es war totenstill. Und das war alles.

Tag für Tag ging sie dort hinunter, und immer betrat sie das unterirdische Reich durch die Falltür in dem Raum hinter dem Thron, bis sie den Umfang des Gewölbes mit den seltsam verzierten Wänden gut kannte— so gut man eben etwas kennen konnte, das man nicht sah. Sie blieb immer in Reichweite der Wände, denn wenn sie sich in die Leere des Raumes gewagt hätte, hätte sie leicht die Richtung verlieren können, und wenn sie dann wieder eine Wand erreicht hätte, wäre es ihr unmöglich gewesen, festzustellen, wo sie war. Denn das hatte sie schon beim ersten Mal gelernt: das Wichtigste war, im Dunkeln zu wissen, welche Ecken und Öffnungen man passiert hatte und welche noch vor einem lagen. Und das konnte man nur wissen, wenn man zählte, denn den tastenden Händen fühlte sich alles gleich an. Arhas Gedächtnis war gut geschult, und es fiel ihr nicht schwer, ihren Weg auf diese seltsame Art, durch Tasten und Zählen anstatt durch Sehen und Erkennen, zu finden. Bald kannte sie alle Gänge, die vom Untergrab ausgingen, auch die Irrgänge, die unter dem Thronsaal und dem Hügel lagen, kannte sie. Aber einen Gang betrat sie nie: den zweiten, der nach dem Eingang zwischen den roten Felsen kam, aus dem sie, wenn sie ihn aus Versehen betrat, vielleicht nie mehr herausfinden würde. Aber ihr Verlangen, ihn zu betreten, und das Labyrinth kennenzulernen, nahm ständig zu. Sie widerstand ihm jedoch, bis sie alles darüber erfahren hatte, was davon bekannt war. Thar wußte wenig darüber, sie kannte die Namen einiger Räume und auch die Anweisungen, wie man zu den Räumen gelangen konnte. Diese sagte sie Arha auf, aber sie zeichnete nie ein Bild in den Staub oder machte eine Zeichnung in die Luft; sie selbst war diesen Anweisungen noch nie gefolgt, denn sie hatte das Labyrinth noch niemals betreten. Aber wenn Arha fragte: »Wie geht man von der offenstehenden, eisernen Tür in den Bemalten Raum?« oder »Welcher Weg führt vom Knochensaal zum Tunnel beim Fluß?«— dann schwieg Thar erst eine Weile, aber dann begann sie die seltsamen Anweisungen aufzusagen, die sie vor so langer Zeit von der Arha-Die-Gewesen-War gelernt hatte: soundsoviele Kreuzungen passieren, soundsoviele Wendungen nach links und so weiter, und so weiter. All dies lernte Arha auswendig, oft beim ersten Mal, wie es Thar gelernt hatte. Wenn sie nachts in ihrem Bett lag, wiederholte sie das alles und versuchte, sich die verschiedenen Orte, die Räume und die Gänge vorzustellen.

Thar zeigte Arha die vielen Gucklöcher, durch die man hinunter schauen konnte ins Labyrinth, und die es in jedem Gebäude und Tempel der Stätte gab, selbst unter den Felsen draußen waren sie zu finden. Das Spinngewebe der unterirdischen Gänge zog sich überall unter der Stätte dahin und erstreckte sich selbst jenseits der Mauern. Die Gänge verliefen meilenweit in der Dunkelheit. Kein Mensch außer ihr, den zwei Hohepriesterinnen und ihren eigensten Dienern, den Eunuchen Manan, Uahto und Duby, wußten überhaupt, daß ein Labyrinth existierte und unter jedem ihrer Schritte lag, den sie hier oben machten. Unter den anderen Bewohnern der Stätte gingen ungenaue Gerüchte um, alle wußten zwar, daß es Höhlen oder irgendwelche Gewölbe unter den Gräbern gab, aber niemand zeigte großes Interesse an Dingen, die mit den Namenlosen zusammenhingen, und an den Orten, die ihnen geweiht waren. Vielleicht glaubten sie, daß es besser sei, wenig darüber zu wissen. Arha war natürlich sehr neugierig, und da sie wußte, daß es Gucklöcher in das Labyrinth gab, hatte sie nach ihnen gesucht, doch sie waren so gut verborgen, daß sie kein einziges gefunden hatte. Sie befanden sich zwischen den Steinplatten des Bodens, auf dem Wüstengrund, selbst in ihrem eigenen Haus, und sie fand es erst, nachdem Thar sie darauf aufmerksam gemacht hatte.

