Der Durchgang endete so rasch, wie er begonnen hatte. Corson, der sich nicht erinnern konnte, die Augen geöffnet zu haben, schwebte in einem Universum aus purpurfarbenem Licht. Es gab kein Oben und kein Unten. Obwohl er weder Entfernungen noch Zeit abschätzen konnte, hatte Corson ein Gefühl von Unendlichkeit.
Ich bin emporgestiegen, dachte er. Ich bin im Himmel.
Seine Glieder gehorchten ihm nicht, aber er fühlte keine Schmerzen. Nach und nach konnte er sich wieder erinnern. Es blieben zwar Lücken, aber er hatte das Gefühl, daß sein Gehirn wieder arbeitete.
Darum wußte er, daß er an einem seltsamen Ort ausgesetzt war. Auf Aergistal wäre er sicher mitten in einer Schlacht wieder aufgewacht. Also mußte er es verlassen haben. War er in einer anderen Hölle? Oder war er aus dem Spiel genommen worden, weil er nicht hineingehörte? Erwartete ihn etwas anderes?
Er war allein. Er wußte es, obwohl er den Kopf nicht wenden konnte.
Dann unterbrach plötzlich eine Stimme die Stille. Die Worte gruben sich tief in sein Gedächtnis ein, als wäre es völlig leer und begierig, mit Wissen gefüllt zu werden.
»So, du bist also ein Kriegsverbrecher!«
Corson überlegte kurz und antwortete: »Und du bist ein Gott.«
Die Stimme begann zu lachen. Es hörte sich fast kindlich an.
Neugierde und das Bedürfnis, den Unbekannten herauszufordern, ließen ihn weiterreden: »Götter sind allmächtig.«
»Allmächtig?« wiederholte die Stimme. »Das ist nur ein leeres Wort. Du kannst die Götter nur mit einer Macht ausstatten, die du definieren kannst.«
Corson dachte wieder nach. Diese Feststellung erschien ihm sonderbar. Dann sagte er: »Du bist unsterblich.«
Wieder schien der Unbekannte belustigt zu sein.
»Ja und nein. Du unterscheidest nicht zwischen Ewigkeit und Grenzenlosigkeit. Wir sind nicht unsterblich, wenn du damit meinst, daß unser Leben ewig dauert. In diesem Sinn ist nichts ewig, nicht einmal das Universum. Aber unser Leben ist unbegrenzt.«
»Unbegrenzt?« Der Begriff war ihm unverständlich.
»Wir können das Leben zurücknehmen, wir können es anders leben und immer wieder einen anderen Weg einschlagen. Wir haben unser Leben unter Kontrolle.«
»Ich verstehe«, sagte Corson. Diesmal verstand er es wirklich. Die Existenz war für diese Wesen nicht durch die Vergangenheit geformt. Die Zukunft lag für sie nicht im Dunkeln. Ihr Leben hatte keine Dauer. Sie kannten kein Vorher und Nachher. Sie sahen ihr Leben als eine Einheit an. Für sie war die Gegenwart nur eine Station von vielen. Darum mußten sie die Zeit beherrschen können. Ihre Macht kam von dieser Fähigkeit. So wie die Menschen, die jahrtausendelang durch die Grenzen der Erde gefangen waren, den Weltraum erobert hatten, so hatten diese Wesen die Zeit erobert.
Das ist eine fürchterliche Macht, dachte Corson.
»Du bist kein Mensch«, sagte er dann.
Wer waren diese Unbekannten, daß sie mit seinem Leben spielen konnten? Waren es Eindringlinge aus einer anderen Galaxis? Waren es reine Geisteswesen oder die Götter der alten Sagen?
»Du wirst sein wie wir«, erklärte die Stimme.
Ist das ein Versprechen oder eine Feststellung? Wie kann ich so werden wie die und doch ich selbst bleiben. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie man solche Macht ausübt. Oder konnten die Unbekannten die fernen Nachfahren der Menschheit sein. Hatte Antonellas Talent, in die Zukunft zu sehen, schon auf die späteren Möglichkeiten hingewiesen? Wieviele Millionen Jahre lagen zwischen dem primitiven Wesen Corson und diesen Unbekannten, die über ihn zu urteilen hatten.