In einer Nacht zu Beginn des Frühjahrs nahm sie eine Kerzenlaterne und ging hinunter, ohne sie anzuzünden. Sie ging durch das Untergrab bis zur zweiten Öffnung links am Gang, der von der Tür zwischen den roten Felsen hineinführte.

Sie machte dreißig Schritte in die Dunkelheit hinein und trat dann durch eine Tür, deren Eisenrahmen sie in der Wand ertastete: Hier war die Grenze ihrer bisherigen Expeditionen, weiter war sie noch nie gekommen. Jetzt ging sie durch die eiserne Tür in den Gang hinein, und als er allmählich nach rechts abbog, zündete sie ihre Kerze an und schaute sich um.

Hier war es gestattet, Licht zu machen. Sie hatte das Untergrab verlassen. Sie befand sich jetzt an einem weniger heiligen, doch vielleicht fürchterlicheren Ort: sie war im Labyrinth.

Nackte rauhe Felswände wölbten sich über ihr und umgaben sie in dem kleinen Lichtkreis. Es roch nach Verwesung. Vor und hinter ihr gähnte der schwarze Gang.

Alle Gänge, die sie überquerte und durchschritt, waren gleich. Sie paßte sorgfältig auf und zählte alle Biegungen und Öffnungen, während sie sich Thars Anweisungen laut vorsagte, obwohl sie diese genau kannte. Sie konnte es sich nicht leisten, sich hier zu verirren. Im Untergrab und in den kleinen Gängen darum herum würden Kossil oder Thar oder auch Manan sie wiederfinden. Manan hatte sie ein paar Mal mit hinuntergenommen. Aber hier war noch keiner vor ihr gewesen: sie war die einzige. Es würde ihr wenig nutzen, wenn die anderen im Untergrab nach ihr rufen würden und sie eine halbe Meile weiter weg im Schneckengewinde irgendeines Gangs steckte. Sie stellte sich vor, wie sie das Echo ihrer Stimmen hörte, das die Gänge entlang hallte, wie sie versuchen würde, sie zu erreichen, aber, völlig verloren, würde sie sich nur noch weiter von ihnen entfernen. Sie konnte sich das so deutlich vorstellen, daß sie innehielt und sich einbildete, eine Stimme zu vernehmen, die nach ihr rief. Aber alles war still. Sie würde sich nicht verirren. Sie paßte scharf auf. Hier war ihr Reich, ihr eigenstes Gebiet. Die Mächte der Dunkelheit, die Namenlosen, würden ihre Schritte leiten, wie sie die Schritte jedes anderen Sterblichen, der sich ins Labyrinth wagte, irreführen würden.

Das erste Mal ging sie nicht weit, aber doch weit genug, um dieses seltsame, bittere und zugleich angenehme Gefühl der Einsamkeit und der Unabhängigkeit zu verspüren, das in ihr stark wurde, das sie immer wieder zurücktrieb und doch jedes Mal etwas weiter zu gehen veranlaßte. Sie erreichte den Bemalten Raum und die Sechs Wege, folgte dem langen Außentunnel und drang durch das Gewirr der Gänge, die in den Knochenraum führten.

»Wann wurde das Labyrinth gegraben?« fragte sie Thar, und die hagere, strenge Priesterin antwortete: »Herrin, ich weiß nicht. Niemand weiß es.«

»Warum wurde es angelegt?«

»Damit die Schätze der Gräber versteckt, und diejenigen, die versuchten, die Schätze zu stehlen, bestraft werden konnten.«

»Alle Schätze, die ich gesehen habe, sind in den Räumen hinter dem Thron und in den Kellern darunter. Was ist im Labyrinth?«

»Ein viel größerer und viel älterer Schatz. Will meine Herrin ihn anschauen?«

»Ja.«

»Nur sie kann dort eintreten, wo sich die Schätze der Gräber befinden. Ihre Diener können das Labyrinth betreten, aber nicht die Schatzkammer. Selbst Manan würde den Zorn der dunklen Mächte erwecken und das Labyrinth nicht wieder lebendig verlassen. Dorthin muß meine Herrin immer allein gehen. Ich weiß, wo sich der große Schatz befindet. Vor fünfzehn Jahren, bevor sie gestorben ist, hat mir meine Herrin den Weg beschrieben, damit ich ihn im Gedächtnis behalte und ihn ihr wieder vorsage, wenn sie zurückkehrt. Ich kann den Weg beschreiben, der vom Bemalten Raum ausgeht, und der Schlüssel zum Schatz ist dieser da, der kleine silberne, mit dem Drachen am Griff. Aber meine Herrin muß allein gehen.«

»Wie erreicht man die Schatzkammer?«

Thar beschrieb ihr den Weg, und sie erinnerte sich wieder, wie sie sich an alles erinnerte, das man ihr sagte. Aber sie ging nicht zu dem großen Schatz der Gräber. Etwas hielt sie zurück. Irgendwie hatte sie das Gefühl, als sei sie noch nicht bereit dazu, als fehle ihrem Wissen noch etwas. Vielleicht wollte sie auch nur etwas in Reserve behalten, etwas, worauf sie sich freuen konnte, das die endlosen, unterirdischen Gänge, die im Dunkel lagen und immer nur an eine leere Wand oder in eine verstaubte leere Kammer führten, in ein interessanteres Licht rückten. Sie beschloß, noch eine Weile zu warten, bevor sie den Schatz aufsuchte.

Und zudem — hatte sie nicht alles schon einmal gesehen?

Es berührte sie immer noch seltsam, wenn Thar oder Kossil von Dingen sprachen, die sie angeblich gesehen oder gesagt hatte, bevor sie starb. Sie wußte, daß sie wirklich gestorben war und zur Stunde ihres Todes in einem anderen Körper wiedergeboren wurde: dies hatte sich nicht nur einmal, vor fünfzehn Jahren, zugetragen, sondern auch vor fünfzig Jahren und davor und wieder davor, durch die Generationen hindurch bis zum Beginn der Zeitrechnung, bis zu der Zeit, als das Labyrinth gebaut und die Steine errichtet worden waren und die Erste Priesterin der Namenlosen an dieser Stätte waltete und vor dem Leeren Thron tanzte. Alle diese Leben waren im Grunde nur ein einziges Leben, und sie war ein Teil davon. Sie war die Erste Priesterin. Alle Menschen werden wiedergeboren, aber nur sie, Arha, wird immer wieder als die gleiche wiedergeboren. Hunderte von Malen hatte sie die Gänge und Windungen des Labyrinths kennengelernt und war zu dem verborgenen Raum gelangt.

Manchmal kam es ihr vor, als erinnere sie sich daran. Die dunklen Stätten unter dem Hügel waren ihr so vertraut, als seien sie nicht nur ihr Reich, sondern auch ihr Heim. Wenn sie die betäubenden Dämpfe der Kräuter einatmete und in der dunklen, mondlosen Nacht tanzte, fühlte sie, wie sie immer schwereloser wurde, wie ihr Körper von einem anderen Willen geleitet wurde und sich bewegte; sie tanzte dann durch die Jahrhunderte, barfuß, schwarzgekleidet — und sie wußte, daß dieser Tanz nie ein Ende genommen hatte. Doch es berührte sie immer wieder seltsam, wenn Thar sagte: »Bevor meine Herrin starb, sagte sie mir …«

Einmal hatte sie gefragt: »Wer waren diese Männer, die kamen, um die Gräber zu berauben? War es je einem gelungen?« Die Vorstellung von Raub faszinierte sie, aber es kam ihr gleichzeitig auch unwahrscheinlich vor. Wie konnte es einem Menschen gelingen, unbemerkt an die Stätte zu gelangen? Pilger gab es nur sehr wenige, noch weniger als Gefangene. Ab und zu wurden neue Novizen oder Sklaven von den weniger bekannten Tempeln in den vier Landen angefordert, oder ein paar Leute kamen und brachten Gold oder seltene Spezereien als Gabe für einen der Tempel. Sonst kam niemand. Nie kam jemand aus Zufall hierher oder zur Besichtigung oder um etwas zu kaufen und zu verkaufen oder um zu stehlen. Leute kamen nur auf Bestellung hierher. Arha wußte nicht einmal, wie weit es bis zur nächsten Stadt war, ob es zehn Meilen waren oder mehr; und die nächste Stadt war zudem noch klein. Die Verteidigung und Bewachung der Stätte bestand in ihrer geographischen Lage, in ihrer Isolation, in ihrer Leere. Sollte irgend jemand versuchen, ungesehen die Wüste, die sie ringsum umgab, zu durchqueren, so waren seine Chancen, nicht gesehen zu werden, ungefähr so groß wie die eines schwarzen Schafes, das sich auf ein Schneefeld wagt.