»Seid ihr nach uns gekommen?« fragte er.
Diesmal irritierte ihn das Lachen nicht mehr.
»Wir sind nicht nach euch gekommen«, sagte die Stimme. »Wir sind in der gleichen Zeit wie ihr, denn wir sind immer da. Unsere Existenzen bestehen gleichzeitig, wie du sagen würdest. Wenn du es aber hören willst, so kann ich dir sagen, daß wir in einem sehr weiten Sinn nach euch gekommen sind. Ja, wir stammen von euch ab.«
Dann sind sie unsere Nachkommen und gleichzeitig viel, viel älter als wir. Sie haben das gesamte Universum erobert, während wir nur einen winzigen Teil kannten. Sie stammen von uns ab, aber sie waren schon da, als wir entstanden.
»Was ist mit anderen Rassen, den Urianern zum Beispiel?«
»Es gibt keine Unterschiede«, sagte die Stimme.
Keine Unterschiede! Das war eine klare Antwort.
»Wo sind wir?« fragte Corson schüchtern.
»Außerhalb des Universums, auf seiner Oberfläche. Man muß es verlassen, um es zu begreifen und zu ändern.«
Am Rand des Universums. War darum Aergistal eine so seltsame Welt. Konnten darum die Unbekannten tun, was sie wollten? Und was liegt dahinter?
Corson stellte die Frage, und die Stimme antwortete: »Das eigentliche Universum. Es hat nichts zu tun mit Zeit und Raum. Das äußere Universum beeinflußt niemals das innere und ist darum auch nicht direkt erkennbar.«
Ist der Macht dieser Wesen eine Grenze gesetzt, oder liegt die einzige Grenze in meinem schwachen Vorstellungsvermögen?
Corson beschloß, das Gespräch auf seine Situation zu bringen.
»Wollt ihr mich verurteilen?«
»Du bist schon verurteilt.«
»Ich bin kein Verbrecher!« protestierte Corson. »Ich hatte doch nie eine andere Wahl …«
»Aber du wirst eine haben. Du wirst die Möglichkeit bekommen, das ungeschehen zu machen, was du getan hast. Du kannst die endlose Kette von Gewalt zerreißen und die Kriege rückgängig machen. Du gehst zurück nach Uria. Dort wirst du vom Krieg geheilt werden.«
»Warum braucht ihr mich? Warum benutzt ihr nicht eure Macht, um die Kriege zu verhindern?«
»Krieg ist ein Teil der Geschichte dieses Universums«, sagte die Stimme. »In gewissem Sinn sind wir aus dem Krieg geboren. Wir wollen den Krieg tilgen, und wir werden Erfolg haben — wir haben Erfolg gehabt — mit denen, die dagegen ankämpfen, um das zu werden, was sie sein könnten. Wir können unsere Macht nicht mit Wesen teilen, die den Krieg nicht überwunden haben. Vielleicht könnten wir mit Hilfe unserer Macht den Krieg unterdrücken, aber das wäre ein Widerspruch, denn wir müßten dann gegen uns selbst kämpfen. Wir wollen dieses Universum erneuern. Das geht nur mit den Mitteln, aus denen es besteht. Aergistal ist so ein Mittel. Es hat drei Aufgaben. Erstens soll es den Krieg tilgen. Aergistal bringt früher oder später pflichtbewußte Anhänger des Friedens hervor. Um den Krieg zu tilgen, muß man ihn einschließen. Darum enthält Aergistal eine riesige Zahl von Schlachtfeldern. Konflikte zwischen Reichen, Völkern oder Rassen bestehen auf Aergistal nicht. Sie werden nur als Motivation verwendet. Denn wir wissen, daß der Krieg nicht aus aktuellen Interessenkonflikten entsteht, sondern sich immer weiter ausbreitet, selbst wenn der ursprüngliche Streit gar nicht mehr existiert. Der Krieg wird auf Aergistal getestet, damit wir ihn verstehen und die, die ihn führen.«
Der Krieg als Organismus! Aus aktuellem Anlaß geboren, breitet er sich immer weiter aus und nährt sich von der Substanz und Energie derer, die darin verwickelt sind!