Arha war mit Thar und Kossil zusammen, was immer häufiger geschah, wenn sie sich nicht im Kleinhaus oder unter dem Hügel aufhielt. Es war ein kalter Aprilabend, draußen stürmte es. Sie saßen in Kossils Zimmer, einem kleinen Raum hinter dem Tempel des Gottkönigs, um ein winziges Feuer aus getrocknetem Salbeikraut herum. Vor der Tür, im Gang, saßen Manan und Duby und spielten ein Spiel mit Stäben und Spielmarken, bei dem man ein Bündel Stäbe hochwirft und versucht, so viel Stäbe wie möglich mit dem Handrücken aufzufangen. Manan und Arha spielten es ab und zu heimlich, wenn sie sich allein im Innenhof des Kleinhauses befanden. Das Rascheln der Stäbe, das Murmeln der Stimmen, die Triumph oder Enttäuschung ausdrückten, und das leise Prasseln des Feuers waren die einzigen Geräusche, die man vernehmen konnte, wenn die drei Priesterinnen schwiegen. Die tiefe Stille der Wüstennacht lag überall außerhalb der Mauern. Böige Winde brachten hin und wieder kurze, heftige Regenschauer.

»Viele haben versucht, die Gräber zu berauben«, sagte Thar. »Aber das ist nun schon lange her, und es ist keinem gelungen.« Obwohl sie von Natur aus schweigsam war, so war sie doch gelegentlich bereit, eine Geschichte zu erzählen, besonders, wenn sie diese mit einer Belehrung für Arha verknüpfen konnte. An jenem Abend sah es so aus, als würde eine Geschichte zum Besten gegeben werden.

»Wie konnten sie es wagen?«

»Sie haben es gewagt«, sagte Kossil. »Hexenmeister, Zauberer der Innenländer waren es. Das trug sich zu, noch bevor der Gottkönig über das Kargadreich herrschte, damals waren wir noch nicht so mächtig. Die Zauberer kamen vom Westen nach Karego-At und Atuan gesegelt, plünderten die Städte an der Küste und verwüsteten die Bauernhöfe, selbst bis in die heilige Stadt Awabad sind sie gedrungen. Sie behaupteten, daß sie nur gekommen seien, um Drachen zu töten, aber in Wirklichkeit blieben sie hier, um Städte und Tempel auszuplündern.«

»Und ihre großen Helden kamen zu uns, um die Schärfe ihrer Schwerter zu erproben«, sagte Thar, »und um ihre ruchlosen Zaubersprüche zu wirken. Einer von ihnen, ein mächtiger Zauberer und ein Drachenfürst, der größte unter ihnen, ließ hier sein Leben. Das trug sich vor langer, langer Zeit zu, aber die Geschichte lebt weiter — und nicht nur hier. Der Name des Zauberers war Erreth-Akbe, und er war ein König und ein Zauberer des Westens. Er kam hierher, und in Awabad verbündete er sich mit einigen rebellierenden Fürsten des Landes, und dann kam es zu einem Kampf mit dem Hohepriester des höchsten Tempels der Zwillingsgötter. Sie haben lange miteinander gekämpft, Zauberkraft gegen Götterblitze, und der ganze Tempel und viel ringsum wurde zerstört. Aber endlich zerbrach der Hohepriester den Zauberstab von Erreth-Akbe und das Amulett, das ihm Macht verlieh, und damit hatte er ihn besiegt. Aber er entfloh aus der Stadt und aus Kargad und flüchtete über die Erdsee, bis er in den fernen Westen kam; dort wurde er von einem Drachen getötet, denn seine Macht war dahin. Von diesem Tag an nimmt die Macht und Stärke der Innenländer ständig ab. Der Hohepriester hieß Intathin, er war der erste aus dem Hause Tarb, das, in Erfüllung der Prophezeiungen und nach Ablauf der Jahrhunderte, die Priesterkönige von Karego-At hervorgebracht hat, von denen die Gottkönige des Kargadreiches abstammen. Man kann also sagen, daß beginnend mit Intathin die Größe und Macht des Kargadreiches gewachsen ist. Diejenigen, die gekommen sind, um die Gräber zu plündern, das waren Zauberer, die immer und immer wieder versuchten, das zerbrochene Amulett von Erreth-Akbe zurückzugewinnen. Aber es ist noch immer hier, wo es vom Hohepriester zur Aufbewahrung und zur Sicherheit hergebracht wurde. Und ihre Gebeine sind auch noch da …« Thar deutete auf den Boden zu ihren Füßen.

»Die Hälfte davon ist da«, sagte Kossil.

»Und die andere Hälfte ist für immer verschollen.«

»Wieso verschollen?« fragte Arha.

»Die eine Hälfte, die in Intathins Hand war, wurde dem Schatzmeister der Gräber übergeben, damit er sie auf alle Ewigkeit sicher hier aufbewahre. Die andere Hälfte behielt der Zauberer in seiner Hand, aber bevor er floh, gab er sie einem der kleineren Könige, der auch zu den Rebellen gehört hatte, einem gewissen Thoreg von Hupun. Ich weiß nicht, warum er das tat.«

»Um Streit zu provozieren, um Thoreg hoffärtig zu machen«, sagte Kossil. »Und das hat er auch erreicht. Die Nachkommen von Thoreg haben wieder rebelliert, als das Haus der Tarb an die Regierung kam. Sie griffen wieder zu ihren Waffen gegen den ersten Gottkönig und weigerten sich, ihm den Treueeid zu leisten und ihn als König oder Gott anzuerkennen. Das war ein verfluchtes, verzaubertes Geschlecht! Aber jetzt sind sie alle tot.«

Thar nickte. »Der Vater unseres jetzigen Gottkönigs, der Herrscher-der- wiedererstanden-ist, hat das ganze Geschlecht der Hupun ausgerottet und ihren Besitz zerstört. Seitdem das vollbracht wurde, ist die andere Hälfte des Amuletts, die seit den Tagen von Erreth-Akbe und Intathin in der Familie Hupun war, verschwunden. Niemand weiß wohin. Und all das trug sich vor einer Generation zu.«

»Es wurde bestimmt als Kehricht weggeworfen«, sagte Kossil. »Man sagt, daß der Ring von Erreth-Akbe nach nichts aussieht, seinen Wert sieht man ihm überhaupt nicht an. Der verwünschte Ring und das verruchte Zaubervolk!« Kossil spuckte angewidert ins Feuer.

»Haben Sie die Hälfte, die wir hier haben, gesehen?« wandte sich Arha fragend an Thar.

Die hagere Frau schüttelte den Kopf. »Sie befindet sich in dem Schatz, den niemand, außer der Einen Priesterin, sehen darf. Es ist gut möglich, daß dies der größte aller vorhandenen Schätze ist. Ich bin nicht sicher, aber ich vermute es fast. Seit Hunderten von Jahren werden Diebe und Zauberer von den Innenländern hierhergeschickt, damit sie die Ringhälfte stehlen, und die gingen an offenen Truhen voll Gold und Juwelen vorbei, ohne etwas anzurühren, nur dieses eine Ding suchten sie. Es ist jetzt schon lange her, seit Erreth-Akbe und Intathin gelebt haben, doch die Geschichte lebt noch weiter und wird heute noch erzählt, sowohl hier als auch im Westen. Die meisten Dinge werden alt im Verlaufe der Jahre, und man hört nichts mehr von ihnen. Nur ganz wenige Dinge behalten ihren Wert und nur ganz wenige Geschichten werden immer wieder erzählt.«

Arha grübelte eine Weile vor sich hin, dann sagte sie: »Das müssen entweder sehr mutige oder sehr dumme Männer gewesen sein, die sich in die Gräber gewagt haben. Wissen die denn nicht um die Macht der Namenlosen?«