Corson griff diesen Gedanken auf, weil er so vieles erklärte. Er erklärte zum Beispiel die Tatsache, daß es schon vor Corsons Zeit immer Kriege gegeben hatte, egal unter welcher Herrschaft. Regelmäßig hatten Menschen versucht, den Krieg abzuschaffen, aber sie hatten dieses Ziel nicht erreicht. Es gelang höchstens, für ein Jahrhundert oder eine bestimmte Zeit, Frieden zu bewahren, bevor überall die Brände wieder aufloderten. Gewöhnlich versuchten sogar die Friedenskämpfer, den Frieden mit Waffengewalt zu erreichen.
Warum bekämpften sich damals die Solar-Mächte und Uria so heftig? Aus wirtschaftlichen Gründen? Weil das Oberkommando ehrgeizig war? Weil sich der Pöbel fürchtete? Alle diese Gründe spielten eine gewisse Rolle, aber es mußte noch einen Grund geben, der sie übertraf und verstärkte. Der Krieg gegen Uria war ein Ersatz für einen Krieg gewesen, der zwischen den menschlichen Planeten auszubrechen drohte. Früher hatte es solche Kriege gegeben, und man konnte ihre Spur zurückverfolgen bis zur Erde, die schon Tausende von Jahren vor Corsons Geburt verwüstet worden war. Diese Zerstörung hatte die Menschen erst gezwungen, ständig neue Welten zu erobern. Man konnte den Krieg auch auf der Erde weiterverfolgen bis zu dem Tag, an dem ein Steinzeitmensch einen Stein hob, um einen anderen zu erschlagen.
In der Geschichte der anderen Rassen konnte man die gleiche Entwicklung erkennen, zumindest bei den Rassen, die auf Aergistal vertreten waren.
Wir haben uns oft gefragt, wofür wir eigentlich kämpften, aber nie oder zumindest nicht oft genug, warum. Die Geschichte ist krank. Wir sind wie Ameisen, die sich gegenseitig bekämpfen aus Gründen, die klar erscheinen, in Wirklichkeit aber ein großes Rätsel verbergen, einen absoluten Mangel an Wissen. Und Aergistal ist ein Laboratorium …
»Die dritte Aufgabe von Aergistal ist es, den Krieg zu konservieren. Er gehört zu einer der Tätigkeiten des Lebens. Er ist ein Teil unseres Erbes«, fuhr die Stimme fort. »Es kann sein, daß wir die Technologien des Krieges brauchen. Es könnte eine Gefahr von außerhalb des Universums drohen. Aergistal ist eine Grenze und ein Schutzwall.«
Die Stimme hatte plötzlich einen Anflug von Traurigkeit. Corson versuchte, sich eine Welt außerhalb des Universums vorzustellen, aber es gelang ihm nicht. Es war zu abstrakt.
»Um den Krieg auszurotten«, sagte die Stimme, »um ihn zu begreifen und zu konservieren, werden wir dich nach Uria zurückschicken. Du mußt dort ein Problem lösen und hast die freie Wahl. Wenn du versagst, kommst du wieder nach Aergistal zurück. Wenn du Erfolg hast, wirst du frei sein. Du wirst nicht mehr länger ein Kriegsverbrecher sein. Vor allem aber wirst du einen großen Schritt weitergekommen sein.«
Die Luft um Corson wurde dichter. Zu allen Seiten wuchsen plötzlich Wände. Er fand sich in einem langen metallischen Kasten wieder. Er ähnelte einem Sarg.
»He!« schrie Corson. »Gebt mir Waffen … gebt mir irgend etwas!«
»Du hast deinen Verstand«, sagte die Stimme fest »und du wirst alles bekommen, was du brauchst.«
»Das Sicherheitsbüro …«, wollte Corson sagen, aber er wurde unterbrochen.
»Damit haben wir nichts zu tun«, sagte die Stimme. »Es befaßt sich nur mit einer bestimmten Epoche und einer Galaxis.«
Dann wurde es dunkel um Corson.