»Nein«, erwiderte Kossil kalt. »Die haben keine Götter. Und sie achten die Götter nicht. Die können Zauberei wirken und halten sich selbst für Götter. Aber sie sind es nicht. Und wenn sie sterben, so werden sie nicht wiedergeboren. Sie zerfallen zu Asche und Knochen, und ihr Geist heult ein bißchen im Wind, bevor er fortgeblasen wird. Sie haben keine unsterbliche Seele.«

»Aber was ist das für eine Magie, die sie wirken können?« fragte Arha voll Interesse. Sie erinnerte sich nicht mehr an ihre eigenen, vor einigen Jahren geäußerten Worte, daß sie sich abwenden und weigern würde, Schiffen aus den Innenländern nachzuschauen. »Wie machen sie das? Was können sie tun?«

»Trickspielereien, Vorspiegelungen, Gaukeleien«, Kossil zuckte verächtlich die Achseln.

»Es muß schon etwas mehr sein, wenn die Geschichten nur halbwegs wahr sind«, sagte Thar. »Die Zauberer im Westen können Wind aufbringen und ihn wieder stillen, und sie können ihn in jeder Richtung blasen lassen. Das sagen alle, und alle stimmen damit überein. Deswegen sind sie auch so ausgezeichnete Seefahrer, denn sie können einen magischen Wind in ihre Segel zaubern und hinfahren, wohin sie wollen, und den Stürmen des Meeres können sie trotzen und ihnen gebieten, ruhig zu sein. Und man sagt auch, daß sie Licht herbeibringen können, und auch Dunkelheit können sie herbeizaubern, und Steine können sie zu Diamanten und Blei zu Gold machen; daß sie im Handumdrehen eine ganze Stadt oder einen Palast herbeizaubern können, wenigstens illusionsweise, und sich selbst in Bären, Fische, Drachen oder sonst etwas verwandeln können, habe ich auch gehört.«

»All das glaube ich nicht«, sagte Kossil. »Daß sie gefährlich und verschlagen sind mit ihren Tricks, schlüpfrig wie Aale, ja, das glaube ich. Aber man sagt, daß sie — wenn man ihnen den hölzernen Stab wegnimmt — überhaupt keine Macht mehr haben. Wahrscheinlich haben sie unheilvolle Runen hineingeritzt.«

Thar schüttelte wiederum den Kopf. »Stimmt, sie tragen einen Stab mit sich, aber das ist nur ein äußeres Zeichen der Macht, die sie innerlich besitzen.«

»Aber wie bekommen sie diese Macht?« fragte Arha. »Woher stammt sie?«

»Von Lügen«, Kossil sprach mit Überzeugung.

»Von Worten«, sagte Thar. »Das hat mir einer gesagt, der einem großen Zauberer der Innenländer — sie nennen sie Magier — zugeschaut hat. Sie haben ihn im Westen gefangen genommen, als sie dort auf einem Beutezug waren. Er zeigte ihnen einen dürren Zweig und sprach ein Wort darüber. Und siehe da — er blühte! Und dann sprach er ein anderes Wort, und siehe da — er trug reife Äpfel! Und dann sprach er noch ein Wort — und Stock, Blüten und Äpfel, alles verschwand, und der Zauberer dazu. Ein Wort nur hatte genügt, und er war verschwunden, wie ein Regenbogen verschwindet, wie ein Augenaufschlag vorübergeht, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie haben ihn nie wieder auf dieser Insel gefunden. Nun, ist das nur Gaukelei?«

»Es ist leicht, Narren zu narren«, erwiderte Kossil.

Thar sagte nichts darauf, um keinen Streit aufkommen zu lassen, aber Arha ließ das Thema nur widerwillig fallen. »Wie sieht denn das Zaubervolk aus?« fragte sie. »Sind sie wirklich überall ganz schwarz, mit weißen Augen?«

»Sie sind schwarz und verdorben. Ich habe noch keinen gesehen«, sagte Kossil mit Genugtuung, und sie verlagerte ihr Gewicht auf dem Schemel und streckte ihre Hände gegen das Feuer.

»Mögen die Zwillingsgötter sie fernhalten«, murmelte Thar.

»Sie werden nie wieder hierherkommen«, sagte Kossil, und das Feuer prasselte vor ihnen, und der Regen prasselte auf das Dach, und draußen auf dem düsteren Flur schrie Manan mit schriller Stimme: »Aha! Ich bekomme die Hälfte! Die Hälfte!«

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